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Großbritannien Klaus Zehner Gerald Wood (Hrsg.) Großbritannien Geographien eines europäischen Nachbarn Herausgeber PD Dr. Klaus Zehner Geographisches Institut Universität zu Köln Albertus Magnus Platz 50923 Köln E-Mail ist versteckt Prof. Dr. Gerald Wood Westfälische Wilhelms-Universität Institut für Geographie Schlossplatz 7 48149 Münster E-Mail ist versteckt Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag, der Herausgeber und die Autoren haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in die- sem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die ju...
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Großbritannien, Klaus Zehner Gerald Wood (Hrsg.)

Großbritannien

Geographien eines europäischen Nachbarn, Herausgeber PD Dr. Klaus Zehner Geographisches Institut Universität zu Köln Albertus Magnus Platz 50923 Köln E-Mail ist versteckt Prof. Dr. Gerald Wood Westfälische Wilhelms-Universität Institut für Geographie Schlossplatz 7 48149 Münster E-Mail ist versteckt Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag, der Herausgeber und die Autoren haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in die- sem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2010 Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer 10 11 12 13 1454321Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Planung und Lektorat: Merlet Behncke-Braunbeck, Dr. Meike Barth Redaktion: Regine Zimmerschied Satz: klartext, Heidelberg Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm Titelfotografie: Hartland Road – London Borough of Camden (2006) © Gerald Wood ISBN 978-3-8274-2006-0,

Vorwort

Großbritannien, unser „europäischer Nachbar“, wird Außenseiterposition war allerdings das Resultat kom- trotz seiner räumlichen Nähe zum Kontinent (so be - plexer außenpolitischer Beziehungen, in denen sich das zeichnen die Briten den Rest Europas) nicht selten als Land in der Nachkriegszeit befunden hatte. Und sie war „Fremder in Europa“ wahrgenommen. Der Linksver- auch das Ergebnis einer ausgesprochen distanzierten kehr und das britische Pfund sind zwar die auffälligsten, Haltung der damals führenden EWG-Staaten Frank- jedoch keineswegs die einzigen Besonderheiten des Lan- reich und Deutschland gegenüber dem Vereinigten des. Auch die Freizeit- und Konsumgewohnheiten zahl- Königreich. So legte Charles de Gaulle, den ein vertrau- reicher Briten weichen zum Teil deutlich von denen ensvolles Verhältnis zu Adenauer verband, gleich mehr- v ieler Kontinentaleuropäer ab. Zur Sonderstellung fach sein Veto gegen den Beitritt des Vereinigten König- Groß britanniens innerhalb Europas trägt des Weiteren reichs zur EWG ein. das Festhalten an Normen, Werten und Traditionen bei, An den wahrgenommenen und durch die Medien die in anderen europäischen Ländern einen deutlich immer wieder reproduzierten Unterschieden bzw. Be- geringeren Stellenwert besitzen oder gänzlich unbe- sond erheiten Großbritanniens wird deutlich, dass die kannt sind. Beispiele hierfür sind die „Gentleman-Kul- sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und räumlichen tur“ in Form der Clubs, die Schuluniformen oder die Entwicklungen in verschiedenen Teilen der Welt, und Tea-Time, die, trotz der zunehmenden Konkurrenz gerade auch innerhalb Europas, zwar globalen Trends durch Kaffee und Cafés, ihre bemerkenswerte soziale folgen, jedoch in sehr unterschiedlicher Weise Gestalt Funktion behalten hat. annehmen können. Wenn uns also soziale und sozial- Neben solchen Besonderheiten gibt es allerdings räumliche Entwicklungen in Großbritannien unge- auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Parallelen wöhnlich oder gar befremdlich erscheinen, dann hat das zu anderen Ländern Europas, etwa im Bereich der so- vor allem mit unterschiedlichen historischen Rahmen- zialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Dazu zählen bedingungen, mit zum Teil tief verwurzelten institutio- die Alterung der Gesellschaft, die Zuwanderungsproble- nellen und kulturellen Verschiedenartigkeiten zu tun matik, der Abbau industrieller Arbeitsplätze und eine und weniger damit, dass in Teilen Europas grundsätzlich Vielzahl ökologischer Probleme, die hier wie dort gelöst andere Entwicklungen am Werke sind. Auf diese span- werden müssen. nungsvollen Prozesse will das vorliegende Buch sein Dass Großbritannien von vielen Kontinentaleuro- Augenmerk richten und den Leser ermutigen, genauer päern kritisch und mitunter sogar distanziert beäugt hinzuschauen und die Differenz und ihre Hintergründe wird, liegt auch an einer ambivalenten politischen Hal- zu erkunden. Das gilt auch für den Fall, dass man diese tung seiner Staatsvertreter zu Europa. Seit dem Beitritt Unterschiede für konstruiert oder aber für medial insze- zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft niert hält. Denn entscheidend für unsere Haltung gegen- (EWG) im Jahre 1973 praktizierten britische Regierun- über Großbritannien und für unser Handeln sind sie gen gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten eine Außen- allemal. politik, die zugleich von Nähe und Distanz geprägt war. An einer Vielzahl von Beispielen, etwa an den The- Dabei standen durchaus erkennbaren Integrationsbe- men Migration und Multikulturalität lässt sich aufzei- mühungen, etwa im Bereich der Arbeitsmarkt- oder gen, dass Großbritannien vor ähnlichen Aufgaben und Migrationspolitik, deutliche Zurückweisungen weiter- Problemen steht wie andere europäische Staaten auch. gehender Integrationsbestrebungen (Währungspolitik, So wird derzeit nicht nur in Großbritannien ein Weg „Schengener Abkommen“ etc.) gegenüber. zwischen den Konzepten der Integration und der Multi- Diese Distanz beruht aber durchaus auf Gegenseitig- kulturalität ausgelotet. Dieses Beispiel zeigt: Trotz aller keit und reicht in die frühe Nachkriegszeit zurück. So Unterschiede in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung hat beispielsweise Konrad Adenauer einmal postuliert, sind viele Staaten Europas mit ähnlichen Herausforde- England (er meinte das Vereinigte Königreich von Groß- rungen konfrontiert. Aus unserer Sicht ist es daher nicht britannien und Nordirland) sei kein europäisches Land, nur interessant und spannend, sondern auch lehrreich weil es sich mehrfach gegen supranationale Integra- zu verstehen, wie in Großbritannien mit solchen Pro- tionsversuche ausgesprochen hatte. Diese vermeintliche blemen umgegangen wird., VI Vorwort Vor diesem gedanklichen Hintergrund ist dieses Gemeinsamkeiten und wie viele Unterschiede verbergen Buch entstanden. Es greift Themen auf, die das „Beson- sich hinter „Großbritannien“? Gleichzeitig verdeut- dere“ Großbritanniens zum Gegenstand haben (also die lichen die Beiträge in der Diskussion der gesellschaft- Differenz), Themen, die uns stutzig und neugierig lichen Herausforderungen und Probleme auch die Nähe machen, gerade vor dem Hintergrund anderer Erfah- zu anderen europäischen Ländern und eröffnen damit rungen in Europa. Warum beispielsweise entwickelt sich gedankliche Räume des Vergleichs und eines vertieften Großbritannien im 18. Jahrhundert früher als andere Verständnisses sozialräumlicher Entwicklungen in einem europäische Nationen zum Vorreiter der industriellen europäischen Rahmen. Entwicklung, um dann im 20. Jahrhundert nach jähem Bei den hier diskutierten Themen handelt es sich zu Absturz eine Renaissance zu erleben? Wie ist die gegen- einem großen Teil um Fragen, die in der Fachliteratur wärtig ausgreifende und in Europa beispiellose Praxis häufig übergangen oder in einem anderen Zusammen- der Videoüberwachung in öffentlichen Räumen des hang angesprochen werden. Von daher erschließt dieses Landes in Einklang zu bringen mit dem hohen öffent- Buch nicht nur neue Themen, sondern es versucht auch, lichen Gut der Bürgerrechte? Und schließlich: Wie viele vorhandenes und neues Wissen zusammenzuführen.,

Danksagung

Dieses Buch ist das Ergebnis einer intensiven, mehrjäh- jekts war die enge Zusammenarbeit zwischen Herausge- rigen Beschäftigung der Autoren mit Großbritannien, bern und den Mitarbeitern des Springer-Verlags. Unser und es ist gleichermaßen das Resultat eines gemein- spezieller Dank gilt dabei der Programmplanerin Frau schaftlich gestalteten Entstehungsprozesses. Der lange Behncke-Braunbeck und Frau Barth aus dem Lektorat. Weg von der ersten Idee bis zu dem nun vorliegenden Erst das rege Interesse an der Sache und das verlagsin- Ergebnis war nicht immer geradlinig, und er war auch terne Engagement von Frau Behncke-Braunbeck sowie nicht ohne Anstrengungen. Das ist bei Buchprojekten die beständige Arbeit an der Umsetzung von Ideen und mit vielen Beteiligten natürlich nicht unüblich. In die- Vorlagen in Zusammenarbeit mit den Herausgebern sem Fall kam jedoch hinzu, dass die Autoren ausdrück- durch Frau Barth ermöglichten das Buch in seiner jetzi- lich aufgefordert waren, die Texte so zu formulieren, gen Form. dass sie nicht nur ein wissenschaftliches Fachpublikum Die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse einem ansprechen. Für den Verlag und für uns als Herausgeber möglichst breiten Interessentenkreis zugänglich zu war es wichtig, die hier behandelten Themen einer mög- machen, sollte nicht nur auf sprachlicher Ebene umge- lichst breiten Leserschaft zu erschließen, weil wir der setzt werden, sondern auch durch die Anreicherung der Auffassung sind, dass ein großes allgemeines Interesse Beiträge mit zusätzlichem Material in Form von Fotos, an Großbritannien besteht. Diagrammen, Karten etc. Udo Beha, Kartograph am Die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse ver- Geographischen Institut der Universität Köln, und ständlich, aber dennoch wissenschaftlich korrekt zu for- Claudia Schroer, Kartographin am Institut für Geogra- mulieren, bedeutete zwar eine zusätzliche Herausforde- phie der Universität Münster, ist es gelungen, dieses rung für alle Autoren, doch wir als Herausgeber haben Buch durch anspruchsvolle Karten, Diagramme und den Eindruck, dass alle Beteiligten dabei wichtige Erfah- Zeichnungen lebendiger und interessanter zu gestalten. rungen sammeln konnten. Und wir sind auch der An - Auch ihnen gilt unser ausdrücklicher Dank. sicht, diese Aufgabe gemeinsam gelöst zu haben. Ob uns Abschließend möchten wir als Herausgeber festhal- dies tatsächlich gelungen ist, müssen letztlich Sie als ten, dass wir das Projekt jederzeit wieder angehen Leser entscheiden. w ürden, denn es hat uns viele wichtige Erfahrungen ver- Wir möchten an dieser Stelle all jenen unseren Dank mittelt, darunter auch die Vertiefung unserer Freund- aussprechen, die an der Entstehung dieses Buches mit- schaft und kollegialen Verbundenheit. Aufgrund unserer gewirkt haben. Hier sind natürlich zunächst die Kolle- gemeinschaftlichen Bemühungen ist ein Buch entstan- ginnen und Kollegen zu nennen, die einen oder sogar den, das wir als Einzelpersonen in dieser Form nicht mehrere Beiträge beigesteuert haben. Wir danken ihnen hätten realisieren können. sehr nachdrücklich für den offenen, kooperativen und freundschaftlichen Umgang mit uns Herausgebern. Mindestens ebenso wichtig für das Gelingen dieses Pro- Köln und Münster, im Januar 2010,

Autorinnen und Autoren

Bernd Belina ist Juniorprofessor für Humangeographie am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig und am Institut für Geographie der Universität Potsdam. Seit sei- ner Promotion in Bremen im Jahr 2004 beschäftigt er sich mit dem Themenkomplex „Krimi- nalität und Raum“ sowie mit Fragen der politischen, der Stadt- und Sozialgeographie. Oliver Bödeker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität zu Köln. Seine Interessensgebiete liegen im Bereich der physischen Geographie. Insbesondere hat er sich mit der Geomorphologie warm-arider Gebiete sowie der Landschaftsentwicklung in Mittel- und Westeuropa befasst. Seine regionalen außereuropäischen Schwerpunkte sind das nordöstliche und südwestliche Afrika sowie Australien. Seine Dissertation (2005) beschäftigte sich mit dem holozänen Klima- und Landschaftswandel im Nordosten Namibias. Boris Braun ist Professor für Anthropogeographie am Geographischen Institut der Universität zu Köln. Seine Interessensgebiete liegen im Bereich der Wirtschaftsgeographie. Er beschäftigt sich insbesondere mit den Beziehungen zwischen Ökonomie und Ökologie, mit Fragen der Globalisierung sowie den wirtschaftlichen Aspekten der Stadtentwicklung. Die räumlichen Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in Europa, Südasien und Australien. Im Rahmen seiner Habilitation (2001) beschäftigte er sich mit dem Vergleich von betrieblichen Umweltmanage- mentsystemen in Großbritannien und Deutschland. Zu sportlichen Großereignissen hat er ins- besondere im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 2000 in Sydney publiziert. Boris Braun ist darüber hinaus Autor zahlreicher Beiträge in Fachzeitschriften sowie Herausgeber verschiedener Sammelbände und Buchreihen. Philip Cooke ist Professor für Regionalentwicklung am Institut für Stadt- und Regionalpla- nung sowie Gründungsdirektor des Centre for Advanced Studies an der University of Wales in Cardiff. Zu seinen Forschungsgebieten gehören regionale Innovationssysteme, Wissensökono- mien, Cluster- und Netzwerkforschung und in der jüngeren Vergangenheit Biotechnologie und Regionalentwicklung. Hierzu hat Phil Cooke umfangreich publiziert. Daneben berät er die bri- tische Regierung, die EU, die OECD, die Weltbank und UNIDO (United Nations Industrial Development Organization) zu Fragen regionaler Innovationssysteme. Phil Cooke ist Mitglied der Academy of Social Sciences (UK) und trägt zahlreiche internationale wissenschaftliche Auszeichnungen. Rainer Danielzyk ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwick- lungsforschung (ILS), Dortmund und Aachen. Zugleich ist er seit 2004 außerplanmäßiger P rofessor für Humangeographie und Raumplanung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Theorie und Empirie der Stadt- und Regio- nalentwicklung sowie der raumbezogenen Planung, insbesondere in Mittel- und Westeuropa. Er hat mehrfach über Themen der Raumentwicklung und Raumplanung in Großbritannien in einschlägigen Fachzeitschriften veröffentlicht. Rainer Danielzyk ist Mitglied verschiedener wis- senschaftlicher Akademien und Gremien der Politikberatung., X Autorinnen und Autoren Christian Dietsche ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Uni- versität zu Köln. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Wirtschaftsgeogra- phie und der Globalisierungsforschung, mit räumlichen Schwerpunkten in Europa, Südasien und Afrika. Gemeinsam mit Boris Braun befasst er sich zudem mit Prozessen der nachhaltigen Stadtentwicklung. Im Rahmen seiner Dissertation beschäftigt er sich mit den ökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse. Claire Dwyer ist Senior Lecturer im Fachgebiet Sozial- und Kulturgeographie sowie stellver- tretende Direktorin der Forschungsgruppe Migration am University College London. Zu ihren Forschungsgebieten gehören race und ethnicity, Transnationalismus und Diasporas, Gender und feministische Geographie. Sie hat über Identitäten britischer Muslime ebenso veröffent- licht wie über die britisch-südasiatische transnationale Bekleidungsindustrie. Gegenwärtig forscht sie über „religiöse Landschaften“ in der britischen und kanadischen Diaspora. Sie ist Co-Autorin des Buches Geographies of New Femininities (1999) und Mitherausgeberin der Sammelbände Qualitative Methodologies for Geographers (2001), Transnational Spaces (2004) und New Geographies of Race and Racism (2008). Gesa Helms ist promovierte Geographin und Künstlerin. Sie lebt in Glasgow und Berlin und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of Urban Studies der Universität Glas- gow tätig. Ihre wissenschaftliche Arbeit umfasst Fragen zum Stadt- und Strukturwandel, zu Sicherheits- und Arbeitsmarktpolitik sowie partizipative Forschungsmethoden. Christoph Scheuplein lehrt Wirtschaftsgeographie als Akademischer Rat am Institut für Geo- graphie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zuvor war er am Berliner Abgeord- netenhaus und bei einem Beratungsunternehmen tätig. Er hat zur Theorie und Empirie wirt- schaftlicher Cluster und zu den Standortmustern verschiedener industrieller Branchen publiziert. Aktuell arbeitet er über Raumveränderungen der Industrie im Rahmen der Struk- turwandlungen des deutschen Kapitalismus. Doris Schmied ist außerordentliche Professorin am Geographischen Institut der Universität Bayreuth mit den Schwerpunkten Geographie des ländlichen Raumes, Nahrungsgeographie und Bevölkerungsgeographie und hat bereits zahlreiche Beiträge zu ländlichen und peripheren Räumen in Großbritannien veröffentlicht. In ihrer Habilitation beschäftigte sie sich am Bei- spiel der Cotswolds (Gloucestershire) mit den Auswirkungen der ländlichen Gentrifizierung auf den Wohnungsmarkt (2002). Darüber hinaus ist sie Herausgeberin des internationalen und interdisziplinären Sammelbandes Winning and Losing: The Changing Geography of Europe’s Rural Areas (2005) sowie der wissenschaftlichen Reihe RURAL., Autorinnen und Autoren XI Dirk Schubert ist Professor an der HafenCity Universität Hamburg und lehrt dort „Wohnen und Stadtteilentwicklung“. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen und ausländi- schen Fachzeitschriften zu Themen der Stadtbaugeschichte, Stadterneuerung und des Woh- nungswesen und zu Vorhaben der Revitalisierung von (brachgefallenen) Hafen- und Uferzo- nen publiziert. Seine letzten Buchveröffentlichungen umfassen: Hafen- und Uferzonen im Wandel. Analysen und Planungen zur Revitalisierung der Waterfront in Hafenstädten (mit Uwe Altrock, 3. Aufl. 2007); Wachsende Stadt – Leitbild, Vision, Utopie? (2004); Hamburger Wohn- quartiere. Ein Stadtführer durch 65 Wohnquartiere (mit Axel Schildt, 2005); Städte zwischen Wachstum und Schrumpfung: Wahrnehmungs- und Umgangsformen in Geschichte und Gegen- wart (2008). Richard Stinshoff war bis zu seiner Pensionierung 2009 akademischer Direktor für British Studies am Seminar für Anglistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine wissen- schaftlichen Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der britischen Geschichte seit der In- dustriellen Revolution sowie des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels im Großbritannien der Gegenwart. Er hat u. a. zur kulturellen Transformation des industriellen Erbes am Beispiel der britischen Industriekanäle, zum Verfassungswandel unter New Labour, zur politisch-ökonomischen Nachkriegsentwicklung des Landes und zuletzt zu postsäkularen kulturellen Handlungspotenzialen veröffentlicht. Daneben liegen Arbeiten zur Entdeckung und Erschließung des nordamerikanischen Westens und zu ethnopolitischen Konfliktpotenzi- alen unter nordamerikanischen Indianern vor. Gerald Wood ist Professor für Stadt- und Regionalforschung im Institut für Geographie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er beschäftigt sich seit Langem intensiv mit Fra- gen der Raumentwicklung und raumbezogenen Planung auf den Britischen Inseln und hat hierzu umfangreich im deutschen und englischen Sprachraum publiziert. Mit seiner Disser- tation Die Umstrukturierung Nordost-Englands. Wirtschaftlicher Wandel, Alltag und Politik in einer Altindustrieregion (1994) hat er mehrere Preise gewonnen, darunter den Förderpreis des Verbands der Geographen an Deutschen Hochschulen für die beste deutschsprachige human- geographische Dissertation der Jahre 1993 und 1994. Gerald Wood ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Einrichtungen/Akademien. Klaus Zehner ist Privatdozent am Geographischen Institut der Universität zu Köln. Seine Interessensgebiete liegen im Bereich der Kulturgeographie, insbesondere in der Stadtgeogra- phie. Der räumliche Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist seit vielen Jahren Großbritannien. Im Rahmen seiner Habilitation hat er die unter der Thatcher-Regierung eta- blierten Sonderwirtschaftszonen in Großbritannien (1999) untersucht. Er hat des Weiteren zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze in renommierten Fachzeitschriften zu stadt- und wirt- schaftsgeographischen Problemen Großbritanniens publiziert. Klaus Zehner ist u. a. der Co- Autor eines Lehrbuches zu Computerkartographie und GIS (1999) sowie der Autor eines Lehr- buches zur Stadtgeographie (2001).,

Inhalt Kapitel 1 Einleitung .1

Zum Wert eines Buches über Großbritannien in Zeiten von Google und Wikipedia .1 Zum Ansatz des Buches .2

Kapitel 2 Klima und Landschaftsentwicklung .7

2.1 Einführung .7 2.2 Immer ein Thema: Wetter und Klima .8 Maritimität .9 Luv- und Lee-Effekte .10 Der Klimawandel und seine Folgen für England .11 Weiterführende Literatur .13 2.3 Aus Kaledonien wird Britannien: Die Britischen Inseln als Fenster zur Erdgeschichte .13 Grundlagen der Geologie .13 Das präkambrische und altpaläozoische Fundament .15 Die Kaledoniden – ein sehr altes Gebirge.17 Devon bis Karbon – das ältere Deckgebirge .18 Die Varisziden – ein altes Gebirge .19 Perm bis Tertiär – das jüngere Deckgebirge .19 Weiterführende Literatur .21 2.4 Der „letzte Schliff“ – Landschaftsentwicklung im Eiszeitalter .21 Nach dem Eis: Großbritannien und Irland werden Inseln .23 Weiterführende Literatur .24

Kapitel 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer

und Gestalter von Räumen.25 3.1 Einführung .25 3.2 Steinkreise, Kastelle und Klöster – Spuren aus vornormannischer Zeit .27 Die ersten Siedler in der Jungsteinzeit .27 Die Kelten – geschickte Handwerker und fleißige Bauern .28 Die Römer – Unterdrücker und Landschaftsgestalter .30 Die Angeln und Sachsen – neue Schutzmacht im frühen Mittelalter .31 Im Griff der „Nordmänner“ .32 Weiterführende Literatur .33 3.3 Burgen und Kathedralen – kulturelles Erbe des Mittelalters und Tourismusziele der Gegenwart . 33 English Heritage und National Trust als Hüter kulturellen Erbes .34 Burgen – historische Landmarken aus der anglonormannischen Epoche .34 Kathedralen – Bischofssitze und Meisterwerke der Baukunst .36 Informationen im Internet .41 Weiterführende Literatur .41 3.4 Der Adel als Landschaftsgestalter – Häuser, Parks und Parklandschaften .41 Das Parkland .41 Vom barocken Garten zum Naturpark .43, XIV Inhalt Der Meister: Lancelot „Capablity Brown“ .44 Der Parkgarten – das Herz des englischen Parks .44 Dendrowiese und Waldgürtel .46 Weiterführende Literatur .47 3.5 Turnpike Roads, River Navigations und Kanäle – die Erschließung des Binnenlandes im frühen Industriezeitalter .47 Turnpike Roads .47 Der Ausbau der Flüsse: River Navigations .48 Das Zeitalter der Kanäle .51 Die Entwicklung des britischen Kanalsystems .52 Fazit .56 Informationen im Internet .56 Weiterführende Literatur .56 3.6 Der atlantische Dreieckshandel – eine zentrale Voraussetzung für die Industrielle Revolution .56 Rahmenbedingungen der Industriellen Revolution – ein kurzer Überblick .57 Entwicklung und Struktur des Dreieckshandels.58 Die Bedeutung des Dreieckshandels für Bristol und Liverpool .63 Weiterführende Literatur .64 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte – wirtschaftliche Umbrüche und Stadtentwicklung in Großbritannien während der Industriellen Revolution .64 Erfindungen und Weiterentwicklungen im Produktionsprozess .65 Weitere Voraussetzungen der Industriellen Revolution .67 Die Auswirkungen der Industriellen Revolution auf die Entwicklung von Städten .71 Fazit .75 Weiterführende Literatur .75

Kapitel 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens .77

4.1 Einführung .77 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung .79 Der Aufstieg des Finanzsektors.80 Deindustrialisierung .84 Neue Großprojekte auf brownfields .86 Die Bedeutung städtischer Governance: Der London Plan .87 Fazit .88 Informationen im Internet .89 Weiterführende Literatur .89 4.3 Geteilte Stadt: Soziale Gegensätze und sozialräumliche Kontraste in London .89 Das aristokratische London .89 Londons dunkle Seite – das East End .90 Semidetached London .93 Gentrifizierung und sozialräumliche Fragmentierung .94 Fazit .98 Weiterführende Literatur .98 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity: Die London Docklands – eine Bilanz nach drei Jahrzehnten Strukturwandel .99 Rückblick: Vom Welthafen zur Hafenbrache .100 Von den Docks zu den Docklands: Erste Konzepte und Strategien der Transformation .101 Paradigmenwechsel: Die LDDC und die Enterprise Zone .101 Entwicklungsphasen und städtebauliche Ergebnisse auf der Isle of Dogs .104 Strukturwandel in den übrigen Docklands .106 Fazit .108, Inhalt XV Informationen im Internet .109 Weiterführende Literatur .109 4.5 London als globale Bühne: Flaggschiffprojekte und die Planungen für die Olympischen Spiele 2012 .110 Londons Flaggschiffprojekte der letzten Jahre .110 London und die Olympischen Spiele 2012 .112 Fazit .119 Weiterführende Literatur .119

Kapitel 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken

des Dienstleistungssektors .121 5.1 Einführung .121 5.2 Lost worlds – Altindustriegebiete und ihre Zukunft: Das Beispiel Südwales .124 Tinopolis: Ein frühes Beispiel eines Wirtschaftsclusters in Südwales .126 Aufstieg und Niedergang des industriellen Sektors in Südwales .127 Die Reaktion des Wohlfahrtsstaates .130 Fazit .132 Weiterführende Literatur .133 5.3 Japanische Direktinvestitionen in der britischen Automobilindustrie – das Beispiel Nissan .133 Niedergang und Neubeginn .134 Japanisierung .135 Nissan .138 Modellfabrik Sunderland .139 Zukünftige Perspektiven .140 Informationen im Internet .141 Weiterführende Literatur .141 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel .141 Vom Elite- zum Massentourismus .141 Spas – ein untergenutztes Potenzial .142 Seaside resorts – zwischen Niedergang und Wiederbelebung.143 Comeback der Holiday Camps, Parks und Villages? .147 Heritage tourism – die britische Variante des Kulturtourismus .149 Natur-/Landtourismus – wenig beachtet, aber wichtig .151 Destinationen des britischen Binnentourismus .151 Beherbergungsarten .153 Probleme und Chancen des britischen Binnentourismus .154 Informationen im Internet .155 Weiterführende Literatur .156

Kapitel 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht .157

6.1 Einführung .157 Weiterführende Literatur .159 6.2 Them and us – Migranten und Multikulturalismus in Großbritannien .159 „Migrationsgeschichten“ .160 Aktuelle Trends der Migration .162 Multikulturelle Geographien .162 Die umstrittene Politik der Integration .165 Fazit .166 Weiterführende Literatur .166 6.3 „The friendly eye in the sky“ – Neuordnungen der Städte durch Kontrollpolitik in Großbritannien. 167 Zur Entwicklung der Videoüberwachung in Großbritannien .167, XVI Inhalt Zwecke und (Miss-)Erfolge von CCTV .170 Hintergründe .171 Fazit .174 Weiterführende Literatur .174 6.4 Von der sailor town zu schicken Quais – Transformationsprozesse in Hafenstädten und ihre Rahmenbedingungen .175 Historische Rahmenbedingungen der Hafenentwicklung .175 Neue Techniken im Güterumschlag, das Ende der Docks und einer Lebenswelt .178 Von den Docks zu den Docklands .180 Culture-led development – das Südufer der Themse .181 Von der Hafennutzung zur „Urban Renaissance“ .182 Fazit .183 Informationen im Internet .183 Weiterführende Literatur .183

Kapitel 7 Politik und Raumplanung .185

7.1 Einführung .185 7.2 Raumbezogene Politik und Planung im Wandel der Zeit – von der Zwischenkriegszeit bis zu den 1970er Jahren .186 Town and country planning .187 Regional policy .190 Fazit .196 Weiterführende Literatur .196 7.3 Raum als Markt – Folgen des Staatsverständnisses der Ära Thatcher .197 Cities Unlimited oder: Soweit die Märkte tragen .197 The North-South Divide: Eine unendliche Geschichte?.198 The free economy and the strong state – das Politikmuster des Thatcherismus .199 Zentralstaat und Peripherie: Die alte und neue politische und sozioökonomische Topographie .202 Ein Fazit: Alter Wein in neuen Schläuchen? .205 Weiterführende Literatur .205 7.4 Entwicklungsgesellschaften und Sonderwirtschaftszonen: Neoliberale Ansätze der Wirtschaftsförderung und Raumentwicklung .206 Wandel des Staats- und Planungsverständnisses .206 Enterprise Zones (EZ) .208 Urban Development Corporations (UDCs) .210 Fazit .212 Weiterführende Literatur .213 7.5 Devolution – ein brauchbares Konzept zur Stärkung der Regionen? .213 Die historische Dimension der Devolution im Vereinigten Königreich .215 Devolution als Projekt von New Labour.216 Fazit .221 Informationen im Internet .222 Weiterführende Literatur .222

Kapitel 8 Gesellschaft, Handel und Kultur .223

8.1 Einführung .223 8.2 Zwischen Alicante, Alnwick und Altersheim: Geographische Aspekte des Alterns im Vereinigten Königreich .225 Heterogenität statt Stereotypen .225 Die familiäre Situation .225, Inhalt XVII Die finanzielle Situation .226 Die gesundheitliche Situation .227 Die Wohnungssituation .229 Vor-Ort-Altern oder umziehen .230 Altersmigration ins Ausland .231 Altersmigration im eigenen Land .231 Geographische Verteilung älterer Menschen .232 Die Zukunft .234 Informationen im Internet .235 Weiterführende Literatur .235 8.3 Tesco, Aldi und die neuen „Cornershops“ – Merkmale und Besonderheiten des britischen Lebensmitteleinzelhandels .235 Die wirtschaftliche Bedeutung und Raumwirksamkeit des Einzelhandels .236 Grundzüge des Lebensmitteleinzelhandels .238 Supermärkte und Supermarktketten .239 Discounter .242 Veränderte Ziele der Stadtentwicklungsplanung .242 Fazit .243 Informationen im Internet .243 Weiterführende Literatur .243 8.4 Regional Shopping Center und Factory Outlet Center – neue „Kathedralen“ der britischen Konsumgesellschaft .244 Die Entwicklung des großflächigen Einzelhandels in nichtintegrierten Lagen .244 Regional Shopping Center .245 Factory Outlet Center .248 Weiterführende Literatur .250 8.5 Industrielles Erbe – neuer Motor für Stadtentwicklung in der Spätmoderne? Das Beispiel Manchester .250 Manchester – „Cottonopolis“ und first industrial city .252 Manchesters Weg in die Spätmoderne – von Cottonopolis zu Madchester, Gaychester und Glamchester .257 Der Umbau der Stadt und die Bedeutung des industriegeschichtlichen Erbes (industrial heritage).259 Fazit .263 Weiterführende Literatur .265

Kapitel 9 Ausblick .267

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Kapitel 1 Einleitung Klaus Zehner und Gerald Wood Zum Wert eines Buches über big erscheinenden Menge an Informationen über Groß- Großbritannien in Zeiten britannien einen Fokus zu verleihen. Um dies leisten zu

können, sind von Seiten der Autoren bestimmte Voraus- von Google und Wikipedia setzungen zu erfüllen. Sie müssen über umfangreiche Erfahrungen verfügen, die nur durch eine langjährige In Zeiten, in denen wir mit einer kaum noch zu ver- und intensive wissenschaftliche Beschäftigung, durch arbeitenden Flut von Informationen in Form von Reisen und persönliche Kontakte erworben werden kön- Büchern, Magazinen, Fernseh- und Rundfunkbeiträgen nen. Eine unserer wichtigsten und ersten Aufgaben und das Internet überhäuft werden, drängt sich die bestand daher darin, ein kompetentes Team von Auto- Frage auf, welchen Wert ein (weiteres) Buch über Groß- rinnen und Autoren zusammenzustellen, die sowohl britannien noch haben kann. Welchen Mehrwert kann wissenschaftlich ausgewiesen sind als auch persönliche es gegenüber den vielfältigen anderen Informations- Erfahrungen mit Großbritannien in das Projekt einbrin- quellen, gerade gegenüber den Neuen Medien, eigent- gen können. lich noch bieten? Hierbei handelt es sich vor allem um Kolleginnen Alleine die Suchmaschine Google registriert zu den und Kollegen aus der deutschsprachigen Geographie, Stichworten „Großbritannien“ und „Geographie“ rund wie Gesa Helms, Doris Schmied, Rainer Danielzyk, 455 000 Treffer (zum Stichwort „Großbritannien“ sogar Christoph Scheuplein, Bernd Belina, Boris Braun, über 15,4 Millionen). Schon aus Zeitgründen lässt sich Christian Dietsche und Oliver Boedeker. Auch wir, die lediglich ein verschwindend kleiner Teil der gelisteten Herausgeber, zählen zu diesem Kreis. Seiten näher betrachten. Die Nutzer von Suchmaschi- Allerdings gibt es nicht für alle der in dieses Buch auf- nen beschränken ihren Zugriff auf die dargebotenen genommenen Themen Experten im eigenen Fach, so Informationen zumeist auf die ersten zehn bis 20 Ein- dass wir uns freuen, auch das Interesse von Kollegen aus träge. Neben dieses Problem der kaum noch zu bewälti- Nachbarwissenschaften für unser Buchprojekt geweckt genden Informationsfülle treten zwei weitere Schwierig- zu haben. Mit Richard Stinshoff aus der Anglistik und keiten, die typisch sind für die Inhalte vieler Webseiten. Dirk Schubert aus dem Städtebau haben wir zwei re- Erstens sind die Urheber zumeist unbekannt, so dass nommierte Fachleute zu den Themen „Thatcherismus“ sich schon aus diesem Grund die Seriosität der Inhalte und „Waterfront Development“ gewinnen können. An kaum abschätzen lässt. Zweitens beinhalten die Seiten ihren Beiträgen lassen sich u. a. eine große inhaltliche häufig eher enzyklopädisch zusammengestellte Infor- Nähe und ein ähnliches Interesse an aktuellen gesell- mationen und Fakten, die oft unverknüpft nebeneinander schaftlichen Entwicklungen zwischen Geographie und stehen. Dennoch ist das Internet zu einer unverzichtba- den Nachbardisziplinen ablesen. ren Informationsquelle für den wissenschaftlichen und Trotz der wiederholten und nicht selten längeren den Alltagsgebrauch geworden, die vergleichsweise Aufenthalte der deutschsprachigen Autoren in Großbri- schnell und effizient erschlossen werden kann. Aller- tannien ist ihr Verhältnis zu ihrem Gegenstand durch dings ist auch klar: Die Vernetzung von Informationen eine räumliche bzw. alltagsweltliche Distanz geprägt. und die Herstellung von Zusammenhängen finden dort Dies ermöglicht auf der einen Seite eine für die wissen- so gut wie nicht statt. schaftliche Arbeit nötige kritische Distanz, führt aber, Aber genau darum geht es im vorliegenden Buch. auf der anderen Seite, zu einem Verlust an Fühlungsvor- Eine zentrale Aufgabe, die wir uns als Herausgeber teilen, die sich durch tägliche persönliche Erfahrungen gestellt haben, ist der Versuch, der unbegrenzt und belie- im bzw. mit dem Land und seinen Bewohnern ergeben., 121Einleitung Aus diesem Grund waren wir froh, als uns mit Claire man sich auf solche Fragen einlässt, ist es unserer Über- Dwyer aus London und Phil Cooke aus Cardiff zwei aus- zeugung nach möglich, hinter die Fassade empirischer gewiesene Wissenschaftler aus Großbritannien ihre Mit- Phänomene zu schauen und tiefer liegende Zusammen- arbeit zugesagt hatten. Claire Dwyer hat einen sehr sti- hänge und Verbindungen herzustellen. Eine solche Vor- mulierenden und nachdenklich stimmenden Beitrag gehensweise drängt sich bei bestimmten Themen gera- über Migranten und Multikulturalismus beigesteuert, dezu auf, bei anderen spielt sie eher eine untergeordnete während der Text von Phil Cooke einen gründlichen Rolle. In keinem Fall jedoch bedeutet sie, dass den und tiefen Einblick in die wirtschaftlichen Entwick- Lesern unumstößliche „Wahrheiten“ angeboten werden, lungsprobleme von Wales gestattet. wohl aber wissenschaftlich fundierte und sprachlich nachvollziehbare Deutungsangebote der Verfasser. Wir hoffen, dass die Leser dieses Buches durch die Lektüre

Zum Ansatz des Buches angeregt werden, sich mit den angesprochenen Themen

wie auch mit den von uns vorgenommenen Deutungen Über Großbritannien gibt es eine Fülle deutsch- und kritisch auseinanderzusetzen. englischsprachiger Literatur, darunter auch zahlreiche Das Buch beginnt mit einer eher traditionellen Ein- Sammelbände, die einen differenzierten Blick auf das führung in die physische Geographie Großbritanniens. Land gestatten. Ein nicht geringer Teil dieser Literatur An den Anfang haben wir einen kurzen Essay über das stammt von Geographen, die ihren Gegenstand mit britische Klima und Wetter gestellt. Auf der einen Seite wechselnden inhaltlichen und methodischen Perspekti- ist das Wetter für Briten ein ausgesprochen wichtiges ven in Augenschein nehmen. Die Beschäftigung mit die- Alltagsthema. Als Gegenstand von Small Talk verein- ser Literatur war anregend und für die Konzeption des facht es die Kommunikation und ermöglicht so unver- vorliegenden Buches von großer Bedeutung. Uns ist klar, bindliche Kontakte im täglichen Miteinander. Auf der dass kein noch so ambitioniertes Buchprojekt über anderen Seite wirken sich Wetter und Klima in ihrer Großbritannien die prinzipiell unerschöpfliche Fülle räumlichen Differenzierung in vielfältiger Weise aus, von Themen aufnehmen kann und daher notwendiger- z. B. in der Landwirtschaft, beim Binnentourismus oder weise auswählen und auslassen muss, auch wenn das in der Fischereiwirtschaft. Projekt von Geographen in Angriff genommen wird Im Mittelpunkt von Kapitel 2 steht die Entstehung und somit Fragen zu räumlichen Strukturen und ihren der größten britischen Insel, die seit der Vereinigung von Entwicklungen einen Fokus bilden. Diese Situation bot England (und Wales) mit Schottland im Jahre 1801 als für uns die Chance, gerade auch solche Themen auf- Großbritannien bezeichnet wird, und zwar aus geologi- zugreifen und zu diskutieren, die bislang durch das scher und geomorphologischer Sicht. In seinem Beitrag R elevanzraster anderer Autoren gefallen sind, unserer über die Entwicklung der physischen Gestalt Großbri- Meinung nach aber wesentlich für ein Verständnis tanniens zeigt Oliver Boedeker auf, an welchen zeit- Großbritanniens sind. Die übergeordneten Fragen, die lichen Nahtstellen – seit Entstehung der Erde vor ca. 4,55 uns als Herausgeber bei der Konzeption dieses Buches Milliarden Jahren (dem Beginn des sog. Präkambriums) geleitet haben, können folgendermaßen umrissen wer- bis zum Beginn des Quartärs (vor ca. 2,6 Millionen Jah- den: Welche Prozesse lassen sich identifizieren, die die ren) – die Grundzüge des Reliefs herauspräpariert wur- gesellschaftlichen und räumlichen Strukturen Großbri- den. Die Feinheiten der heutigen Oberflächenformen tanniens maßgeblich geprägt haben bzw. prägen? Wie Großbritanniens sind jedoch überwiegend das Ergebnis und anhand welcher Themen lässt sich das komplexe der Formungsprozesse während des Eiszeitalters (Pleis- Wirkungsgefüge von Sozialem und Räumlichen für die tozän). Vor allem die Bergländer von Wales und Schott- Leser nachvollziehbar und motivierend entwickeln? land wurden mindestens dreimal während des Pleisto- Neben der angesprochenen inhaltlichen Differenz zu zäns von mächtigen Gletschern bedeckt, die sowohl in anderen Veröffentlichungen über Großbritannien steht Form von Abtragungs- als auch Aufschüttungsformen zudem eine perspektivische. Hierbei geht es im Wesent- ihre Spuren in der Landschaft hinterlassen haben. lichen um die Einnahme einer anderen Sichtweise auf Kapitel 3 greift aus historisch-geographischer Sicht die betrachteten Phänomene. So spielt neben der Be - das Thema „Landesentwicklung“ wieder auf und the- trachtung konkreter sozialer Prozesse im Raum auch die matisiert die Gestaltung und Nutzung der Naturland- Frage eine wichtige Rolle, mit welchen Deutungen und schaft durch den Menschen, sowohl in der Frühge- Symbolen sozialräumliche Prozesse gesellschaftlich schichte und Antike als auch in Mittelalter und Neuzeit. belegt sind und in welcher Weise sich in räumlichen Die thematische Ausrichtung der Beiträge orientiert sich Strukturen und ihrer Dynamik gesellschaftliche Macht- stark an nach unserer Auffassung bedeutenden Ein- verhältnisse spiegeln bzw. reproduzieren. Erst wenn schnitten in der britischen Kultur- und Kulturland-, 1 Einleitung31schaftsgeschichte. Hervorgehoben haben wir vor allem liche Entwicklung wird insbesondere auf die Transfor- jene sozialräumlichen Entwicklungsgänge, die das Land mation der ehemaligen innenstadtnahen Docks zu nachhaltig und vermutlich unumkehrbar verändert neuen Stadtteilen an der Waterfront mit hochwertigen haben. Arbeitsplätzen in der Dienstleistungswirtschaft einge- Ein bedeutender Einschnitt in der politischen, sozia- gangen. Diese Umwandlung hat neue Funktionen und len und kulturellen Entwicklung Großbritanniens stellt neues Leben in das einstige Armenhaus Londons, das das Jahr 1066 dar, als England von den Normannen East End, gebracht. Ohnehin befindet sich die Osthälfte erobert wurde. Zwar lassen sich auch in der gegenwärti- der Stadt in einer starken Umbruchsituation. Im Osten gen Kulturlandschaft noch vereinzelte Spuren aus den entstehen nämlich zurzeit die Sportstätten für die davorliegenden Zeiten finden, etwa aus dem frühen Olympischen Spiele im Jahre 2012. In ihrem Beitrag Mittelalter, aus der römischen, ja sogar aus der kelti- über Flaggschiffprojekte als Motoren einer spätmoder- schen Zeit; dennoch wurden mit der normannischen nen Stadtentwicklungspolitik greifen Boris Braun und Eroberung eine territoriale Ordnung (Grafschaften) Christian Dietsche das Thema „Olympische Spiele und gesellschaftliche Struktur (Klassen) geschaffen, die 2012“ auf und beleuchten die Chancen und Risiken die- bis in die Gegenwart hinein präsent und wirksam sind. ses Megaprojekts für London. Eine weitere, noch wirkungsmächtigere Veränderung Eine Beschäftigung mit London gleicht dem Blick erfuhr Großbritannien im 18. Jahrhundert durch die durch ein Brennglas: Gesellschaftliche Entwicklungs- Industrielle Revolution. Dass die gewaltigen sozialen, linien und ihre räumlichen Bezüge entfalten sich hier in wirtschaftlichen und technologischen Umbrüche, die besonders prononcierter Weise und lassen sich daher aus ihr resultierten, ausgerechnet in Großbritannien gut näher verfolgen. Der Nachteil einer solchermaßen und im 18. Jahrhundert stattfanden, ist selbstverständ- fokussierten Betrachtung liegt jedoch darin, dass die lich kein Zufall. Vielmehr war in jener Zeit eine Reihe Vielfalt des Zusammenspiels von gesellschaftlicher und von wichtigen Ausgangsbedingungen, die sich wechsel- räumlicher Entwicklung aus dem Blick geraten kann. seitig stimulierten und die Industrielle Revolution Denn auch in anderen Räumen des Landes haben sich erheblich begünstigten, gegeben. Die Rede ist hier von im 20. Jahrhundert tief greifende Veränderungen vollzo- der Agrarrevolution sowie dem Bau von Straßen und gen, z. B. Deindustrialisierung, die Ansiedlung neuer Kanälen, noch vor dem Aufkommen der Eisenbahn. Industrien und eine erhebliche Ausweitung des Dienst- Wichtig war auch die Verfügbarkeit von Kapital, das leistungssektors. Aber hier wichen die sozialen und durch den Kolonialismus akkumuliert worden war und (natur-)räumlichen Rahmenbedingungen, vor allem die für die Umsetzung technischer Innovationen, für den historischen Entwicklungslinien zum Teil erheblich von Bau von Fabriken, Bergwerken und Infrastrukturein- der Situation in London ab, so dass eine Betrachtung richtungen eingesetzt werden konnte. Londons nur bedingte Rückschlüsse auf andere Teile des Ein zentraler Schlüssel zum Verständnis von wirt- Landes zulässt. schaftlichen und sozialen Entwicklungsprozessen in In Kapitel 5 werden daher die genannten zentralen ganz Großbritannien ist die Vormachtstellung Londons, ökonomischen Entwicklungslinien aufgegriffen und auf der dominierenden Metropole des Landes. London ist ganz Großbritannien bzw. eine ausgewählte „Altin - aber weit mehr als nur die Primatstadt und Hauptstadt dustrieregion“ (Südwales) bezogen. Großbritannien als Großbritanniens. Die Stadt war auch das politische Zen- Pionier der Industriellen Revolution war auch im Hin- trum des Empire und ist noch immer die Hauptstadt der blick auf den wiederholten Umbau der wirtschaftlichen Nachfolgeorganisation des Empire, des Commonwealth. Grundlagen des Landes ein globaler Vorreiter. Früher Somit ist London eine alte Weltstadt mit Traditionen, und teilweise auch deutlich radikaler als in anderen fort- was ihren unvergleichlichen Reiz ausmacht. Allerdings geschrittenen Volkswirtschaften vollzogen sich wirt- hat sich der Weltstadtcharakter Londons, ausgelöst schaftlicher, gesellschaftlicher und räumlicher Wandel durch die ökonomische Globalisierung der drei zurück- im 20. Jahrhundert. Dieses interessante Phänomen wird liegenden Jahrzehnte, erheblich verändert. Heute prä- an einem räumlichen Beispiel, nämlich der Altindustrie- sentiert sich London als bedeutendste Finanzmetropole region im südlichen Wales, und an zwei thematischen der Welt und somit als eine überwiegend ökonomisch Beispielen (Automobilindustrie und Binnentourismus) definierte Global City moderner Prägung. Insbesondere näher betrachtet. Die Verfasser der Beiträge, Phil Cooke der Aufschwung der Finanzwirtschaft hat massive wirt- („Wales“), Christoph Scheuplein („Japanische Direktin- schaftliche, städtebauliche und soziale Veränderungen vestitionen in der britischen Automobilindustrie“) und innerhalb der Stadt hervorgerufen, die in Kapitel 4 the- Doris Schmied („Entwicklung des britischen Binnen- matisiert werden. Neben den aktuellen Prozessen der tourismus“), beziehen in die Betrachtung der konkreten Stadtentwicklung und deren Folgen für die sozialräum- ökonomischen und räumlichen Entwicklungen die, 141Einleitung ihnen zugrunde liegenden sozialen und politischen wichtiger und sichtbarer Prozess, der zudem von tiefen Erklärungsmomente ein und schaffen auf diese Weise sozialen und sozialräumlichen Umbrüchen begleitetet plastische und prägnante Porträts des Wandels. wird. Gesellschaftliche Veränderungen und ihre räum- Für ein Verständnis der gesellschaftlichen und räum- lichen Bezüge verweisen auch auf Fragen von Teilhabe lichen Entwicklung Großbritanniens ist die Kenntnis und Macht. Das soll die für Kapitel 6 gewählte Über- der politischen und planungspolitischen Besonderhei- schrift „Neue Geographien der Macht und Ohnmacht“ ten eine große Hilfe. In einer Reihe von Beiträgen dieses signalisieren. In diesem Kapitel werden wichtige jüngere Buches werden die Zusammenhänge von gesellschaft- gesellschaftliche Entwicklungstendenzen thematisiert, licher Entwicklung und politischer Steuerung angespro- die auch in anderen europäischen Ländern zu beobach- chen und in die Analyse einbezogen, so auch besonders ten sind, dort aber unter zum Teil anderen Rahmenbe- in Kapitel 6. dingungen und auch in anderer Intensität ablaufen: Die Ausrichtung von Kapitel 7 soll der herausragen- Zuwanderung und Multikulturalismus, Videoüberwa- den Rolle von Politik und Raumplanung für räumliche chung in städtischen Räumen und Transformations - Entwicklungsprozesse Rechnung tragen. Es beginnt mit prozesse in Hafenstädten. In allen drei Beiträgen wird einem Überblick über die politische Intervention des das Verhältnis von Macht und Raum thematisiert, das Staates in die räumliche Entwicklung des Landes, die im in den letzten Jahren auf eine zunehmende Resonanz 19. Jahrhundert (town and country planning/Raumpla- in der Geographie und anderen Sozialwissenschaften nung) bzw. in der Zwischenkriegszeit (regional policy/ gestoßen ist. Die Diskussion erfolgt auf zwei miteinan- regionale Strukturpolitik) ihren Anfang genommen der verbundenen Ebenen. Auf der einen werden die hatte und sich dann über einen langen Zeitraum in der materielle Verfügungsgewalt und Gestaltungsmacht Nachkriegszeit weiter entfaltete. Getragen wurde der über Räume angesprochen und auf einer eher symboli- Ausbau des staatlichen Planungs- und Steuerungsappa- schen Ebene der Betrachtung die Deutungshoheit über rats vom „Nachkriegskonsens“, der parteiübergreifen- Räume. Der Beitrag von Claire Dwyer konkretisiert den Überzeugung von der Notwendigkeit staatlichen diese beiden Perspektiven auf gesellschaftliche Ent- Eingreifens in die gesellschaftliche und räumliche Ent- wicklungen und ihr Zusammenwirken am Beispiel von wicklung des Landes. Dieser Konsens geriet jedoch spä- Mig rat ion und Multikulturalismus. Gerade im Zus am- testens mit dem Amtsantritt von Margaret Thatcher im menhang mit der Errichtung von Sakralbauten für Jahre 1979 in Bedrängnis. Für Margaret Thatcher war nichtchristliche Glaubensgemeinschaften der Zuwande- „Konsenspolitik“ ein Schimpfwort, da Konsens der Auf- rer und den sich hieran entzündenden Problemen und gabe von Überzeugungen, Prinzipien und Werten Konflikten mit der lokalen Bevölkerung und der Politik gleichkomme, wie sie mehrfach öffentlich bekundete. treten gesellschaftliche Machtverhältnisse, aber auch Demgegenüber propagierte und vertrat die neue Pre- deren Dynamik im Kontext von Zuwanderung und mierministerin eine starke Politik, die auf die regulie- Multikulturalität deutlich hervor. Gesa Helms und renden Kräfte des Marktes vertraute. Dabei scheute sie Bernd Belina gehen in ihrem Beitrag über Video-Über- weder den offenen Konflikt mit anderen Akteuren noch wachungsanlagen (Closed Circuit Television, CCTV) in die Verunglimpfung eines über Jahrzehnte austarierten öffentlichen städtischen Räumen auf eine in Europa ein- Steuerungs- und Planungssystems, das sich aus der Sicht malige Entwicklung ein. Sie analysieren, welche Rolle der neuen Regierung jedoch weitgehend diskreditiert Videoüberwachungsanlagen für das gesellschaftliche hatte. In ihren Beiträgen über die neuen Leitlinien der Leben spielen und welche Auswirkungen mit dem flä- staatlichen Politik loten Richard Stinshoff („Raum als chenhaften Einsatz von CCTV in bestimmten Teilräu- Markt“) und Rainer Danielzyk („Neoliberale Ansätze men britischer Städte für deren Nutzer einhergehen. der Wirtschaftsförderung und Raumentwicklung“) die Weniger spektakulär, aber nicht minder bedeutsam für Prämissen und die sozialräumlichen Folgen des „That- Fragen der Teilhabe und Macht ist das Thema, mit dem cherismus“ aus. Interessanterweise stellte der Thatche- sich Dirk Schubert beschäftigt: die Entwicklung von rismus, entgegen der Rhetorik seiner Vertreter und der Hafenstädten vor dem Hintergrund der Restrukturie- Überzeugung vieler Kritiker, aber keineswegs eine reine rung von Hafenwirtschaft, Planungspolitik und gesell- marktförmige Steuerung von gesellschaftlichen und schaftlichen Strukturen. Die Veränderungstendenzen, räumlichen Prozessen dar. Vielmehr handelte es sich um die beschrieben und analysiert werden, lassen sich eine Mischung von ökonomischem Liberalismus und durchaus auch auf andere nationale Beispiele beziehen. autoritärer Zentralisierung. Die in diesem Spannungs- Da die Seefahrt für Großbritannien aber eine vergleichs- feld entwickelten Formen der Steuerung gesellschaft- weise hohe Bedeutung besaß, ist auch die Umstrukturie- licher Prozesse sind Gegenstand der beiden Beiträge von rung der Hafenstädte bzw. der Häfen ein besonders Richard Stinshoff und Rainer Danielzyk. Den Abschluss, 1 Einleitung51des Kapitels bildet ein Beitrag über „Devolution“. Hier- fragerseite eingestellt hat. Insbesondere der Lebens- bei handelt es sich um eine Übertragung staatlicher mitteleinzelhandel mit seinen großflächigen Hypermar- Funktionen auf die regionale Ebene, wie sie in Großbri- kets an den Stadträndern und kleinen, aber extrem gut tannien beispielsweise in Wales (1998) und Schottland sortierten Convenience-Stores in den Innenstädten (1999) erfolgt ist. Dieser Schritt zu einer gewissen poli- reflektiert eindrucksvoll die Breite der Lebensstile in der tischen Eigenständigkeit kann als eine Antwort auf das gegenwärtigen britischen Gesellschaft. stark zentralisierende politische Programm des That- Die wachsende Bedeutung von „Kultur“ für die Ent- cherismus gesehen werden. Allerdings entspringt er wicklung von Städten und Regionen und die bewusste auch der Überlegung, dass den Steuerungskapazitäten Instrumentalisierung von Kultur durch die (Planungs-) des Zentralstaates Grenzen gesetzt sind. Insofern lässt Politik sind Gegenstand des letzten Beitrags. Am Beispiel sich die Devolution-Debatte auch als eine Antwort des der Stadt Manchester wird aufgezeigt, wie sich die Staates auf die Einschränkungen der eigenen Hand- Transformation einer Stadt, die mit der Baumwollin- lungsfähigkeit deuten. So attraktiv diese politische Inno- dustrie ihre industrielle Basis eingebüßt hatte, zu einer vation aus der Sicht des Zentrums auch erscheinen mag, der wirtschaftsstärksten britischen Städte und zur Kul- sie lässt sich nicht ohne Probleme bzw. Brüche in einem turmetropole in Nordwestengland vollzogen hat. Land wie Großbritannien realisieren. So ist derzeit die Zum Abschluss wird in Kapitel 9 der Blick anhand Frage völlig ungeklärt, welcher Status England bzw. den einiger zentraler Themen in die Zukunft gelenkt. Von englischen Regionen im Staatsaufbau zukommt. Das großer Bedeutung, nicht nur für Großbritannien selbst, wird in dem Beitrag u. a. an der spannenden West sondern auch für die EU, die USA und die NATO ist die Lothian Question diskutiert. weitere außenpolitische Positionierung des Landes. Wie Großbritannien hat sich in seinen wirtschaftlichen lassen sich die aktuellen politischen Signale aus London und gesellschaftlichen Strukturen im 20. Jahrhundert deuten, und worauf nehmen sie historisch Bezug? Des erheblich gewandelt. Der Entwicklungsstand des Landes Weiteren wird die Zukunft Großbritanniens in entschei- drückt sich u. a. in einem Bedeutungsrückgang der In- dender Weise davon abhängen, wie sich aktuelle demo- dustrie zugunsten des Dienstleistungssektors aus, aber graphische und soziale Trends wie Alterung und die auch in einer sich beschleunigenden Alterung der Bevöl- Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit weiter ausge- kerung, einer zunehmenden Konsumorientierung der stalten werden. Beim Thema Alterung wird es in Gesellschaft und einer generellen Bedeutungssteigerung Zukunft allerdings nicht nur darum gehen, die vielfälti- von „Kultur“ für die räumliche Entwicklung. Diese drei gen sozialen, politischen, ökonomischen und räum- großen gesellschaftlichen Entwicklungslinien bilden den lichen Herausforderungen zu meistern, sondern auch Fokus von Kapitel 8. Mit den jüngeren demographi- die Potenziale einer älter werden Gesellschaft zu erken- schen Veränderungen im Zeichen einer zunehmenden nen und zu nutzen. Zu den großen sozialen Herausfor- Alterung und ihren räumlichen Auswirkungen setzt sich derungen gehört das zunehmende sozioökonomische der Beitrag von Doris Schmied auseinander. Insbeson- Auseinanderdriften verschiedener Bevölkerungsteile, dere geht er auf die Migration älterer Menschen vor dem das auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen Hintergrund ihrer individuellen Optionen ein und ver- erfolgt („Nord-Süd-Kontrast“, innerstädtische Un- deutlicht, welche Städte und Regionen sich in der Ver- gleichheiten). Diese sozioökonomischen Entwicklungen gangenheit auf den Zuzug älterer Menschen einstellen stehen in einem engen Verhältnis zur wirtschaftlichen mussten. Lage. Nicht zuletzt deshalb wird auch die ökonomische Die zunehmende, an US-amerikanische Verhältnisse Zukunft thematisiert, die sich vor dem Hintergrund erinnernde Konsumorientierung der britischen Gesell- einer zunehmenden Bedeutung von Bildung vollziehen schaft nach dem Zweiten Weltkrieg ging Hand in Hand wird. mit einer starken Ausdifferenzierung des Einzelhandels. Abschließend möchten wir anmerken, dass in den Vor allem in den 1980er Jahren haben sich in Groß- Beiträgen im Sinne einer besseren Lesbarkeit weitge- britannien unter den wirtschaftlichen Rahmenbedin- hend auf die Nennung von Quellenangaben verzichtet gungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik Margret worden ist. Stattdessen finden sich am Ende jedes Bei- Thatchers neuartige Betriebsformen und Standort - trags Hinweise auf weiterführende Literatur, die den agglomerationen des Einzelhandels (z. B. Malls und Lesern die Möglichkeit bieten, bei Interesse tiefer in das Factory Outlet Centers) etablieren können, mit denen Thema einzusteigen. sich der Handel auf die sich ausdifferenzierende Nach-,

Kapitel 2 Klima und Landschafts-

entwicklung 2.1 Einführung die südenglischen Seebäder im Juli und August einen Nutzen. Aber auch Wintersport ist in Großbritannien möglich. Aufgrund ihrer Höhenlage und ihres Nieder- Klaus Zehner schlagsreichtums haben sich in den schottischen Gram- pian Mountains fünf als schneesicher geltende Winter- Wohl kaum ein anderes Vorurteil dürfte außerhalb sportgebiete etablieren können. Großbritanniens so verbreitet sein wie das über sein Wetter und Klima sind somit zentrale Themen, die Wetter und sein Klima. Eine genauere Betrachtung der für die Raumnutzung von übergeordneter Bedeutung klimatischen und meteorologischen Verhältnisse fördert sind. Dies gilt nicht nur für die Gegenwart; vielmehr hat aber schnell zutage, dass Wetter und Klima keinesfalls das Klima auch in weit zurückliegenden Zeitaltern in schlechter bzw. unwirtlicher sind als etwa in Mitteleu- entscheidender Weise auf die Erdoberfläche eingewirkt. ropa. Dennoch sind die meteorologischen und klimati- In seinem Beitrag über die Entstehung der Britischen schen Verhältnisse zwischen Großbritannien und dem Inseln zeichnet Oliver Bödeker nach, wie sich Klimate Kontinent verschieden. So ist das britische Wetter deut- vergangener Erdzeitalter, sog. Paläoklimate, auf Abtra- lich wechselhafter und nuancenreicher als das mitteleu- gungs- und Sedimentationsprozesse ausgewirkt haben. ropäische. Das Klima Großbritanniens hingegen wird – Während der vergangenen 550 Millionen Jahre wurden bedingt durch den Golfstrom – wesentlich stärker von die Britischen Inseln bzw. die Gesteinspakete, aus denen maritimen Einflüssen geprägt als das Mitteleuropas. sie entstanden sind, durch plattentektonische Bewegun- Vom Golfstrom profitiert vor allem die Westhälfte gen vom 40. südlichen Breitenkreis bis zu ihrer gegen- Großbritanniens im Winter, wenn die Temperaturen wärtigen Position befördert. Auf dieser Route wechsel- nur selten die 4 °C-Marke unterschreiten. Allerdings ten sich mehrfach Gebirgsbildungs- und Abtragungs- empfangen die westlichen Landesteile im Jahresverlauf und Sedimentationsprozesse ab, die gemeinsam das auch erheblich mehr Regen als der Osten des Landes. Grundmuster der heutigen Oberflächengestalt geschaf- Diese hier nur angedeuteten klimageographischen fen haben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass auf dem Unterschiede spiegeln sich deutlich in der Ausrichtung Weg durch verschiedene Klimazonen mehrfach aride der Landwirtschaft wider. So werden im sommerwar- und humide Bedingungen gewechselt haben, was sich men Südostengland, in der Grafschaft Kent, vor allem noch heute in den geologischen Strukturen Großbritan- Sonderkulturen wie Obst, Wein und Hopfen angebaut. niens deutlich widerspiegelt. Durch die globale Erderwärmung haben sich hier in den Den im wahrsten Sinne des Wortes letzten Schliff hat letzten Jahren insbesondere die Bedingungen für den Großbritannien erst im Eiszeitalter bekommen, als ins- Weinanbau verbessert. Der trockene Osten Englands besondere die nördlichen und mittleren Landesteile von bietet hervorragende Voraussetzungen für den Acker- mächtigen Gletschern bedeckt waren und überformt bau, während in der Westhälfte und in den Mittelge- wurden. Der Mensch spielte zu dieser Zeit noch keine birgslagen aufgrund der höheren Niederschläge die entscheidende Rolle. Zwar weisen archäologische Funde Viehhaltung dominiert. auf die Existenz von Menschen in den wärmeren Ab - Auch der Binnentourismus wird in seiner Struktur schnitten des Eiszeitalters hin. Ihre Anzahl war jedoch ganz erheblich von klimatischen Randbedingungen sehr gering. Zudem waren die Menschen der Altsteinzeit beeinflusst. So profitiert die englische Südküste im nur Jäger und Sammler. Sie haben weder systematisch Sommer von hohen Sonnenscheinstundenzahlen, jed en - gesiedelt, gerodet oder Ackerbau betrieben. Bis zur falls für britische Verhältnisse. Hieraus ziehen vor allem Jungsteinzeit wurde demzufolge die Landschaftsent-, 282Klima und Landschaftsentwicklung wicklung Großbritanniens ausschließlich durch natürli- kaum aus dem kollektiven Gedächtnis der Kontinental- che Kräfte und Prozesse gesteuert. Erst mit Beginn der europäer zu verbannen. Jungsteinzeit begann der Mensch, die Naturlandschaft Dass bestehende Vorurteile über Großbritannien von zu formen, zu gestalten und sie in vielfältiger Weise zu einer feuchten und kalten Insel immer wieder neue Nah- nutzen. rung erhalten, mag auch mit der häufig reißerischen Form der Berichterstattung über extreme Wetterereig- nisse in Großbritannien zu tun haben. So verbergen sich 2.2 Immer ein Thema: hinter Schlagzeilen wie „Großbritannien versinkt in den

Wetter und Klima Fluten“ (taz vom 25.7.2007) oder „Flutchaos in Groß-

britannien“ (Hamburger Abendblatt vom 20.11.2009) Berichte über außergewöhnliche, aber eben auch lokal Klaus Zehner begrenzte Wetterphänomene wie Windhosen oder Starkregen. Solche Meldungen werden oft nicht mit der „Das Wetter war immer schlecht … Starker Regen fiel jeden nötigen Differenziertheit dargestellt und wahrgenom- zweiten Tag. Und die anderen Tage waren kalt; Nebel und Wind machten sie noch schlimmer als die Regentage. Was für ein men. Vielmehr bedienen sie in perfekter Weise das schreckliches Klima“ (François de la Rochefaucauld 1784, fran- ohnehin schon tief verankerte Klischee vom regenrei- zösischer Schriftsteller). chen und garstigen Klima Großbritanniens. Viel seltener jedoch prägen persönliche Erlebnisse in „Grundsätzlich gilt, dass noch niemand Großbritannien wegen Form eines verregneten Urlaubs auf der Isle of Wight des Klimas als Urlaubsort ausgewählt hat. Es ist grundsätzlich oder Dauerregen während eines Städtetrips nach Man- feucht und zugig. Bei diesen meteorologischen Gegebenheiten chester oder London eigene Vorstellungen vom Wetter fragt man sich manchmal, was die ersten Menschen, die je den und Klima Großbritanniens. Denn die Chancen, wirk- Fuß auf die heutigen Britischen Inseln setzten, überhaupt zum lich negative Erfahrungen mit dem britischen Wetter zu Verbleib bewogen hat“ (Wolfgang Koydl 2009, Auslandskorres- machen, sind eher gering, es sei denn, es zieht den Rei- pondent der Süddeutschen Zeitung und Buchautor). senden im Herbst auf die Isle of Skye oder auf die Shet- Hinzufügen könnte man diesen beiden Zitaten über das land-Inseln. scheinbar so abweisende Klima Großbritanniens noch Fest steht jedenfalls, dass die pessimistischen Bemer- die von Rudolf Walter Leonhardt (1957) übermittelte kungen zum Wetter und Klima Großbritanniens einer Anekdote von einem spanischen Diplomaten, der bei seriösen wissenschaftlichen Überprüfung kaum stand- seinem Abschied von London gebeten haben soll, der halten. In seiner Landeskunde über Großbritannien englischen Sonne seine Empfehlungen zu übermitteln, betont Jäger (1976) zu Recht, dass das Klima deutlich er habe sie leider nie kennengelernt. besser sei als sein Ruf und vor allem regional erheblich Diese sehr persönlich gefärbten Wahrnehmungen stärker differenziert sei, als es den landläufigen Vorstel- bzw. Einschätzungen des britischen Klimas entsprechen lungen der Mitteleuropäer entspräche. Und Leonhardt in der Tat jenem Bild, das in den Köpfen der meisten hebt in seiner lesenswerten Hommage an England und Kontinentaleuropäer als unumstößliche Wahrheit ver- die Engländer hervor, dass Paris mehr Regen empfängt ankert zu sein scheint. Ein Grund hierfür könnten die als London und dass es wirklich verregnete Gebiete im immer wieder aufkochenden Legenden über den be- eigentlichen England ebenso wenig gibt wie in Deutsch- rüchtigten Londoner Smog sein, obwohl dieser nur noch land. sehr selten vorkommt. Denn im Jahre 1956 wurde mit dem Clean Air Act ein sehr wirkungsmächtiges Gesetz zur Luftreinhaltung verabschiedet. Im Mittelpunkt des In seinem auch heute noch lesenswerten Buch England, die Gesetzestextes stand das Verbot der Benutzung von unbekannte Insel hebt der deutsche Schriftsteller Paul Kohle zum Heizen von Wohnungen. Bis dahin allerdings Cohen-Portheim (1931) den für England so typischen Wech- war es vor allem im Winterhalbjahr durch den Ausstoß sel des Wetters hervor: „Beständig ist nur der Wechsel: Wir von Ruß und Schwefeloxiden regelmäßig zur Bildung haben kein Wetter, nur Proben, ist ein englischer Aus- von zumeist sehr zähem Nebel gekommen. Mit dem spruch. Ständig streichen die wechselnden Winde über die Inkrafttreten des Gesetzes konnte die Belastung der Luft Insel; nirgends ist man sehr weit vom Meere entfernt; durch Aerosole schlagartig und deutlich reduziert wer- Wolken, Sonnenschein, Regen, Nebel lösen sich in schnel- ler Folge ab … Klima und Wetter sind voller Übergänge und den, so dass auch bei austauscharmen Hochdruckwet- Nuancen – die Sprache hat eine Anzahl unübertragbarer terlagen im Winter Smog nur noch vereinzelt auftrat. Ausdrücke für sie geformt – sie sind alle ohne Übertreibung, Dennoch halten sich Geschichten über den Londoner sind Zwischendinge, sind undramatisch. Die Sonne sengt Nebel ausgesprochen hartnäckig und sind offenbar, 2.2 Immer ein Thema: Wetter und Klima92nicht, die Kälte tötet nicht, der Regen ist nicht wolken- bruchartig; das englische Klima hat dieselbe Abneigung gegen alles Maßlose und Hyperbolische, wie sie die Pro- dukte dieses Klimas: die Engländer, haben. Es ist launen- haft, aber nicht unvernünftig, nie unerträglich, vieldeutig“ (S. 13). Allerdings ist das britische Wetter deutlich abwechs- lungsreicher als das mitteleuropäische. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Großbritannien liegt erheblich näher als Mitteleuropa am Entstehungsgebiet von Fron- talzyklonen, die sich zwischen Island-Tief und Azoren- Hoch entwickeln. Diese Tiefdruckgebiete sind, wenn sie auf das britische Festland stoßen, noch relativ jung. Somit ist ihre Zirkulationsenergie gemessen an mittel- europäischen Verhältnissen hoch, und ihre Frontensys- teme sind recht deutlich ausgeprägt. Wegen der höheren Windgeschwindigkeiten ziehen die Fronten rascher durch als auf dem Kontinent. Nieselregen, trockene Abschnitte und kräftige Regenschauer folgen in deutlich kürzeren Zeitintervallen aufeinander, was zu dem von Cohen- Portheim so prosaisch beschriebenen wechselhaften Charakter des britischen Wetters führt. Abb. 2.1 Bodenwetterkarte der Britischen Inseln beim Durch- zug eines Tiefdruckgebiets.

Maritimität

küste im Westen widerspiegelt. So beträgt die Durch- Das Klima Großbritanniens wird ganz entscheidend schnittstemperatur im kältesten Monat Februar auf der durch den Einfluss des Atlantiks geprägt. Es kann als Hebrideninsel Lewis knapp 5 °C, während Penzance feucht und warm-gemäßigt bezeichnet werden. Die (Cornwall) sogar 7 °C verzeichnet. Der Verlauf der 4 °- Tages- und Jahresamplituden der Temperaturkurven Januarisotherme spiegelt den atlantischen Einfluss im verlaufen gedämpft, die Jahresmaxima der Temperatu- Winter nahezu perfekt wider. Sie verläuft fast meridio- ren werden an den Küsten erst im August und die nal und trennt die wintermilden westlichen Küsten Minima erst im Februar erreicht. Winterliche Kältepe- und küstennahen Landstriche vom Binnenland, wo rioden sind ebenso selten wie sommerliche Hitzeperio- die Temperaturen im Januarmittel unter 4 °C sinken den, beide können aber vorkommen. (Abb. 2.2). Die vorherrschende Maritimität des britischen Kli- Die Küsten Ostenglands profitieren im Winter eben- mas hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: falls von maritimen Einflüssen, die von der Nordsee aus- Erstens liegt Großbritannien – mit Ausnahme der Shet- gehen. Ihre Wirkung ist jedoch schwächer als die des land-Inseln, die bis an den 61. Breitenkreis heranreichen Atlantiks im Westen und schwindet wegen der vorherr- – zwischen 50 und 59 Grad nördlicher Breite. Dies schenden Westwinde schon in geringer Entfernung zum bedeutet, dass die Insel ganzjährig in der außertropi- Meer. schen Westwindzone liegt und somit vorherrschende Im Sommer dagegen, wenn die Sonneneinstrahlung milde, vom Atlantik wehende Westwinde mit zyklonalen stärker ist, zeigen sich die thermischen Unterschiede Fronten das Wettergeschehen prägen (Abb. 2.1). innerhalb Großbritanniens in einem tendenziell Süd- Zweitens greift der maritime Einfluss wegen der vor Nord-gerichteten Temperaturgradienten. So verläuft allem im Westen ausgeprägten Gliederung der Küste beispielsweise die 16 °-Juliisotherme im Wesentlichen durch Buchten und tief ins Binnenland greifende Mee- breitenkreisparallel (Abb. 2.2). resarme weit ins Binnenland hinein. Drittens werden die Britischen Inseln von den Aus- läufern des Golfstromes umspült, was sich insbesondere in den milden Wintertemperaturen an der Atlantik-, 2 10 2 Klima und Landschaftsentwicklung hohen Energie der Tiefdruckgebiete geschuldeten Luv- und Lee-Effekte erklärt werden kann. Die westlichen Gebirge empfangen durch zyklonale Steigungsregen reichliche Niederschläge. Die höchsten Werte werden in den schottischen Grampian Mountains gemessen, wo mehr als 4 300 mm/Jahr erreicht werden können. Dort kommt es im Winter regelmäßig zur Entstehung einer dauerhaften Schneedecke, was vor allem im Norden Schottlands den Wintersport und den Wintersporttou- rismus gefördert hat. Dieser konzentriert sich auf fünf schneesichere Wintersportgebiete: Newis-Range, Glen- coe, Cairngorm, Glenshee und „The Lecht“. Auch im Lake District (Cumbria) sowie in Snowdo- nia, im Nordwesten von Wales, wird die 3 000-mm- Niederschlagsmarke noch an einigen Messstationen erreicht. Weiter südlich, in den Cambrian Mountains, fallen pro Quadratmeter und Jahr nur noch rund 1 500 mm Niederschlag. Dennoch zählt Wales, wie alle westlichen Landesteile, zu den regenreichen Regionen Großbritanniens. Selbst im südwestlichsten Zipfel Süd- westenglands, in Cornwall, werden an den Küsten noch um die 1 000 mm Jahresniederschlag erreicht. Die Land- wirtschaft wird hier durch die Viehhaltung dominiert. Ab einer Höhe von 250–300 m dominiert die Schafhal- tung auf Naturweiden, eine ausgesprochen extensive Form der Viehhaltung (Abb. 2.3). Besonders in Schott- Abb. 2.2 Der Verlauf der 4°-Januar- und 16°-Juliisotherme land, in Wales und in den Penninen spielt die Schafhal- über Großbritannien. tung eine große Rolle. Bereits das mittelenglische Tiefland profitiert erheb- lich von seiner Lage im Lee der Waliser Bergländer. So

Luv- und Lee-Effekte empfängt Birmingham beispielsweise nur 764 mm Jah-

resniederschlag. Noch trockener ist es in der Osthälfte Die Höhe der Niederschläge nimmt tendenziell von Großbritanniens. Im langjährigen Mittel fallen etwa in Westen nach Osten ab, was mit ausgeprägten, der noch Cambridge nur 551 mm Niederschlag. Die Universitäts- Abb. 2.3 Das sog. rough grazing ist eine extensive Form der Schaf- haltung auf Naturweiden. Quelle: Baumgarten 2006., 2.2 Immer ein Thema: Wetter und Klima 11 2 stadt zählt damit zu den niederschlagsärmsten Orten in aus Westen, d. h. vom Mittelmeer, herangeführten Luft- Großbritannien. Da Ostengland, bedingt durch die massen zum Aufstieg gezwungen, was sich in den Über- bereits angesprochenen Lee-Effekte, von hohen Sonnen- gangsjahreszeiten und im Winter häufig in Form von scheinstundenzahlen zwischen 1 500 und 1 600 Stunden Steigungsregen bemerkbar macht. In London ist genau im Jahr profitiert, durchweg fruchtbare Böden aufweist das Gegenteil der Fall: Die Leelage Londons sorgt für und zudem durch ein ebenes bis flachwelliges Relief vergleichsweise wenige Niederschläge. London liegt im gekennzeichnet ist, findet der Ackerbau hier hervorra- sog. Thames Valley, einer weit gespannten Talung, die im gende Standortvoraussetzungen. So gelten Essex, Suffolk Nordwesten von den Chiltern Hills und im Süden bzw. und Norfolk als die Kornkammer Englands. Insbeson- Südosten von den North Downs eingerahmt wird. Beide dere der Weizenanbau steht hier im Vordergrund, des Hügelketten ragen bis etwa 250 m auf, was alleine Weiteren werden Zuckerrüben und verschiedene Gemü- f reilich noch nicht die geringen Niederschläge erklärt. sesorten angebaut. In den letzten Jahren hat zudem der Jedoch verlieren Luftmassen, die von Westen nach Anbau von Raps an Bedeutung zugenommen. Osten über Großbritannien hinwegziehen, durch Stei- Auch London weist eine überraschend geringe Jah- gungsregen an den in Nord-Süd- bzw. Nordost-Süd- resniederschlagssumme auf. Am Messpunkt „Kew Gar- west-Richtung verlaufenden Berg- und Hügelketten an dens“ im Westen der Stadt wurden im langjährigen Feuchtigkeit. Mittel 593 mm Jahresniederschlag gemessen. Mit diesem Im Bereich der Ostküste wird das Klima in nördlicher Wert ist London eine der „trockensten“ Hauptstädte im Richtung nur ganz allmählich wieder feuchter. Die westlichen und mittleren Europa. In Wien (613 mm), Zunahmen fallen allerdings deutlich geringer als an der Paris (630 mm) und Brüssel (819 mm) fällt mehr Regen. Westküste aus. So beträgt etwa die Summe des Jahres- Sogar den Vergleich mit einigen südeuropäischen Me- niederschlags in der schottischen Ölmetropole Aber- tropolen braucht London nicht zu scheuen. Lissabon deen nur 788 mm. kommt mit 600 mm ungefähr auf die gleiche Regen- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Nie- menge wie London, während der Jahresniederschlag von derschläge in Großbritannien von Westen nach Osten Rom (813 mm) den Wert für London (593 mm) sogar und – in der Westhälfte deutlicher als in der Osthälfte um mehr als ein Drittel übersteigt (Abb. 2.4). ausgeprägt – von Norden nach Süden abnehmen. Als Ursache für den überraschenden Unterschied Jedoch kann die Menge der Niederschläge von Jahr zwischen den jährlichen Niederschlagssummen von zu Jahr beträchtlich schwanken, so dass die Insel in man- Rom und London ist in erster Linie die Verschiedenar- chen Jahren längere Trockenzeiten durchzustehen hatte. tigkeit der geographischen Lage beider Städte anzufüh- 1976 und 1995 waren zwei solche Jahre, in denen im ren. Über Rom, im Luv des Apennin gelegen, werden die Sommerhalbjahr die Regenmenge noch nicht einmal die Hälfte eines durchschnittlichen Jahres erreichte (Tab. 2.1). 1995 fielen die geringsten Niederschläge im Süden und Osten Englands, die stärksten Auswirkungen hatte die Trockenheit aber auf den Südwesten, Yorkshire und den Nordwesten, wo die Wasserversorgung der großen Städte sogar zeitweise gefährdet war.

Der Klimawandel

und seine Folgen für England Ein klimatischer Gunstraum ist vor allem der englische Südosten, insbesondere die Grafschaft Kent. Dort ist das Klima zwar nicht so wintermild wie in Cornwall, dafür liegen die Temperaturen im Sommerhalbjahr deutlich über denen Cornwalls. Zudem ist es im Südosten tro- ckener, so dass in Kent zahlreiche Sonderkulturen gedei- hen. Zu ihnen zählen neben diversen Obst- und Gemü- Abb. 2.4 Der jahreszeitliche Verlauf der Niederschläge von sesorten auch der Wein und der Hopfen, wenngleich Rom und London im Vergleich. Quelle: Zehner, auf der Grund- letzterer in jüngerer Vergangenheit an Bedeutung verlo- lage von Daten der nationalen meteorologischen Dienste. ren hat. Sein Rückzug aus der Fläche hatte aber ökono-, 2 12 2 Klima und Landschaftsentwicklung Tabelle 2.1 Niederschläge in England und Wales in den trockenen Jahren 1976 und 1995 Wasserbehörde Sommer 1976 (April–Aug.) Sommer 1995 (April–Aug.) Angabe in % vom langjährigen Mittel Angabe in % vom langjährigen Mittel Northumbrian 57 48 Yorkshire 54 40 North West 56 47 Severn Trent 45 42 Dwr Cymru (Wales) 42 45 South West 32 47 Wessex 33 43 Thames 39 37 Anglian 50 41 Southern 33 36 Amplitude 32–57 36–48 Mittelwert 45 43 Quelle: The Parliamentary Office of Science and Technology 1995 mische und gesellschaftliche Gründe und war nicht das Wein könnte sich in kürzester Zeit komplett verändern, Resultat einer Klimaverschlechterung. Eine solche hat es wenn die Temperaturen in der Form steigen wie vorausge- nämlich nicht gegeben. Ganz im Gegenteil hat die glo- sagt. Zwischen zwei und fünf Grad in Südengland und um 2 bale Erderwärmung zu einem signifikanten Anstieg der Grad in Schottland werden prognostiziert. … Die Anzahl der Jahresmitteltemperaturen in Großbritannien geführt, registrierten britischen Weingüter steigt stetig an. 2002 der sich in Südostengland in einer Ausbreitung des waren es noch 333 Güter, 2008 bereits 416. Auch das Weinbaus widerspiegelt (Abb. 2.5). Anbaugebiet weitet sich immer mehr aus. Im selben Zeit- raum hat sich das Gebiet von 812 auf 1106 Hektar vergrös- „265 Weinanbaugebiete mit 15 unterschiedlichen Wein arten sert und diverse neue Rebsorten wurden angepflanzt. – diese Weinregion befindet sich nicht in Frankreich oder Christopher White vom Weingut Denbies erklärt: ‚Wir Italien, sondern in Grossbritannien. Das grösste Weinan- bemerken hier tatsächlich die Auswirkungen der globalen baugebiet der Insel ist nur 20 km von London entfernt. Kli- Klimaerwärmung. In den letzten Jahren haben wir begonnen maerwärmung sei Dank! Für Englands Wein jedenfalls sind mit neuen Arten zu experimentieren, die noch nie in Gross- die steigenden Temperaturen ein Glücksfall. Überall in den britannien ge wachsen sind, wie etwa Sauvignon Blanc. Vor britischen Weinbergen wird geerntet, was das Zeug hält. 20 Jahren sind wir das Risiko eingegangen, Pinot Noir zu Das warme, feuchte Wetter dieses Jahr beschert den Win- pflanzen, was nun eine unserer besten Produktionen ist. zern eine besonders gute und reichhaltige Ernte. Marcus Die Qualität perlender Weine, die wir hier produzieren, ist Sharp ist Manager des Weinguts Winery und erwartet den sehr hoch. Wir nehmen an internationalen Wettbewerben neunten hervorragenden Jahrgang in Folge: ‚Es ist eine teil und gewinnen internationale Preise. Das war vor 20 Jah- wirklich gute Ernte, reife Erträge und davon eine ganze ren undenkbar.‘“ (Webseite des europäischen Fernsehsen- Menge. Die allgemeine Fruchtreife hat sich deutlich verbes- ders Euronews: http://de.euronews.net/2009/10/26/ sert. Das Volumen ist angestiegen, der Zuckeranteil hat klimaerwaermung-macht-britannien-zum-weinland; Abruf: sich erhöht und der Säureanteil ist zurückgegangen.‘ 02.12.2009). Das sei erst der Beginn einer wahren, englischen Wein- revolution, frohlocken schon einige Experten. Der britische, 2.3 Aus Kaledonien wird Britannien: Die Britischen Inseln als Fenster zur Erdgeschichte 13 2 Leonhardt, R. W. (1957): 77mal England. München. Scarfe, N. (2002): A Frenchman’s Year in Suffolk, 1784 (Suffolk Records Society). Woodbridge (Suffolk). Stamp, L. D.; Beaver, S. H. (1971): The British Isles. A Geogra- phic and Economic Survey. New York. The Parliamentary Office of Science and Technology (Hrsg.) (1995): POST Technical Report 71 (December). London. Wallén, C. C. (Hrsg.) (1970): Climates of Northern and Western Europe. Amsterdam/London/New York. Watson, J. W. (Hrsg.) (1964): The British Isles. A Systematic Geography. London. Weischet, W.; Endlicher, W. (2000): Regionale Klimatologie. Teil 2: Die Alte Welt, Europa, Afrika, Asien. Stuttgart/Leipzig. 2.3 Aus Kaledonien wird Britannien: Die

Britischen Inseln als Fenster zur Erdgeschichte

Abb. 2.5 Weinbauparzelle in Südostengland (bei Bodiam Castle, Oliver Bödeker East Sussex). Quelle: Zehner 2006. Die geologische Geschichte der Britischen Inseln spie- gelt viele der wichtigen Ereignisse in der Erdgeschichte Die Ausbreitung des Weinbaus in Südostengland ist im wider. Da die Auswirkungen der meisten geologischen Übrigen nicht nur eine Funktion gestiegener Durch- und tektonischen Vorgänge der Vergangenheit eine weit schnittstemperaturen. Vielmehr ist auch die Nachfrage über Großbritannien hinaus reichende räumliche Aus- nach Wein in Großbritannien gestiegen. Da die briti- dehnung besaßen, wird in diesem Abschnitt der Blick- schen Weine mittlerweile eine durchaus beachtliche winkel auf die gesamten Britischen Inseln gerichtet. Qualität vorweisen können, ist die Bedeutungszunahme Hierunter fallen die beiden Hauptinseln Großbritan- des britischen Weinbaus auch eine Folge der gestiegenen nien und Irland sowie die vorgelagerten Inselgruppen Binnennachfrage. So belegt eine jüngst veröffentlichte und kleineren Inseln. Statistik des unabhängigen Institute of Alcohol Studies, Nach einer kurzen Einführung wird die paläogeogra- dass seit dem Jahr 2000 der Weinkonsum im Vereinigten phische Entwicklung in den verschiedenen Erdzeitaltern Königreich um 19 % gestiegen ist. Im gleichen Zeitraum erläutert. Dabei werden geologische Sehenswürdigkei- ist der Bierkonsum hingegen um 10 % zurückgegangen. ten den Zeitaltern ihrer Entstehung zugeordnet. Diese Zahlen spiegeln nicht nur veränderte Trinkge- wohnheiten der Briten im Allgemeinen wider, sie sind auch Ausdruck eines tief greifenden gesellschaftlichen Grundlagen der Geologie Strukturwandels, der in einem Schrumpfen der Arbei- terklasse, für die Bier das wichtigste alkoholische Aus geologischer Perspektive stellen die Britischen Getränk war, und einer Zunahme der oberen Mittel- Inseln einen Flickenteppich dar, der aus verschiedenen schichten, die eher Wein bevorzugt, reflektiert wird. Gesteinspaketen, sog. Terranen, besteht (Abb. 2.6). Terrane stellen geologisch einheitliche Gebilde unter- schiedlichen Alters dar, die im Zuge der plattentektoni-

Weiterführende Literatur schen Aktivitäten an andere Kontinente oder Landmassen

gepresst wurden. Sie sind umgeben von geologischen Cohen-Portheim, P. (1931): England, die unbekannte Insel. Berlin. Störungen, die heute jedoch meist inaktiv sind. Jäger, H. (1976): Großbritannien. Darmstadt. Das Fundament der Britischen Inseln bilden neun Koydl, W. (2009): Fish and Fritz: Als Deutscher auf der Insel. Terrane, die im Verlauf der Erdgeschichte zusammen- Berlin. geschweißt wurden., 2 14 2 Klima und Landschaftsentwicklung Abb. 2.6 Die Britischen Inseln sind geologisch aus neun verschiedenen Gesteinspaketen (Terranen) aufgebaut. Quelle: Verändert nach Hunter und Easterbrook 2004, S. 25., 2.3 Aus Kaledonien wird Britannien: Die Britischen Inseln als Fenster zur Erdgeschichte 15 2

Die Britischen Inseln und die Entwicklung der Disziplin

„Geologie“ Die Tatsache, dass auf den Britischen Inseln Spuren aller geologischen Zeitalter, vom Neoproterozoikum bis zum Holozän, vertreten sind, erklärt, warum so viele Fortschritte und Neuerungen in der Geologie hier ihren Ursprung haben. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde durch den britischen Ingenieur William Smith (1769–1839) die Geologie als wissenschaftliche Disziplin entscheidend weiterentwickelt (Abb. 2.7). Smith erkannte bei Erdarbeiten, dass sich Erdschichten voneinander unterscheiden lassen und durch das Vorkommen von bestimmten Fossilien auch über größere Distanzen miteinander korreliert werden kön- nen. Dies brachte ihm den Beinamen Strata Smith ein (Strata = Schichten). Smith veröffentlichte 1815 die erste Geologische Karte von England, Wales und Teilen von Schottland. Mit diesem Werk wurde umso mehr die Notwen- digkeit einer überregionalen Zeitskala deutlich, auf der sich regionale Erkenntnisse einhängen lassen konnten. Betrachtet man die aktuelle Zeitskala mit ihren Bezeich- nungen, so wird deutlich, dass etliche der Namen von Syste- men durch britische Forscher vergeben worden sind. Zugleich spiegeln diese Namen häufig die Landschaften wider, in denen sie – durch ihre Gesteine repräsentiert – vor- Abb. 2.7 William „Strata“ Smith (1769–1839), britischer In - kommen. So wurde 1822 das Karbon (vom lateinischen genieur und Geologe. carbo für „Kohle“) eingeführt; das Kambrium (nach dem lateinischen Namen Cambria für „Wales“, 1835), Silur (abge- leitet von den Silurern, einem keltischen Volksstamm in Süd- schen Volksstamm in Wales) 1879 steht fest, dass vier der wales, 1839) und Devon (abgeleitet von der britischen Graf- sechs paläozoischen Systeme von walisischen oder engli- schaft Devonshire, 1839) folgten. Seit der Definition des schen Forschern aufgrund ihrer geologischen Erkenntnisse Ordoviziums (abgeleitet von den Ordovicern, einem kelti- benannt wurden.

Das präkambrische werden und sich im Bereich des Hebridean Terrane

und altpaläozoische Fundament (Abb. 2.6) finden. Sie wurden im mittleren Präkam- brium gebildet und sind somit zwischen 1,5 und 3 Mrd. Jahre alt. Die ältesten, heute noch an der Erdoberfläche Als Basement der Britischen Inseln werden präkambri- auftretenden Gesteine wurden im Präkambrium gebil- sche Gesteine bezeichnet, die entweder älter als die det, also vor mehr als 545 Mio. Jahren. Gesteine des kaledonischen Gebirgsbildungsprozesses Paläogeographisch gesehen sind die Britischen In- sind, oder paläozoische Sedimente, die von diesem nicht seln zu dieser Zeit noch getrennt. Im ausgehenden Pro- verändert wurden. Somit lassen sich zwei Regionen terozoikum (ungefähr 550 Mio. Jahre vor heute) liegt benennen, in denen Basement an der Oberfläche gefun- der heute südliche Teil (südlich der Iapetus Sutur; Abb. den werden kann: zum einen ein großes, zusammen- 2.8) am Nordrand des Mikrokontinents Avalonia, der hängendes Gebiet in Nordwestschottland und Irland – seinerseits wiederum am Nordrand Gondwanas (Süd- die Gesteine finden sich auch am Meeresboden des kontinent) zu finden ist, der nördliche Teil liegt am Nordkanals, der Nordirland vom Süden Schottlands Rand Laurentias. Getrennt werden die Kontinente trennt –, zum anderen kleinere, verstreute Vorkommen durch den sich gerade entwickelnden Iapetus-Ozean. in Zentralengland, Nordwales und im Südosten Irlands. Global g esehen liegen beide Teile etwa bei 40° S, also in Die insgesamt ältesten Gesteine der Britischen Inseln etwa auf der Breite von Patagonien oder Neuseeland sind Gneise, die dem Lewisian Complex zugeordnet heute (Abb. 2.8)., 2 16 2 Klima und Landschaftsentwicklung Im frühen Ordovizium (ungefähr 490 Mio. Jahre vor tion bei ca. 20° S ein (etwa die Breite, auf der heute Rio heute) haben sich die Kontinente, durch die globale de Janeiro liegt). Der Iapetus-Ozean, der sich eben erst Plattentektonik angetrieben, verschoben. Avalonia mit entwickelte, wird nun durch die Bewegung der Konti- dem südlichen Teil der Britischen Inseln liegt nun weiter nente wieder geschlossen (Abb. 2.8). südlich bei etwa 60° S (heute südlich von Kap Hoorn), Im Übergang vom späten Ordovizium zum frühen Laurentia mit dem nördlichen Teil der Britischen Inseln Silur (ungefähr 450 bis 440 Mio. Jahre vor heute) trennt hat sich nach Norden bewegt und nimmt nun eine Posi- sich Avalonia von Gondwana, der Iapetus-Ozean wird vor ca. 550 Mio. Jahren vor ca. 490 Mio. Jahren vor ca. 450–440 Mio. Jahren vor ca. 375 Mio. Jahren Abb. 2.8 Rekonstruktion der globalen Verteilung der Kontinente während der letzten 545 Mio. Jahre. Quelle: Verändert nach Hun- ter und Easterbrook 2004, S.10 f., 2.3 Aus Kaledonien wird Britannien: Die Britischen Inseln als Fenster zur Erdgeschichte 17 2 weiter geschlossen. Die Gesteine, die zwischen Avalonia Die Kaledoniden – und Laurentia liegen, werden dabei unter Laurentia ein sehr altes Gebirge geschoben (subduziert). Der nördliche Teil der Britischen Inseln liegt immer noch bei etwa 20° S, der südliche Teil nun bei ca. 30° S (auf der Breite von Durban, Südafrika). Die Vereinigung der Kontinente Avalonia und Laurentia Im nächsten Schritt kommt es zur Kollision der bei- im späten Silur bis frühen Devon beeinflusste nicht nur den Kontinente Avalonia und Laurentia. das Gebiet der Britischen Inseln, sondern auch Bereiche Abb. 2.8 (Fortsetzung), 2 18 2 Klima und Landschaftsentwicklung des östlichen Nordamerika (Appalachen) und des west- Devon bis Karbon – lichen Festlandeuropa. Der Iapetus-Ozean ist komplett das ältere Deckgebirge geschlossen, und die beiden Teile der Britischen Inseln sind als Landmasse vereinigt und liegen bei 20–25° S (im Bereich der heutigen südlichen Wüsten Atacama, Das ältere Deckgebirge, das im Devon und Karbon abge- Kalahari und Simpson; Abb. 2.8). Die Naht, mit der lagert wird, liegt auf dem Basement und wird durch beide Kontinente verbunden sind, nennt man Iapetus- nichtdeformierte Sedimentgesteine gebildet. Die unter- Sutur (Abb. 2.6), sie trennt die Terrane Southern schiedliche Lage der Britischen Inseln auf dem Globus Uplands und Leinster-Lakes und stellt in etwa die heu- zu diesen Zeiten führt zu sehr unterschiedlichen Ablage- tige Grenze zwischen Schottland und England dar. Diese rungsbedingungen. Sutur ist an der Erdoberfläche nur im Bereich des öst- Im Devon liegen die Britischen Inseln bei ca. 15– lichen Irland zu finden, an allen anderen Stellen ist sie 20° S. Das Klima ist trocken (arid), und aufgrund der durch jüngere Sedimente bedeckt oder durch die später unterschiedlichen Land-Meer-Bedeckung werden die folgende variszische Gebirgsbildungsphase überprägt verschiedensten Gesteine abgelagert. Nördlich der heu- worden. tigen Grafschaft Devon sind die Britischen Inseln die Die kaledonische Gebirgsbildungsphase ist Teil eines meiste Zeit landfest. Hier kommt es zu raschen und sehr komplexen Vorgangs, dessen genauer Verlauf bis intensiven Phasen der Abtragung (Erosion) oder zu heute in der Wissenschaft noch nicht abschließend Phasen, in denen gar nichts abgelagert wird. An einigen geklärt ist. Im Zuge der durch die Plattentektonik verur- Stellen kommt es zur Ablagerung von sog. Old-Red- sachten Verschiebungen der Kontinente kommt es an Sand stei nen, die sich aus dem Abtragungsmaterial hö - den unterschiedlichsten Stellen auf dem Globus zu Kol- her gelegener Gebiete zusammensetzen. Sie belegen durch lisionen von Landmassen und zur Öffnung und Schlie- ihre rote Farbe (Verwitterung von Eisen) die Aridität des ßung von Ozeanen. Im Bereich der Britischen Inseln Klimas. Diese Sandsteine wurden durch Flüsse, die mit kommt es zusätzlich zur Schließung des Iapetus-Ozeans heutigen Wadis oder Creeks verglichen werden können, weiter südlich zu einer Einengung des Rheischen Oze- abgelagert. Häufig zeigt die fehlende Sortierung des ans, der sich bei der Nordwärtsbewegung Avalonias zwi- Materials einen turbulenten Transport an, wie er auch schen Avalonia und Gondwana bildete (Abb. 2.8). Diese heute an den Rändern von Gebirgen in Wüsten stattfin- Komplexität führt dazu, dass man die eigentliche kale- det. Die dabei entstehenden Schuttfächer zeugen von donische Phase auf den zeitlichen Bereich Silur-Devon der Wirksamkeit eines selten, aber intensiv auftretenden eingrenzt, in dem es zur Kollision der Kontinente kam. Niederschlagsereignisses. Findet man auf den Ablage- Bei diesem Prozess entstanden die unterschiedlichs- rungen des Old-Red-Sandsteins eine Kalkkruste (Cal- ten Gesteine, die in ihrer räumlichen Verbreitung wie crete, Caliche), so ist dies ein weiterer Beleg für das aride folgt anstehen: Metamorphe Gesteine findet man im Klima. Gebiet der Shetland-Inseln, in den nördlich-zentralen Südlich von Devon sind die Britischen Inseln im Bereichen der schottischen Highlands und im Nord- Devon hauptsächlich marin geprägt. Hier werden am westen Irlands. Nichtmetamorphisierte Gesteine finden Rand des Rheischen Ozeans Flach- bis Tiefseesedimente sich in den Southern Uplands, im Lake District, auf der abgelagert. In den Sedimenten finden sich Fossilien von Isle of Man, im Osten und Südosten Irlands sowie im Meeresbewohnern dieser Zeit, wie Brachiopoden und nördlichen Wales. Trilobiten. In Abhängigkeit von der Tiefe des Meeresbe- Im Zuge des Abtauchens von Gesteinsmaterial bei ckens werden unterschiedliche Gesteine abgelagert, von der Schließung des Iapetus-Ozeans kommt es zu Vulka- gut sortierten Sandsteinen in Küstennähe über Silt- oder nismus, vor allem im Bereich des walisischen Beckens Schluffsteine bis hin zu Kalksteinen. und des Leinster-Lakes-Terrane. In die von der Gebirgs- Mit dem Beginn des Karbons ändern sich die Um- bildung stark beanspruchte Kruste können Magmen aus weltbedingungen – und das nicht nur aufgrund der dem Mantel eindringen, die aufgrund der Tiefe ihrer Nordwärtsbewegung der Britischen Inseln. Mit der Drift Erstarrung sehr langsam abkühlen und später als Granit über den Äquator nach Norden verlassen die Britischen vorkommen. Diese Granite werden als postorogen be- Inseln die aride Klimazone und kommen in den Bereich zeichnet, da sie nicht durch plattentektonische Vorgänge monsunaler Klimabedingungen. Gleichzeitig ist das verformt wurden. Der östlichste Granit, der an der Erd- Zeitalter des Karbons geprägt durch Meeresspiegelan- oberfläche auftritt, ist der Shap-Granit an der Grenze stiege und einen Anstieg der globalen Temperatur. Dies des Lake District (Cumbria). führt zur Ablagerung anderer Gesteine als im Devon. Zu Beginn der Meeresüberdeckung werden Flachwasser- kalksteine abgelagert, die später von einer Abfolge von, 2.3 Aus Kaledonien wird Britannien: Die Britischen Inseln als Fenster zur Erdgeschichte 19 2 Kalksteinen, Schiefertonen, Sandsteinen und Kohle Beispiele für die nordwärts abklingende Intensität überdeckt werden. Die dem Karbon den Namen der Verfaltung sind die Falten bei Millhook Haven, gebende Kohle wird später der entscheidende Rohstoff nördliches Cornwall (ca. 60 % Krustenverkürzung), die für die Industrielle Revolution sein. Die anhaltenden Falten bei Bude (ca. 50 % Krustenverkürzung) sowie die Bewegungen der Erdkruste zu dieser Zeit, die ihre Ursa- sanfte Faltung bei Mullagh More in the Burren, Co. che in der Plattentektonik haben, bewirken ein Neben- Clare, Irland (ca. 2–4 % Krustenverkürzung). Wie auch einander von gehobenen und abgesenkten Landpartien. bei der kaledonischen Orogenese kommt es nach der Durch Krustenausdünnung kommt es zu vulkanischer variszischen Orogenese zur Intrusion von Magma, das Aktivität, vor allem im Bereich des Midland Valley, dem langsam abkühlt und später als Granit an der Oberfläche Gebiet der mittelschottischen Senke. Diese Krustenaus- angetroffen werden kann. Beispiele für diese Granite fin- dünnung endet mit dem Abnehmen der plattentektoni- den sich in der Region zwischen Glasgow und Edin- schen Aktivität im mittleren Karbon. Die gehobenen burgh, wo die auftretenden Granite den Midland Valley Krustenbereiche werden abgetragen, das Abtragungs- Sill repräsentieren. Explosive vulkanische Aktivität, die material wird in benachbarte Senken transportiert. Mit im Zuge der postkaledonischen Krustenbewegung nörd- der Entspannung der Kruste sinken beide Bereiche ab; es lich des Alston-Blocks stattfindet, verlagert sich mit dem bilden sich große Senkungsbecken, die mit Sedimenten beginnenden Rift in der Nordsee in den zentralen gefüllt sind. Zum Ende des Karbons ändert sich das Bereich derselben. Klima wieder. Es wird erneut trockener, vor allem ange- Mit dem Ende der variszischen Orogenese sind alle zeigt durch rote Ablagerungen. neun Terrane, die die Britischen Inseln aufbauen, ver- eint. Eine Auswirkung der plattentektonischen Bewe- gungen ist die Heraushebung von Krustenteilen und

Die Varisziden – ein altes Gebirge somit der erneute Impuls für Abtragung. Das Material,

das abgetragen werden kann, wird im Folgenden zum Wurde das ältere Deckgebirge im Devon und Karbon als jüngeren Deckgebirge. ungestörter Sedimentstapel abgelagert, so kommt es doch zeitgleich auch zur Bildung eines neuen Gebirges – Perm bis Tertiär – wiederum durch Plattentektonik verursacht. Die variszische Orogenese ist Ausdruck der Kollision das jüngere Deckgebirge verschiedener Terrane zwischen dem späten Silur und dem Oberkarbon. Die Auswirkungen sind im nörd- Die Ablagerung des jüngeren Deckgebirges stellt die lichen Frankreich, in Belgien, Deutschland, Spanien letzte Phase in der spannenden und abwechslungsrei- und Portugal in Form von mittlerweile abgetragenen chen geologischen Geschichte der Britischen Inseln dar. Gebirgsresten zu finden. Verfolgt man den Gürtel der Das jüngere Deckgebirge besteht aus Sandsteinen, Gebirgsbildung nach Westen, so findet man variszisch Breccien, Tonsteinen, Dolomiten und Evaporiten des geprägte Gebiete auch an der Atlantikküste des nörd- Perms und der Trias, aus Tonsteinen, die reich an orga- lichen Amerika. Die Schließung des Rheischen Ozeans nischem Material sind, Sandsteinen, Mergeln und Kalk- zwischen Gondwana, Eurasia und Laurentia lässt das steinen des Juras und der Kreide sowie Tonsteinen und westliche Europa mehr oder weniger in seiner heutigen Sandsteinen des Tertiärs. Konfiguration entstehen. Der im Karbon gebildete Superkontinent Pangäa Die variszische Front (Abb. 2.6) zeigt, dass nur der sorgte dafür, dass die Britischen Inseln während der südwestlichste Teil der Britischen Inseln von der Trias eine Position im Inneren des Kontinents einneh- Gebirgsbildung durch starke Deformationen und Meta- men. Das Klima zu dieser Zeit ist heiß und trocken, die morphose der Gesteine beeinträchtigt wurde. Südlich Britischen Inseln liegen in etwa auf der Breite der heuti- dieser Front wurden die Gesteine des alten Deckgebirges gen Sahara. Mit der Nordwanderung Pangäas und dem sowie das Basement durch Verwerfungen und Verfaltun- Beginn des Auseinanderbrechens des Superkontinents gen deformiert. Zeitgleich kam es zu einer schwachen ändern sich mit dem Fortlauf der Zeit auch die klimati- Metamorphose der Gesteine, die zu einer Verschieferung schen Bedingungen. Die Britischen Inseln befinden sich führte. Die variszische Verfaltung der Gesteine zeigt sich nun auf Eurasia, einem Bruchstück des Superkonti- hauptsächlich in asymmetrischen Falten, die vorwie- nents, und wandern in ihre heutige Position. Von Osten gend Ost-West angelegt wurden. Nördlich der variszi- her öffnet sich die Tethys, im Westen beginnt die Öff- schen Front wurden alte Verwerfungen reaktiviert, und nung des Atlantiks. Im Jura erreichen die Britischen es kam zur Verstellung von Krustenblöcken; Metamor- Inseln eine Position von ca. 35–40° N (heutiges Spa- phose blieb hier jedoch aus. nien). In die Becken, die sich am Ende des Karbons bil-, 2 20 2 Klima und Landschaftsentwicklung deten, dringen postvariszische Schmelzen ein, die später im Osten Englands. Diese Gesteine bilden die undurch- als Granite an der Oberfläche vorkommen. Diese Becken dringliche Kappe auf den Gasspeichergesteinen des Rot- sinken vom Perm bis zur frühen Kreidezeit weiter ab, liegenden und ermöglichen so erst die Anreicherung wobei sich in ihnen mächtige Sedimentstapel ablagern von Gas als Lagerstätte. können. Diese bilden das jüngere Deckgebirge. Zu Beginn der Trias kommt es zu einem weltweiten Die nächste Phase vulkanischer Aktivität setzt erst in Meeresspiegelrückgang. Auf den Britischen Inseln lagern der Mitte des Juras ein, als sich in der nördlichen Nord- verzweigte Flusssysteme Konglomerate und kiesige see plattentektonische Aktivität durch Rifting äußert. In Sands teine ab. Gegen Ende der Trias sorgt eine lokale der späten Kreidezeit setzt die Krustenexpansion aus, Krustenausdehnung entgegen dem globalen Trend der es kommt zu keiner weiteren Verstellung der Gesteine; Meeresspiegelabsenkung für eine erneute Überflutung die oberkretazischen Ablagerungen können sich somit großer Teile Englands, Wales’ und des östlichen Irland ungestört zu mächtigen Sedimenten entwickeln. Wäh- durch das Tethys-Meer. Es bilden sich geringmächtige rend der späten Kreidezeit und dem frühen Tertiär öff- Ablagerungen von Anhydrit, Gips und Steinsalz. net sich der Nordatlantik, es kommt zu ausgedehnter Im Jura befinden sich die Britischen Inseln etwa bei vulkanischer Aktivität. Ein prominentes Beispiel für vul- 30–40° N. Der Meeresspiegel steigt global an, die Briti- kanische Gesteine dieser Zeit ist der Giants Causeway in schen Inseln werden in ihren tieferen Landesteilen wie- Nordirland (Abb. 2.9). Im Tertiär beeinflusst die Faltung der von einem Meer überflutet. Die abgelagerten Ton- der Alpen im Süden Europas die Britischen Inseln nur steine sind reich an organischem Material und werden randlich, es kommt zu kleineren Verwerfungen und Fal- zu Erdöllagerstätten, z. B. an der Dorset Coast. Die Öl- tungen. lagerstätten in der Nordsee bilden sich jedoch erst im Paläogeographisch gesehen durchwandern die Briti- späteren Jura. Eine weitere wichtige Rohstoffquelle ent- schen Inseln eine Reihe von Klimazonen. Während stammt dem frühen Jura: Die Eisenerze, die in tonrei- Perm und Trias liegen sie bei etwa 10–20° N. In einem chen Sedimentgesteinen vorkommen, wurden in flachen ariden Klima werden Sandsteine des Rotliegenden abge- Seewasserbereichen häufig in Form von Ooiden gebil- lagert, die aufgrund ihrer hohen Porösität heute eine det. große Bedeutung als Gasspeichergesteine in der süd- Im mittleren Jura werden die Britischen Inseln wie- lichen Nordsee haben. Durch plattentektonisch hervor- der landfest; es kommt allerdings weiterhin zu Meeres- gerufene Krustenbewegung kommt es im Perm zur teil- vorstößen, die zu einer wechselnden Ablagerung von weisen Abschnürung des Zechstein-Meeres von der fluvialen und marinen Sedimenten beitragen. Im Süden Tethys. Aufgrund des heißen und trockenen Klimas wird Englands werden oolithische Kalksteine abgelagert, die dieses Randmeer teilweise eingedampft, so dass die ein flaches, warmes Meer bezeugen. gelösten Minerale als Gips, Anhydrit, Steinsalz und Edel- Im späten Jura wird die Krustenbewegung im Rah- salze ausgefällt werden können. men des Nordseerift wieder stärker. Die Beckenstruktu- Im späten Perm sorgt ein Vordringen des Zechstein- ren im südlichen England bestimmen durch ihre lokale Meeres für die Ablagerung von Dolomiten und Mergeln Ausdehnung die Art der Ablagerung von Sedimenten. Es Abb. 2.9 Basaltsäulen am Giants Causeway, Nordirland. Quelle: Hess 2009., 2.4 Der „letzte Schliff“ – Landschaftsentwicklung im Eiszeitalter 21 2 bilden sich die Oxford- und Kimmeridge-Tone, die 2.4 Der „letzte Schliff“ – heute die wichtigsten Muttergesteine für die Ölvorkom- men in der Nordsee darstellen. An der Wende zur Krei- Landschaftsentwicklung dezeit kommt es zu einem erneuten Meeresspiegelrück- im Eiszeitalter gang; große Teile der Britischen Inseln liegen wieder über dem Meeresspiegel. In der Kreidezeit liegen die Britischen Inseln bei etwa Klaus Zehner 51–58° N. Im Süden Englands werden festländische Sedimente abgelagert, weiter nördlich jedoch haupt- Auf den Britischen Inseln lebten schon vor mindestens sächlich marine Gesteine. 700 000 Jahren Menschen. So weit zurück jedenfalls Gegen Ende der frühen Kreidezeit kommt es zu l assen sich Spuren menschlicher Existenz verfolgen und einem globalen Anstieg des Meeresspiegels, der bis zum mit modernen Datierungsverfahren nachweisen. Aller- Ende der Kreidezeit anhält. In dieser Zeit bilden sich die dings sind die Britischen Inseln seither nicht permanent typischen Kreideablagerungen der Britischen Inseln. Es besiedelt gewesen, was an erheblichen Temperatur- handelt sich hierbei um die Reste von Kleinstlebewesen, schwankungen während des Pleistozäns lag. Insbeson- die Kalk in ihre Skelette einbauten. Innerhalb der Krei- dere während der drei Eiszeiten war das Klima dort deablagerungen findet man Lagen von Feuerstein (Flint, d erart unwirtlich, dass menschliches Leben angesichts Chert), der sich vermutlich durch die Anreicherung von arktischer Temperaturen kaum vorstellbar scheint. Silizium aus Schwammstacheln, Diatomeen und Radio- Während dieser Kaltzeiten lagen die nördlichen und larien bildete. mittleren Landesteile des heutigen Großbritannien, Im Tertiär erreichen die Britischen Inseln eine Posi- Irlands sowie die Nordsee und die Irische See unter tion bei 40–50° N. Das Klima ist subtropisch bis tro- mächtigen Eiskalotten. Diese bildeten, großräumig pisch. Hervorgerufen durch die Öffnung des Nordatlan- betrachtet, die südwestlichen Teile eines gewaltigen Eis- tiks kommt es im frühen Tertiär im Nordwesten der körpers, der während der Glazialzeiten dem ganzen Britischen Inseln zu ausgedehnter vulkanischer Akti- Norden Europas samt seiner Randmeere auflagerte. vität. Die Britischen Inseln liegen – bedingt durch tekto- Die Eisbedeckung beeinflusste die Gestalt der Briti- nische Aktivität – wieder über dem Meeresspiegel. Es schen Inseln in mehrfacher Weise. Da das Eis sowohl kommt zur Hebung einzelner Krustenteile, die abgetra- Nord- und Mittelengland als auch die angrenzenden gen werden. Der Abtragungsschutt füllt den Viking- und Meeresräume unter sich begrub, blieben die Konturen Zentralgraben der Nordsee als mächtige Ablagerung. der Landmassen überwiegend verborgen. Hätte man Die Einflüsse der neogenen Faltung (alpidische Fal- während der Eiszeiten die Möglichkeit gehabt, aus der tungsphase) im Tertiär bestimmen die Art und den Ort Vogelperspektive auf die Britischen Inseln zu schauen, unterschiedlicher Ablagerungen: Im Hampshire- und so hätte man nur den Süden und, in der letzten Eiszeit, London-Becken werden abwechselnd marine Flachwas- auch Teile Mittelenglands eisfrei gesehen. Am weitesten sersedimente und Sandsteine sowie Tonsteine abgela- südwärts breitete sich das Inlandeis während der sog. gert. Getrennt werden die Becken vom nun leicht geho- Anglian-Eiszeit aus. Sie war die früheste Eiszeit inner- benen Weald, der von Sumpfland bedeckt ist. halb des Pleistozäns und entspricht der Elster-Eiszeit Im späten Tertiär geht der Meeresspiegel weltweit Mitteleuropas. Die damalige Eisrandlage erstreckte sich zurück, im Bereich der Britischen Inseln führt die rasche grob formuliert von der walisischen Südküste über die Absenkung des Nordseebeckens zur Ablagerung mächti- Severnmündung und das untere Severntal weiter über ger Sedimentpakete mariner Prägung. Mit dem Pliozän den heutigen nördlichen Stadtrand von London bis zur setzt eine Abkühlung ein, die im folgenden Quartär englischen Ostküste auf der Höhe von Ipswich. dann zur Vereisung weiter Teile des nördlichen Europa Während der mittleren Eiszeit, der Wolstonian-Eis- führen wird. zeit, die der Saale-Eiszeit entspricht, drangen die Eis- massen zwar ebenfalls bis in die südlichen Midlands vor. Sie kamen, vor allem in Ostengland, allerdings deut-

Weiterführende Literatur lich vor den Endmoränen aus der Anglian-Eiszeit zum

Halten. Hunter, A.; Easterbrook, G. (2004): The Geological History of Wie in Norddeutschland existierte die geringste Eis- the British Isles. The Open University, Walton Hall, Milton bedeckung während der letzten Glazialepoche, der Keynes. Devensian-Eiszeit. Sie ist mit der Weichsel-Eiszeit Brenchley, P. J.; Rawson. P. F. (Hrsg.) (2006): The Geology of gleichzusetzen und fiel in Britannien wie auch auf dem England and Wales2. The Geological Society, London. Kontinent nicht ganz so hart wie ihre Vorgänger aus., 2 22 2 Klima und Landschaftsentwicklung Dies bedeutete, dass auch während der kältesten Phase, heute im Westen der schottischen Hochlande noch um vor etwa 18 000 Jahren, die Midlands eisfrei blieben. Das mehr als 3 mm pro Jahr, während die englische Südküste walisische Bergland hingegen lag vollständig unter Eis sich um ca. 2 mm pro Jahr senkt. Diese Werte scheinen (Abb. 2.10). auf den ersten Blick gering und unbedeutend zu sein. Da Die bis zu 1 800 m mächtigen Eismassen übten einen die Hebungs- und Senkungsprozesse sich aber über Tau- gewaltigen Druck auf die Erdkruste aus, insbesondere in sende von Jahren erstrecken, sind ihre Ergebnisse durch- Nordwestschottland, wo es am kältesten war. Durch den aus in der Landschaft sichtbar. So hat man im Nord- Druck des Eises kam es zu sog. isostatischen Landsen- westen Schottlands beispielsweise Küstenlinien aus den kungen im Norden, während die südlichen Landesteile Interglazialen nachgewiesen, die bis zu 30 m über dem angehoben wurden. Nach dem Abschmelzen des Eises heutigen Meeressspiegelniveau liegen. erfolgten gegenläufige vertikale Krustenbewegungen, Beeinflusst wurden die Konturen der Britischen d. h., der Norden tauchte wieder auf, während sich nun Inseln auch durch die zwischen Warm- und Kaltzeiten der englische Süden senkte. Dieser Prozess ist bei weitem schwankenden Meeresspiegelhöhen. So lag der Spiegel noch nicht abgeschlossen. So hebt sich die Erdkruste der Weltmeere während der Eiszeiten bis zu 130 m tiefer Abb. 2.10 Nordwesteuropa während der letzten Eiszeit., 2.4 Der „letzte Schliff“ – Landschaftsentwicklung im Eiszeitalter 23 2 als heute; während der Devensian-Eiszeit waren es solche einst gegeben haben sollte, so wären sie durch die immerhin ca. 100–120 m. Wie im Detail Eisbedeckung, mehrfachen Eisvorstöße während der letzten 500 000 Landhebungen und -senkungen sowie Meeresspiegel- Jahre überwiegend vernichtet worden. Aber auch ohne schwankungen miteinander korreliert und sich auf den die zerstörende Wirkung der Gletscher würde man Verlauf der Küstenlinien ausgewirkt haben, ist noch heute nur wenige Hinweise auf menschliche Aktivitäten nicht abschließend geklärt. Fest steht aber, dass durch finden, denn die Steinzeitmenschen lebten nicht in vertikale Bewegungen der Landmassen unter dem festen Siedlungen. Sie waren Jäger und Sammler, was Druck aufliegender Gletscher, durch Meeresspiegel- bedeutet, dass sie das natürliche Angebot der Natur, schwankungen und durch die Eismassen selbst die hauptsächlich Pflanzen und Beutetiere, nutzten, aber Gestalt und die Küstenlinien der Britischen Inseln sich die Landschaft so gut wie nicht veränderten oder ge - während des Pleistozäns unentwegt verändert haben. stalteten. Gesichert ist außerdem, dass in den kälteren Ab- Soweit bekannt ist, lebten die Menschen der Altstein- schnitten des Pleistozäns das heutige Großbritannien zeit in kleinen Gruppen zusammen. In wärmeren Zeit- stets trockenen Fußes vom „Kontinent“ aus erreicht wer- abschnitten schlugen sie oft in der Nähe von Flussläufen den konnte. Dies gilt auch für die letzte Eiszeit, als die ihre Lager auf. Dort stand ihnen Wasser zur Verfügung, Schelfgebiete im südlichen Nordseeraum trocken lagen, das ihre Existenz sicherte und das sie in vielfältiger Weise so dass die Britischen Inseln über die Doggerbank mit nutzen konnten. Außerdem lockte das Wasser genügend dem Kontinent verbunden waren. England und Frank- Beutetiere an, die die Jäger erlegen konnten. Wichtige reich trennte lediglich ein Fluss, der sich aus den Vorläu- Beutetiere waren neben den Mammuts Büffel, Elche und fern von Rhein, Maas, Schelde, Seine und Themse sowie Rentiere. Zudem stießen die Menschen in Wassernähe einigen kleineren Flüssen speiste. Auch zwischen Irland auf eine Vielzahl genießbarer Pflanzen. Vor allem in den und Britannien existierte eine Landbrücke, so dass die Wintermonaten waren auch Karsthöhlen beliebte Sied- „Britischen Inseln“ in Wirklichkeit Halbinseln an der lungsplätze. Solche Höhlen existierten freilich nur in nordwesteuropäischen Peripherie waren. Dennoch soll höher gelegenen Kalksteingebieten, wie den Mendip der Einfachheit halber hier weiter von den Britischen Hills sowie den Penninen. Inseln die Rede sein. Unter Britannien dagegen wird die Auch die unmittelbaren Eisrandlagen könnten trotz größere der beiden Hauptinseln verstanden, die mit der dort vorherrschenden tiefen Temperaturen zumin- dem heutigen Großbritannien, also dem Gebiet von dest sporadisch von Nomaden aufgesucht worden sein. England, Wales und Schottland, identisch ist. Denn diese Gebiete waren durchaus attraktiv, gab es hier Die Lebensbedingungen während der Eiszeiten doch ganz sicher Wasser (Schmelzwässer der Gletscher) waren auf den Britischen Inseln also zu feindlich, als und somit auch Beutetiere. Zudem fanden die Steinzeit- dass hier Menschen und – von wenigen Arten abgesehen menschen in den Moränen mancherorts wertvolle Feu- – Tiere hätten (über-)leben können. Dies gilt auch ersteine, die von den Eismassen mit hierhin befördert für die stets eisfreien Tiefländer im Osten und Süden worden waren. Britanniens sowie den gebirgigeren Südwesten, der mit Dass man heute nur gelegentlich und zumeist zufäl- den heutigen Grafschaften Cornwall und Devon iden- lig auf menschliche Spuren aus der Altsteinzeit stößt, tisch ist. Hier herrschten periglaziale Klimabedingungen liegt sicherlich auch an der geringen Größe der damali- vor, die nur in Cornwall und Devon wegen der ozeani- gen Population. Die steinzeitliche Bevölkerung war ins- schen Klimaeinflüsse weniger streng ausfielen. Vor allem gesamt sehr klein. Vorsichtige Schätzungen gehen von an Berghängen kam es zu Bodenfließen (Solifluktion). einer Bevölkerungszahl aus, die in den wärmeren Pha- In flacherem Gelände entstanden Frostmusterböden, sen des Pleistozäns zwischen 3 000 und 20 000 Menschen Schutt- und Steinwälle. Die nur geringfügig entwickel- geschwankt haben könnte. ten Böden im Vorland der Eismassen blieben weitge- hend vegetationsfrei, so dass die Landschaft vermutlich einen sehr trostlosen Eindruck bot. Nur in geschützten Nach dem Eis: Großbritannien Lagen und in größerer Entfernung vom Eisrand konnte und Irland werden Inseln sich eine spärliche Tundrenvegetation entwickeln, die sich aus Gras und weitständig auftretenden Zwergsträu- Als es nach der letzten Eiszeit, im Präboreal (8000–7000 chern zusammensetzte. v. Chr.), allmählich wärmer wurde, verbesserten sich die Während der wärmeren Abschnitte des Eiszeitalters natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Zur Zeit kamen stets Menschen auf die Britischen Inseln. Über des Boreals (7000–5500 v. Chr.) entwickelten sich mit sie ist jedoch nur wenig bekannt. Sie hinterließen keine zunehmendem Temperaturanstieg aus den Tundren all- sichtbaren Spuren in der Landschaft, und selbst wenn es mählich Waldgebiete, so dass während des Atlantikums, 2 24 2 Klima und Landschaftsentwicklung (5500–2500 v. Chr.) schließlich große Teile Britanniens Von großer Bedeutung waren aber auch die Gesteine. wieder von dichten Wäldern bedeckt waren. Die wich- Insbesondere die Hochlandgebiete, wozu auch Cornwall tigsten Baumarten in diesen Wäldern waren Erle, Ulme, und Devon zu rechnen sind, waren reich an wertvollen Linde und, vor allem, die Eiche. Bodenschätzen, wie Zinn, Silber und Blei. Dagegen Bis ungefähr 6000 v. Chr. war Britannien außerdem bestanden die naturräumlichen Vorzüge der Tiefländer, noch immer über eine Landbrücke mit dem westlichen die sich im Wesentlichen mit den Gebieten des heutigen Mitteleuropa verbunden. Erst an der Wende vom Boreal Ost- und Südenglands decken, in guten Böden, die sich zum Atlantikum wurde die Landbrücke zwischen Bri- zum Teil auf Löß gebildet hatten und die spätestens ab tannien und dem Kontinent allmählich von Wasser - 3500 v. Chr. auch ackerbaulich genutzt wurden. massen überspült (flandrische Transgression), und der Ärmelkanal bildete sich heraus. Britannien, das bis dahin eine in den Atlantik vorgeschobene Halbinsel im Weiterführende Literatur Westen Europas gewesen war, wurde zur Insel. Dennoch konnte der sich allmählich öffnende Boulton, G. S.; Peacock, J. D.; Sutherland, D. G. (1991): Qua- Ärmelkanal noch relativ leicht überwunden werden, was ternary. In: Craig, G. Y. (Hrsg.): Geology of Scotland. Lon- in der Folgezeit auch mehrfach geschah. So stießen aus don, S. 503–543. dem Gebiet des heutigen Nordfrankreich während des Bowen, D. Q. (1991): Time and Space in the Glacial Sediment Atlantikums immer wieder Nomaden nach Britannien Systems of the British Isles. In: Ehlers, J.; Gibbard, P. L.; Rose, J. (Hrsg.): Glacial Deposits in Great Britain and Ire- vor. Sie fanden dort eine Landschaft vor, deren Fauna land. Rotterdam, S. 3–11. und Flora ausgesprochen artenreich war. In den über- Clayton, K. M. (1974): Zones of Glacial Erosion. In: Brown, E. H.; wiegend waldbedeckten Tieflandgebieten lebten große Waters, R. S. (Hrsg.): Progress in Geomorphology, IBG Spe- Herden von Nashörnern, Büffeln, Rentieren, Elchen, cial Publication 7, S. 163–176. Hirschen und Rehen. Diese Bestände bildeten die Nah- Goudie, A. S. (1990): The Landforms of England and Wales. rungsgrundlage der mittelsteinzeitlichen Jäger. Zudem Oxford. boten die dichten Wälder den Menschen Schutz, des Weiteren konnten sie Bäume als Brennholz und vielfäl- tig verwertbare Rohstoffe nutzen.,

Kapitel 3 Von der Natur- zur Kultur-

landschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen

Klaus Zehner

3.1 Einführung prägt auch heute noch, über viele Grafschaften hinweg- greifend, die Physiognomie wie auch die Ökosysteme ländlicher Räume und trägt maßgeblich zur landschaft- Die gegenwärtige Kulturlandschaft Großbritanniens ist lichen Alleinstellung Großbritanniens in Europa bei. das Resultat einer ca. 6 000 Jahre andauernden Über- Innerhalb der letzten 6 000 Jahre gab es stets Phasen, prägung und Gestaltung durch Menschen. Während in denen sich die Landesentwicklung, manchmal über dieses Zeitraumes sind auf verschiedenen Kulturstufen viele Jahrhunderte hinweg, eher träge und in kaum stehende Völker nach Großbritannien eingewandert, merkbarer Weise vollzog. Diese Phasen wurden von manchmal auf friedliche, gelegentlich jedoch auch auf zumeist deutlich kürzeren Zeitspannen abgelöst, in kriegerische Weise. Nach ihren Vorstellungen und Zielen denen tief greifende Veränderungen erfolgten. Gute haben sie sowohl die Naturlandschaften, die sie vorfan- B eispiele für derartige Umbrüche liefern die römische den, als auch die Kulturlandschaften, die ihre Vorgänger Invasion ab 43 n. Chr. und die normannische Erobe- hinterlassen hatten, mit den ihnen zur Verfügung rung im Jahre 1066. Beide Ereignisse hatten erhebliche s tehenden Fähigkeiten und Werkzeugen neu in Wert gesellschaftliche Restrukturierungen und administrative gesetzt. Neuordnungen zur Folge. Innerhalb weniger Jahrzehnte Aus allen Epochen sind noch Reste, wenn auch zum breiteten sich die Kulturen der neuen Herrscher aus, die Teil nur punktuell, (prä-)historischer Landschaften, auch in der Landschaft ihre Spuren hinterließen – man Siedlungen, Grabanlagen und Festungen vorhanden. denke nur an die Städte der Römer und ihre Güter und Es ist das Verdienst der Archäologie, dass wir uns heute Villen auf dem Lande oder an die normannischen Bur- einen guten Eindruck etwa von stein-, bronze- und gen des Hochmittelalters. eisenzeitlichen Kulturen machen und Kulturlandschaf- Die Grundidee und der Anspruch dieses Kapitels ten aus weit zurückliegenden Zeiten rekonstruieren bestehen darin, bedeutsame Veränderungen wie die können. oben genannten an wichtigen zeitlichen Nahtstellen Je weiter wir uns auf der Zeitachse Richtung Gegen- sichtbar zu machen und die Prozesse, die diese Verände- wart bewegen, desto besser ist im Allgemeinen der Er- rungen ausgelöst haben, darzustellen und zu erläutern. haltungszustand von historischen Kulturlandschaften. Viele Historiker bezeichnen 1066, das Jahr der nor- Ein gutes Beispiel hierfür liefern die attraktiven Park- mannischen Eroberung, als eigentlichen Beginn der landschaften des englischen Tieflandes. Sie sind das modernen Geschichte Großbritanniens. Sie begründen Ergebnis der Agrarrevolution des 18. Jahrhunderts, die dies mit den neuen gesellschaftlichen Strukturen und mit einer radikalen Umgestaltung der Agrarlandschaft der bis in die Gegenwart reichenden territorialen Neu- durch den Adel einherging. Das englische Parkland ordnung Englands, die von den Normannen geschaffen, 3 26 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen wurde. Dieser auch aus geographischer Sicht einleuch- umständlicher gewesen. Verbesserungen im Verkehrs- tenden Perspektive folgend, werden in Abschnitt 3.2 wesen beschränkten sich während des 18. Jahrhunderts die kulturellen Veränderungen bis zur normannischen jedoch nicht alleine auf Güter. Vielmehr erfuhr auch der Eroberung zusammengefasst. Thematisiert werden die Personenverkehr einen Aufschwung durch die Entwick- Kulturleistungen sowohl von Kelten, Römern, Angeln, lung eines flächendeckenden Netzes gebührenpflichtiger Sachsen als auch der Wikinger. All diese Gruppen haben Fernstraßen für Kutschen, sog. Turnpike Roads (Ab - die Landschaften, die sie vorgefunden haben, ihren schnitt 3.5). jeweiligen Möglichkeiten und Zielen entsprechend ge- Ein weiterer wesentlicher Faktor, der die herausra- staltet und verändert. gende Bedeutung Englands im Industriezeitalter mit Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch aus erklärt, war die Akkumulation bzw. Verfügbarkeit von Perspektive der historischen Geographie ist das engli- erheblichem Kapital. Ein Teil dieses Kapitals war im sche Hochmittelalter eine äußerst bedeutende Epoche. Besitz des Adels, gewissermaßen „altes“ Geld. Ein weite- Zwei herausragende Kulturleistungen aus dieser Zeit rer Teil wurde dagegen von einer neuen, aufstrebenden sind Burgen und Kathedralen (Abschnitt 3.3). Ihr Stu- Unternehmerschicht beigesteuert. Diese setzte sich aus dium liefert Antworten auf spannende Fragen zur inne- Manufaktur- und Fabrikbesitzern, Kaufleuten, Bankiers ren Sicherheit Englands im Mittelalter und zum Einfluss und Schiffseigentümern zusammen. Sie profitierten in von Religionen und Konfessionen auf Gesellschaft und unterschiedlicher Weise vom Handel mit den Kolonien, Raum, auch nach der Reformation. Burgen und Kathe- insbesondere vom sog. Dreieckshandel. Dessen Eck- dralen sind aber nicht nur steinerne Zeitzeugen aus pfeiler waren Sklavenhandel, Sklaverei und Plantagen- lange zurückliegenden Epochen. Heutzutage, im Zeit- wirtschaft (Abschnitt 3.6). So unmenschlich dieses alter von Wissens- und Freizeitgesellschaften, sind sie Wirtschaftssystem auch war, es bescherte jedoch allen gewissermaßen die „Perlen in der Schatztruhe des kul- wirtschaftlichen Akteuren große Gewinne und begüns- turellen Erbes“ Großbritanniens. Für den britischen tigte die ökonomische Entwicklung und den Aufstieg Binnentourismus erfüllen sie im übertragenen Sinne die Großbritanniens zur weltweit führenden Industriena- Funktion von Magneten, die sowohl Einheimische als tion. auch Gäste vom Kontinent bzw. aus Übersee anlocken Wie kein anderer Prozess hat die Industrielle Revolu- und daher der regionalen und lokalen Wirtschaft direkt tion im 18. und 19. Jahrhundert Wirtschaft, Gesellschaft und indirekt wichtige Impulse verleihen. und Raumstrukturen verändert. Sie ist der entschei- Ebenfalls bis in die Gegenwart hinein wirken die dendste und wichtigste Zeitabschnitt in der jüngeren Neuordnung und Umgestaltung ländlicher Räume britischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Diese durch den Adel (Abschnitt 3.4). Seine großen Leistun- Einschätzung der historischen Wissenschaften kann gen im Zuge der Kulturlandschaftsentwicklung des 17. ohne Einschränkung aus Sicht der Geographie bestätigt und 18. Jahrhunderts sind das englische Parkland, der werden; man denke nur an die gewaltigen Veränderun- Landschaftspark und das Herrenhaus. Diese drei Ele- gen des Städtewesens und an die ökologische Benachtei- mente steuern ganz wesentlich zur Attraktivität Groß- ligung solcher Regionen, die in den Sog der Industriellen britanniens bei und verleihen der Countryside ein im Revolution gerieten. Abschnitt 3.7 geht den Ursachen Vergleich mit europäischen Nachbarn unverwechsel- und Voraussetzungen der Industrialisierung Großbri- bares Gesicht. tanniens nach und bewertet ihre Folgen für Umwelt und Zur Einzigartigkeit ländlicher Räume tragen auch, Gesellschaft. wenngleich in bescheidenerem Umfang, die zahlreichen Es steht außer Zweifel, dass sich noch weitere span- Kanäle bei, mit ihren Schleusen und den bunten, lang nende historische Themen und wirkungsmächtige Pro- gestreckten Kanalbooten, die auf ihnen verkehren. Im zesse hätten finden lassen, die im Kontext dieses Kapitels Gegensatz zu Mitteleuropa, wo Kanäle hauptsächlich im hätten berücksichtigt werden können. Wir, die Heraus- 19. und 20. Jahrhundert angelegt wurden, als die Eisen- geber, sind jedoch der Meinung, dass gerade die bahn längst ihren Siegeszug angetreten hatte, begann in Themen, für die wir uns entschieden haben, sehr Großbritannien das Kanalzeitalter bereits um die Mitte anschaulich vermitteln, welche Kräfte und Prozesse zu des 18. Jahrhunderts. Ohne den effizienten Ausbau des unterschiedlichen Zeiten Großbritannien geprägt und Kanalnetzes hätten Fabriken und Manufakturen wäh- schließlich zur heutigen Raumstruktur und zum aktuel- rend des frühen Industriezeitalters nur zu deutlich len Erscheinungsbild Großbritanniens geführt haben. ungünstigeren Konditionen mit Rohstoffen versorgt werden können. Auch der Transport von Fertigpro- dukten in entferntere Städte, Regionen und zu den wichtigen Ausfuhrhäfen wäre teurer, langsamer und, 3.2 Steinkreise, Kastelle und Klöster – Spuren aus vornormannischer Zeit 27 3 3.2 Steinkreise, Kastelle ßig angelegter „Feuersteinbergwerke“, die in den Kalk- steingebieten Süd- und Ostenglands gefunden wurden, und Klöster – Spuren sind eindeutige Belege für eine höhere Kulturstufe. aus vornormannischer Zeit Dafür sprechen auch Funde offenbar fabrikartig organi- sierter Produktionsstätten für Steinäxte, die als Jagdge- räte und Werkzeuge eingesetzt wurden. Zudem entwi-

Die ersten Siedler ckelten sich erste Fernhandelsbeziehungen zu Stämmen

auf dem Kontinent. Sie beruhten auf planmäßig betrie- in der Jungsteinzeit bener Landwirtschaft in Verbindung mit Vorratshaltung und der Produktion von Überschüssen. Das warme und trockene Klima, die guten Böden und Wichtige Lebensräume der Einwanderer waren die der Reichtum an Bodenschätzen lockten zu Beginn der Kalkplatten des südostenglischen Schichtstufenlandes. Jungsteinzeit Siedler vom Kontinent an. Sie stammten Dort konnten die neuen Siedler gut drainierte, leicht zu aus dem Gebiet des heutigen Westfrankreich und waren bearbeitende und fruchtbare Braunerden nutzen. Zu - im Gegensatz zu ihren Vorgängern Bauern. Die Neuan- dem bereitete ihnen das Roden der nur lichten Wälder kömmlinge lebten in festen, dauerhaften Behausungen auf den Kalkböden keine großen Schwierigkeiten. Die und betrieben sowohl Tierhaltung als auch Ackerbau Ungunsträume hingegen, tiefer gelegene Talungen, Mul- (Abb. 3.1). Somit standen sie auf einer deutlich höheren den und Senken mit ihren stärker durchnässten und Entwicklungsstufe als ihre Vorgänger, die Nomaden schweren Böden, blieben bis ins erste vorchristliche waren und von den Neuankömmlingen – so vermuten Jahrhundert weitgehend siedlungsfrei. jedenfalls Historiker und Archäologen – aus den Gunst - Die bevorzugte Behausung in der Jungsteinzeit war räumen verdrängt wurden. der Einzelhof. Bei zunehmender Besiedlungsdichte bil- Die neuen Landesbewohner beschränkten sich aller- deten sich auch Weiler und kleine Haufendörfer heraus. dings nicht nur auf die Landwirtschaft. Relikte planmä- Dies belegen Siedlungsfunde im Westen der Grampian Mountains (Nordwestschottland) und auf den Orkney- Inseln. Bis dorthin waren während der noch wärmeren und trockeneren Abschnitte der folgenden Bronzezeit einzelne Gruppen vorgestoßen. Von ihren Siedlungs- plätzen sind allerdings heute nur noch durch Grabun- gen freigelegte Grundmauern vorhanden. Gut erhalten hingegen sind Großsteingräber bzw. -tempel, die der Megalithkultur zugeschrieben werden. Sie wurden sowohl in kompakter Form, als sog. Henges, als auch in Form offenerer Steinkreise mit größeren Radien angelegt (Abb. 3.2, Abb. 3.3). Zu den wichtigsten Gebieten, in denen heute noch die zum Teil erstaunlich gut erhaltenen Überreste solcher Anlagen, z. B. Stone- henge, anzutreffen sind, zählen Wiltshire (Südengland) und Cumbria (Nordwestengland). Trotz seines großen Bekanntheitsgrades ist Stone- henge keineswegs das größte Bauwerk der britischen Frühgeschichte. Diese Auszeichnung verdient der Sil- bury Hill, knapp 30 km nördlich von Stonehenge gele- gen. Silbury Hill ist eine erdbedeckte, grasbewachsene Pyramide, die ihre Umgebung um ca. 30 m überragt (Abb. 3.4). Ihr kreisrunder Grundriss und bogenförmi- ger Aufriss verschleiern allerdings den pyramidenarti- gen Aufbau im Hügelinneren. Denn im Detail besteht der Kern des Hügels aus mehreren aufeinandergeschich- teten Terrassen, die sich nach oben verjüngen. Abb. 3.1 Rekonstruktion eines typischen Bewohners der Welchen Zweck bzw. welche Bedeutung Silbury Hill Salisbury Plain in der Jungsteinzeit. Quelle: Zehner 2007 (Ori- hatte, ist bis heute nicht geklärt. Fest steht jedoch, dass ginal im Alexander Keiller Museum, Avebury). der Bau der Anlage ein hohes Maß an technischem Wis-, 3 28 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen

Stonehenge und die Salisbury Plain

Der berühmteste Steinkreis ist ohne Zweifel das auf der anderen Steinkreisen beachtliche Größe von Stonehenge ist Salisbury Plain (Wiltshire) gelegene Stonehenge, eine Tem- ein Beleg für die herausragende religiöse – manche Archäo- pelanlage, mit deren Bau in der Jungsteinzeit begonnen und logen vermuten sogar wissenschaftliche – Bedeutung, die die erst in der Bronzezeit fertig gestellt wurde. Die Kultstätte den Steinkreisen zugeschrieben werden kann. liegt auf dem Rest eines von tiefen Tälern zerschnittenen Die Salisbury Plain ist geradezu übersät mit prähistori- und zum Teil aufgelösten Kalkplateaus. Die im Vergleich zu schen Hügeln und Langgräbern. Abb. 3.2 zeigt einen Aus- Abb. 3.2 Die Salisbury Plain im Kartenbild. Die Karte im Maßstab 1:50 000 zeigt eine durch zahlreiche prähistorische Begräbnis- und Kult- stätten geprägte Kulturlandschaft. Quelle: Ordnance Survey, Landranger 184: Salisbury and the Plain. sen, gesellschaftlicher Ordnung und wirtschaftlicher Trotz der großen Zahl kultureller Hinterlassenschaften Organisation vorausgesetzt hat. ist es leider kaum mehr möglich, die bronzezeitlichen Siedlungs- und Lebensräume präzise zu rekonstruieren,

Die Kelten – geschickte da in den heute dichter besiedelten Gebieten die meisten

Relikte dieser prähistorischen Kulturlandschaft im Ver-

Handwerker und fleißige Bauern lauf der Neuzeit vernichtet bzw. überprägt wurden.

Auch von den Kelten, die ab ca. 300 v. Chr. in größe- Am Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit rer Zahl nach Britannien einwanderten, sind nur noch strömten neue Einwanderer, die sog. Glockenbecher- isolierte Relikte in der Landschaft zu finden. Gesichert leute, von der Iberischen Halbinsel nach Britannien. Die ist jedoch, dass die Kelten in kleinen, befestigten Weilern Glockenbecherleute verfügten bereits über die Technik bzw. kleinen Dörfern siedelten. Ihre Existenzgrundlage der Bronzeherstellung. Sie ließen sich in Südwesteng- war eine erfolgreiche Landwirtschaft, die auf Viehzucht land mit seinen erzreichen Bergländern und Plateaus und Ackerbau beruhte. Als besonders erfolgreiche Inno- nieder. Aus den Gangerzen in den paläolithischen vation stellte sich der schwere Eisenpflug heraus, der von Gesteinen gewannen sie u. a. Bronze. Funde belegen, den Belgae, einem in Südengland ansässigen keltischen dass aus Bronze Becher, die auch als Grabbeilage dien- Stamm, entwickelt wurde. Er gestattete auch das Pflügen ten, sowie Streitäxte gefertigt wurden. Auch Großstein- schwererer Böden in tiefer gelegenen Gebieten, so dass gräber und eine Vielzahl von Hügelgräbern stellen noch die landwirtschaftliche Nutzfläche insgesamt ausge- heute sichtbare Spuren der Glockenbecherleute dar. dehnt werden konnte., 3.2 Steinkreise, Kastelle und Klöster – Spuren aus vornormannischer Zeit 29 3 schnitt aus der topographischen Karte „Salisbury and the des Stonehenge-Tempels zusammensetzt, aus den Prescelly Plain“ des Maßstabs 1:50 000. Neben Stonehenge fallen die Hills im Südwesten von Wales stammen (Abb. 3.3). zahlreichen Hügelgräber ins Auge, die als „Tumuli“ bezeich- Über den Transportweg und die technischen Hilfsmittel, net sind. Im westlichen Ausschnitt ist ein mit der Aufschrift die zur Beförderung der Blausteine notwendig waren, gibt es „Longbarrow“ gekennzeichnetes Langgrab zu erkennen. Auf- seitens der Frühgeschichte unterschiedliche Theorien. Es fällig ist des Weiteren das Fehlen von Fließgewässern, was gilt aber als wahrscheinlich, dass die Steine längs der walisi- durch die klüftigen Gesteine der Plain erklärt werden kann. schen Küste, um Cornwall herum, bis an die südenglische Zugleich wird am Beispiel von Stonehenge deutlich, über Küste getreidelt worden sind. Ungefähr dort, wo heute die welch gutes technisches und topographisches Wissen die Stadt Bournemouth liegt, wurden sie an Land gebracht. Von Jungsteinzeitmenschen bereits verfügt haben müssen. So dort wurden sie über Rutschen, Rampen oder schienenartige belegt die genaue Übereinstimmung von Gesteinsproben, Anordnungen bis zu ihrem endgültigen Bestimmungsort auf dass die Blausteine, aus denen sich der innere Steinkreis der Salisbury Plain weiterbefördert. Abb. 3.3 Stonehenge aus der Luft. Quelle: De la Bédoyère 2006, S. 10. Abb. 3.4 Silbury Hill in der Nähe von Avebury (Salisbury Plain)., 3 30 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.5 Reste des Hillforts Old Sarum. Quelle: http://www.english-heritage.org.uk. Zu den bedeutenden Relikten keltischer Siedlungen gelang es den Römern, innerhalb weniger Jahre die kel- zählen die sog. Hillforts. Sie belegen, dass die Eisen- tischen Stämme, die in den Tieflandgebieten Britan- zeit eine unruhige Zeit war, die immer wieder durch niens gelebt hatten, zu unterwerfen bzw. zu verdrängen. kriegerische Auseinandersetzungen zwischen der ein- An den Grenzen zum heutigen Wales und am Antonius- heimischen Bevölkerung und neuen Einwanderern vom wall, der sich durch die mittelschottische Senke, vom Kontinent geprägt wurde. Wegen ihrer überwiegend Firth of Clyde im Westen zum Firth of Forth im Osten, militärischen Funktion wurden die Hillforts auf Berg- zog, endete jedoch das römische Einflussgebiet. Einzelne rücken errichtet. Diese Siedlungsplätze, die später auch Versuche, auch den Westen von Wales und die schotti- religiösen Zwecken dienten, waren durch mehrere Wälle schen Hochlande dauerhaft der römischen Provinz Bri- und Gräben bestens gesichert. Die bekanntesten eisen- tannien einzuverleiben, scheiterten. Denn in den nörd- zeitlichen Forts dürften Maiden Castle (Dorset) und Old lichen, unsicheren Grenzsäumen ihres Reiches wurden Sarum (Wiltshire) sein (Abb. 3.5). die Römer permanent mit Aufständen und Attacken der Die Kelten waren im Übrigen die ersten Siedler, die Pikten, die ihren Namen ihrer martialischen Körperbe- nicht nur in der Landschaft ihre Spuren hinterließen, malung verdankten, konfrontiert. Die Pikten lebten in sondern deren Existenz sich in noch heute gesprochenen den schottischen Hochlanden und überfielen immer Sprachen widerspiegelt. Keltisch, bzw. gälisch, wird noch wieder südlich des Antoniuswalles gelegene anglobri- in Irland gesprochen, wie auch in Wales und im Nord- tannische Siedlungen. Diese Nadelstiche schmerzten die westen Schottlands. Linguistische Unterschiede zwi- Römer so sehr, dass sie schließlich die Unterwerfung der schen irischem sowie walisisch-schottischem Gälisch keltischen Peripherie als militärisches Ziel aufgaben. verweisen auf unterschiedliche Herkunftsgebiete der Stattdessen konzentrierten sie sich auf die militäri- Kelten. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein sprach man sche Absicherung und wirtschaftliche Entwicklung der übrigens auch in Cornwall gälisch. Tieflandgebiete. Grundlage der Landeserschließung war ein Netz hervorragend ausgebauter Haupt- und Neben-

Die Römer – Unterdrücker straßen, die wichtige Städte und Militärlager miteinan-

der verbanden. Ihren Trassen folgen noch heute Ab - und Landschaftsgestalter schnitte von Autobahnen und Nationalstraßen. Die Kelten waren geschickte Handwerker, die Erfahrun- gen in der Herstellung und Verarbeitung von Eisen besa- Gutsbetriebe und Landwirtschaft ßen. Zugleich gab es in ihren Reihen wagemutige Krie- ger. Letzteres bekamen die römischen Besatzer, die ab Während ihrer Herrschaft (43–410 n. Chr.) schufen die 43 n. Chr. Britannien zu unterwerfen versuchten, wäh- Römer vor allem in den klimatisch und hinsichtlich rend ihrer gesamten Besatzungszeit zu spüren. Zwar der Böden begünstigten Landesteilen produktive Kul-, 3.2 Steinkreise, Kastelle und Klöster – Spuren aus vornormannischer Zeit 31 3 turlandschaften. In den landwirtschaftlichen Gunsträu- der dritten Hierarchiestufe standen die Kolonien Col- men Süd-, Mittel- und Ostenglands errichteten sie chester, Gloucester, Lincoln und York, in denen über- vermutlich weit über 1 000 Landgüter. Von diesen Guts- wiegend Veteranen lebten. Daneben erfüllten die Kolo- betrieben aus wurde das umgebene Land planmäßig nien eine wichtige militärische Funktion. Sie waren bewirtschaftet. Seine Inwertsetzung erforderte u. a. zugleich Standorte für römische Legionen, die in Forts umfangreiche Rodungen, die zur Folge hatten, dass das untergebracht werden konnten. Diese Forts lagen in Waldland systematisch reduziert wurde. unmittelbarer Nachbarschaft zu den städtischen Sied- Auf den Gütern wurden neben Weizen auch zahlrei- lungskernen. che Obstsorten, z. B. Pflaumen, Birnen und Kirschen, Den Kolonien waren 15 Regionalzentren untergeord- angebaut. Des Weiteren wuchsen hier verschiedene Kas- net, die in der Nähe ehemaliger keltischer Siedlungsvor- tanienarten und der Walnussbaum. Abseits der großen läufer gegründet worden waren. Von hier aus wurde die Güter lagen kleine Hofstellen der keltischen Urbevölke- Verwaltung ihres Umlandes organisiert. Zugleich waren rung. Ihre Gesamtzahl wird auf ca. 700 geschätzt. Die sie auch Standorte gewerblicher Produktion und des dort lebenden Gruppen wurden zur Arbeit auf den Handels und erfüllten wichtige kulturelle Funktionen. Landgütern herangezogen; allerdings betrieben sie auf Auf der untersten Stufe des Städtesystems standen 25 kleinen arrondierten Parzellen auch Subsistenzwirt- Kleinstädte mit zum Teil sehr speziellen Funktionen. schaft. Man muss davon ausgehen, dass beide Schichten, Hervorzuheben sind die Badeorte Buxton (Aquae die der römischen Besatzer und die der keltischen Urbe- A rnememae) in den südlichen Penninen und das völkerung, zwar in einem Abhängigkeitsverhältnis berühmte Bath (Aquae Sulis), das allerdings erst in der zueinander standen, gleichwohl in mehr oder weniger georgianischen Epoche (17. Jahrhundert) seine volle friedlicher Koexistenz lebten. Blüte erreichte. Neben dem Ackerbau hielten die Römer auch Ziegen Die römischen Städte waren klein an Fläche, sie und Schafe. Die Schafe, die später zu einem Synonym ü berragten allerdings physiognomisch, wirtschaftlich für britische Landwirtschaft werden sollten, führten sie und kulturell ihr Umland deutlich. Städtebaulich und aus Kleinasien ein. Nachgewiesen ist auch die Existenz funktional waren sie ihren Vorläufern in den anderen mehrerer Rinder- und Pferderassen. Außerdem war die Teilen des Römischen Reiches nachempfunden worden. Geflügelhaltung weit verbreitet. Typisch waren die Ummauerung, der gitterförmige Stra- Auf dem Land wurde jedoch nicht nur Landwirt- ßengrundriss, Steinhäuser, das Forum, Kolonnaden, schaft betrieben. Wo immer die Römer geeignete Lager- Gerichtsgebäude, Thermen und Tempel. Die bedeuten- stätten vermuteten, trieben sie einfache Stollen ins deren Städte verfügten auch über ein Theater. Gestein, um Erze zu fördern. Diese wurden zerkleinert Zwar wurden weite Teile der englischen Lowlands und in Eisen- und Buntmetallschmelzen weiterverarbei- (Tieflandgebiete) in der römischen Zeit erstmalig in tet. In anderen Regionen entstanden Töpfereien, Ziege- eine Kulturlandschaft umgewandelt. Nach dem Abzug leien und Mühlen. der Römer ab 410 n. Chr. verfiel diese Kulturlandschaft aber bald wieder. Römische Städte Die Angeln und Sachsen – neue Außerdem fügten die Römer der Kulturlandschaft ein Schutzmacht im frühen Mittelalter weiteres Element hinzu, das es in der vorrömischen Zeit nur vereinzelt und in einer nur gering entwickelten Vari- Über die folgenden 150 Jahre ist im Detail nur wenig ante gegeben hatte: die Stadt. Zwar waren bereits in der bekannt. Fest steht, dass die keltische Urbevölkerung Eisenzeit größere Siedlungen von den Kelten angelegt nach dem Abzug der Römer nicht nur ihre Unterdrü- worden, unter denen Camulodunum (Colchester), Ve - cker, sondern auch ihre Schutzmacht verloren hatte. rulamium (St. Albans) und Calleva (Silchester) die Schon bald zeigte sich, dass sich vor allem die Pikten und größten und bedeutendsten waren. Sie stellten aber dem die von Irland nach Südschottland eingewanderten römischen Verständnis nach keine Städte dar, da sie bau- S coten des entstandenen Machtvakuums bewusst lich, kulturell und sozial kaum differenziert waren. geworden waren und die Zahl und Intensität ihrer Über- An der Spitze des römischen Städtesystems stand die fälle zunahmen. In ihrer Not bat die keltische Urbevöl- Hauptstadt London. Ihr nachgeordnet, aber politisch kerung germanische Söldnerstämme aus Angeln und bedeutsamer als alle anderen Städte Britanniens, war Sachsen, Gebieten des heutigen Niedersachsens, Schles- Verulamium, eine Stadt in der Nähe des heutigen wig-Holsteins und des südlichen Dänemarks, um Hilfe. St. Albans, ca. 40 km nördlich von London gelegen. Auf Ihre Unterstützung wurde mit umfangreichen Land-, 3 32 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen schenkungen entlohnt. Jedoch kühlte sich im Laufe des gewann. Der katholische Glaube wurde zur gemeinsa- 6. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen der einheimi- men Religion der sieben angelsächsischen Königreiche. schen Bevölkerung und ihrer neuen, angelsächsischen Diese Entscheidung hatte Auswirkung auf die Erschlie- Schutzmacht deutlich ab. Denn die Angeln und Sachsen ßung des ganzen Landes, bei der den Klöstern eine hatten mittlerweile realisiert, dass sie in Britannien Län- Schlüsselrolle zukam. Denn Klöster waren nicht nur dereien in Besitz nehmen konnten, ohne mit großem Orte der Stille und des Gebets, sie übernahmen auch Widerstand rechnen zu müssen. Diese Erkenntnis wichtige praktische Funktionen für die damalige Bevöl- sprach sich in der alten Heimat der Eroberer rasch kerung. Sie waren zugleich Krankenhäuser, Herbergen herum und führte zu einer regelrechten Invasion von und Anlaufstellen für Arme und Hungernde. Außerdem Angeln, Sachsen und Jüten. wurden von den Klöstern aus die angrenzenden Lände- Am Ende des 7. Jahrhunderts hatten die Angeln und reien in Wert gesetzt und bewirtschaftet. Sachsen sieben Königreiche auf der britischen Hauptin- In der heutigen Kulturlandschaft sind nur noch ver- sel gegründet. Deren Bezeichnungen haben sich zum einzelt Spuren der angelsächsischen Klosterkultur zu Teil bis heute erhalten und spiegeln sich in den Namen finden. Einige Klöster, z. B. Lindisfarne, wurden von den von Grafschaften wider. Die vier kleineren Königreiche, heidnischen Wikingern, die ab ca. 800 in den Norden Sussex, Kent, Essex und East Anglia, lagen im Südosten Britanniens und in Irland einfielen, zerstört. Andere Britanniens; die drei größeren und zugleich mächtige- dagegen wurden von den Normannen ab der Mitte des ren im Norden (Northumbria), in den Midlands (Mer- 11. Jahrhunderts erweitert, bis sie der Säkularisierung cia) bzw. im Südwesten (Wessex). Infolgedessen geriet im 16. Jahrhundert unter Heinrich VIII. zum Opfer die keltische Urbevölkerung erneut unter das Joch einer fielen. Besatzungsmacht. Einige Keltenstämme wurden assimi- liert und gingen in der angelsächsischen Bevölkerung auf, andere Stämme flohen in die westliche Peripherie Im Griff der „Nordmänner“ Britanniens, d. h. nach Cornwall, Devon und Wales. Daher sind dort bis in die Gegenwart gälische Sprachen Das Werden Englands im Mittelalter wurde ganz maß- stark verwurzelt. geblich von den sog. Nordmännern oder Wikingern, die aus dem Gebiet des heutigen Norwegens und Däne- marks stammten, beeinflusst. Die Wikinger überfielen Christianisierung zu Beginn des 9. Jahrhunderts, als der Siedlungsraum in ihrer Heimat knapp wurde, zunächst sporadisch, später Während der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts begann in immer kürzeren Abständen küstennahe Landstriche. die systematische Christianisierung des angelsächsi- Über die Shetland- und Orkney-Inseln gelangten sie an schen Britanniens durch die römische Kirche. Zuvor, die schottische Festlandküste, längs derer sie nach d. h. bis ca. 650 n. Chr., waren religiöse Impulse von Süden, Richtung Humber-Mündung, und nach Westen, Irland ausgegangen. Dort hatte sich bereits im 5. Jahr- Richtung Irland, vordrangen. Die Dänen hingegen kon- hundert das Christentum ausgebreitet. Mönche dieser zentrierten sich stärker auf Ostengland, insbesondere irisch-keltischen Kirche hatten sich seither um die Mis- auf Gebiete südlich des Humber. sionierung der westlichen und nördlichen Teile der bri- Die kriegerischen Attacken der Wikinger einten tischen Hauptinsel bemüht. Ausgangspunkte ihrer mis- zunächst die angelsächsischen Könige. In der Folge kam sionarischen Tätigkeiten waren zwei Klöster. Das eine, es zu einem schrittweisen Zusammenschluss ihrer Iona, lag auf der gleichnamigen westschottischen Insel Königreiche, die einzeln zu schwach gewesen wären, um (563 n. Chr.). Der andere Stützpunkt der irisch-kelti- der politischen und militärischen Macht der Wikinger schen Mönchskirche war das Kloster Lindisfarne (635 n. lange widerstehen zu können. Dennoch entstanden in Chr.) auf der gleichnamigen Insel vor der Nordostküste der Osthälfte Englands drei dänische Königreiche – Englands, in der Grafschaft Northumberland. Von bei- York, Danish Mercia und East Anglia –, während die den Klöstern breitete sich das Christentum nach Wales, Norweger Dublin zur Hauptstadt ihres gleichnamigen Südschottland und Nordengland aus. Königreichs machten, um von dort aus ihren Einfluss Zugleich versuchte die römische Kirche, ihren Ein- auf die Gebiete an der Westküste Großbritanniens aus- fluss in Britannien geltend zu machen. Die Konkurrenz zudehnen. zwischen beiden Kirchen, die sich in einigen Lehrmei- Lediglich Wessex, das angelsächsische Königreich im nungen heftig widersprachen, wurde auf der Synode von Süden, erwies sich als stabiles Bollwerk gegen die Atta- Whitby (664 n. Chr.) endgültig zugunsten der römi- cken der Skandinavier. Von hier aus erfolgte 1016 trotz schen Kirche entschieden, die fortan rasch an Einfluss einiger Rückschläge die Wiedereroberung der dänisch, 3.3 Burgen und Kathedralen – kulturelles Erbe des Mittelalters und Tourismusziele der Gegenwart 33 3 3.3 Burgen und Kathedralen – kulturelles Erbe des Mittel- alters und Tourismusziele der Gegenwart „… the origins of Britain we know today really begin with the year zero of the Norman invasion in 1066. No single event has had a greater impact on the building of Britain than this victory and the construction programme that followed it“ (David Dimbleby, BBC-Journalist). „Well, I have travelled all over Europe in search of architect ure, and I have seen nothing like this“ (August Pugin, engl. Archi- tekt im 19. Jahrhundert über Salisbury Cathedral). Seit dem Zweiten Krieg hat sich Großbritannien von einer Industrienation zu einem Land mit einer postin- Abb. 3.6 Ländlicher Raum in der Grafschaft Lincolnshire. Ihre dustriell geprägten Wirtschaft und einer ausdifferenzier- Spuren haben die skandinavischen Eroberer im Namensgut von Siedlungen hinterlassen. Die zahlreichen Ortsnamensen- ten, wissensbasierten Gesellschaft, die in zahlreiche dungen -by und -thorpe sind sprachliche Relikte der dänischen Milieus gegliedert ist, gewandelt. Trotz unterschiedlicher Invasion im 9. Jahrhundert. Quelle: Road Atlas Britain and Ire- Klassenzugehörigkeit, Lebensstile und Konsummuster land 2000, S. 42. ist nicht zu übersehen, dass milieuübergreifend das Bedürfnis großer Bevölkerungsteile an Informationen über die eigene Kultur und Geschichte deutlich zuge- nommen hat. Besonderer Wert wird von der Nach- besetzten Gebiete. Von einem kleinen Gebiet im äu - fragerseite heute auf eine attraktive, zeitgemäße und ßersten Nordwesten abgesehen, wurden die dänischen multimediale Vermittlung von historischen und kultur- und angelsächsischen Territorien zu jenem Gebiet ver- bezogenen Themen gelegt. Die großen britischen Kultur - einigt, das heute als England bezeichnet wird. organisationen haben diesen Trend erkannt und deut- Bereits ein halbes Jahrhundert später endete die lich auf ihn reagiert. skandinavische Epoche abrupt. Nach der berühmten In der Landschaft zeigt sich das historische und kul- Schlacht von Battle (in der Nähe von Hastings, East Sus- turelle Erbe Großbritanniens in vielfältiger Weise und sex) im Jahre 1066 geriet England unter normannischen berührt ganz unterschiedliche Themenkreise. Es um - Einfluss. England wurde zu einem Feudalstaat, der radi- fasst Gärten, Landhäuser, Burgen, Museen, historische kale gesellschaftliche und räumliche Veränderungen Schiffssammlungen, Besucherzentren, Naturparks, tra- erfuhr. ditionelle Arbeitsstätten (z. B. potteries), Farmen sowie Kirchen, Klöster und Kathedralen. Alleine in England existieren ca. 7 000 staatlich oder von privaten Trägern

Weiterführende Literatur verwaltete Freizeitstandorte. Es dürfte kaum ein anderes

Land in Europa geben, in dem die Dichte von professio- Brodersen, K. (1998): Das römische Britannien. Spuren seiner nell aufbereiteten Kulturstätten auch nur annähernd Geschichte. Darmstadt. so hoch ist wie in Großbritannien. Die braunen Hin- De la Bédoyère, G. (2006): Roman Britain. A New History. Lon- don. weisschilder an den Rändern von Autobahnen und Gelfert, H.-D. (1999): Kleine Kulturgeschichte Großbritanniens. Nationalstraßen, die auf Attraktionen und andere places München. of interest verweisen, sind mittlerweile zu vertrauten Ele- Ordnance Survey of Great Britain (Hrsg.) (1985): The Ordnance menten ländlicher (und auch manch städtischer) Kul- Survey Atlas of Great Britain. Southampton. turlandschaften geworden., 3 34 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen

English Heritage und National Trust hingegen betreut auch Objekte in Wales und Nordir-

als Hüter kulturellen Erbes land. In Schottland ist der National Trust allerdings nicht vertreten. Dort liegen Schutz, Betreuung und För- derung des kulturellen Erbes Schottlands in den Händen Die meisten Kulturstätten werden heute in der Regel von des 1931 gegründeten National Trust for Scotland. einer der beiden großen Kulturorganisationen English Von den drei großen kulturellen Dachorganisationen Heritage und National Trust betrieben und verwaltet ist der National Trust die bedeutendste. Dies lässt sich (Abb. 3.7). u. a. an der Zahl der Besucher ablesen. Im Jahre 2007 English Heritage ist eine halbstaatliche Organisation, suchten ca. 12 Mio. Personen Kulturstätten des National gewissermaßen der verlängerte Arm des Ministeriums Trust auf, während English Heritage auf ca. 5 Mio. Gäste für Kultur, Medien und Sport, von dem es etwa drei verweisen konnte. 1,7 Mio. Besucher wurden an den Viertel seiner Mittel bezieht. Die Organisation wurde Eingängen von Einrichtungen des National Trust for 1983 ins Leben gerufen und verwaltet mittlerweile 400 Scotland gezählt. Schon die Zahl von zusammen 18,7 größere Kulturstätten in England. Wesentlich früher, Mio. Besuchern lässt erahnen, wie groß die wirtschaftli- nämlich schon im Jahre 1895, wurde der National Trust che Bedeutung des historischen und kulturellen Erbes in gegründet. Im Gegensatz zu English Heritage ist der Großbritannien ist. National Trust eine rein private Organisation. Dem- Von den Besuchern profitieren nicht nur die Kultur- zufolge bezieht er keine öffentlichen Mittel, sondern stätten selbst, sondern auch die benachbarten Dörfer, finanziert sich ausschließlich über Mitgliederbeiträge, Städte und Regionen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist Spenden und Eintrittsgelder. Wie weit der Einfluss des die Vorliebe der Engländer für Tagesausflüge auf das National Trust reicht, mögen einige Zahlen verdeut- Land. Insbesondere bei Familien ist a day out in the lichen. Die Organisation verwaltet insgesamt über country sehr beliebt. Häufig bildet der Besuch eines 2 500 km2 Land; der überwiegende Teil davon hat den Landhauses, einer Burg oder eines Gartens den Anlass Status einer area of outstanding natural beauty, was für einen Tagesausflug, der mit einem anschließenden bedeutet, dass Attraktivität und Reiz der Landschaft aus- Einkauf in einer benachbarten Stadt, dem Besuch eines gesprochen hoch eingeschätzt werden. Eine besondere tea room oder einem Abendessen in einem Pub abge- Bedeutung kommt in diesem Kontext den Küsten Groß- rundet wird. britanniens zu. Mehr als 1 100 km der zum Teil maleri- schen und reizvollen Küstenstriche Großbritanniens unterstehen dem National Trust. Ähnlich wie English Burgen – historische Heritage verwaltet der National Trust auch Landsitze Landmarken aus der (350 an der Zahl), Gärten, Klöster und antike Monu- mente. anglonormannischen Epoche Unterschiede zwischen beiden Organisationen lassen sich zunächst im Hinblick auf ihre jeweiligen Zustän- Von besonderer Bedeutung für die Repräsentation digkeitsgebiete ausmachen. Wie der Name bereits e nglischer Geschichte und Kultur sind seine Burgen andeutet, beschränken sich die Aktivitäten von English (castles), von denen nur wenige noch vollständig erhal- Heritage ausschließlich auf England. Der National Trust ten sind (ein schönes Beispiel ist Carisbrooke Castle auf der Isle of Wight) (Abb. 3.8). Die meisten Burgen befin- den sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Von einigen sind nur noch die Hügel, auf denen sie einst standen, oder ihre Grundmauern erhalten. Dass so viele Burgen verfallen sind, ist mit dem Verlust ihrer militäri- schen Funktion zum Ende des Mittelalters zu erklären. Spätestens im 16. Jahrhundert erforderte die innenpoli- tische Situation Englands keine befestigten Adelsresi- denzen mehr. Da sie als reine Wohnstandorte nicht sehr attraktiv waren, wurden die meisten Burgen aufgegeben. An ihrer Stelle bevorzugten die Aristokraten nun Land - sitze in Form von Herrenhäusern, die sie an landschaft- lich attraktiveren Orten errichten ließen. Abb. 3.7 English Heritage und National Trust sind die wichtigs- In der frühen Neuzeit und im Mittelalter interessierte ten britischen Kulturorganisationen. sich kaum noch jemand für die scheinbar wertlosen, 3.3 Burgen und Kathedralen – kulturelles Erbe des Mittelalters und Tourismusziele der Gegenwart 35 3 Abb. 3.8 Carisbrooke Castle auf der Isle of Wight ist eine der am besten erhaltenen Burgen Englands. Im Hinter- grund ist die innere Verteidigungsan- lage (Keep) zu sehen. Quelle: Zehner 2009. Burgen bzw. Burgruinen. Mittlerweile jedoch spielen Grenzen des römischen Britanniens sind prominente Burgen in der öffentlichen Wahrnehmung wieder eine Beispiele hierfür (Abschnitt 3.2). Doch waren es die größere Rolle, natürlich nicht mehr aus militärischer Normannen, die nach ihrer Eroberung Englands im Sicht, sondern als reizvolle Ziele, sowohl für britische Jahre 1066 die Kulturlandschaft um ein neues Element Touristen als auch für Gäste aus Übersee. bereicherten: die Burg. Unmittelbar nach der norman- Vor allem die bekannteren Burgen haben sich zu nischen Eroberung hatte König Wilhelm II. den Bau von attraktiven touristischen Destinationen entwickelt. Eine ca. 80 Burgen angeordnet, um die noch fragile innere herausragende Bedeutung hat der Tower von London, Sicherheit Englands zu erhöhen. Nur die befestigte Burg durch dessen Räumlichkeiten und Kellergelasse jährlich galt als ein sicherer Wohnstandort für die neue aristo- ca. 2 Mio. Besucher geschleust werden. Auf den nächsten kratische Oberschicht, die Ritter bzw. Barone. In der Plätzen folgen Leeds Castle (580 000), Dover Castle englischen Literatur wird deswegen die Burg auch als (300 000) und Hever Castle (250 000), alle in Südeng- fortified residence of a lord bezeichnet. Sie thronte im land gelegen. Diese Zahlen lassen erahnen, wie bedeu- wahrsten Sinne des Wortes über der älteren angelsächsi- tend heute einige Burgen bzw. Burgruinen als regionale schen Siedlungslandschaft, die durch kleine Dörfer und Anziehungspunkte für Touristen sind. Weiler geprägt wurde. Es ist leicht nachvollziehbar, dass alleine die Lagebeziehung von Burg und Dörfern Macht und Stärke der normannischen Besatzer deutlich wider- Verteidigungsanlage und Wohnsitz spiegelte. Denn die Burg war weithin sichtbar und flößte der einheimischen Bevölkerung Respekt ein. Außerdem Die Attraktivität englischer Burgen lässt sich zu einem führte sie der bäuerlichen Bevölkerung ständig vor erheblichen Teil durch ihre außerordentliche Bedeutung Augen, dass England nun ein Feudalstaat geworden war, für die mittelalterliche Landes- und Kulturlandschafts- in dem sie nur noch wenige Rechte besaßen. entwicklung erklären. Denn die Burgen repräsentieren Grundlage des Feudalsystems war ein von Wilhelm II. zeitlich und räumlich das nach der normannischen eingeführtes Lehenswesen, das auf Loyalität, Vertrauen Eroberung entstandene feudale England, dessen admi- und gegenseitiger Abhängigkeit beruhte. Es basierte auf nistrative, politische und gesellschaftliche Strukturen bis der großzügigen Schenkung von Gütern, für die der in die Gegenwart hinein reichen. Zwar hatte es bereits in König von seinen Rittern im Notfall Kriegsdienste ein- vornormannischen Epochen der britischen Geschichte fordern konnte. Es ist ein interessantes Detail der engli- Befestigungen unterschiedlicher Größe, Funktion und schen Kulturgeschichte, dass die vergebenen Ländereien Architektur gegeben. Die eisenzeitliche Befestigung Old räumlich weit verstreut lagen. Auf diese Weise sicherte Sarum auf der Salisbury Plain oder die zahlreichen der König seine Machtposition geschickt ab. Ausnah- römischen Kastelle an den westlichen und nördlichen men in Form größerer zusammenhängender Territorien, 3 36 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.9 Grundriss einer anglo- normannischen Keep- und Bailey-Burg. Quelle: Zehner 2009. ließ er nur an den Grenzen zu Wales und Schottland zu, Mauern und Gräben, die auch mit Wasser gefüllt sein die effizienter als die Gebiete im Binnenland geschützt konnten, zusätzlich geschützt (Abb. 3.9). werden mussten. Um 1200 gab es in England bereits 400 Burgen. Die Doppelfunktion der Burg, Verteidigungsanlage Besonders hervorzuheben sind die fünf von Edward I. und Wohnsitz zu sein, hatte während des gesamten im späten 13. Jahrhundert angelegten Burgen an der Mittelalters Bestand, wenngleich mit zunehmend stabi- Grenze zu Wales, Caernarvon, Conway, Harlech, Beau- ler werdenden innenpolitischen Verhältnissen der Grad maris und Caerphilly. Sie zählen zu den spektakulärsten der Burgbefestigungen abnahm. So verweist schon das und am besten erhaltenen Beispielen mittelalterlicher Domesday Book auf den Typus des fortified manor, also Verteidigungsanlagen in Europa und gehören heute zum eines Landhauses, das durch Verteidigungsanlagen gesi- UNESCO-Weltkulturerbe. chert war. Im späten Mittelalter hatten sich bereits zahl- reiche Übergangsformen zwischen castle und fortified Kathedralen – Bischofssitze manor herausgebildet. Die ersten englischen Burgen orientierten sich aus und Meisterwerke der Baukunst nachvollziehbaren Gründen an französischen Vorbil- dern. Die Gestalt der Burg wurde von stark befestigten Die berühmtesten englischen Kathedralen zählen zu - Wohntürmen bestimmt, die auf zumeist künstlich gleich zu den eindrucksvollsten und am besten erhalte- erhöhten Erdhügeln errichtet worden waren. Diese nen Zeugnissen mittelalterlicher Baukunst. Für sie sind Wohntürme werden als Keeps bezeichnet, die oftmals allerdings weder English Heritage noch der National durch Gräben, sog. Motten (moats), gesichert wurden. Trust zuständig. Vielmehr werden sie in Eigenregie von Im Schutze der Keeps lagen die Burghöfe, die Baileys. den beiden großen in England vertretenen Kirchen, der Hier befanden sich u. a. der Brunnen und weitere Wohn- anglikanischen Staatskirche und der römisch-katholi- gebäude, die oft erst in späteren Jahrhunderten hinzuge- schen Kirche, verwaltet. fügt wurden. Beide Elemente, Keep und Bailey, wurden Kathedralen sind die Hauptkirchen von Diözesen, von einem äußeren Verteidigungsring, bestehend aus d. h. Bistümern, und somit Bischofssitze. Zwar gibt es in, 3.3 Burgen und Kathedralen – kulturelles Erbe des Mittelalters und Tourismusziele der Gegenwart 37 3 England auch durchaus andere attraktive Kirchenbau- zugeordnet. Darunter waren einige Kathedralen, die vor ten, Gemeindekirchen (churches) und Klosterkirchen der Reformation Klöstern angegliedert gewesen waren. (abbeys), die aufgrund ihrer Größe und ihrer architekto- Zwar wurden diese Klöster von Heinrich aufgelöst, die nischen Pracht den Vergleich mit Kathedralen nicht Kathedralen jedoch blieben erhalten. Sie wurden unter scheuen müssten. Sie sind aber keine Bischofssitze und einem neuen konfessionellen Status wiedereröffnet, haben somit einen anderen kirchenrechtlichen Status. wobei häufig der letzte Abt eines Klosters zum neuen Bekannte Beispiele hierfür sind die Westminster Abbey Erzbischof der jeweiligen Kathedrale ernannt wurde. in London und Bath Abbey. Beispiele für diesen Typ sind Canterbury, Carlisle, Durham, Ely, Norwich, Rochester, Winchester und Wor- cester. Bistumssitze dreier Religionsgemeinschaften Zudem wurden fünf größere Klosterkirchen, die bis dato keine Kathedralen gewesen waren – Bristol, In Großbritannien gibt es insgesamt 82 Kathedralen. Chester, Gloucester, Oxford und Peterborough –, zu Diese Zahl erstaunt zunächst, weil sich die öffentliche Bischofskirchen ernannt. Sie waren zuvor einfache Klos- Wahrnehmung auf die renommierten, international terkirchen, also Abbeys, gewesen. bekannten Kirchenbauwerke aus dem Mittelalter, etwa Zu einer dritten Gruppe lassen sich jene Bistumskir- Durham, York oder Canterbury, konzentriert. Es wird chen zusammenfassen, die nie Teile von Klöstern, also gerne übersehen, dass die meisten Kathedralen gar nicht weder Kathedrale noch Abbey, gewesen waren, obwohl im Mittelalter, sondern erst im Industriezeitalter ge - dies aufgrund ihrer ausgedehnten und prächtigen weiht wurden, als die mittel- und nordenglischen In- Kreuzgänge durchaus vermutet werden könnte. Zu dustriestädte starke Bevölkerungsgewinne verzeich- dieser Gruppe gehören Bangor, Chichester, Exeter, Salis- neten. Ihre Gründung dort kann im Nachhinein als eine bury und St. Pauls in London. nachholende Entwicklung interpretiert werden, die Die meisten Kathedralen der katholischen Kirche erforderlich wurde, um mit der rasch anwachsenden wurden ebenfalls nicht neu erbaut. Aus Kostengründen Bevölkerung in den Industrieregionen Schritt zu halten. wurden stattdessen ältere Kirchen in den Status einer Beispiele hierfür sind die Kathedralen von Manchester, Kathedrale erhoben. Liverpool und Newcastle upon Tyne. Dennoch gibt es unter den katholischen Kathedralen Die britischen Kathedralen lassen sich zunächst nach auch einige Neubauten. Das bekannteste Beispiel ist die ihrer Konfession gliedern. So gibt es in England und 1967 eingeweihte Liverpooler Metropolitan Cathedral Wales 48 Kathedralen der anglikanischen Kirche; 42 ent- of Christ the King. Liverpool ist eine der wenigen Städte fallen auf England und sechs auf Wales (Abb. 3.10). Die in Großbritannien mit zwei Kathedralen verschiedener 42 anglikanischen Kathedralen Englands verteilen sich Konfessionen, was hier mit dem überdurchschnittlich wiederum auf zwei Erzbistümer, nämlich Canterbury hohen Anteil katholischer Einwanderer aus Irland und und York. Das größere von beiden Erzbistümern ist deren Nachkommen erklärt werden kann. Es entspricht Canterbury. Es umfasst 29 Bistümer in Süd- und Mittel- dem etwas herben Humor der Liverpudlians – so die england, während zum Erzbistum York 13 überwiegend Bezeichnung für die Liverpooler Bevölkerung –, dass sie nordenglische Bistümer zählen. ihre katholische Kathedrale, deren Gestalt an ein über- Neben den Kathedralen der anglikanischen Staatskir- dimensioniertes Indianerzelt erinnert, mit dem Spitz- che, auch Low Church genannt, gibt es in Großbritan- namen Paddy’s Wigwam („Paddy“ war ein Schimpfwort nien auch 23 Kathedralen der römisch-katholischen für die eingewanderten Iren) belegt haben (Abb. 3.11). Kirche, die als High Church bezeichnet wird. Sie ging Im Vergleich zu England und Wales ist die Zusam- Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer Abspaltung von mensetzung der Religionsgemeinschaften in Schottland der anglikanischen Staatskirche hervor, die von einer etwas unübersichtlicher. Dies hat historische Gründe: Gruppe Geistlicher an der Universität von Oxford initi- Nach der Einführung des Presbyterianismus ab 1560 ver- iert worden war. Die Gründung der anglokatholischen l oren die mittelalterlichen Kathedralen der katholischen Kirche kam vor allem den irischen Emigranten in den Kirche ihren Status. Daher befinden sich die aufgegebe- englischen Industriestädten zugute, deren Zahl nach den nen Kathedralen heute zumeist in einem schlechten bau- Hungersnöten der 1840er Jahre in ihrer Heimat sprung- lichen Zustand oder sind gar zu Ruinen geworden. haft zugenommen hatte. Neben dem Presbyterianismus konnte sich in Schott- Die anglikanische Staatskirche war das Ergebnis einer land später auch die episkopale Kirche, eine Schwester- 1534 unter Heinrich VIII. durchgeführten Säkularisie- kirche der anglikanischen Kirche, behaupten. Räumlich rung. Quasi über Nacht wurden alle katholischen Kathe- ist sie in sieben Bistümer gegliedert und wird durch eine dralen der neu gegründeten anglikanischen Kirche entsprechende Zahl von Kathedralen aus dem 19. Jahr-, 3 38 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.10 Die britischen Kathedralen nach Konfession und Gründungszeit., 3.3 Burgen und Kathedralen – kulturelles Erbe des Mittelalters und Tourismusziele der Gegenwart 39 3

Funktionen, Besucher und Finanzierung

von Kathedralen In der heutigen Zeit erfüllen Kathedralen eine Vielzahl von Funktionen. In erster Linie sind sie selbstverständ- lich Gotteshäuser, Orte der Einkehr, des Gebets und der Stille. Sie sind aber auch kunsthistorisch und architekto- nisch wertvolle und einzigartige Bauwerke; für manche Gläubigen sind sie Pilgerorte, andere nehmen sie als Museen, in denen Kirchenkunst gezeigt wird, wahr. Für wiederum andere sind sie schlicht Touristenattraktio- nen, deren Besuch eine willkommene Option an einem verregneten Tag im Urlaub darstellt. Für die meisten Besucher jedoch ist es vermutlich genau dieser Mix von Funktionen, der so faszinierend wirkt. Denn dass zumindest die bedeutenderen Kathe- dralen „Leuchttürme“ des britischen Binnentourismus sind, belegt die Statistik eindeutig. In einer Zeit stagnie- render Touristenzahlen verzeichnen viele Kathedralen Abb. 3.11 Die römisch-katholische Metropolitan Cathedral of Christ the King in Liverpool. Quelle: Zehner 2008. sogar einen Zuwachs an Besuchern. Nach einer Schät- zung von ICOMOS UK, der britischen Sektion jener UNESCO-Abteilung, die für das Weltkulturerbe zustän- hundert repräsentiert. Die drittstärkste Religionsge- dig ist, betreten jährlich knapp 20 Mio. Besucher eine meinschaft in Schottland ist die römisch-katholische britische Kathedrale (Tab. 3.1), bei zunehmender Ten- Kirche. Sie ist mit acht Kathedralen vertreten, die sich denz. An der Spitze der Beliebtheitsskala liegt die Kathe- auf zwei Erzbistümer verteilen. drale von Canterbury. Sie wird jährlich von ca. 1 Mio. Tabelle 3.1 Die Besucherzahlen von Kathedralen und anderen Kirchen in England Kathedrale (K)/ Region 2005 2006 2007 2008 % 2007/ Eintritt Church (C)/Abbey (A) 08 (GBP) Westminster Abbey (A) London 1027 835 1028 991 1058 362 1481150 39,9 12 Canterbury Cathedral (K) Südosten 1054 886 1047 380 1068 244 1004149 –6,0 7 St Martin-in-the-Fields (C) London o. A. 700 000 o. A. 700 000 o. A. f Metropolitan Cathedral Nordwesten 150 768 262 946 269 984 364 347 35,0 f of Christ the King (K) Bath Abbey (A) Südwesten 350 000 305 000 331559 307658 –7,2 f Wells Cathedral (K) Südwesten 300 000 300 000 300 000 300 000 0,0 f Salisbury Cathedral (K) Südwesten 268 834 248 795 233 890 233 021 –0,4 f St Albans Cathedral (K) Osten 200 000 200 000 200 000 200 000 0,0 f Lincoln Cathedral (K) östliche Midlands o. A. 208 000 202 000 200 000 –1,0 4 Southwark Cathedral (K) London 150 000 160 000 170 000 180 000 5,9 f o. A.: ohne Angabe; f: freier Eintritt Quelle: VisitEngland 2009, 3 40 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Menschen aufgesucht. Es folgen die beiden Kathedralen durch Spenden, Einnahmen aus den in der Regel ange- von Liverpool, Wells (Somerset), Salisbury (Wiltshire) gliederten cathedral shops und Eintrittsgeldern. Manche und Southwark (Südlondon). Besucher sind allerdings überrascht, einige sogar verär- Obwohl die anglikanische Kirche eine sog. Staatskir- gert, dass ihnen an den Eingängen von Kathedralen Geld che ist, finanzieren sich die Kathedralen nur zu einem abverlangt wird. Im Durchschnitt beträgt die Eintritts- kleinen Teil aus staatlichen Zuwendungen. Den über- gebühr zwischen fünf und sieben britischen Pfund. wiegenden Teil der für Instandsetzung, Betrieb und Ver- Begründet wird dieser Beitrag mit den Hinweisen auf waltung der Kathedralen benötigten Gelder müssen die fehlende staatliche Unterstützung und tägliche Unter- Diözesen selbst aufbringen. Dies geschieht in der Regel haltskosten von mehreren Tausend Pfund.

Salisbury und seine Kathedrale

Salisbury ist eine Mittelstadt in der südenglischen Graf- Ein zweites Alleinstellungsmerkmal von Salisbury Cathe- schaft Wiltshire, am südlichen Rand der Salisbury Plain gele- dral ist ihre topographische Lage: Die Kathedrale liegt inmit- gen. Die Hauptattraktion von Salisbury ist die 750 Jahre alte ten einer großzügig bemessenen Domfreiheit, dem Cathe- Kathedrale der Stadt. Sie zählt zu den schönsten Kirchen- dral Close, der nachts für die Öffentlichkeit gesperrt wird. bauten der gesamten englischen Gotik. Ihren architektoni- Den inneren und weitaus größten Teil des Close nimmt eine schen Reiz bezieht die Kathedrale aus der Einheitlichkeit gepflegte Rasenfläche ein. Sie stellt eine Respektzone dar, ihres Baukörpers, der (bis auf den später hinzugefügten innerhalb derer kein anderes Gebäude steht, das die Wir- Turm) nach den Maßwerkformen des Early English Style kung der Kathedrale beeinträchtigen könnte. Gegenüber der errichtet wurde. Die Homogenität des gesamten Bauwerks quirligen und lauten Stadt stellt der Close eine Oase der resultiert aus der außergewöhnlich kurzen Bauzeit von nur Ruhe dar, die auf wohltuende Weise mit der Stadt kontras - 38 Jahren. Großzügige finanzielle Unterstützungen des tiert. Aus diesem Gegensatz, dem geschäftigen Salisbury Königshauses hatten sichergestellt, dass die Kathedrale und seiner Ehrfurcht einflößenden Kathedrale, bezieht die ohne Unterbrechungen gebaut und zügig vollendet werden Stadt ganz ohne Zweifel ihre große Attraktivität. konnte. Zwar können sich andere Kathedralen wie Canterbury Die meisten anderen mittelalterlichen Kathedralen hinge- oder Exeter als Bauwerke sicher mit Salisbury messen. Auch gen werden, bedingt durch längere Bauzeiten und Verzöge- sie sind hervorragende Meisterwerke der englischen Gotik. rungen, durch eine Mischung verschiedener gotischer Stil- Da ihr jeweiliger Cathedral Close aber viel enger bemessen phasen (nach dem Early English folgten der Decorated und ist, kommen die Kathedralen bei weitem nicht so zur Gel- der Perpendicular Style) geprägt und wirken dadurch tung, wie es in Salisbury der Fall ist. wesentlich uneinheitlicher. Abb. 3.12 Die Kathedrale von Salisbury. Quelle: Bob Croxford/ Atmosphere Picture Library., 3.4 Der Adel als Landschaftsgestalter – Häuser, Parks und Parklandschaften 41 3 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl pro- britannien reist, bemerkt, dort angekommen, sofort den fane als auch säkulare Bauwerke, vor allem aus dem Unterschied: Während auf der belgisch-französischen Mittelalter, auf die Menschen der Gegenwart einen gro- Seite des Ärmelkanals ausgeräumte Ackerschläge sowie ßen Reiz ausüben. Um dem gesellschaftlichen Bedürfnis kahl und eintönig wirkende Parzellen das Landschafts- an Informationen und Wissen über Vergangenheit und bild bestimmen, prägen auf der anderen Seite des Kultur des Landes gerecht werden zu können, wird die Kanals, in Kent, Surrey und Sussex, artenreiche Hecken, Vermarktung von historischem und kulturellem Erbe in kleine Waldstücke und mit einzelnen Bäumen bestan- Großbritannien zunehmend professionalisiert und von dene Parzellen die ländlichen Fluren. Zu Recht wird die- kompetenten Trägern durchgeführt. Die entscheiden- ser Landschaftstyp als Parkland bzw. Parklandschaft den Akteure und somit Förderer wie Bewahrer briti- bezeichnet. Wenn Briten vom „Land“, vom country oder scher Kultur sind English Heritage, der National Trust von der countryside sprechen, dann assoziieren sie damit und die großen Kirchen des Landes. in aller Regel eben genau diese Parklandschaft. Hecken und Baumgruppen verschiedenster Größen

Informationen im Internet übernehmen in den waldarmen Tieflandgebieten Eng-

lands im Übrigen wichtige ökologische Funktionen. http://www.nationaltrust.org.uk Zum einen bieten sie Schutz gegen die mitunter kräf- Auf der Homepage der wichtigsten Kulturorganisation Groß- tigen Winde und verhindern somit Bodenerosion. britanniens, dem National Trust, findet man in übersicht- Zum anderen sind sie Lebensräume für zahlreiche Tier- licher und attraktiv aufbereiteter Form Informationen zu arten. Das dichte Unterholz von Eichen, Buchen und den Objekten, die vom Trust verwaltet werden, sowie Hin- Haselnussbäumen und die überwiegend aus Weißdorn, weise auf aktuelle Veranstaltungen. Von besonderem Inte- Schwarzdorn und Brombeersträuchern zusammenge- resse sind Angebote für Oversea Visitors (Abruf: setzten Hecken dienen Rebhühnern, Fasanen und ande- 27.01.2010). ren Vögeln als Ruhe- und Nistplätze. Die Hecken sind zudem Rückzugsräume für Kleinsäuger, z. B. Hasen,

Weiterführende Literatur Mäuse und Eichhörnchen.

Brown, R. A. (1976): English Castles. London. „Country und alles, was mit dem Worte mitschwingt, gibt es Fyall, A.; Garrod, B; Leask, A. (Hrsg.) (2003): Managing Visitor nur in England … Grüne Weideflächen, von einem tiefen Attractions. New Directions. Oxford u. a. Grün, das nur in diesem feuchten Inselklima gedeiht, wellen Oster, u. a. (Hrsg.) (2003): Die großen Kathedralen. Gotische sich zu Hügeln. Kreuz und quer, schachbrettartig durchzie- Baukunst in Europa. Darmstadt. hen sie grüne, abgrenzende Hecken. Zwischen hohen grü- Pepin, D. (2004): Discovering Cathedrals. Risborough. nen Hecken schlängeln sich die Straßen, quer über das grüne Gras laufen die Fußwege. Man geht in England selten auf staubigen Straßen, man geht über Wiesen, durch 3.4 Der Adel als Land- Hecken. Überall verstreut Baumgruppen, jeder Baum fast isoliert, ein Individuum, das sich frei entwickelt. Wenig Wäl- schaftsgestalter – Häuser, der – die gehören einem primitiveren Stadium an. Keine

Parks und Parklandschaften Baumreihen, die Straßen begleiten – das ist zu absichtlich.Baum-Individuen, die als gute Engländer jeder für sich

leben. Überall weidendes Vieh: Schafe, Rinder, Pferde in scheinbarer Freiheit … Das Country ist eine Schöpfung der „God Almighty first planted a garden: and indeed it is the Aristokratie Englands; das englische Volk in gewissem purest of human pleasures. It is the greatest refreshment of the Sinne die Aristokratie des britischen Weltreiches, die sich spirits of man“ (Francis Bacon 1625, englischer Philosoph und den Luxus dieses Parks gestatten kann“ (Cohen-Portheim Staatsmann). 1931, S. 73 f.). Die splendid isolation (wörtlich übersetzt: „großartige Isolation“) Großbritanniens lässt sich an vielen Aspek- ten des Landschaftsbildes festmachen. Ein besonderes Das Parkland Merkmal britischer Landschaften, das so höchstens noch in Irland vorkommt, ist die Farbe Grün. Das mari- Die Entstehung des Parklandes ist das Ergebnis der Ver- time, gemäßigte Klima sorgt dafür, dass Grün in der änderung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen im Natur in den unterschiedlichsten Tönen und Schattie- England des 18. Jahrhunderts und entsprechender poli- rungen vorhanden ist. Wer vom Kontinent nach Groß- tischer Reaktionen. Überwiegend zwischen 1750 und, 3 42 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen 1850 wurden die offenen Gewannfluren, die sich seit Landhäuser in malerische Parks umgewandelt, wobei dem Mittelalter herausgebildet hatten, in Blockfluren sich die Gestaltung der Parks an der aufkommenden umgewandelt und eingehegt. Diese frühe Form der Flur- Stilrichtung des englischen Landschaftsgartens orien- bereinigung wird als Enclosure bezeichnet, was sinnge- tierte (Abb. 3.13). mäß mit „Einhegung“ übersetzt werden kann. Die recht- Zugleich bildete sich neben dem Adel eine neue lichen Grundlagen der Enclosures bildeten fallweise, Gesellschaftsschicht aus erfolgreichen und kapitalstar- d. h. für jeden eigenen Landsitz separat, vom Parlament ken Unternehmern heraus. Diese Neureichen waren verabschiedete Gesetze (Enclosure Acts). bemüht, Lebensgewohnheiten und Lebensstil des Adels Ausgelöst wurde die Enclosure-Bewegung durch zu zu kopieren. Ihre Landsitze ließen sie in der Regel im Beginn des Industriezeitalters steigende Kornpreise näheren Umland der großen Städte errichten, wo sie infolge einer starken Bevölkerungszunahme, wodurch wegen des Verfalls der Bodenpreise als Folge der Agrar- eine effizientere Nutzung des Bodens notwendig wurde. revolution preiswerte Grundstücke erwerben konnten. Weiterentwicklungen landwirtschaftlicher Anbautech- Mit dem Erwerb von Land bot sich der neuen Unter- niken, Bodenverbesserungen, neue Fruchtfolgen und nehmerschicht die Chance zum gesellschaftlichen Zusammenlegungen landwirtschaftlicher Nutzflächen Aufstieg. Fabrikbesitzer, Kaufleute und Bankiers konn- waren die Folge. Dem dadurch bewirkten Aufschwung ten nun Landjunker (squires) werden. Auf ihrem neu der Landwirtschaft setzte allerdings die Aufhebung der erworbenen Land ließen auch sie Herrenhäuser errich- Schutzzölle für importiertes Getreide in den Jahren ten, deren unmittelbare Umgebung sie in Landschafts - 1860/61 ein jähes Ende. Preiswerteres Getreide aus parks umwandelten. So entstanden vor allem um die Übersee ließ die Kornpreise drastisch fallen. Der Anbau sog. mushroom towns – mit diesem Begriff sind die von Getreide lohnte sich nun nicht mehr. Der Adel, dem schnell wachsenden Industriestädte des 19. Jahrhun- der größte Teil der agrarischen Nutzflächen gehörte, derts gemeint, die wie Pilze (mushrooms) aus dem legte Flächen still, verkaufte Land oder wandelte Acker- Boden schossen – von Landhäusern durchsetzte Park- land in Grünland um. Mit der Vergrünlandung breitete gürtel. sich die Schafhaltung aus, die bei geringerem Arbeits- Insgesamt existieren in Großbritannien ca. 7 000 und Kapitaleinsatz höhere Gewinne versprach. Herrenhäuser. Heute wird ein großer Teil des Bestands Die nach vielen Jahrhunderten innenpolitischer von Stiftungen verwaltet. Unter ihnen sind der National Unruhen, Kriege und Epidemien ab 1750 einkehrende Trust und English Heritage die wichtigsten (Abschnitt Stabilität und Ruhe ermöglichte es dem Adel zudem, 3.3). Beide Organisationen verwalten die Häuser und sich nun verstärkt auf die Wahrnehmung seiner eigenen Gärten und machen sie der Öffentlichkeit zugänglich. Interessen zu konzentrieren. Herrenhäuser wurden Parks und Parklandschaften sind vor allem in den erweitert und ihre Fassaden wurden aufwendig reno- Tieflandgebieten (Lowlands) Großbritanniens anzutref- viert. Außerdem wurde die unmittelbare Umgebung der fen. Wenngleich es auch in den Hochlandgebieten Abb. 3.13 Kenwood House, London. Kenwood House liegt auf einer Anhöhe im Norden Londons, im Gebiet der sog. Hampstead Heath. Das Haus wurde ursprünglich im 17. Jahrhundert errich- tet. Zwischen 1764 und 1779 baute es Robert Adams für William Murray, den 1. Earl von Mansfield, um. Die Gestal- tung der Außenfassaden erfolgte im Regency-Stil, der englischen Variante des Klassizismus. Typische Gestaltungs- elemente sind der dreiecksförmige G iebel (Mittelrisalith) und die Säulen- streifen (Pilaster). Quelle: Zehner 2004., 3.4 Der Adel als Landschaftsgestalter – Häuser, Parks und Parklandschaften 43 3 (Highlands) von Nordengland, Wales und Schottland sen und Weiden bestehende Parklandschaft, an. Der Landschaftsgärten gibt, so häufen sie sich doch im süd- Landschaftspark erfüllt in diesem System eine Brücken- lichen und östlichen England, also in den Lowlands. funktion, indem er das kunstvoll gestaltete Herrenhaus Dies hat vor allem klimatische Gründe. Die meisten der und die den Landsitz umgebende Parklandschaft har- in englischen Parks vorkommenden Bäume und Hecken monisch miteinander verbindet. gedeihen besonders gut in der untersten Höhenstufe, die Den inneren, unmittelbar an das Herrenhaus gren- bis zu einer absoluten Höhe von ca. 300 m reicht, man- zenden Ring bilden die sog. Parterres. Mit dem franzö - che sind sogar auf sie beschränkt. Oberhalb dieser sischen Begriff „Parterres“ werden kleine Ziergärten Grenze, also in Mittelgebirgen wie etwa den Penninen, bezeichnet, die nach strengen, geometrischen Regeln erfüllen oft Steinmauern die Funktion von Hecken. Die und Vorgaben angelegt wurden. In vielen Fällen sind die Steine, die zu Feldmauern aufgeschichtet sind, sind Parterres die Reste ursprünglich größerer formaler Gär- Lesesteine, deren Vorhandensein den in den Kalkgebie- ten. Solche barocken Gärten wurden in der zweiten ten nur flachgründig entwickelten Böden zuzuschreiben Hälfte des 17. Jahrhunderts, häufig unter der Anleitung ist. Steinmauern weisen in der Regel auf Schafhaltung italienischer, niederländischer oder französischer Gar- hin, da sie eine wirksamere Begrenzung der Parzellen als tenbaumeister, angelegt. Ihre Merkmale sind schnur- Hecken darstellen. gerade Alleen und sich sternförmig kreuzende Wege. Als Vorlage für die Grundrisswahl der Beete dienten

Vom barocken Garten geometrische Grundformen, etwa Quadrate, Kreise oder

Ovale. Die Bäume wurden sorgfältig und mit viel Liebe zum Naturpark zum Detail beschnitten; auch ihre Standorte wurden nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt. Als gro- Zu jedem britischen Herrenhaus gehört ein Park. Beide ßes Vorbild für die Gestaltung und Bepflanzung baro- Gestaltungselemente bilden eine Einheit, man könnte cker Gärten diente Versailles. sagen, eine ästhetische und harmonische Gesamtkom- An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert geriet in position. Großbritannien die barocke Gartengestaltung außer Vereinfacht kann man sich die Herrenhäuser als Mode. Die mathematische Strenge, die den Grundriss Mittelpunkte von sechs konzentrischen Kreisringen vor- des Wegenetzes, die Anlage von Beeten und die Be - stellen, die sich durch ihren Vegetationsbestand, ihre schneidung von Hecken und Bäumen beherrscht hatte, Funktionen und ihre Physiognomie klar voneinander wurde aufgegeben. Stattdessen orientierte man sich bei unterscheiden. Die fünf inneren Ringe bilden den Land- der Gartengestaltung stärker an der Natur selbst. Dieser schaftspark, der mit dem Herrenhaus den eigentlichen Übergang erfolgte jedoch nicht abrupt, sondern er voll- Landsitz bildet. An ihn schließt sich, durch eine Park- zog sich allmählich. Ein Pionier der sukzessiven Libera- mauer getrennt, der sechste Ring, die aus Äckern, Wie- lisierung barocker Gartenbaukunst war Charles Bridge- Abb. 3.14 Hestercombe Gardens, Somerset. Von der Terrasse des Hauses schaut man auf einen großen formalen Garten. Obwohl dieser Garten erst spät, zwischen 1904 und 1908, angelegt wurde, vermittelt er einen hervorragen- den Eindruck von der Größe und Pracht der barocken Gärten, so wie sie vor der Entwicklung des englischen Garten- ideals üblich und weit verbreitet waren. Landschaftsarchitekt in Hestercombe Gardens war Sir Edwin Lutyens, der als bedeutendster Architekt Großbritan- niens nach Christopher Wren gilt. Quelle: Hestercombe Gardens., 3 44 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen man (1690–1738). Seine im Transitional Style gestalte- ten Gärten wiesen noch Elemente des barocken Gartens, wie Parterres oder Alleen, auf; sie zeigten aber auch bereits Elemente des späteren Naturgartens, z. B. antike und klassische Motive, wie Amphitheater, Garten tem - pel, Pavillons, Grotten und Statuen sowie gewundene Pfade durch kleine Waldstücke. Diese Gestaltungselemente verdrängten schließlich in den 1820er und 1830er Jahren barocke Motive völlig. Zum entscheidenden Leitbild des englischen Parks wurde fortan die natürliche Landschaft selbst. Durch unterschiedliche und abwechslungsreiche, malerische Szenen strebten die Landschaftsgärtner eine Umwand- lung der Parks zu „begehbaren Landschaftsgemälden“ an. In diesem Sinne sollten englische Landschaftsgärten überwiegend einen ästhetischen Nutzen erfüllen. Die Betonung von Natur als Vorbild der Gartenge- staltung spiegelt einen deutlichen Wandel der englischen Moralphilosophie wider. Vorreiter dieser Bewegung war Lord Shaftesbury, der in seinen philosophischen Schrif- ten Natur als Medium der Gotteserfahrung propagierte. Alexander Pope, dessen eigener Garten in Twickenham, südwestlich von London, als Ausgangspunkt des engli- Abb. 3.15 „Capability Brown“ war der berühmteste und wir- schen Landschaftsgartens gilt, und William Kent, ein kungsmächtigste Landschaftsgärtner des 18. Jahrhunderts in hochbegabter Landschaftsmaler, lieferten wichtige theo- England. Sein Verdienst liegt in der Umgestaltung von Lände- reien zu englischen Landschaftsparks. Quelle: National Portrait retische Beiträge zur räumlichen Umsetzung des neuen Gallery in London. Ideals. Brown seicht geschwungene Anfahrtswege, die sich dem

Der Meister: Portal eher unauffällig von der Seite nähern.

Auch spielen in Browns englischem Naturgarten die

Lancelot „Capablity Brown“ hausnahen Ziergärten nur noch eine untergeordnete

Rolle. Gelegentlich fehlen sie sogar ganz. Bedeutsamer Für die Verwirklichung der Theorien vor Ort war jedoch sind großzügig angelegte Rasenflächen, die das ebenfalls ein anderer Gentleman verantwortlich, Lancelot Brown dem Zeitgeist entsprechend umgestaltete und mit klassi- (1716–1783) (Abb. 3.15). Brown war Schüler William zistischen Fassaden versehene oder zumindest reno- Kents und arbeitete zu Beginn seiner Karriere als Gärt- vierte Herrenhaus zu besserer Geltung kommen lassen. ner auf dem Landsitz Stowe in Buckinghamshire. Charakteristisch sind des Weiteren sowohl natürliche Bekannt wurde Brown durch seinen Beinamen „Capa- als auch durch Aufschüttungen geschaffene Täler, deren bility“. Diesen Spitznamen hatte er sich schon in frühen Flanken saumartig bepflanzt wurden. Die diese Täler Berufsjahren erworben, weil er die Eigenheit besaß, stets durchfließenden Bäche wurden in vielen Fällen zu Seen von den capabilities, also den Möglichkeiten, die er mit unregelmäßigen Uferlinien aufgestaut, die an in einem Grundstück sah, zu reden. „Capability Brown“ schmalen Stellen von malerischen Steinbrücken gequert gestaltete bis zu seinem Tode insgesamt 211 Land- werden. Die Gärten von Stourhead in der Grafschaft schaftsgärten, so dass die kontinuierliche Umwandlung Wiltshire liefern hierfür das Paradebeispiel. des südlichen und mittleren Englands in eine zu sam - men hängende Parklandschaft hauptsächlich als sein Der Parkgarten – Werk anzusehen ist. Von Brown angelegte Landschaftsgärten tragen seine das Herz des englischen Parks ganz spezifische Handschrift: So zählt zu den Besonder- heiten etwa die Anlage der Zufahrt zum Herrenhaus. Der Parkgarten bildet das Herzstück des englischen Erreichte man die Herrenhäuser im 17. Jahrhundert Parks. Der gepflegte Rasen wird hier durchsetzt von den noch frontal über eine schnurgerade Allee, so wählte am besten entwickelten und exotischsten Bäumen, 3.4 Der Adel als Landschaftsgestalter – Häuser, Parks und Parklandschaften 45 3

Stourhead Gardens

Als vollkommenstes Beispiel des malerischen Landschafts - zur Reliefierung der angrenzenden Flächen verwendet. Auf parks in England gelten die Stourhead Gardens in der süd- diese Weise entstand eine abwechslungsreiche Hügelland- englischen Grafschaft Wiltshire. Namengebend war das schaft, die mit immergrünen Gewächsen und Bäumen be- kleine Flüsschen Stour, dessen Quelle sich auf dem Grund- pflanzt wurde. stück des seinen Namen tragenden Landsitzes befindet. Das Um den Stausee mit seinem unregelmäßigen Uferverlauf Herrenhaus, heute im Besitz des National Trust, hatte sich legte Hoare einen gewundenen Fußweg an, von dem aus der der Londoner Bankier Henry Hoare d. Ä. (1677–1725) durch Blick des Betrachters immer wieder auf neue Parkszenen den vom Palladianismus beeinflussten Architekten Colen fällt, die wie Gemälde wirken. Wie alle jungen Adligen hatte Campbell errichten lassen. Es war jedoch das Verdienst sei- auch Hoare eine längere Bildungsreise (Grand Tour) unter- nes Sohnes, Henry Hoares d. J. (1705–1785), den angren- nommen, die ihn nach Frankreich und Italien geführt hatte. zenden Landschaftsgarten zu entwerfen und anlegen zu las- Tief beeindruckt von den Bauwerken der Antike und Renais- sen. Hoare war befreundet mit Alexander Pope, einem der sance, die er auf seiner Reise gesehen hatte, begann Hoare Väter des englischen Naturgartens, dessen Einflüsse sich in nach seiner Rückkehr besonders eindrucksvolle Bauten, die der Anlage Stourhead Gardens deutlich widerspiegeln. ihm auf seiner Reise begegnet waren, Tempel, Statuen und Die Umwandlung der hausnahen Gründe zu einem engli- Grotten, in Stourhead en miniature zu rekonstruieren. schen Landschaftspark erfolgte in den 1740er und 1750er Das erste Gebäude, das er errichten ließ, war der Tempel Jahren. Stourhead Gardens muss man sich zu dieser Zeit als der Flora, ein Nachbau des Originals, das in Spoleto (Um - eine Großbaustelle vorstellen. Unter der Aufsicht von 60 brien) steht. Bei der Gestaltung der fünfbogigen Steinbrücke Gärtnern arbeiteten mehrere Hundert Männer, nur mit ließ sich Hoare von einem größeren Vorbild inspirieren, das Hacken, Schaufeln und Schubkarren ausgestattet, an der er ebenfalls in Italien, in Vicenza, gesehen hatte. Diese Modellierung des Reliefs. Sie hoben zunächst das Becken für Brücke war von Andrea Palladio, dem berühmtesten italieni- den neuen Stausee aus. Das abgegrabene Erdreich wurde schen Architekten des 16. Jahrhunderts, erbaut worden. Abb. 3.16 Stourhead Gardens. Blick vom Zugang des Parks auf den künst- lich angelegten See. Das Original der Steinbrücke steht in Vicenza (Italien). Quelle: Zehner 2007. des gesamten Parks. Wegen ihres Wertes und ihrer gehörte es zum guten Ton, wertvolle Baumindividuen Ästhetik wird ihnen eine individuelle und besondere aus den britischen Kolonien in den eigenen Parks anzu- Pflege zuteil. Typische Baumarten des Parkgartens sind pflanzen. die libanesische Zeder, der Mammutbaum und die hoch Neben den Exoten finden sich im Parkgarten noch aufragende Araukarie. Solche Exoten waren im 18. malerischere Baumarten, z. B. die Blutbuche, die Kasta- Jahrhundert auch Ausdruck und Spiegel kolonialen nie oder die Douglas-Fichte. Die einzelnen Bäume wei- Machtbewusstseins. In der aristokratischen Oberschicht sen untereinander eine angemessene Entfernung auf, so, 3 46 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.17 Ha-Ha-Graben von Melford Hall in Suffolk. Hier wurde in den G raben eine Mauer gesetzt, die sich schon aus geringer Entfernung dem Blick des Betrachters entzieht. Obwohl sie wichtige praktische Funktionen erfüllt, stört sie die Ästhetik des Parks nicht. Durch die Mauer werden einer- seits Wildtiere von den inneren Abschnitten des Parks, in denen sich Ziergärten und wertvolle Bäume befin- den, ferngehalten. Andererseits ermög- lichte sie den Hausbewohnern, ihre Hunde in Hausnähe frei laufen zu l assen. Quelle: Wikimedia Commons, Graham Bould 2006. dass sie gut zur Geltung kommen und deutlich wahrge- ten. Diese Gräben, die wassergefüllt sein können oder in nommen werden. Ein besonderer Effekt ergibt sich beim denen eine Mauer verborgen sein kann (Abb. 3.17), Blick aus dem Herrenhaus, von wo aus der Betrachter erfüllen zwei verschiedene Funktionen. Zum einen tren- die freistehenden Bäume nicht mehr als einzelne nen sie den privaten, inneren Teil des Landsitzes von Objekte wahrnimmt, sondern auf einen scheinbar dem halböffentlichen, äußeren Teil des Landschafts- zusammenhängenden, vielgestaltigen und artenreichen parks. Zum anderen hatte der Graben gegenüber einem Baumbestand zu blicken scheint. Zaun oder einer ebenerdig angelegten Mauer den Vor- Die Wahl der Mikrostandorte einzelner Bäume war teil, die Ästhetik des Landschaftsbildes kaum zu stören. keineswegs beliebig, sondern das Ergebnis ästhetisch motivierter Überlegungen. In einigen Fällen sollten große Bäume den Blick des Betrachters auf besonders Dendrowiese und Waldgürtel attraktive Landschaftsausschnitte einengen. In anderen Fällen bestand ihr Zweck darin, die Silhouette kahler Auf den Parkgarten folgt nach außen die sog. Dendro- und steiler Hügel vor dem kritischen Blick des Betrach- wiese. Sie dient dem Wild als Weide. Aufgelockert wird ters zu verstecken. die Dendrowiese von weniger wertvollen Bäumen oder Innerhalb des Parkgartens können zudem verschie- Baumgruppen. Zumeist handelt es sich dabei um ein- dene kleinere Spezialgärten verborgen sein. So findet heimische Eichen. Auf kalkhaltigen Böden kommt dage- man in windgeschützten Lagen, oftmals von hohen gen die Buche stärker zum Zuge, während auf sandigen Mauern eingefasst, gelegentlich Nutz- und Kräutergär- Böden die Kiefer anzutreffen ist. In den im 19. Jahrhun- ten. Stark verbreitet sind auch Rosengärten, chinesische dert angelegten Parks wurden häufig Rosskastanien in und japanische Gärten sowie Menagerien. Mitunter kleinen Gruppen (clumps) angepflanzt. kommen auch Steingärten oder Zwergbaumgärten vor. Weiter außen geht die Dendrowiese in einen ange- Solche Spezialgärten wurden aus praktischen Gründen pflanzten, „verbesserten“ Wald über, der zwar forstwirt- oft an einer Flanke des Herrenhauses angelegt. schaftlich genutzt werden kann, jedoch überwiegend Durchzogen wird der Parkgarten zumeist von einem ästhetische Funktionen erfüllt. Neben Eiche, Buche und Rundweg, von dem aus sich an einigen Stellen impo- Kiefer findet man, vor allem im südlichen England, in sante Fernblicke auf attraktive Landschaftsausschnitte den äußeren Abschnitten von Parks gelegentlich auch eröffnen. Nach außen wird er häufig durch einen sog. die Araukarie. Daneben kommen Bestände mit immer- Ha-Ha- oder Ah-Ah-Graben begrenzt. Vermutlich geht grünen Gehölzen, vor allem Taxus, Ilex, Eibe und Efeu, die außergewöhnliche Bezeichnung für diesen Graben vor. Die äußere Begrenzung des Landsitzes bildet die auf die erstaunten Ausrufe von Spaziergängern zurück, Parkmauer. Jenseits der Parkmauer beginnt die eigentli- die plötzlich unvermittelt vor einem Graben standen che Agrarlandschaft, die sich in England als eine vom und ihr Erstaunen mit dem Ausruf „Ah, Ah“ bekunde- Parkgedanken stark beeinflusste Nutzlandschaft zeigt., 3.5 Turnpike Roads, River Navigations und Kanäle 47 3 Diese Nutzlandschaft ist es, die der Reisende in aller Turnpike Roads Regel wahrnimmt. Felder oder Weiden, die von Hecken abgeschirmt werden, und einzelne, weit auskragende Vor etwa 300 Jahren, als bereits erste Anzeichen für eine Eichen auf den Parzellen bilden eine Gesamtkomposi- Industrielle Revolution in Großbritannien zu erkennen tion, ein Landschaftsbild, das weltweit einzigartig ist waren, entsprach die Verkehrsinfrastruktur des Landes und maßgeblich den Reiz der englischen Countryside noch dem Ausbauzustand, der bereits zum Ende des bestimmt. Mittelalters erreicht worden war. Allerdings war das Straßennetz in einem beklagenswerten Zustand. Insbe-

Weiterführende Literatur sondere die Fernstraßen erlaubten ein zumeist nur lang-

sames und beschwerliches Reisen. Da die Straßen außer- von Buttlar, A. (1989): Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des halb größerer Städte auf vielen Abschnitten unbefestigt Klassizismus und der Romantik. Köln. waren, kam es vor allem im Winterhalbjahr häufig vor, Cohen-Portheim, P. (1931): England – die unbekannte Insel. dass Kutschen, die damals wichtigsten Personenver- Berlin. kehrsmittel, im Schlamm stecken blieben. Gelegentlich Dimbleby, D. (2007): How We Built Britain. London. beeinträchtigten auch hart gefrorene Wege den Trans- Hohnholz, J. (1964): Der englische Park als landschaftliche port. Die Verkehrsverbindungen zwischen den größeren Erscheinung. Tübingen. Städten waren infolgedessen unzuverlässig und kosteten Sager, P. (2001): Südengland. Von Kent bis Cornwall. Architek- viel Zeit und Geld. tur und Landschaft, Literatur und Geschichte. Köln. Güter wurden zumeist mit Packpferden über Land Straßel, J. (1991): Englische Gärten des 20. Jahrhunderts. Ord- transportiert (Abb. 3.18). Auch diese Form des Trans- nung und Fülle – eine Einladung zum Besuch. Köln. ports war teuer, und es konnten nur geringe Gütermen- gen befördert werden. Die Ursache für diese unbefriedigende Situation lag 3.5 Turnpike Roads, River in der gesetzlichen Regelung der Straßeninstandhaltung

Navigations und Kanäle – bzw. des Straßenbaus. Diese Aufgaben waren in derersten Hälfte des 17. Jahrhundert noch keine staatlichen

die Erschließung des Angelegenheiten. Vielmehr lagen aufgrund eines Parla- mentsbeschlusses von 1555 sowohl die Instandhaltung

Binnenlandes im frühen der Fernstraßen als auch deren Ausbau in den Händen Industriezeitalter jener Gemeinden, durch deren Gemarkungen diese

Straßen verliefen. Da die Gemeinden jedoch oftmals kein Geld für den Straßenbau aufbringen konnten oder „There be three things that make a nation great and prosperous: wollten, blieben die Straßen zumeist in einem schlech- a fertile soil, busy workshops and easy conveyance for men and ten Zustand. commodities from one place to another“ (Francis Bacon, Dies änderte sich erst ab den 1760er Jahren, als das Philosoph und Staatsmann). Turnpike-System aufkam. Als Turnpikes wurden Schlag- Abb. 3.18 Vor Beginn des Kanalzeit- a lters wurde der Güterverkehr zu Lande überwiegend mit Packpferden durchge- führt. George Walkers Gemälde von 1814 zeigt zwei Tuchhändler, die in Heimarbeit hergestelltes Tuch von zwei kleinen Robustpferden (Galloways) zur nächsten Marktstadt transportieren l assen. Quelle: Hey 2001, S. 109., 3 48 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen bäume bezeichnet, welche die Enden von privat finan- Der Ausbau der Flüsse: zierten Straßen markierten. Sobald sich der Schlagbaum River Navigations öffnete, um eine Kutsche oder ein ähnliches Gefährt pas- sieren zu lassen, erhob der jeweils zuständige Turnpike Trust eine Benutzungsgebühr. Dieses Geld wurde über- Zwar ist Großbritannien durchaus reich an Fließgewäs- wiegend für die Instandhaltung und den weiteren Aus- sern. Die meisten Flüsse sind jedoch kurz und konnten bau des von ihm betreuten Straßennetzes eingesetzt. Die bis ins 17. Jahrhundert nur auf ihren Unterläufen mit Trusts waren zumeist kleine Gesellschaften, deren Akti- größeren Booten oder Schiffen befahren werden. Auch vitäten auf eine Stadt oder Region beschränkt blieben. die größeren Flüsse – Themse, Severn, Trent, Mersey, die Sie bezogen ihre Mittel aus staatlichen Anschubfinanzie- Great Ouse und die Yorkshire Ouse – waren für die rungen, Benutzungsgebühren und Einlagen von Aktio- Schifffahrt nur abschnittweise nutzbar. Zudem kam es nären, denen jeweils eine Dividende am Jahresende aus- auch auf einigen prinzipiell schiffbaren Flussabschnitten gezahlt wurde. Somit waren Turnpike Trusts in der Regel durch Stromschnellen und sich gelegentlich verlagernde profitorientierte Gesellschaften. Sandbänke immer wieder zu Behinderungen und Ein- Die ersten Turnpike Roads dienten der Verbesserung schränkungen. Die Beseitigung dieser Verkehrshin- der Verkehrsbeziehungen zwischen Städten und ihren dernisse und der Ausbau der Flussmittelläufe zu leis- Umlandgebieten. Insbesondere wirtschaftlich bedeu- tungsfähigen Schifffahrtsstraßen bildeten neben den tende Standorte im Hinterland von Städten, z. B. Kohle- Turnpike Acts die wichtigsten verkehrspolitischen Maß- gruben oder Steinbrüche, wurden schon bald durch nahmen im 17. Jahrhundert. Derart ausgebaute Flussab- Turnpike Roads besser an die städtischen Märkte ange- schnitte werden als River Navigations bezeichnet. bunden. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts breitete sich jedoch, von London ausgehend, ein landesweites Netz mautpflichtiger Straßen aus. Zwischen 1750 und 1770 „Die Barge, die Barke also, war der am häufigsten anzutref- fende Bootstyp auf der Themse. … Die Barges waren die kam es sogar zu einem regelrechten Boom von Geneh- Arbeitspferde der Themse, robust, zuverlässig und geräu- migungen neuer Straßenbauprojekte, sog. Turnpike mig. Sie hatten einen so geringen Tiefgang, dass es hieß, sie Acts. Diese Gesetze hatten zum einen die Verdichtung könnten überall dort fahren, wo starker Tau gefallen oder des bereits bestehenden Straßennetzes zur Folge, zum genügend Wasser vorhanden, dass eine Ente darauf anderen wurden auch periphere Regionen, wie Cornwall schwimmen konnte … Sie transportierten jede denkbare sowie Süd- und Nordwales, an das nationale Straßen- Art von Fracht: Steine und Weizen ebenso wie Butter, Mist netz angeschlossen. Um 1770 betrug die Gesamtlänge und Schießpulver. Sie beförderten sogar Briefe. Zwei der mautpflichtigen Straßen in Großbritannien rund erwachsene Männer und ein Junge bildeten die Besatzung; 16 500 Meilen. die größten von ihnen konnten fast zweihundert Tonnen Turnpike Roads verkürzten die Reisedauer zwischen Fracht laden. Im Durchschnitt hatten sie aber eine Ladung von sechzig bis achtzig Tonnen an Bord. … Barges kamen in britischen Großstädten ganz beträchtlich. Zudem er- allen möglichen Größen vor; von den Dimensionen her möglichte ihr guter Ausbauzustand, dass Kutschen nun waren sie an die besonderen Bedingungen angepasst, die nach Fahrplänen verkehren konnten. Dies führte dazu, an und auf jenem Teil des Flusses herrschten, auf dem sie dass sich zwischen 1790 und 1835 die Zahl der mit Kut- eingesetzt wurden. Die Segel aller dieser Kähne waren aber schen beförderten Fernreisenden nahezu versechzehn- von einem typischen Rotbraun. Diesen speziellen Farbton fachte. erzielte man, indem in wohlabgewogenen Mengen Leber- Obwohl das Turnpike-System ein großer Erfolg war, tran, roten Ocker, Pferdetalg und Seewasser miteinander profitierte hauptsächlich der Reiseverkehr von den mischte und diese Mixtur dann auf das Segeltuch auftrug. neuen Fernstraßen. Für den Transport von Rohstoffen Dieses Rotbraun wurde die Farbe der Themse. Man sieht und anderen Wirtschaftsgütern war die Transportkapa- sie auf tausenden von Gemälden. Die Schiffsrümpfe waren oft bunt bemalt; besondere Farbzusammenstellungen und zität von Kutschen zu gering. Für solche Zwecke stellten Ornamente dienten dazu, einem bestimmten Gefährt ein Boote bzw. Kähne die geeignetere Alternative dar. Der ganz eigenes, unverwechselbares Aussehen zu geben“ Transport zu Wasser hatte jedoch einen wesentlichen (Ackroyd 2008, S. 161 f.). Nachteil: Ein Großteil der Regionen im Binnenland war zu Beginn des 18. Jahrhunderts über Wasserwege noch nicht zu erreichen. Zunächst wurden die Mittelläufe von Themse, Trent sowie des Severn und einige seiner Nebenflüsse vertieft und begradigt. Später, in der ersten Hälfte des 18. Jahr- hunderts, konzentrierten sich die Ausbaumaßnahmen auf kleinere, gleichwohl wirtschaftlich bedeutende, 3.5 Turnpike Roads, River Navigations und Kanäle 49 3 Flüsse. So wurden um 1700 durch die Aire and Calder In Nordwestengland wurde der Weaver ausgebaut, auf Na vi gation die Zentren der Wollverarbeitung, Leeds und dem die in Cheshire abgebauten Salze kostengünstig zu Wakefield, an den Seehafen Kingston upon Hull ange- ihrem Ausfuhrhafen Liverpool befördert werden konn- schlossen. Dies war ein wirtschaftlich bedeutsamer ten. Von großer Bedeutung war auch die Mersey and Schritt, da Wolle und Wollprodukte die wichtigsten Irwell Navigation, die Manchester an den zweitwich - nationalen Exportgüter darstellten. Der Ausbau des Don tigsten Hafen Großbritanniens, Liverpool, anschloss. vom Humber nach Sheffield hingegen vereinfachte und Über diesen Wasserweg konnte die in Liverpool angelie- beschleunigte die Einfuhr schwedischer Erze in die ferte Rohbaumwolle zügig und in großen Mengen zu den Montanregion von Sheffield und Rotherham. Spinnereien in Manchester gebracht werden. (Abb. 3.19). Abb. 3.19 River Navigations und Kanäle in England und Wales. Quelle: Zehner, verändert nach Moyes 1978, S. 410., 3 50 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.20 Die Küstenschifffahrt bildete vor der Erschließung des Binnenlandes mit Turnpike Roads und Kanälen die wichtigste Art des Güterverkehrs. Quelle: Zehner, verändert nach Darby 1976, S. 78. Trotz dieser wichtigen wasserbautechnischen Maß- Themse in die Hauptstadt befördert (Abb. 3.20). Sie nahmen und Verbesserungen waren einige wichtige wurde daher als seacoal bezeichnet. Wirtschaftsräume nach wie vor nur unzureichend für Mit dem Aufschwung der Wirtschaft um die Mitte Güterverkehre erschlossen. So blieben das Black Coun- des 18. Jahrhunderts wurde zunehmend offensichtlich, try und die Potteries, eine Städtegruppe um Stoke- dass River Navigations zur Erschließung des Binnenlan- on-Trent, vorerst vom nationalen Wasserstraßennetz des nicht ausreichten, sondern dass das Wasserwegenetz getrennt. Auch London war per Boot von Mittelengland grundlegend verbessert und weiterentwickelt werden nicht zu erreichen. So wurde bis in die 1880er Jahre die musste. Der Druck auf die zuständigen politischen Gre- Kohle, die zur Versorgung Londons gebraucht wurde, mien in London nahm deutlich zu. von Newcastle mit Seeschiffen über Nordsee und, 3.5 Turnpike Roads, River Navigations und Kanäle 51 3

Das Zeitalter der Kanäle

Der Bridgewater Canal – Pionierleistung und Vorbild Es war jedoch nicht das Verdienst des Staates, sondern das eines Adligen, dass ab 1760 mehr Bewegung in den Ausbau des Wasserstraßennetzes kam. Die Rede ist hier von Francis Egerton, dem dritten Duke of Bridgewater, der zum Pionier der britischen Binnenkanalschifffahrt wurde. Der Duke betrieb in Worsley, einer 16 km west- lich von Manchester gelegenen Stadt, ein profitables Steinkohlebergwerk. Was seinen Gewinn allerdings schmälerte, waren die unverhältnismäßig hohen Trans- portkosten für die Kohle. Sie wurde, nachdem sie mit Förderkörben ans Tageslicht befördert worden war, von Pferdefuhrwerken weiter zum Ufer des Flusses Irwell transportiert und von dort aus mit Booten nach Man- chester getreidelt. Es war vor allem dieser letzte Trans- portabschnitt, der den Preis für Bridgewaters Kohle Abb. 3.21 Statue des Ingenieurs James Brindley in Etruria beträchtlich in die Höhe schnellen ließ. Der Grund hier- (Potteries). Quelle: http://www.thepotteries.org. für waren ausgesprochen hohe Benutzungsgebühren, die von der Mersey and Irwell Navigation Company für boote verladen und abtransportiert werden. Auch zu - die Passagen der Kohlebarken verlangt wurden. Diese sätzliche Gebühren für die Passage nach Manchester Gebühren waren dem Duke ein Dorn im Auge, so dass fielen nun nicht mehr an. Gegenüber dem zuvor prakti- er intensiv über alternative Transportwege nachdachte. zierten mehrmaligen Umladen der Kohle verbilligte und Die einzige Lösung schien ein neuer Wasserweg, ein erleichterte diese Methode den Transport erheblich. Kanal, zu sein. Die Idee dazu war dem Duke auf einer für Neben der Hauptstrecke nach Manchester planten die jungen Adligen üblichen Bildungsreise durch Frank- Gilbert und Brindley auch einen Abzweig in westliche reich, der Grand Tour, gekommen. Während dieser Richtung, nach Runcorn. Ihr Ziel war es, den Kanal auch Reise besichtigte er den Canal du Midi, der Mittelmeer an den Mersey anzuschließen, um einen alternativen und Atlantik verbindet. Allerdings war in England eine Transportweg zwischen Liverpool und Manchester zu künstliche Wasserstraße dieser Länge noch nie zuvor schaffen. Dazu musste allerdings der Niveauunterschied gebaut worden. Egerton betrat also Neuland und musste zwischen Kanal und Mersey ausgeglichen werden. Um das Wagnis eingehen, mit der Umsetzung seiner Pläne dieses Problem zu lösen, konstruierte der findige Brind- zwei im Wasserbau recht unerfahrene Ingenieure, John ley eine aus zehn Einzelschleusen bestehende Schleusen- Gilbert und James Brindley, zu beauftragen (Abb. 3.21). treppe, die bei Runcorn den Kanal zum Mersey herab- Gilbert war Bergbauingenieur und Brindley ein aner- führte. Dieser, wie die Briten sagen, flight of locks, stellte kannter Mühlenbauer. Während Gilbert sich stärker um im Bereich der Wasserbautechnik eine Innovation dar, die Planung und Trassenführung kümmern sollte, die schnell für großes Aufsehen sorgte. erhielt Brindley den Auftrag, die technischen Herausfor- Auch der Bau der Hauptstrecke hatte Gilbert und derungen des Kanalbaus zu bewältigen. Das Vertrauen Brindley vor Probleme gestellt, da die Trasse nach Man- in beide Männer zahlte sich für den Duke jedoch in vol- chester mehrere Höhenzüge queren musste. Unter ande- lem Umfang aus. rem musste der Mersey an einer geeigneten Stelle Zunächst legte Gilbert die Trasse für die Hauptstre- gekreuzt werden. Zu diesem Zweck konstruierte Brind- cke des neuen Kanals zwischen Worsley und Manchester ley ein ca. 200 m langes Aquädukt. Dieses nach der nahe fest. Der Clou bestand darin, dass der Kanal direkt in die gelegenen Siedlung Barton benannte Aquädukt über- Stollen von Bridgewaters Bergwerk führte, also unter spannte den Fluss in einer Höhe von rund 12 m (Abb. Tage endete. Der Kanal entwässerte einerseits die Stol- 3.22). Das Bauwerk stellte eine wasserbautechnische len, andererseits sorgte das Grubenwasser für einen stets Pionierleistung dar, dem schon bald der Ruf eines tech- ausreichenden Wasserstand des Kanals. Zudem konnte nischen Weltwunders seiner Zeit vorauseilte. Dass der die aus den Flözen geschlagene Kohle direkt auf Kanal- moderne Kanal in Gestalt eines eleganten Aquädukts, 3 52 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.22 Das Barton-Aqädukt über- spannt den Fluss Mersey westlich von Manchester. Quelle: Hulton Archive. den Mersey in luftiger Höhe überquerte, hatte auch faktur eröffnet. Für Wedgwood war wichtig, die für die symbolischen Charakter, da diese Anordnung die tech- Herstellung von Porzellan benötigte Tonerde, Chinaclay, nische und wirtschaftliche Überlegenheit des neuen die er aus Cornwall bezog, preisgünstiger als bisher per Wasser weges gegenüber der River Navigation eindrück- Boot über den Mersey und den neuen Kanal zu seinem lich in Szene setzte. Werk befördern zu können. Zum anderen, so folgerte Nach zweijähriger Bauzeit wurde der Bridgewater- Wedgwood weiter, könnten über den neuen Kanal die Kanal im Juli 1761 feierlich eröffnet. Bereits am ersten zerbrechlichen und wertvollen Porzellangegenstände Tag seines Betriebs fielen die Preise für Steinkohle in sicher und in größeren Mengen nach Liverpool und von Manchester um die Hälfte. Auch der Kanal selbst ent- dort aus weiter nach Amerika transportiert werden, puppte sich als ein grandioser wirtschaftlicher Erfolg. während über Trent und Humber die Ausfuhr nach Die 346 805 Pfund, die sein Bau verschlungen hatte, Europa möglich sein würde. hatte der Duke schon bald wieder durch Kanalgebühren Um dieses Ziel zu verwirklichen, beauftragte Wedg- eingenommen. So betrugen beispielsweise die Nettoein- wood James Brindley mit dem Bau des Trent-Mersey- nahmen im Jahr 1803 65 952 Pfund, und für die 1820er Kanals. Der Kanal wurde 1777 vollendet und für den Jahre wird eine jährliche Summe von 130 000 Pfund Verkehr freigegeben. Der Trent-Mersey-Kanal über- angenommen. wand im Übrigen als erste künstliche Wasserstraße die Schon bald erkannten Unternehmer, Politiker und Großbritannien von Norden nach Süden durchziehende Adlige die wirtschaftlichen Vorteile und Potenziale, die Wasserscheide zwischen Irischer See und Nordsee. mit Kanälen erschließbar schienen. So ist es kaum über- Ein zweites wichtiges Ziel war die Einbindung des raschend, dass schon kurze Zeit später neue Kanalbau- Black Country, der damals wichtigsten Montanregion projekte in Angriff genommen wurden. Großbritanniens, in das nationale Güterverkehrsnetz. Schlüsselrollen kamen dabei dem Staffordshire-Worces-

Die Entwicklung tershire-Kanal, der Trent und Severn (1777) miteinan-

der verband, und dem Birmingham-Wolverhampton- des britischen Kanalsystems Kanal zu. Mit dem Tag der Eröffnung beider Kanäle verbesserten sich schlagartig die Lage und wirtschaft - Vor allem in den Midlands und in Lancashire wurde in liche Bedeutung des Black Country, dessen Industrie- den 1760er und 1770er Jahren mit dem Bau neuer produkte und Rohstoffe nun günstiger und in erheblich Kanäle begonnen. Das wichtigste Vorhaben war der Bau größeren Mengen landesweit abgesetzt werden konnten. eines Kanals, der Trent und Mersey miteinander ver- Das dritte wichtige Ziel war die Verbindung Londons band und als Grand Trunk bezeichnet wird. Treibende mit den mittelenglischen Industrie- und Kohlerevieren. Kraft hinter diesem Projekt war der Industrielle Josiah Ende des 18. Jahrhunderts war London bereits auf dem Wedgwood aus Burslem, einer Stadt in den Potteries. Weg zu einer Millionenstadt, die sowohl mit Kohle als Wedgwood hatte 1769 in Burslem eine Porzellanmanu- auch mit anderen Rohstoffen und Handelsgütern ver-, 3.5 Turnpike Roads, River Navigations und Kanäle 53 3 sorgt werden musste. Die Belieferung der Hauptstadt Wettbewerb zwischen den Kanalgesellschaften, der mit Kohle war bis jetzt ausschließlich auf dem Seeweg manches Vorhaben scheitern ließ. In den 1830er Jahren erfolgt. Die Kohle kam überwiegend aus dem nord- endete schließlich das goldene Zeitalter der Kanäle. ostenglischen Revier am Tyne und wurde per Schiff Der Eisenbahn, deren Streckennetz sich rasant ausbrei- von Newcastle entlang der Ostküste und des Themse- tete, hatten die Kanäle nichts entgegenzusetzen. Der Ästuars nach London befördert. Aber der Seeweg war Transport auf der Schiene war einfach preiswerter und weit und teuer, und die auf diese Weise herangeschafften schneller. Kohlemengen reichten gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr für die Versorgung der Millionenstadt Lon- don aus. Daher wurden in kurzer Zeit vier neue Kanäle Finanzierung und Standardisierung der Kanäle in Angriff genommen, die London an die Kohlereviere Mittelenglands anschlossen. Mit dem Thames-Severn- In Großbritannien musste jedes einzelne Kanalbaupro- Kanal (1789) und dem Kennet-Avon-Kanal (1810) ent- jekt durch ein eigenes Gesetz vom Parlament beschlos- standen dabei zwei künstliche Wasserstraßen, die von sen werden. Der Staat selbst trat jedoch nicht als Inves- Westen an die Themse herangeführt wurden, während tor auf. Planung, Finanzierung und Bau der Kanäle lag der Oxford-Kanal (1790) und der Grand-Junction- in den Händen sog. Canal Trusts, die rechtlich als Kanal (1805) London von Norden aus erreichten. Vom Aktiengesellschaften geführt wurden und nach dem Grand-Junction-Kanal zweigt im Norden Londons, im Prinzip der Turnpike Trusts organisiert waren. Damit Stadtteil Paddington, der Regents-Kanal ab. Er endet im sich die hohen Anfangsinvestitionen rechneten und die Limehouse Basin, einem Dock östlich der City. Dieser Trusts den Aktionären eine zufriedenstellende Divi- Kanal wurde somit zu einem wichtigen Bindeglied zwi- dende auszahlen konnten, erhoben die Gesellschaften schen der Themse und den mittelenglischen Wasser- Benutzungsgebühren für die Kanäle. wegen. Da jedes Vorhaben von einer eigenen Gesellschaft Schließlich entstanden Kanäle, die längs drei ver- durchgeführt wurde, verwundert es nicht, dass zu schiedener Routen das große, in Nord-Süd-Richtung Beginn des Kanalzeitalters noch keine Standards hin- verlaufende Mittelgebirge Englands, die Penninen, über- sichtlich der Kanalabmessungen und Schleusenbreiten wanden und somit Manchester und Liverpool mit den existierten. Dies wird besonders bei der ersten Genera- Zentren der Wollindustrie, allen voran Leeds, auf dem tion von Kanälen sichtbar, die überwiegend landein- Wasserweg verbanden. Der längste und aufwendigste wärts gerichtete Verlängerungen der Navigations dar- Kanal wurde der Liverpool-Leeds-Kanal (1806), der stellten. Ihre Breite und Tiefe richtete sich nach den dem niedrigsten Abschnitt der Wasserscheide zwischen Abmessungen und Tiefgängen der Boote, die auf den Aire und Ribble folgte. Ein finanzieller Erfolg wurde der jeweiligen Flüssen verkehrten und die auch die anschlie- Kanal jedoch nicht, denn die Bauzeit betrug über drei ßenden Kanäle nutzen können sollten. Wäre das nicht Jahrzehnte. Während dieser Zeit hatten finanzielle der Fall gewesen, so hätten Waren an der Grenze von Rückschläge die Vollendung des Projekts mehrfach Fluss und Kanal umgeladen werden müssen, was die gefährdet. Als der Kanal schließlich 1806 seiner Bestim- Transportkosten verteuert und die Transportzeit verlän- mung übergeben wurde, hatten ihm schon zwei andere gert hätte. Kanäle den Rang abgelaufen. Beide, der Huddersfield- Die Breite der damals üblichen Flusskähne schwankte Kanal und der Rochdale-Kanal, waren zu diesem Zeit- zumeist zwischen 10 und 16 Fuß (3–4,8 m), während punkt schon fünf bzw. zwölf Jahre in Betrieb. Sie unter- ihre Länge zwischen 50 und 80 Fuß (15–24 m) betrug. querten die Penninen in Form von Tunneln, was zu Die Flusskähne wurden als Leichter oder Barken erheblichen Zeiteinsparungen führte. bezeichnet. Während der Rezession, die durch den amerikani- Für den Bau der binnenländischen Verbindungska- schen Bürgerkrieg (1775–1783) verursacht worden war, näle war es jedoch sinnvoll, sich auf gemeinsame Stan- erlahmte kurzzeitig der Kanalbau in Großbritannien. In dards zu einigen. Es ist das Verdienst von James Brind- der zweiten Hälfte der 1780er Jahre erlebte er allerdings ley, diese Standards definiert und auch durchgesetzt zu wieder einen kräftigen Aufschwung, der in einer regel- haben. Er ging von einem Bootstyp aus, der nur 7 Fuß rechten canal-mania gipfelte, die von 1791 bis 1794 (2,10 m) breit sein durfte. Die Länge der Boote variierte, andauerte. Alleine in diesen drei Jahren wurden 81 neue konnte aber bis zu 70 Fuß (21 m) betragen. Für diese Gesetze zum Ausbau einzelner Wasserwege vom Parla- schmalen und langen Boote setzte sich schon bald die ment verabschiedet. Im Nachhinein können die frühen Bezeichnung Narrowboats durch. Sie hatten einen 1790er Jahre als die Boomzeit des Kanalbaus bezeichnet geringen Tiefgang und konnten bis zu 50 t Last tragen werden. Allerdings entstand auch ein mitunter ruinöser (Abb. 3.23)., 3 54 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.23 Typisches Narrowboat. Abmessungen und Größe der Narrow- boats ergaben sich aus den wirtschaft- lichen und technischen Rahmenbedin- gen. Die maximale Tonnage von 50 Tonnen entsprach dem Gewicht, das ein kräftiges Pferd gewöhnlich zu ziehen imstande war. Die lang gestreckte Form der Boote resultierte aus der geringen Breite der Kanäle, die aus Kostengründen angestrebt wurde. Quelle: http://www.freefoto.com. Brindley leitete seine Norm zum einen von der Größe ren waren die Narrowboats hinsichtlich ihrer Tonnage der Schleusen ab, die mit den um die Mitte des 18. Jahr- so konzipiert, dass sie von einem Pferd mittlerer Größe hunderts technischen und wirtschaftlichen Mitteln ohne Probleme gezogen werden konnten. Denn in den gebaut werden konnten. Die Schleusen mussten so Anfangsjahren des Kanalzeitalters wurden die Boote dimensioniert sein, dass sie von einer Bootsbesatzung noch getreidelt, d. h. von Pferden gezogen, die auf einem geöffnet und geschlossen werden konnten. Zum ande- separaten, unmittelbar neben dem Kanal angelegten Pfad liefen (Abb. 3.24). Mitunter setzte man auch Esel oder Maultiere zum Treideln ein. Obwohl bis in die 1950er Jahre Zugtiere im Einsatz waren, begann ab 1870 die Motorisierung des Güterverkehrs auf den Kanälen. Zunächst wurden Dampfmaschinen als Antriebsaggregate eingesetzt, ab 1910 setzten sich Dieselmotoren durch. Brindleys Kanäle waren meist so breit, dass zwei Nar- rowboats passieren konnten. Auf breitere Kanäle ver- zichtete Brindley, denn Kanalbau im 18. Jahrhundert beruhte auf (teurer) Handarbeit, die von Kanalbauern (navvies), geleistet wurde, deren einzige Werkzeuge Schaufel und Schubkarre waren. Nur dort, wo Kanäle eine ins Binnenland gerichtete Erweiterung von Flüssen bildeten, entschied man sich aus Gründen der Durchläs- sigkeit für eine größere Gewässerbreite. Auf diesen broad canals verkehrten Boote mit einer Breite zwischen 10 und 16 Fuß (3–4,8 m). Kanäle und ihre Infrastruktur als L andschaftsbauwerke Eines der zentralen Probleme, das die britischen Wasser- bauingenieure lösen mussten, bestand in der Überwin- dung von Höhenzügen. Bei kurzen Distanzen und Abb. 3.24 Treidelpfad längs des Thames-Severn-Kanals bei k leineren Anhöhen entschied man sich oft für einen Sapperton (Cotswolds). Quelle: Zehner 2004. Durchstich (cut). Seine Verwirklichung war zwar auf-, 3.5 Turnpike Roads, River Navigations und Kanäle 55 3 wendig, verursachte aber im Betrieb später keine zusätz- wand des Tunnels ab. Auf diese Weise bewegten sie das lichen Kosten mehr. Boot nach vorn. Wo die Tunnel breiter waren, mussten Im Gegensatz dazu waren Schleusentreppen teuer, sich die legger weit über den Bootsrand lehnen, um die und das mühevolle Aufsteigen und Absteigen durch die Tunnelwand zu erreichen. Dies erforderte einiges Schleusen kosteten die Bootsfahrer viel Zeit (Abb. 3.25). Geschick, so dass mancherorts professionelle legger ihre Vor allem aber musste die ausreichende Zufuhr von Dienste anboten. Später wurden mit Dampf-, Diesel- Wasser am höchsten Punkt gewährleistet sein. Dazu oder Elektromotoren angetriebene Schleppkähne (tugs) musste Wasser in der Regel hochgepumpt werden, was eingesetzt, die mehrere Boote durch den Tunnel ziehen den Betrieb weiter verteuerte. Um diesem Problem zu konnten. begegnen, wurden verschiedene wasserbautechnische Am Ende des Kanalzeitalters, um 1835, wurden die Methoden entwickelt. ersten Schiffshebewerke in Betrieb genommen. In Groß- Wo größere Höhenunterschiede zu meistern waren, britannien entstanden zwei Grundformen von Hebe- bot sich der Bau von Tunnels an. Die frühen Tunnels werken. Die eine, als Lift bezeichnet, basiert ausschließ- waren gerade so bemessen, dass ein Narrowboat durch lich auf der vertikalen Hebung von mit Wasser gefüllten sie hindurch passte. Damit der Verkehr reibungslos flie- Stahlboxen, in die Schiffe einfahren konnten und die ßen konnte, sammelten sich vor den Einfahrten Boote, anschließend auf ein höheres Niveau angehoben wur- die in Verbänden die Tunnel durchquerten. Nach einer den. Ein sehr anschauliches Beispiel eines Lifts findet solchen Passage wurde der entgegenkommende Verkehr sich in der Grafschaft Cheshire, in Anderton, an der durch den Tunnel geleitet. Nahtstelle vom Weaver und dem Trent-Mersey-Kanal Eine gängige Methode, die Boote durch die Tunnel zu (Abb. 3.26). bugsieren, war das sog. legging. Dabei legten sich zwei legger auf ein Brett, das quer über das Boot gelegt wor- den war. Auf dem Rücken liegend und etwas nach vorn gedreht stießen sie sich mit den Füßen an der Seiten- Abb. 3.26 Das Schiffshebewerk in Anderton (Cheshire) ver- bindet den Trent-Mersey-Kanal mit dem Weaver. Dabei wird ein Höhenunterschied von ca. 15 m überwunden. Der Lift wurde 1875 gebaut. 1983 musste er aus Sicherheitsgründen stillgelegt werden. In den späten 1990er Jahren wurde das Abb. 3.25 Die Schleusentreppe bei Foxton. Quelle: Zehner Hebewerk restauriert und ist seit 2002 wieder in Betrieb. 2006. Quelle: Anderton Boat Lift., 3 56 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Die zweite Form ist die plane. Darunter ist eine steile Informationen im Internet Rampe zu verstehen, auf der, in verschiedenster Weise fixiert, Narrowboats an Stahlseilen aufgehängt und in http://www.bridgewatercanal.co.uk Schienen geführt, hochgezogen bzw. abgelassen werden Auf dieser Seite findet man sowohl historisch relevante als konnten. Reste einer Plane sind bei den Foxton Locks, auch aktuelle Informationen und Links zum Bridgewater- einer aus zehn Schleusen für Narrowboats bestehenden Kanal. Die Seite wird gepflegt von der Manchester Ship Schleusentreppe, zu finden. Company, in deren Besitz sich der Kanal heute befindet (Abruf: 28.01.2010). Obwohl Kanäle lineare Landschaftselemente sind und gemessen an ihrer Länge eine verschwindend kleine http://www.britishwaterways.co.uk Breite aufweisen, haben sie doch die britische Kultur- British Waterways ist die nationale Behörde, die für den landschaft geprägt und mancherorts erheblich berei- Erhalt und die Pflege der britischen Inlandwasserwege chert. Orte, wo Kanäle zusammentreffen oder von zuständig ist. Auf der Internetseite findet man u. a. detail- F lüssen abzweigen, wo Kanäle andere Wasserstraßen lierte Informationen zur Geschichte der einzelnen Kanäle kreuzen oder wo sie Höhenzüge überwinden, haben (Abruf: 28.01.2010). stets eine besondere Bedeutung gehabt. Früher kamen hier Schiffer aus allen Landesteilen zusammen, um Neu- Weiterführende Literatur igkeiten auszutauschen und Vorräte aufzunehmen. Das ist im Grunde so geblieben. Schleusentreppen, Schiffs- Ackroyd, P. (2008): Die Themse. München. hebewerke oder Tunneleinfahrten sind auch in der Cumberlidge, J. (2003): Gewässerkarte Großbritannien. Ham- Gegenwart noch beliebte Treffpunkte von Bootsleuten. burg. Zudem haben sie sich zu beliebten Touristenzielen ent- Darby, H. C. (Hrsg.) (1986): A New Historical Geography of Eng- wickelt. Ehemalige Schleusenwärterhäuschen wurden land after 1600. Cambridge u.a. zu kleinen Cafés ausgebaut, und an einigen Schleusen- Moyes, A.: Transport 1730–1900. In: Dodgshon, R. A.; Butlin, treppen, z. B. bei Devizes, am Kennet-Avon-Kanal, oder R. A. (Hrsg.) (1978): An Historical Geography of England bei den Foxton Locks, einer Schleusentreppe an einem and Wales. London/New York/San Francisco, S. 401– Abzweig des Grand-Union-Kanals, wurden kleine 429. Dyos, H. J.; Aldcroft, D. H. (1974): British Transport: An Econo- Museen eingerichtet. mic Survey from the Seventeenth Century to the Twentieth. Dass das Kanalnetz sich auch in der Gegenwart noch Harmondsworth. einer solchen Beliebtheit erfreut, ist durchaus verständ- Hadfield, C. (1965): The Canals of the British Isles. Newton lich, denn der Bau neuer Wasserstraßen war im 18. Jahr- Abbott. hundert eine Pionierleistung, die auch den Menschen Hey, D. (2001): Packmen, Carriers & Packhorse Roads. Trade des 21. Jahrhunderts Respekt abringt. Kreativität und and Communications in North Derbyshire and South York - Wagemut zeichneten Ingenieure wie Brindley aus, die shire. Ashbourne. stets auf neue Herausforderungen reagieren mussten. Porteous, J. D. (1977): Canal Ports: The Urban Achievement of the Canal Age. London/New York/San Francisco. Rolt, L. T. C. (1969): Navigable Waterways. London/Harlow.

Fazit

In der ersten Phase des Industriezeitalters, zwischen 3.6 Der atlantische 1750 und 1820, verbesserten sich die Verkehrsverhält- nisse in Großbritannien erheblich. Der Personenverkehr Dreieckshandel – eine erhielt wesentliche Impulse durch den systematischen zentrale Voraussetzung für Ausbau des Straßennetzes. Güterverkehre hingegen pro- fitierten zunächst vom Ausbau der Flüsse und später von die Industrielle Revolution Kanälen. Die Erschließung des Binnenlandes stellte eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche „I am apt to suspect the negroes and in general all other species Entfaltung Großbritanniens im Industriezeitalter dar. of men, to be naturally inferior to the whites. There never was Ohne den Bau von Kanälen wäre die Entwicklung des a civilized nation of any complexion than white nor even any Landes in der ersten Phase des Industriezeitalters deut- individual eminent in action of speculation. No ingenious lich moderater verlaufen. manufacturer among them, no arts, no sciences. There are negro slaves dispersed all over Europe of which none ever dis- played any symptoms of ingenuity“ (David Hulme 1734, schot- tischer Philosoph, Ökonom und Historiker)., 3.6 Der atlantische Dreieckshandel – eine zentrale Voraussetzung für die Industrielle Revolution 57 3

Rahmenbedingungen Vielmehr waren für die Fabrikbesitzer nun Orte von

der Industriellen Revolution – Bedeutung, wo billige Kohle verfügbar war. ein kurzer Überblick Dampfmaschinen revolutionierten auch den Berg- bau. Dort trieben sie Pumpen an, die tiefer gelegene Stollen von eindringendem Grundwasser freihielten. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Zum wichtigsten Einsatzgebiet der Dampfmaschine ent- somit deutlich früher als andere europäische Staaten wickelte sich jedoch die Eisenbahn, die ab den 1830er entwickelte sich Großbritannien von einem Agrarstaat Jahren das britische Transportwesen nachhaltig und zu einer Industrienation. Diesem Prozess, den man auch unumkehrbar revolutionierte. als Industrielle Revolution bezeichnet, liegen zwar ein- Als dritte wichtige Basisinnovation des Industriezeit- zelne, klar unterscheidbare Faktoren zugrunde, aber erst alters ist die Herstellung von Gusseisen zu nennen, von deren Zusammenwirken hat zu den bahnbrechenden der insbesondere das Gebiet um das Städtchen Coal- wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und städtebaulichen brookdale am Severn profitierte. Wie sein Name es Transformationen geführt, die Großbritannien zur bereits andeutet, wurde hier, an den Talhängen des bedeutendsten Nation im Industriezeitalter werden lie- Severn, Steinkohle gefördert. Diese Kohle wurde anstelle ßen und dem Land ca. 150 Jahre seine weltweite Vor- der bisher üblichen Holzkohle zur Eisenschmelze einge- machtstellung sicherten. setzt. Dadurch entwickelte sich Coalbrookdale in der Es ist unstrittig, dass bedeutende technische Erfin- zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten dungen die Industrielle Revolution angestoßen haben. Standort der eisenschaffenden und -verarbeitenden Beispiele hierfür lassen sich vor allem im Bereich der Industrie in Großbritannien. Entscheidend vorangetrie- sog. paläotechnischen Industrien, d. h. der Textil- und ben wurde die Entwicklung der Gusseisenherstellung Montanindustrie, finden. In der zweiten Hälfte des 18. von der Familie Darby. Ihre Schaffenskraft spiegelt noch Jahrhunderts wurden neuartige Produktionstechniken heute Iron Bridge, die erste ganz aus Eisen zusammen- zur Verarbeitung von Wolle und Baumwolle entwickelt. gesetzte Brücke der Welt, wider. Sie wurde zum Symbol Am Beginn dieses Prozesses (1776) stand die Erfindung des wirtschaftlichen Erfolgs Großbritanniens und zum der mechanischen Spinnmaschine, James Hargreaves’ Wahrzeichen der Industriellen Revolution (Abb. 3.27). Spinning Jenny. Diese zunächst mit Wasserkraft, später Dass solch bahnbrechende Entwicklungen in Eng- mit Dampfkraft angetriebene Maschine ermöglichte land und nicht auf dem Kontinent oder gar in einem erstmals die industrielle Produktion von Garn, was zu anderen Großraum der Erde erfolgten, ist allerdings kein einem schlagartigen Anstieg der Garnmenge führte. Zufall. Denn die genannten Erfindungen waren das Dem daraus resultierenden Überangebot begegnete Ergebnis intensiver Bemühungen von Unternehmern, Richard Arkwright im Jahre 1769 mit der Entwicklung die Leistungsfähigkeit ihrer Maschinen und somit die des mechanischen Webstuhles. Beide Erfindungen führ- Qualität der in ihren Fabriken hergestellten Güter zu ten letztlich zu einer erheblichen Produktionssteigerung verbessern. Der liberale Wirtschaftsgeist, der Großbri- feiner Baumwolltuche. Um deren Absatz sicherzustellen, tannien im 19. Jahrhundert prägte, bot hierfür eine erließ die britische Regierung ein Importverbot für bil- ideale Rahmenbedingung. lige indische Baumwollstoffe. Damit war der Weg Groß- Wichtig war freilich auch, dass die Rohstoffe, die britanniens zum weltweit führenden Produzenten von sowohl zur Gewinnung von Energie als auch für die Baumwollprodukten frei. industrielle Weiterverarbeitung benötigt wurden, in Für nahezu alle Industriezweige von Bedeutung war großer Menge und preiswert verfügbar waren. Diese die Weiterentwicklung von Thomas Newcomens’ einfa- Voraussetzung erfüllte Großbritannien in geradezu per- cher Dampfmaschine durch Matthew Boulton und fekter Weise. So hatte England bereits im Mittelalter James Watt im Jahre 1776. Entscheidend war, dass die über ein hinreichendes Angebot an preiswerter Wolle verbesserte Dampfmaschine nicht nur als Pumpe einge- verfügt und sogar Überschüsse produziert, die von flan- setzt werden konnte, sondern dass die vertikalen Zylin- drischen Webern aufgekauft worden waren. Baumwolle derbewegungen nun auch in Drehbewegungen umsetz- dagegen konnte preiswert aus den Kolonien eingeführt bar waren, so dass über Räder und Transmissionsriemen werden. Kohle und Eisenerze für die eisen- und stahl- Maschinen angetrieben werden konnten. Erstmals löste erzeugende Industrie waren dagegen im eigenen Land sich damit die Fabrikproduktion von der Energieres- vorhanden. source Wasser. Geeignete Standorte der Textilindustrie Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Indus - waren folglich nicht mehr die engen Flusstäler an den trielle Revolution war die Verfügbarkeit von billigen Flanken der Penninen, eines Mittelgebirges, das Nord- Arbeitskräften. Großbritannien war in der Lage, diese und Mittelengland in Nord-Süd-Richtung durchzieht. Arbeitskräfte in hinreichender Zahl zu stellen. Bereits in, 3 58 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.27 Iron Bridge (1779). Die erste aus Gusseisen gefertigte Brücke überspannt den Severn bei Coalbrook- dale in der Grafshaft Shropshire. Quelle: Wikimedia Commons, James Humphreys 2008. den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erlebte das ischer Unternehmer, Bankiers, Händler und Adliger. Land eine starke Bevölkerungszunahme, die aus dem Kennzeichen des Dreieckshandels waren Unmensch- Rückgang der Sterberate, bedingt durch Fortschritte in lichkeit, Gewalt und Ausbeutung. Antriebsfeder war die Hygiene und Medizin, bei gleichbleibend hoher Gebur- starke Nachfrage nach Rohstoffen (Diamanten, Gold, tenrate resultierte. Für die Landbevölkerung gab es aber Baumwolle) und Genussmitteln (Zucker, Rum, Tabak, nicht mehr genügend Arbeit. Denn durch die Agrarre- Kaffee), die es in Europa nicht gab und die deshalb wert- volution und die damit einhergehende Extensivierung voll waren. Die Gewinne der beteiligten Akteure resul- der Landwirtschaft war die Arbeitslosigkeit auf dem tierten allerdings nicht nur aus den hohen Preisen, die Lande stark angewachsen. Somit bildete sich in länd- sich für die begehrten Handelsgüter auf europäischen lichen Regionen ein gewaltiges Arbeitskräftepotenzial Märkten erzielen ließen. Sie waren auch eine Folge der heraus, das aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Minimierung von Arbeitskosten, die durch den Einsatz Lage vor Ort in großer Zahl in die Industriestädte ab- von Sklaven möglich wurde. Die Gefangennahme, wanderte. Zwangsverschleppung und der Handel mit ca. 11 Mio. Die bisher erörterten Prozesse bildeten zweifellos Afrikanern war eines der schlimmsten Verbrechen in der zentrale Rahmenbedingungen für die Industrielle Revo- Neuzeit. Aus heutiger Sicht ist kaum nachzuvollziehen, lution. Ihre Wirkung wäre jedoch deutlich geringer aus- dass Kaufleute und Politiker lange sogar versuchten, die gefallen, wäre nicht über mehrere Jahrhunderte Kapital Sklaverei zu rechtfertigen. akkumuliert worden, das mit hohen Renditeerwartun- gen in Industrieunternehmen investiert werden konnte. Ohne die Verfügbarkeit von Kapital wäre der Aufbau In seinem Tagebuch notierte der Bristoler Kaufmann und Plantagenbesitzer John Pinney 1764: „I have purchased nine von Industrieunternehmen in großem Stil gar nicht negroe slaves … and can assure you I was shocked at the möglich gewesen. Ein erheblicher Teil dieses Kapitals first appearance of human flesh exposed for sale. But stammte aus Gewinnen, die im 18. Jahrhundert aus dem surely God ordained them for the use and benefit of us; Sklavenhandel und der Plantagenwirtschaft in Übersee otherwise his divine will would have been made manifest by erzielt wurden. Beide Wirtschaftszweige waren Teil des some particular sign or token“ (Dimbleby 2007, S. 167). ersten, über drei Kontinente hinweg greifenden Han- dels- und Produktionssystems der Neuzeit, des atlanti- schen Dreieckshandels. Glücklicherweise bildete sich gegen Ende des 18. Jahr- hunderts in Großbritannien eine breite gesellschaftliche

Entwicklung und Struktur Opposition heraus, die Sklavenhandel und Sklaverei

rigoros ablehnte und sich für deren Verbot einsetzte. Es des Dreieckshandels sollte jedoch bis zum Jahre 1807 dauern, bis das Parla- ment reagierte und den Handel mit Sklaven per Gesetz Der atlantische Dreieckshandel basierte auf dem Stre- verbot. ben nach Macht und Gewinn in erster Linie europä -, 3.6 Der atlantische Dreieckshandel – eine zentrale Voraussetzung für die Industrielle Revolution 59 3 Zeitlicher Verlauf und Akteure Auf französischer Seite war die Compagnie de Senegal führend, während niederländische Interessen haupt- Der atlantische Dreieckshandel wurde im 16. Jahrhun- sächlich von der Westindien-Kompanie vertreten wur- dert von den Portugiesen aufgenommen und zunächst den. Auf Seiten der Portugiesen war das Monopol auf dominiert. Portugiesische Seefahrer hatten bereits wäh- mehrere Handelsgesellschaften verteilt. Im 18. Jahrhun- rend des 15. Jahrhunderts die westlichen Küsten Afrikas dert fielen jedoch nach und nach die Monopole der auf ihrem Seeweg nach Südasien ausgekundschaftet und Handelsgesellschaften, so dass sich nun freie Unterneh- dort zahlreiche befestigte Stationen angelegt. Diese Sta- mer legal an diesem Geschäft beteiligen konnten. Diese tionen, die sich vom Gebiet des heutigen Senegal über neuen Freiheiten wurden insbesondere von Liverpooler die Sklavenküste in Togo bis nach Angola aufreihten, Geschäftsleuten wahrgenommen. übernahmen die Funktion wichtiger Sklavenmärkte. Im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Die führende Rolle Portugals ergab sich u. a. aus dem entwickelte sich der Sklavenhandel zunächst noch zag- 1479 mit Spanien geschlossenen Vertrag von Alcaçovas, haft. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewann der den Spaniern wirtschaftliche Aktivitäten südlich des er jedoch zunehmend an Bedeutung. Bis zum Ende des nordwestafrikanischen Cap Bojador (Spanisch-Sahara) 16. Jahrhunderts waren bereits 900 000 Afrikaner nach untersagte. Um den Bedarf an Sklaven in den Bergwer- Brasilien und in die Karibik verschleppt worden. Für das ken und Plantagen in den spanischen Überseegebieten 17. Jahrhundert sind 3,8 Mio. verschleppte Sklaven zu befriedigen, übernahmen portugiesische Handelsge- belegt, während für das 18. Jahrhundert die Angaben sellschaften im Auftrag Spaniens den Sklavenhandel. zwischen 6 und 7 Mio. schwanken. Des Weiteren war die eigene Kolonie Brasilien, wo die Nach dem Verbot des Sklavenhandels durch das bri- Zuckerproduktion in der zweiten Hälfte des 16. Jahr- tische Parlament im Jahre 1807 ebbte der Sklavenhandel hunderts stark expandierte, ein wichtiges Fahrtziel por- allmählich ab. Allerdings wurden im Verlauf des 19. tugiesischer Schiffe. Jahrhunderts noch weiter Sklaven nach Amerika ver- Im Verlauf des 17. Jahrhunderts entwickelten sich schifft, was auf den verstärkten Einsatz der Portugiesen, zwischenzeitlich die Niederländer zu ernsthaften Riva- die auch englische Schiffe und Besatzungen verpflichte- len der Portugiesen. Im 18. Jahrhundert stieg schließlich ten, zurückzuführen ist. Erst mit der Illegalisierung der Großbritannien zur führenden Macht im Sklaven- und Sklaverei im Allgemeinen im Jahre 1833 zogen sich die atlantischen Dreieckshandel auf. Zunächst wurde der Briten stärker aus dem schmutzigen Geschäft mit der Sklavenhandel von London und Bristol aus organisiert. Handelsware „Mensch“ heraus. Spätestens ab 1740 übernahm Liverpool die führende Insgesamt sind ca. 40 000 Fahrten mit Sklaven im Position im Rahmen des britischen und somit auch Rahmen der Mittleren Passage, d. h. des Fahrtgebiets europäischen Dreieckshandels. Zwischen 1695 und 1807 von Westafrika zur amerikanischen Gegenküste, belegt. wurden von Liverpool aus 5 300 Passagen nach Afrika Dabei wurden schätzungsweise 11 Mio. Afrikaner nach organisiert und durchgeführt. London kam nur auf eine Amerika verschleppt. Es ist jedoch davon auszugehen, Zahl von 3 100 Fahrten, und im Falle Bristols waren es dass eine nicht minder große Zahl ihr Ziel gar nicht erst 2 200. Für das Jahr 1795 ist beispielsweise dokumentiert, erreichte. Viele starben bereits auf den Märschen von dass 60 % aller britischen und 40 % aller europäischen den afrikanischen Hinterlandgebieten zu den Sklaven- Sklavenschiffe ihre Fahrt in Liverpool begonnen hatten. märkten in den Hafenstädten oder während der Warte- Jedes vierte Schiff, das in jenem Jahr den Liverpooler zeit in einem der eigens zu diesem Zweck errichteten Hafen verließ, war ein Sklavenschiff, das Kurs auf West- Sklavenforts. Viele überlebten auch die Strapazen der afrika einschlug. Schiffsreise nach Amerika nicht oder starben an einer Auch die Franzosen waren in den Sklavenhandel Krankheit. involviert, obwohl sie nie die führende Rolle in Europa einnahmen. Dennoch sind sie für die Verschleppung von mehr als einer Million Sklaven verantwortlich. Zur „Eckpunkte“ des Dreieckshandels französischen Drehscheibe des atlantischen Sklaven - handels entwickelte sich die südwestfranzösische Stadt Eckpunkte des Dreieckshandels waren Europa, West- Nantes. afrika und – auf amerikanischer Seite – zunächst Brasi- Akteure des Dreieckshandels waren zunächst staat- lien und die Antillen; später war auch, allerdings in lich privilegierte Handelsmonopolgesellschaften. Die geringerem Maße, der Südosten der USA mit eingebun- wichtigsten britischen Gesellschaften waren die Guinea den (Abb. 3.28). Organisiert wurde der Dreieckshandel Company (gegründet 1651), die Royal Adventurers into von Europa aus. Europa war zugleich der Absatzmarkt Africa (1660) und die Royal African Company (1672). für Agrarprodukte und industrielle Rohstoffe, die auf, 3 60 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen amerikanischen Plantagen hergestellt wurden. Produ- ziert wurden dort vor allem Zucker, Rum, Tabak und ab Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt Industrie. Erst die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert Baumwolle. Afrika diente in diesem System in erster gegeben, erst die Kolonien haben den Welthandel geschaf- fen, der Welthandel ist die notwendige Bedingung der Linie als Liefergebiet für billige Arbeitskräfte. Teilweise maschinellen Großindustrie. So lieferten denn auch die jedoch gelangten die Güter, die auf der Grundlage von Kolonien der Alten Welt vor dem Negerhandel nur sehr Plantagenprodukten gefertigt wurden, insbesondere wenige Produkte und änderten das Antlitz der Welt nicht Tuche und Kleider, wieder in den Kreislauf des Dreiecks- merklich. Mithin ist die Sklaverei eine ökonomische Kate- handels. Sie wurden als Handelsware nach Afrika ausge- gorie von höchster Bedeutung“ (Marx 1846, S. 458, zit. führt und dort gegen Sklaven eingetauscht. In diesem nach Mintz 2007, S. 95). Sinne war der Dreieckshandel ein teilweise in sich geschlossenes Handelssystem, an dem in erster Linie die Ihre Gewinne konnten sie mit der Erwartung hoher Plantagenbesitzer, die Schiffseigner, die Sklavenhändler Renditen in die neu entstehenden Industrieunterneh- und die Banken verdienten. men reinvestieren. Ohne dieses Kapital hätte die Indust- rielle Revolution in Großbritannien einen deutlich „Die direkte Sklaverei ist der Angelpunkt unserer heutigen moderateren Verlauf genommen (Abb. 3.28). Industrie ebenso wie die Maschinen, der Kredit etc. Ohne Der zentrale Erfolgsfaktor des Dreieckshandels waren die relativ großen Gewinnmargen innerhalb jedes ein- Abb. 3.28 Der atlantische Dreieckshandel., 3.6 Der atlantische Dreieckshandel – eine zentrale Voraussetzung für die Industrielle Revolution 61 3 Abb. 3.29 Ehemaliges Sklavenfort Gorée (Senegal). Das Fort liegt auf einer 36 ha großen Insel im Atlantik, 3 km vor der Küste von Senegals Hauptstadt Dakar. Hier wurden afrikani- sche Sklaven bis zu ihrer Passage nach Amerika festgehalten. Das Fort wurde bis 1848 genutzt. Quelle: Wikipedia 2006. zelnen Geschäftsvorgangs. So waren gemessen an ihrem spielsweise konzentrierte sich der Handel auf Cape Wiederverkaufswert in Afrika Sklaven zu sehr niedrigen Coast und Elmina, während sich im westlichen Zentral- Preisen erhältlich. Bezahlt wurden die Sklavenhändler afrika Luanda als Hauptort des Sklavenhandels eta- u. a. mit Rum, Feuerwaffen, Buschmessern und ande- blierte. Von diesen Sklavenmärkten aus wurden die ren nützlichen Eisenprodukten. Auch Baumwollkleider, Gefangenen auf Schiffe verschleppt und unter men- Glasperlen Schmuck, Keramik und eine Reihe anderer schenunwürdigen Transportbedingungen nach Amerika Konsumgüter waren äußerst begehrte Tauschware. Die verschifft. Waren zunächst die nordöstliche Küste Brasi- Sklaven wurden in der Regel im Landesinneren rekru- tiert und in eine der Hafenstädte an den westafrikani- schen Küsten verschleppt (Abb. 3.29). Dieses Geschäft lag sowohl in der Hand europäischer als auch wohlhabender afrikanischer Sklavenhändler. Gelegentlich kam es auch vor, dass ganze Stämme S klaven zum Verkauf anboten, die sie während kriege- rischer Auseinandersetzungen als Gefangene genom- men hatten. Die Stützpunkte des Sklavenhandels erstreckten sich von der senegalesischen Küste bis zur Grenze zwischen Angola und Namibia. Insgesamt lassen sich von Norden nach Süden sieben zentrale Liefergebiete benennen. Das nördlichste ist Senegambia und umfasst die küstenna- hen Landstriche der heutigen Staaten Senegal und Gam- bia. Südlich daran schließt sich die Küste von Sierra Leone an. Ein dritter durch den Sklavenhandel geprägter Küstenstrich war die Windward Coast, deren deutsche Bezeichnung „Pfefferküste“ geläufiger ist. Es folgten in östliche Richtung die Goldküste, die sog. Sklavenküste, die Bucht von Biafra und das zentrale Westafrika. Zu Schwerpunkten des Sklavenhandels bildeten sich die Gold- und Sklavenküste sowie die zentrale westafrika - nische Küste heraus. Von hier wurden beispielsweise zwischen 1701 und 1725 90 % aller Sklaven verschifft (Abb. 3.30). In jedem dieser sieben Gebiete gab es zentrale Stütz- Abb. 3.30 Sklavenexporte aus dem westlichen Afrika im 18. punkte mit Sklavenmärkten. An der Goldküste bei- und frühen 19. Jahrhundert., 3 62 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen liens, die heutigen Guayana-Staaten und Venezuela bar erwiesen. Für eine kurze Zeit wurde auch auf bevorzugte Zielgebiete der portugiesischen Sklaven- Zwangsarbeiter aus den europäischen Mutterländern schiffe, so verlagerte sich spätestens seit dem Aufstieg zurückgegriffen. Dabei handelte es sich oft um Krimi- Englands zur Hegemonialmacht der Schwerpunkt in die nelle, um Waisen oder um Menschen, die durch die Karibik. Zunächst steuerten britische Schiffe Barbados Arbeit auf den Plantagen ihre Schulden abtrugen. Diese an, mit der Ausbreitung der Zuckerplantagen nach hatten sie auf sich geladen, um sich die Passage nach Jamaika wurde diese Insel ab den 1660er Jahren zum Amerika überhaupt leisten zu können. Vielen jedoch bevorzugten Ziel. Die Franzosen, die hinter den Briten machte das tropische Klima zu schaffen, so dass die Aus- und Portugiesen die drittstärkste am Dreieckshandel fälle durch Erkrankungen beträchtlich waren. Vor die- beteiligte Fraktion bildeten, konzentrierten sich dagegen sem Hintergrund schienen afrikanische Sklaven anpas- stärker auf Martinique, Guadeloupe und Saint-Domini- sungsfähiger und belastbarer zu sein. que (Haiti) (Abb. 3.31). Auf den Plantagen in Brasilien und der Karibik Die Sklaven wurden auf süd- und mittelamerikani- wurde überwiegend Rohrzucker angebaut. Zucker hatte schen Plantagen als Zwangsarbeiter eingesetzt. Zunächst sich im 17. und 18. Jahrhundert von einer sehr speziel- hatte man zu diesem Zweck einheimische Arbeiter len Handelsware zu einem mehr und mehr alltäglichen rekrutiert, die sich aber als in zu geringem Maße belast- Grundnahrungsmittel in Europa entwickelt. Zunächst Abb. 3.31 Sklavenimporte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in Amerika., 3.6 Der atlantische Dreieckshandel – eine zentrale Voraussetzung für die Industrielle Revolution 63 3 war Zucker ein rares Gut gewesen, das nur als Medizin bei Flut erreichbar war. Bei Ebbe verengt sich der Avon und „Gewürz“ verwendet wurde, doch im Laufe des zu einem schmalen Rinnsal. Zudem konnte von Liver- 18. Jahrhunderts fanden zunehmend breitere Schichten pool schneller und preiswerter als von jeder anderen Geschmack an dem süßen Produkt. Als Nebenprodukte englischen Hafenstadt Baumwolle nach Manchester, bei der Zuckerherstellung fielen Melasse, Sirup und dem Zentrum der baumwollverarbeitenden Industrie Rum an. Insbesondere Rum wurde zu einem wichtigen in Großbritannien, weitertransportiert werden. Dieser Handelsgut, das sowohl in Europa als auch bei den Transport erfolgte zunächst über die Flüsse Mersey und afrikanischen Sklavenhändlern hohe Wertschätzung Irwell, ab 1761 auch über den ersten Kanal des Indus- genoss. triezeitalters, den Bridgewater-Kanal (vgl. Abschnitt In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brach der 3.5). Ab 1830 gelangte die Baumwolle auch mit der Dreieckshandel zusammen. Der entscheidende Grund Eisenbahn nach Manchester. Schließlich stand mit dem lag in der Illegalisierung des Sklavenhandels und der Manchester Ship Canal ab 1894 sogar eine direkte Was- Sklaverei in Europa und ab 1865 auch in den USA. serstraße zur Verfügung, die es auch kleineren Seeschif- Damit war Arbeit ein realer Kostenfaktor geworden, der fen ermöglichte, direkt und ohne Güterumschlag in die Gewinnmargen der an diesem Geschäft Beteiligten Liverpool, ihre Güter nach Manchester zu transportie- deutlich schmälerte. ren. Gleichwohl schwächte der neue Kanal die wirt- schaftliche Stellung Liverpools kaum.

Die Bedeutung des Dreieckshandels Als dritter Grund für die Hegemonie Liverpools ist

die Nähe zur Isle of Man zu nennen. Die Isle of Man für Bristol und Liverpool zählte auch damals nicht zu England bzw. Großbritan- nien und erhob, was für Liverpooler Händler wichtig Innerhalb Großbritanniens profitierte im späten 17. und war, keine Steuern für eingeführte Produkte. Dies war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts neben London aus wirtschaftlicher Sicht von Bedeutung, da ein erheb- zunächst auch Bristol vom Dreieckshandel. Insbeson- licher Anteil der Waren, die im Rahmen des Dreiecks- dere als das Monopol der Londoner Royal Africa Com- handels nach Afrika gelangten, nicht in Großbritannien pany für den Handel mit den Westindischen Inseln fiel, hergestellt, sondern aus europäischen Nachbarländern, blühte Bristol wirtschaftlich auf. Schon bald nahm der z. B. aus den Niederlanden, eingeführt wurden. Bei der Sklavenhandel eine Schlüsselstellung im Wirtschaftsge- Einfuhr fielen Steuern an, die sich die Liverpooler Kauf- füge Bristols ein. Bristol entwickelte sich zu einem wich- leute jedoch sparen konnten, indem sie Waren nicht tigen Umschlagplatz für den Handel mit Afrika. Die nach Liverpool, sondern nach Douglas, der Hauptstadt Waren wurden teilweise importiert, teilweise kamen sie der Isle of Man, orderten, wo sie diese auf ihren Fahrten auch aus anderen britischen Regionen. So wurde bis um nach Afrika aufnahmen. Diese Lücke wurde per Gesetz 1700 Baumwolle aus Indien eingeführt, später wurde sie zwar 1765 geschlossen, bis dahin hatte Liverpool seine aus Lancashire bezogen. Dorthin war sie ursprünglich Vormachtstellung gegenüber London und Bristol aber über den Importhafen Liverpool gelangt. Gewehre schon ausbauen und festigen können. besorgten sich Bristoler Kaufleute überwiegend in In Liverpool entstanden auch weiterverarbeitende Birmingham. Eine große Zahl an Produkten wurde auch Betriebe für andere Handelsgüter, z. B. für Zucker. Bis in Bristol selbst hergestellt, z. B. Glas, Töpferwaren, zum Jahre 1981 hatte in Liverpool Großbritanniens Schmuck, Scheren und Messer. Zugleich entwickelten bedeutendste Zuckerraffinerie Tate & Lyle ihren Sitz. Im sich in Bristol Wirtschaftszweige, die sich auf die Weiter- Liverpooler Hafen entstand zudem das größte jemals verarbeitung von Plantagenprodukten, im Wesentlichen aus Ziegelsteinen errichtete Lagerhaus, das Stanley Dock, Zucker und Tabak, spezialisierten. Der diversifizierte in dem Tabak gestapelt wurde. Zudem entwickelte sich Arbeitsmarkt, der sich in Bristol entfaltet hatte, war die Liverpool zu einem Zentrum des Schiffbaus. Hier bil- Voraussetzung für ein kräftiges Wachstum der Stadt. dete sich ein kreatives Milieu heraus, in dem technisches Während des 18. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung und wirtschaftliches Wissen generiert und angewendet Bristols von 20 000 auf 60 000 zu. wurde. Ein Beispiel hierfür ist der Dockbau. Um den Allerdings mussten Bristoler Kaufleute ab 1740 zur zwar nicht dramatischen, gleichwohl lästigen negativen Kenntnis nehmen, dass Liverpool ihrer Stadt den Rang Auswirkungen des Tidenhubs zu begegnen, entwickel- ablief. Seine wirtschaftliche Blüte verdankte Liverpool ten Liverpooler Ingenieure ein System von 150, unter- einer Reihe von Lagevorteilen. Trotz der Tide war der einander vernetzten Hafenbecken, die sich längs des öst- Hafen am Mersey leichter für Seeschiffe erreichbar als lichen Mersey-Ufers über 12 km erstreckten und mit Bristol. Hier bildete die Zufahrt durch das enge Tal Schleusen abgeschottet werden konnten. Auch im Bau des Avon stets ein natürliches Hindernis, da Bristol nur von Lagerhäusern setzten Liverpooler Architekten, allen, 3 64 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.32 Der berühmte Pier Head Liverpools mit dem Royal Liver Building (links). Das Royal Liver Building ent- stand in der Ära der wirtschaftlichen Blüte Liverpools zu Beginn des 20. Jahr- hunderts und ist heute noch das Wahr- zeichen der Stadt. Quelle: Zehner 2009. voran Jesse Hartley, der zwischen 1841 und 1846 das Richardson, D., Schwarz, S.; Tibbles, A. (Hrsg.) (2007): Liver- bekannte Albert Dock erbaute, Standards. pool and Transatlantic Slavery. Liverpool. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die wirtschaftli- Stapelfeldt, G. (2001): Der Merkantilismus. Die Genese der che Basis Liverpools bereits so stark diversifiziert, dass Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Freiburg. trotz der Illegalisierung des Sklavenhandels Liverpool zur zweitgrößten und -wichtigsten Stadt Großbritan- niens aufstieg, die in den folgenden 100 Jahren ihre 3.7 Vom Land der Dörfer zur Bevölkerungszahl nahezu versiebenfachte. Seine Blüte erreichte Liverpool vor dem Ersten Weltkrieg, während Nation der Städte – des edwardianischen Zeitalters. In diesen Jahren ent- stand der berühmte Pier Head mit den drei prächtigen wirtschaftliche Umbrüche grauen Verwaltungsgebäuden, die Liverpools Water- und Stadtentwicklung in front ihr Gesicht gegeben haben und 2004 zum Weltkul- turerbe der UNESCO erklärt wurden (Abb. 3.32). Großbritannien während der Industriellen Revolution

Weiterführende Literatur

Dimbleby, D. (2007): How We Built Britain. London. In den 1870er Jahren und somit etwa 80 Jahre früher Frenzel, F. (2007): Entlassung ohne Entschädigung. Vor 200 als die Staaten auf dem Kontinent begann in Großbri- Jahren erklärte das britische Empire die Abschaffung des tannien eine etwa 200 Jahre andauernde Epoche, die Sklavenhandels. In: Iz3w, 303, S. 7–9. durch Industrialisierung, gesellschaftliche und politi- Harms, R. (2007): Das Sklavenschiff. Eine Reise in die Welt des sche Reformen sowie Verstädterung geprägt war. Diese Sklavenhandels. München. Veränderungen werden im Allgemeinen unter der Be- Hobhouse, H. (1985): Fünf Pflanzen erobern die Welt. Stutt- zeichnung „Industrielle Revolution“ zusammengefasst. gart. Allerdings greift der Begriff etwas zu kurz, da die Ein- Klein, H. (1999): The Atlantic Slave Trade (= New Approaches führung der industriellen Produktionsweise nur eine to the Americas 3). Cambridge. Facette des mannigfaltigen Umbruchs darstellt, durch Le Tallec, J. (1996): La vie paysanne en Bretagne centrale sous l’Ancien Régime. Spézet. den die Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur sowie Marx, K. (1846): Marx-Engels-Werke, Bd. 27. Berlin. die Kulturlandschaften Großbritanniens unumkehrbar McCusker, J. (Hrsg.) (1985): History of World Trade since 1450, verändert wurden. Bd. I. Detroit u. a. Mintz, S. W. (2007): Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers. Frankfurt/New York., 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte 65 3

Erfindungen und Weiterent- auf die Spinnmaschinen und Webstühle übertragen

wicklungen im Produktionsprozess wurden. Aus geographischer Perspektive bedeutete die Ab - hängigkeit von Wasser, dass geeignete Standorte für Zudem ist die Bezeichnung „Revolution“ irreführend, T extilfabriken hauptsächlich an den Mittelläufen von da die Industrialisierung Großbritanniens nicht mit Flüssen zu finden waren. Denn nur dort waren sowohl einem Umsturz begann. Den Anfang des Industriezeit- das Gefälle als auch die Wassermengen so groß, dass ein alters markieren vielmehr einige wenige, aber entschei- einigermaßen kontinuierlicher Betrieb der Maschinen dende technische Innovationen in wirtschaftlichen gewährleistet war. Die Fabriken neigten daher nicht zur Schlüsselsektoren. Diese Erfindungen bewirkten ein- räumlichen Konzentration, sondern reihten sich entlang schneidende Veränderungen gewerblicher Produktions- von Flüssen auf. So entstanden Spinnereien, Webereien weisen. Davon betroffen waren als Erste die Textil- und und sog. integrated mills, wo sowohl Garne hergestellt als die Montanindustrie. Sie werden daher auch als paläo- auch weiterverarbeitet wurden, hauptsächlich an den technische Industriezweige bezeichnet. Flanken der gefällereichen Penninentälern. Als Roh- Ein sektorenübergreifendes Merkmal der Industriali- stoffe dienten Wolle und Baumwolle. Östlich der Penni- sierung ist die Ablösung der Handarbeit durch Maschi- nen, im Gebiet von Leeds, Bradford und Wakefield, nenarbeit. Die Einführung der Maschinenarbeit im letz- wurde überwiegend Wolle verarbeitet, während sich ten Drittel des 18. Jahrhunderts war an die Entstehung westlich der Penninen, in Manchester und seinem des Fabriksystems gekoppelt. In den Fabriken wurden Umland, die industrielle Verarbeitung von Baumwolle unter Einsatz von Energie und Maschinen standardi- etablierte. sierte Güter für Massenmärkte produziert. Ein wesentli- ches Kennzeichen der industriellen Herstellungsweise war die systematische Zergliederung von Arbeit in ein- Baumwollindustrie zelne Produktionsschritte. In der Automobilindustrie wurde dieses Prinzip später perfektioniert. In Anleh- Dort, im Südosten von Lancashire, entwickelte sich die nung an den Fahrzeughersteller Ford, der als erstes Baumwollindustrie zum wichtigsten Zweig der Textilin- Unternehmen in der frühen Zwischenkriegszeit die dustrie. Im Gegensatz zur Wollverarbeitung, die sich nur Fließbandtechnik einführte, hat sich hierfür der Begriff langsam aus dem traditionellen Verlagssystem herauszu- „Fordismus“ etabliert. lösen vermocht hatte, fehlte der Baumwollindustrie des Die monotonen Arbeitsabläufe in den Fabriken ver- 18. Jahrhunderts ein auf manueller Verarbeitung ruhen- langten den Arbeitern viel ab. Jahrhundertelang hatten des Fundament. Denn Baumwolle war ein Rohstoff, der sie auf dem Land im Einklang mit der Natur gelebt. Die erst im Kolonialzeitalter nach Großbritannien einge- Jahreszeiten und die individuellen Bedürfnisse hatten führt wurde. Dies hatte den Vorteil, dass sich technische ihren Lebens- und Arbeitsrhythmus vorgegeben. Die Innovationen und fabrikmäßige Formen der Verarbei- Fabrik muss für diese Menschen eine völlig neue, mit- tung von Baumwolle leichter als bei der Verarbeitung unter sogar beängstigende Welt dargestellt haben. In ihr von Wolle durchsetzen ließen. gab der Takt der Maschinen die Produktionsschritte und Im Südosten von Lancashire trafen zwei Gunstfakto- Arbeitsabläufe vor, denen sich die Arbeiter bedingungs- ren zusammen. Erstens liegt der Großraum Manchester los unterzuordnen hatten. Auch das pünktliche Erschei- im Hinterland des damals wichtigsten Einfuhrhafens für nen an Arbeitsplätzen und das minutiöse Einhalten von Baumwolle, Liverpool. Zweitens ist dieses Gebiet reich Pausen müssen für sie eine ungewohnte und nicht an Fließgewässern, die sowohl als Energielieferanten von immer angenehme Erfahrung dargestellt haben. Bedeutung waren als auch für das Walken und Färben, Für den Betrieb der Maschinen waren allerdings nachgelagerte Fertigungsstufen bei der Tuchherstellung, nicht nur menschliche Arbeitskräfte notwendig, son- benötigt wurden. dern es musste auch Energie verfügbar sein. Dies galt Die Konzentration der Baumwollverarbeitung in insbesondere für die Textilindustrie. Zu Beginn der Südostlancashire hatte zur Folge, dass in diesem In- Industriellen Revolution, in den letzten Jahrzehnten des dustriegebiet wichtige Innovationen der Spinn- und 18. Jahrhunderts, wurde die benötigte Energie aus der Webmaschinentechnik erfolgten. Wegweisend war die Fließkraft von Wasser bezogen. Wasser trieb auf unter- Erfindung der ersten Maschine zum Verspinnen von schiedliche Weise Wasserräder an; die Wassermenge Baumwolle zu Garn, Hargreaves’ Spinning Jenny (1764). und die Fließgeschwindigkeit des Wassers bestimmten Sie wurde durch Arkwright (1769) zur Waterframe und die Leistung der Wasserräder, deren Drehbewegungen durch Crompton zur Spinning Mule (1775) weiterent- über Transmissionsriemen und mechanische Getriebe wickelt (Abb. 3.33). Vor allem die Mule ermöglichte die, 3 66 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.33 Waterframe-Spinn- maschine. Die Maschine befindet sich im Museum of Science and Industry in Manchester. Quelle: Zehner 2008. Herstellung von Garnen hoher Festigkeit und Qualität. Die Dampfmaschine hingegen garantierte entweder Durch die rasche Verbreitung von Mules nahm die als Wasserpumpe oder als direktes Antriebsaggregat die Garnherstellung sprunghaft zu. Alleine zwischen 1764 regelmäßige und gleichförmige Lieferung von Energie. und 1794 stieg die Garnmenge um das 30-fache an. Die- Zum kritischen Standortfaktor wurde nun die Verfüg- ser Überschuss konnte zunächst nicht zeitnah weiterver- barkeit preiswerter Kohle, so dass ab ca. 1800 neue arbeitet werden, da die Kapazitäten der noch manuell Fabriken nicht mehr in Flusstälern, sondern auf Kohle- betriebenen Webstühle bei weitem nicht ausreichten. feldern errichtet wurden. Erst mit Cartwrights Erfindung des durch Wasserkraft Die Baumwollindustrie war allerdings nicht der angetriebenen Webstuhles, des Power Loom (1785), einzige Industriezweig, der von der Basisinnovation wurde dieser Engpass überwunden. Dampfmaschine profitierte. Nachdem sie schon viele Sowohl Spinnmaschinen als auch Webstühle wurden Jahrzehnte im Bergbau zum Abpumpen von Gruben- bis ins späte 18. Jahrhundert von Wasserkraft angetrie- wasser eingesetzt worden war, hielt die Dampfmaschine ben. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Einzug allmählich die Dampfmaschine als Antriebsaggregat in nahezu allen Industriezweigen. Von ihr profitierten durch. Die meisten Dampfmaschinen wurden ebenfalls neben Spinnereien, Webereien und Walkmühlen auch im Großraum Manchester fabriziert, so dass sich der Schmieden, Gießereien, Hammerwerke, Töpfereien, Maschinenbau neben Spinnerei und Weberei zu einer Glaswerke, Mühlen, Brauereien und Destillerien. dritten industriellen Säule der Wirtschaft in Südostlan- cashire entwickelte. Eisen- und Stahlindustrie Basisinnovation Dampfmaschine Neben der Textilindustrie und der Dampfmaschine ent- wickelte sich die Eisen- und Stahlindustrie zum dritten Hintergrund der Verbreitung von Dampfmaschinen zu Eckpfeiler der Industriellen Revolution. Die Vorläufer Beginn des 19. Jahrhunderts (Newcomen 1709, Boulton dieser Industrie, kleine Eisenschmelzen, die mit Holz- und Watt 1776) war ihre größere Zuverlässigkeit bei der kohle befeuert wurden, waren in der vorindustriellen Energiegewinnung. Es hatte sich mittlerweile gezeigt, Zeit noch an waldreiche Gebiete gebunden gewesen. dass die Wasserführung der Flüsse in manchen Jahren Erst nachdem es zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelun- beträchtlich schwankte. Längere Trockenphasen wäh- gen war, aus Steinkohle Koks herzustellen, ging die rend der thirsty season im Sommer oder Eisgang im B indung von Eisenschmelzen an waldreiche Regionen Winter konnten sogar zu mehrwöchigen Produktions- verloren. Koks ersetzte nun die Holzkohle und revolu- ausfällen führen. tionierte die Produktionsweise von Eisen grundlegend., 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte 67 3 Abb. 3.34 Die Textilfabrik des Fabri- kanten Samuel Greg, Quarry Bank Mill, am River Bollin ist ein typisches Beispiel für die flussorientierte Lage der ersten mills. Ihre Spinnmaschinen und Web- stühle wurden ausschließlich von W asserkraft angetrieben. Erst um 1800 wurde Wasserkraft durch die Dampfmaschine ersetzt. Quelle: Zehner. Die eisenschaffende Industrie fand fortan in den Kohle- Rolle ein und gab sie nach dem Ersten Weltkrieg schließ- revieren die besten Standortvoraussetzungen. lich an die USA ab. Wesentliche Impulse für die Eisen- und Stahlin - dustrie gingen von Coalbrookdale, einer kleinen Stadt Weitere Voraussetzungen am Severn in den westlichen Midlands, aus (Abschnitt 3.6). Coalbrookdale war Heimat der Unternehmerfami- der Industriellen Revolution lie Darby. Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts gelangen Abraham Darby, seinem Sohn und seinem Enkel Allerdings waren die technischen Erfindungen nicht wesentliche Durchbrüche bei der Herstellung von Eisen die einzigen Triebfedern der Industriellen Revolution. und Stahl. Ihre Qualität verbesserte sich zunehmend, Sie war vielmehr das Ergebnis eines reibungsarmen und beide Produkte wurden billiger. Der Preisverfall von Ineinandergreifens sehr unterschiedlicher Einflussfakto- Eisen und Stahl stimulierte wiederum die Investitions- ren. Diese Faktoren haben nicht nur einzeln den Indus- güterindustrie, insbesondere den Maschinenbau. Preis- trialisierungsprozess begünstigt, sondern sie haben sich werte und qualitativ hochwertige Stähle begünstigten zum Teil auch gegenseitig verstärkt. Ohne diese Syner- auch den Ausbau des binnenländischen Schienennetzes gien wären sowohl der Industrialisierungsprozess als in Großbritannien ab ca. 1840. Die Entwicklung der Ver- auch die gesellschaftlichen Veränderungen moderater kehrsinfrastruktur verbesserte die Qualität der Güter- verlaufen. Es ist aus heutiger Sicht schwierig, wenn nicht verkehre. Rohstoffe kamen mit der Eisenbahn noch gar unmöglich, diese Faktoren gemäß ihrer Bedeutung schneller und in größeren Stückzahlen zu den Fabriken, zu gewichten. Deshalb werden sie im Folgenden gleich- während die Fertigwaren per Eisenbahn zügig in die berechtigt aufgeführt und erörtert. Wirtschaftszentren gelangten. Es waren insbesondere die Erfolge und Durchbrüche in der Montanindustrie, die Großbritannien eine deutli- Kapitalakkumulation che wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt sicher- ten. Der Entwicklungsvorsprung, den Großbritannien Eine wichtige allgemeine Voraussetzung für den frühen gegenüber anderen europäischen Nationen und Ame- Eintritt in das Industriezeitalter war der Aufstieg Groß- rika besaß, wurde auf der ersten Weltausstellung 1851 in britanniens zur führenden Kolonialmacht in Europa. London für jeden sichtbar. Diese Ausstellung festigte für Sowohl militärisch als auch wirtschaftlich übernahm mehrere Jahrzehnte den Ruf Großbritanniens als „Werk- Großbritannien im 18. Jahrhundert die dominierende statt der Welt“. Erst als sich das viktorianische Zeitalter Rolle in der Welt. Als Kolonialmacht setzte es sich gegen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert seinem seine Konkurrenten Spanien, die Niederlande und Ende zuneigte, büßte Großbritannien seine führende Frankreich entscheidend durch und erweiterte sein, 3 68 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Kolonialreich zum British Empire. Das Britische Welt- reich bildete ein geschlossenes Handels- und Verwal- tungssystem, das den Zufluss wichtiger Rohstoffe nach Großbritannien sicherstellte und gleichzeitig einen alle Kontinente erfassenden Absatzmarkt für britische Pro- dukte darstellte. Durch den globalen Handel wurden im 18. und 19. Jahrhundert in Großbritannien große Kapitalmengen akkumuliert. Allerdings beruhten die Grundlagen des wirtschaftlichen und finanziellen Vorsprungs, den sich Großbritannien in dieser Epoche verschaffte, auf der Ausbeutung von Sklaven und Kolonien. Insbesondere der Dreieckshandel hatte neben dem Adel eine neue wohlhabende Schicht von Bankiers, Schiffseignern und Händlern hervorgebracht, die nach lukrativen Anlage- möglichkeiten für ihr Kapital suchten. Bergwerke und Fabriken boten sich dieser neuen Unternehmerschicht als lohnende Renditeobjekte an. Umgekehrt erforderte der Aufbau einer leistungsfähigen Industrie größeren Zuschnitts die Investition großer Kapitalmengen. Dieses Kapital und die Bereitschaft, es in neue Bergbau- und Industrieprojekte zu investieren, waren in Großbritan- nien vorhanden. Abb. 3.35 Den Turm des Rathauses von Manchester ziert das Modell einer Baumwollkapsel. Sie ist Ausdruck der Bedeutung, den die Verarbeitung von Baumwolle für die Entwicklung der Rohstoffe Stadt im 19. Jahrhundert erlangte. Quelle: Wikipedia, Juliux 2008. Baumwolle, Zucker und Tabak Ein weiterer Faktor, der den Prozess der Industriellen Revolution begünstigte, war die Verfügbarkeit wichtiger Rohstoffe. Einige Rohstoffe, vor allem Steinkohle und chester und seinen Randstädten. Begünstigt durch hohe Eisenerz, waren in hinreichender Menge im eigenen Einfuhrzölle auf importierte Baumwolltuche aus Indien Land vorhanden. konnte sich die Baumwollindustrie im Nordwesten Eng- Andere Rohstoffe mussten dagegen aus den Kolonien lands ungehindert entfalten. Innerhalb weniger Jahr- eingeführt werden. Das wichtigste Importgut, Baum- zehnte festigte Manchester seine Rolle als führendes wolle, kam aus dem ehemaligen Cottonbelt im Südosten Zentrum der britischen Baumwollverarbeitung, was der USA und – in geringerer Menge – aus Ägypten. der Stadt im Übrigen den Spitznamen Cottonopolis Während des 19. Jahrhunderts stieg die Einfuhrmenge bescherte (Abb. 3.35). von Rohbaumwolle von 56 Mio. Pfund auf 2 Mrd. Neben der Baumwolle entwickelten sich auch Roh- Pfund, wobei mehr als 80 % der Baumwolle aus Nord- zucker und Tabak zu wichtigen Importgütern. Ihre amerika stammten. Weiterverarbeitung hatte zwar nur indirekt mit der Zum wichtigsten Einfuhrhafen für Rohbaumwolle Industriellen Revolution zu tun. Allerdings ließ die entwickelte sich Liverpool. Entscheidend für den Auf- Zunahme der Bevölkerung die Nachfrage nach Nah- stieg Liverpools war seine Lage an der britischen Gegen- rungs- und Genussmitteln ansteigen. Bedingt durch die küste Nordamerikas. Gegenüber London und anderen Verstädterung und sinkende Preise für Konsumgüter Häfen an der englischen Südküste profitierte Liverpool und Nahrungsmittel bildeten sich neue Lebensstile und von dem Vorteil, dass die Transatlantikpassagen an die Konsumgewohnheiten breiterer Bevölkerungsschichten britische Westküste deutlich weniger Zeit in Anspruch heraus, so dass der Verbrauch von Zucker, Tee, Kaffee nahmen. Zudem traf die napoleonische Kontinental- und Tabak stark zunahm. Im Übrigen gelangten auch sperre Liverpool nicht. Zucker und Tabak überwiegend via Liverpool nach Eng- Von Liverpool aus gelangte die Rohbaumwolle über land. In Liverpool entstand die bedeutendste Zuckerraf- den Mersey und über Kanäle, ab den 1830er Jahren auch finerie Großbritanniens, Tate & Lyle, sowie das weltweit verstärkt per Eisenbahn, zu den Textilfabriken in Man- größte Dock zur Lagerung von Tabak, das Stanley Dock., 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte 69 3 Kohle und Eisenerz lution, die der Industriellen Revolution einige Jahr- Kohle und Eisenerz waren dagegen im eigenen Land in zehnte vorausgeeilt war, viele Arbeitskräfte in ländlichen ausreichender Menge vorhanden. Mit Beginn des 19. Gebieten freigesetzt worden waren. Dieses ländliche Jahrhunderts wurde die britische Industrie nahezu voll- Proletariat bildete das entscheidende Reservoir, aus dem ständig abhängig von Steinkohle. Des Weiteren wurde sich die Fabrikarbeiterschaft der britischen Industrie- Kohle zu einem wichtigen Energieträger im Verkehrs- und Bergbaureviere speiste. sektor. Mit Kohle wurden Eisenbahnen, Dampfschiffe Die Not der durch Landreformen ihrer Existenz be- und Schleusen betrieben. Zudem wurde Kohle zu raubten Kleinbauern und der landlosen Bevölkerung einem wichtigen Rohstoff für die chemische Industrie. war so groß, dass sie ohne weiteres zur Abwanderung in Schließlich erwies sich Steinkohle auch als ein wichti- die aufkeimenden Industriestädte bereit waren. Die ges Exp ortgut. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges rasche Bevölkerungszunahme der Industriestädte Mittel- wurde knapp ein Drittel der jährlichen Produktion und Nordenglands war im Wesentlichen das Ergebnis exportiert. regionaler Zuwanderungen. Besonders starke Zuge- Der Bergbau war zunächst an die Ausstrichzonen winne verzeichneten die Textilindustriegebiete in Lan- der Kohleflöze gebunden. Die Förderung von Stein- cashire und Yorkshire, die Zentren der Eisen- und Stahl- kohle verteilte sich zu Beginn des Industriezeitalters auf verarbeitung in den westlichen und östlichen Midlands 17 Reviere. Von diesen entfielen vier auf Schottland, wo sowie im südlichen Yorkshire und die Bergbaureviere in sich der Kohleabbau auf die mittelschottische Senke Südwales und Nordostengland. konzentrierte, und zwei auf Wales. Das größere der bei- Neben den Industriestädten profitierte noch ein ganz den walisischen Reviere lag im Süden, das kleinere im anderer Stadttyp von der Industriellen Revolution, Norden, westlich der Deesmündung. Die englischen nämlich das Seebad. Die Einführung organisierter Reviere befanden sich im Wesentlichen beiderseits der Arbeiterreisen durch Thomas Cook im Jahre 1841 und Penninen. Räumliche Schwerpunkte bildeten die Re - der Bau neuer Bahnlinien von London, Manchester und viere von Nottingham und Südyorkshire sowie das anderen Großstädten an attraktive Küstenabschnitte nordostenglische Kohlerevier (Abb. 3.36). Kleinere Fel- wirkten stimulierend auf die Entwicklung von Badeor- der existierten im südlichen England, in Kent und ten. Blackpool, Scarborough oder Brighton sind diesbe- Somerset. züglich die renommiertesten Beispiele und verkörpern Für die eisenschaffende Industrie waren regionale noch heute mit ihren Piers und Vergnügungseinrichtun- Eisenerzlagerstätten von großer Bedeutung. Während zu gen auf anschauliche Weise den Typ des viktorianischen Beginn des Industriezeitalters der Sussex Weald und der englischen Seebades. Forest of Dean die wichtigsten Fördergebiete waren, ver- lagerte sich der Erzabbau im frühen 19. Jahrhundert auf die Reviere in Südwales, Staffordshire und in der mittel- Liberales Milieu und Wirtschaftsethik schottischen Senke, wo Eisenerzbänder gemeinsam mit Kohleflözen (coal measures) auftraten. Mit der allmäh- Der Aufstieg Großbritanniens zur weltweit bedeutends- lichen Erschöpfung dieser Vorräte gegen Ende des 19. ten Industriemacht wurde auch durch unternehmer- Jahrhunderts konzentrierte sich die Eisenerzförderung freundliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen be - auf die mesozoischen Lagerstätten im Bereich der Jura- günstigt. Vor allem während der zweiten Hälfte des 18. stufe. Teesside, Nordlincolnshire und Northampton- Jahrhunderts hatte sich ein gesellschaftliches Milieu her- shire entwickelten sich in der Zwischenkriegszeit zu den ausgebildet, das Kreativität und freies Unternehmertum wichtigsten Erzrevieren Großbritanniens. begünstigte. Davon profitierten vor allem nach Reich- tum, politischer Macht und gesellschaftlicher Anerken- nung strebende Industrielle, die überwiegend aus den Arbeitskräfte Lagern nonkonformistischer Protestanten stammten. Zu den bedeutendsten Gruppen zählten Baptisten, Pres- Neben Kohle und Erzen bildete auch Verfügbarkeit byterianer, Quäker und Methodisten. Die Säulen ihrer preiswerter Arbeitskräfte eine wesentliche Vorausset- Wirtschaftsethik waren Entbehrung, Fleiß und harte zung für die Industrielle Revolution. In den neuen Arbeit. Dies sind im Übrigen jene Werte, die auch später Fabriken und Bergwerken wurden dringend Arbeits- in Angloamerika zur Ausbildung der WASP-Kultur kräfte gebraucht, die zunächst in den betreffenden Städ- führten (WASP: White Anglo-Saxon Protestants). ten nicht zur Verfügung standen. Aus makroökonomi- Die selbst auferlegten Zwänge ließen Unternehmer scher Perspektive kann es daher als eine glückliche und Industrielle unermüdlich über Verbesserungen von Fügung betrachtet werden, dass im Zuge der Agrarrevo- technischen Lösungen und Arbeitsabläufen sowie über, 3 70 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen Abb. 3.36 Historische Steinkohlereviere und Eisenerzlagerstätten im Industriezeitalter. Die hier dargestellten Fördergebiete von Steinkohle sind mittlerweile ausgekohlt. Der Bergbau konzentriert sich heute auf nur fünf Zechen in Yorkshire, Nottinghamshire und Warwickshire. Quelle: Zehner, leicht verändert nach Stamp und Beaver 1971, S. 283 und 382., 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte 71 3 Fragen der Kostenminimierung von Produktionspro - ten vor allem zu Verbesserungen des Postwesens und des zessen nachdenken. In einem politischen Milieu von Personenverkehrs. Den Gütertransport beeinflussten sie L aisser-faire und Deregulierung konnten sie die Ergeb- dagegen kaum. Dieser verbesserte sich erst grundlegend nisse ihrer Überlegungen stets direkt und uneinge- mit dem Ausbau von Flüssen und dem Bau von Kanälen. schränkt in ihren Fabriken umsetzen. Allerdings bedeu- Zwischen 1760 und 1830 entstand in Großbritannien tete die unternehmerfreundliche politische Kultur auch, ein leistungsfähiges Kanalnetz, das die Länge der schiff- dass Arbeitern nur wenige Rechte eingeräumt wurden, baren Wasserwege auf 4 000 Meilen erweiterte. Erst die sie keine politischen Vertretungen besaßen und ihnen Erfindung der Eisenbahn und die ab Mitte der 1830er bis in die 1860er Jahre das Wahlrecht verwehrt blieb. Mit Jahre erfolgende Ausbreitung des Schienennetzes setzten anderen Worten: Die Arbeiter in britischen Fabriken dem Kanalbau ein Ende (Abschnitt 3.5) wurden rigoros ausgebeutet. Manche kritischen Zeitge- nossen verglichen ihre Lebenssituation sogar mit jener der Plantagenarbeiter in der Karibik. Die Auswirkungen Zum Regime der Ausbeutung zählte auch Kinder- der Industriellen Revolution arbeit. Kinder wurden sowohl in der Textilindustrie als auch im Bergbau für Hilfstätigkeiten eingesetzt. In den auf die Entwicklung von Städten Spinnereien etwa bestand ihre Aufgabe darin, gerissene Fäden zusammenzuknüpfen, während sie unter Tage Die Industrielle Revolution Großbritanniens führte zu Stollen verriegelnde Tore öffnen und wieder schließen einer Umverteilung wirtschaftlicher Aktiv- und Passiv- mussten, wenn Kohle auf Waggons abtransportiert räume. Der einst reiche Süden des Landes der durch wurde. Ihre Arbeit war preiswert, und sie waren leichter wohlhabende Grafschaftsstädte und eine solide, auf als Erwachsene zu reglementieren. In vielen Spinnereien Landwirtschaft und Handwerk fußende Wirtschafts- betrug der Anteil der Kinderarbeiter an der Wende vom struktur geprägt war, büßte innerhalb weniger Jahr- 18. zum 19. Jahrhundert mehr als 50 %. Kinder durften zehnte seine wirtschaftliche Vormachtstellung ein, wäh- schon mit sechs Jahren in Fabriken und unter Tage rend die rapide wachsenden Industriestädte Mittel- und arbeiten. Ihr Arbeitstag betrug oft 13 bis 15 Stunden an Nordenglands zu neuen wirtschaftlichen Aktivräumen sechs Tagen in der Woche, das ganze Jahr hindurch. Erst Großbritanniens aufstiegen. 1833 kam es zu einer Begrenzung der Arbeitszeit von Die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in den Kindern und Jugendlichen. Städten und der Wegfall landwirtschaftlicher Arbeits- plätze hatten in den Bergbau- und Industrierevieren Großbritanniens einen massiven Verstädterungsprozess Verkehr und Märkte in Gang gesetzt. Allerdings waren die Verwaltungen der einst kleinen Marktorte, die in den Sog der Industriellen Eine wesentliche Voraussetzung für den Transport von Revolution gerieten, auf die Probleme, mit denen sie Rohstoffen zu den Fabriken und den Abtransport der sich plötzlich konfrontiert sahen, nicht im entferntes- Fertigwaren von den Fabriken zu den städtischen Märk- ten vorbereitet. Ihre Städte entwickelten sich in den ten und Häfen war eine leistungsfähige binnenländische ersten Jahrzehnten des Industriezeitalters zu ordnungs- Verkehrsinfrastruktur. Allerdings befanden sich die los wuchernden Industriesiedlungen, für die sich die meisten Landwege noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts Bezeichnung shock cities zu Recht durchgesetzt hat. in einem völlig desolaten Zustand, der den Anforderun- gen des allmählich heraufziehenden Industriezeitalters in keinster Weise entsprach. Die Folge war, dass wichtige Überbauung der Altstädte Wirtschaftsgüter trotz geringer Landentfernungen über See transportiert werden mussten. So gelangte beispiels- Die in die Städte strömenden Arbeiter benötigten wegen weise Getreide aus Hampshire und Sussex über den See- der ungeregelten Arbeitszeiten zentral gelegene und weg nach London. Gleiches galt für Kohle aus dem wegen ihrer geringen Löhne vor allem preiswerte Unter- nordostenglischen Newcastle. Sie wurde mit Seeschiffen künfte. Um diesem Bedarf entsprechen zu können, wur- längs der ostenglischen Küste und über die Themse nach den in den Stadtkernen zunächst noch vorhandene freie London gebracht (Abschnitt 3.5). Flächen auf Hinterhöfen und in Gärten überbaut. Den- Dem Manko einer leistungsschwachen Verkehrsin- noch war die Nachfrage größer als das Angebot, so dass frastruktur setzte der Staat zunächst ein von privaten jeder verfügbare Wohnraum, unabhängig von seiner Akteuren aufgebautes Netz gebührenpflichtiger Straßen, Qualität, vermietet wurde. Dazu zählten auch Dachge- die Turnpike Roads, entgegen. Die neuen Straßen führ- schosse und Kellerräume. In Liverpool etwa lebten um, 3 72 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen 1840 ca. 39 000 Menschen zusammengepfercht in ca. Allerdings degenerierten die Back-to-Back-Quartiere 7 800 Kellerräumen. innerhalb kurzer Zeit zu Slums, die durch erhebliche Die hohen Bevölkerungsdichten, vor allem aber Umw eltbelastungen beeinflusst wurden. Es gab keine mangelnde Hygiene und Umweltverschmutzung, führ- Müllabfuhr, Abfälle warf man in eine offene Grube im ten zur Ausbreitung von Krankheiten und Epidemien. Hinterhof, um sie dort zu verbrennen. Ebenso fehlte Die katastrophale Wohnungssituation in den britischen eine Kanalisation, Abwässer wurden offen in die Seiten- Industriestädten um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird gosse eingeleitet. In den Hinterhöfen befanden sich auch durch die geringe Lebenserwartung der damaligen die Latrinen, die sich oftmals mehr als 30 Parteien teilen Stadtbewohner auf bedrückende Weise widergespiegelt. mussten, so dass Back-to-Back-Quartiere zu Brutstätten So betrug 1843 das Durchschnittsalter der Gestorbenen für Seuchen und Epidemien wurden. in Liverpool 26 Jahre. In Sheffield und Manchester wur- den die Menschen im Mittel nur 24 Jahre alt, und in Leeds erreichten sie ein Lebensalter von nur 21 Jahren. „Today these houses seem cosy enough. They have had inside toilets and bathrooms installed. When they were built Back-to-Back-Quartiere they had no such luxuries. You either used a portable toilet Als es gegen Mitte der 1930er Jahre in den Altstädten inside the house, which had to be carried out of the front keinen Raum mehr für weitere Expansionen gab, setzte door to be emptied, or you walked down the street to the ein starkes Wachstum der Städte an den Rändern ein. shared public toilets. The disadvantage of the toilet block Vorangetrieben wurde der Ausbau durch Fabrikbesit- was that you might have to queue and everyone in the zer, die am Rande der Altstädte ihre Werke gründeten street would have to know when you needed to go“ (Dim- und unmittelbar an das Fabrikgelände grenzend Sied- bleby 2007, S. 190). lungen für ihre Arbeiter bauen ließen. Zum dominan- ten Haustyp entwickelte sich das Back-to-Back-Rei- henhaus. Engständige Zeilen von Back-to-Back-Häu- Erst gegen Ende der 1860er Jahre hatte sich in allen Ge- sern gewährleisteten, dass in geringer Entfernung zu sellschaftsschichten ein Bewusstsein für die negativen den Fabriken eine große Zahl von Familien unterge- Auswirkungen, die von dieser Form des Städtebaus aus- bracht werden konnte. gingen, gebildet. Die Unternehmer hatten mittlerweile realisiert, dass sich die sozialen Missstände auch negativ auf die Arbeitsproduktivität in ihren Fabriken auswirk- „Das ‚back-to-back‘-Haus ist ein an der Firstlinie zus am- ten. men gebautes Doppelhaus. Die beiden Häuser stehen also Rücken an Rücken (‚back-to-back‘), was Querlüftung a priori Der gesellschaftliche Druck auf die politischen Ent- ausschließt. Allerdings hatten selbst die Reihen aus halben scheidungsträger nahm auf breiter Front zu. Die Beden- Doppelhäusern [‚half-backs‘ oder ‚blind-backs‘; Anmerkung ken und Klagen der Bevölkerung schlugen sich schließ- des Autors], mit denen man sehr schmale Parzellen oder lich in der Gesetzgebung nieder. Gegen Ende der 1860er sonstige Restgrundstücke besetzte, ursprünglich keine bzw. zu Beginn der 1870er Jahre revolutionierten neue Querlüftung. Die ‚back-to-backs‘ kommen ausschließlich im Gesetze den Städtebau grundlegend. So räumten die Reihenbau vor … Die Reihen stehen unmittelbar an der Torrens Acts (1868) den Kommunen das Recht ein, von Straße. Die rückwärtigen Häuser sind, je nach der Flächen- den Eigentümern unzureichend ausgestatteter Altstadt- gliederung, entweder von einer Parallelstraße oder von und Back-to-Back-Häuser entsprechende Sanierungen einem Hof aus zugängig, den man durch eine offene oder zu verlangen. Kamen die Eigentümer diesen Aufforde- eingebaute Passage erreicht. Die Haustür führt sofort in die Wohnküche, von der eine schmale gewendelte Stiege nach rungen nicht nach, durften die Kommunen den Abriss oben geht. Denn die Wohnung besteht aus 2 bis 2½, selten der Häuser anordnen. 1871 wurde der Local Govern- 3 übereinander gestellten, quadratischen Räumen von ment Act verabschiedet, der den Kommunen weitrei- 14 m2, hat also in jedem Geschoss nur einen Raum. chende Kompetenzen bei der Flächennutzungsplanung Als ihren größten Vorzug boten diese Doppelhäuser jeder zusprach und ihre exekutiven Funktionen stärkte. Ein Familie eine abgeschlossene Wohnung mit separatem Ein- Jahr später verabschiedete das Parlament die Public gang. Die Unterkellerung wurde möglichst gespart – zum Health Acts, die eine umfassende Reorganisation des Vorteil der heutigen Regeneration. … Investitionskonkur- britischen Gesundheitswesens einleiteten. Vor dem Hin - renz und Grundstückspreise drängten auf möglichst inten- tergrund dieser gesetzlichen Reformen erließen Städte sive Flächennutzung, so daß die Bruttowohndichten in Shef- nun strengere Bauvorschriften, denen Back-to-Back- field bis zu 650 E/ha, in anderen Städten, je nach der herrschenden Anordnung der Doppelhäuser, auch höhere Häuser nicht mehr entsprachen. Sie wurden folglich Werte erreichten“ (Leister 1970, S. 47 f.). nicht mehr genehmigt., 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte 73 3 Abb. 3.37 Back-to-Back-Häuser- zeilen in Leeds in den 1950er Jahren. Quelle: Leeds County Council. Bye-Law-Quartiere Vorläufer der Gartenstadt An ihre Stelle trat ab ca. 1872 ein neuer Haustyp, das Zumindest punktuell wurde der Städtebau in England Bye-Law-Haus. Im Gegensatz zu seinem Vorläufer wies auch durch die Ideen und Projekte von Philantropen das Bye-Law-Haus entscheidende Vorzüge auf. Als frei- beeinflusst. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entstan- stehendes Haus war es gegenüber dem Back-to-Back- den zwei humane Industriesiedlungen: Mellor in Lan- Haus wesentlich besser belüftet. Außerdem war es an cashire (1790) und New Lanark im mittelschottischen Wasser- und Gasleitungen sowie an die Kanalisation Clydetal (1800). Es ist aus heutiger Sicht kaum zu ver- angeschlossen. stehen, warum diese Mustersiedlungen von den gesell- Die neue Bauweise hatte aber den Nachteil, dass sich schaftlichen Eliten und politischen Entscheidungsträ- die Bebauungsdichte gegenüber der Back-to-Back- gern damals abgelehnt wurden und mehr als ein halbes Bauweise um ein Drittel bis um die Hälfte reduzierte. Jahrhundert keine Nachahmer fanden. Dies bedeutete, dass die bebauten Flächen der Städte Erst Sir Titus Salt, ein Textilfabrikant aus Bradford, schnell zunahmen und Eingemeindungen notwendig griff das Konzept der humanen Arbeitersiedlung 1853 wurden. wieder auf. Im Tal des River Aire ließ er eine Textilfabrik Abb. 3.38 Bye-Law-Häuser in den Potteries (Stoke-on-Trent). Quelle: Zehner 2000., 3 74 3 Von der Natur- zur Kulturlandschaft – der Mensch als N utzer und Gestalter von Räumen

Die Mustersiedlung New Lanark

Das Dorf New Lanark wurde 1785 von David Dale als völlig seiner Fabrik arbeiten: Er richtete für das Dorf fortschritt- neue Industriesiedlung gegründet. Die Baumwollspinnereien liche Schulen in einem Gebäude ein, das als Institute for the (mit Wasserantrieb durch den Clyde) und Mietwohnungen Formation of Character („Charakterbildungsinstitut“) be - für die Arbeitskräfte wurden aus örtlich vorkommendem kannt wurde. Außerdem führte er die erste Kleinkindschule Sandstein errichtet. Im Jahre 1820 hatte die Einwohnerzahl der Welt sowie eine Abendschule ein. Es wurde großer Wert des Dorfes ca. 2 500 erreicht, und New Lanark war damals auf musikalische Aktivitäten gelegt, wie auch auf Kunst, das größte Baumwollfabrikationszentrum im Lande. Heute naturwissenschaftliche Studien, Geschichte und Geogra- ist es eine populäre Sehenswürdigkeit für Touristen. phie, Lesen, Schreiben und Rechnen. Strafen waren nicht Unter der weitblickenden Leitung von David Dales zulässig. Darüber hinaus konnten die Dorfbewohner kosten- Schwiegersohn Robert Owen wurde New Lanark zwischen los ärztliche Versorgung sowie einen Krankheitsfonds in 1800 und 1825 als Mustergemeinschaft berühmt. Owen Anspruch nehmen. Es gab auch eine Sparkasse. Die Arbeits- machte sich daran, das Geschäft weiter zu verbessern und stunden wurden reduziert, und im Dorfladen gab es Nah- zu expandieren. Mit dem Gewinn finanzierte er eine Reihe rungsmittel und Haushaltwaren zu niedrigen Preisen von Sozial- und Bildungsreformen zur Verbesserung der (http://www.newlanark.org). Lebensqualität seiner Arbeiter. Kleine Kinder durften nicht in und eine Siedlung für die 3 000 Fabrikarbeiter und ihre erst nach den bereits genannten Gesetzesreformen zu Angehörigen errichten. Die Fabrik wurde nach den Beginn der 1870er Jahre. Erst jetzt erfuhr die humane damals fortschrittlichsten sozialen und sanitären Grund- Seite des Städtebaus eine größere gesellschaftliche sätzen gebaut. Neben den Wohnhäusern der Arbeiter Akzeptanz. Viel größere Beachtung als Saltaire wurde entstanden zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen, zu den Mustersiedlungen Bournville, die der Schokoladen- denen eine Kirche, eine Schule, eine Parkanlage, ein fabrikant George Cadbury 1879 unweit von Birming- Krankenhaus, Wasch- und Badehäuser, ein Armenhaus, ham errichten ließ, und Port Sunlight, einer Gründung Kleingärten und ein Bildungsinstitut mit Bibliothek, des Seifenherstellers Lord Leverhulme (1888 bei Birken- Leseraum, Konzertsaal und Gymnastikraum zählen. head), entgegengebracht (Abb. 3.40) Trotz ihres Erfolgs blieb auch Saltaire eine Singula- Bournville und Port Sunlight gelten als Vorläufer der rität und fand zunächst keine Nachfolger. Die Einstel- britischen Gartenstadt, deren theoretische Grundlagen lung politischer und wirtschaftlicher Eliten änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts von Ebenezer Howard for- Abb. 3.39 Häuserzeile in Saltaire. Saltaire zählt seit 2001 zum UNESCO- Weltkulturerbe. Quelle: Zehner 2000., 3.7 Vom Land der Dörfer zur Nation der Städte 75 3 Abb. 3.40 Häuserzeile in Port Sunlight (1888), einem Vorläufer der englischen Gartenstadt. Auffällig ist, dass die Glie- derung und Gestaltung der Fassaden von Haus zu Haus variiert. Die Monoto- nie des Arbeiterwohnungsbaus, die noch typisch für die ältere Mustersied- lung Saltaire gewesen war, wurde in Port Sunlight durchbrochen. Quelle: Zehner 2004. muliert wurden. Es ist zweifellos ein interessantes Detail, Agrarrevolution ihre Existenzgrundlage verloren hatte dass Lord Leverhulme an der Universität Liverpool ein, ein neues Auskommen. einen Lehrstuhl für Stadtplanung stiftete, an dem Wesentliche Impulse erhielt die Industrielle Revolu- Patrick Abercrombie ausgebildet wurde. Abercrombie tion auch durch zu günstigen Bedingungen erhältliche wurde in den 1930er und 1940er Jahren zu einem der Rohstoffe und durch Absatzmöglichkeiten für Industrie- wichtigsten britischen Stadtplaner. Er war maßgeblich produkte im gesamten Britischen Weltreich. Dass die an der raumplanerischen Neuordnung von Groß-Lon- Industrielle Revolution deutlich früher als in anderen don beteiligt und verhalf dem New-Town-Gedanken zu Teilen Europas stattfand, hing auch mit der frühzeitigen seiner Realisierung. Seine Leistungen für die britische Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur zusammen. Raumplanung verhalfen ihm schließlich 1945 zu einem Aus heutiger Sicht fällt eine Bewertung der Indus- Adelstitel. triellen Revolution ambivalent aus. Einerseits sicherte die frühe Industrialisierung Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg seine Position als Hegemonialmacht,

Fazit

andererseits bedeutete die Industrielle Revolution für die Mehrheit der Bevölkerung, ausgebeutet zu werden Mit der Industriellen Revolution beginnt in Großbritan- und ein Leben in Armut, Krankheit und ohne Perspek- nien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine tive führen zu müssen. Zeit enormer Umbrüche. Diese beziehen sich vorder- gründig auf grundlegende Veränderungen wirtschaft- Weiterführende Literatur licher Strukturen und Produktionsweisen, schließen je - doch einen tief greifenden sozialen und städtebaulichen Beckert, S. (2006): Cotton. In: McCusker, J. (Hrsg.): History of Wandel mit ein. Das Zustandekommen der In dustriellen World Trade since 1450, Bd. I. Detroit u. a., S. 170–173. Revolution lässt sich nur durch das Zu sam menwirken Conzen, M. R. G. (1952): Geographie und Landesplanung in wirtschaftlicher, technischer und sozialer Faktoren er- England (Colloquium Geographicum, Bd. 2). Bonn. klären. Technische Innovationen in Schlüsselindustrien Dimbleby, D. (2007): How We Built Britain. London. führten zur Entstehung standardisierter Produktions- Hoskins, W. G. (1952): The Making of the English Landscape. London. weisen. Diese Innovationen gediehen in einem Milieu, in Leister, I. (1970): Wachstum und Erneuerung britischer Indus- dem sich Wirtschaftsethik und Kreativität überwiegend triegroßstädte. Wien/Köln/Graz. protestantischer Eliten frei entfalten konnten. Pawson, E. (1979): The Early Industrial Revolution. Batsford. Das Industriezeitalter bescherte der Stadt ein wesent- Stamp, L. D.; Beaver, S. H. (1971): The British Isles. A Geogra- liches neues Element, die Fabrik. Die Arbeit in Fabriken phic and Economic Survey. New York. sicherte der verarmten Landbevölkerung, die durch die Witz, C. (1993): Großbritannien-Ploetz. Freiburg.,

Kapitel 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens

„Für mich ist London die interessanteste, die schönste und die Forschungseinrichtungen, das in dieser Form und Qua- wundervollste Stadt der Welt, zart und zierlich in ihrer beiläu- lität in keiner anderen Stadt Großbritanniens auch nur figen und unübersehbar mannigfaltigen Kleinheit und über- annähernd vorhanden ist. So ist London Standort von wältigend in ihrer trächtigen Gesamtheit …“ (H. G. Wells 40 Universitäten, an denen insgesamt 400 000 Studie- 1911). rende eingeschrieben sind. Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass die britische Hauptstadt einen exzellenten Nährboden für die unterschiedlichs- 4.1 Einführung ten kreativen Milieus darstellt. Schließlich hat London einen offensichtlichen, gleich- wohl nur selten direkt genannten Vorteil gegenüber den Klaus Zehner meisten anderen Weltstädten. Die Muttersprache der Stadt ist Englisch, die wichtigste internationale Sprache, London zählt unbestritten zu den Alpha Global Cities, die heute in der Welt gesprochen wird. d. h. den Weltstädten auf der höchsten Stufe des globa- Im Gegensatz zu New York und Tokio und erst recht len Städtesystems. Diese Städte, zu denen stets New York gegenüber Hongkong und Singapur ist London jedoch und Tokio, mitunter auch Hongkong und Singapur, auch eine alte, von Traditionen geprägte Weltstadt. Die- gerechnet werden, bilden gewissermaßen die Epizentren sen Status besitzt sie seit rund zweieinhalb Jahrhunder- der Weltwirtschaft. Sie sind die wichtigsten Knoten- ten, spätestens aber seit 1795, als durch die spanische punkte des Welthandels und die bedeutendsten Stand- Besetzung der Niederlande Amsterdam seine führende orte der globalen Finanz-, Versicherungs- und Immobi- Position in der Welt einbüßte und sie an London abge- lienwirtschaft. Auch im Hinblick auf Stadtarchitektur, ben musste. Dieser Wechsel war das Resultat einer neuen Kultur, Kunst und Bildung nehmen diese Global Cities globalen Machtverteilung und Weltordnung, aus der höchster Rangstufe eine herausragende Position im zunächst England, später Großbritannien, als Hegemo- weltweiten Städtesystem ein. nialmacht hervorging. Es ist vor allem die angesprochene kulturelle und, eng Von London aus wurde bis zum Ersten Weltkrieg das damit verknüpft, auch ethnische Vielfalt, durch die Lon- britische Weltreich beherrscht und verwaltet, hier wur- don, gemeinsam mit New York, unter den Global Cities den weitreichende, die ganze Welt, zumindest aber das hervorsticht. So ist die britische Hauptstadt Heimat von Empire betreffende militärische, politische und wirt- über 30 ethnischen Gemeinden. Zudem werden mehr schaftliche Entscheidungen getroffen. als 300 Sprachen in London gesprochen, was u. a. die Obwohl also Londons Status als Weltstadt nicht neu einstige Funktion als Hauptstadt des British Empire ist, so hat doch die ökonomische Globalisierung der widerspiegelt. postfordistischen Ära London entscheidende Impulse In Europa ist London das wichtigste Finanzzentrum verliehen. Mit diesem Thema setzt sich Abschnitt 4.2 und zugleich, gemessen an der Bevölkerungszahl, die auseinander. Die Globalisierung hat die städtische Wirt- mit Abstand größte Stadt (Abb. 4.1). Zurzeit leben in schaft der Metropole in den letzten drei Jahrzehnten London 7,6 Mio. Menschen, bei steigender Tendenz. Der massiv verändert. Von besonderer Bedeutung war die große Abstand zur zweitgrößten Stadt des Landes, Bir- Öffnung des Londoner Finanzmarktes in der zweiten mingham (ca. 1 Mio. Einwohner), weist London zudem Hälfte der 1980er Jahre, als sich zahlreiche ausländische als Primatstadt aus. Dieser Status wird untermauert Banken und andere Finanzdienstleister in London durch ein breites und tiefes Angebot an Bildungs- und niederließen. Mit der Stärkung des Bankenwesens nahm, 4 78 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.1 Großbritannien als people powered map. Die außergewöhnliche kartographische Darstellung vermittelt einen Eindruck von der Gestalt, die Großbritannien bekäme, würde man die Flächen der einzelnen Landesteile mit ihrer jeweiligen Bevölkerungszahl gewichten. Quelle: Benjamin Hennig, Worldmapper, University of Sheffield 2009. auch der Sektor der unternehmensbezogenen Dienst- West-Ost-Kontrast ausdrückten. Dieser Unterschied leister, z. B. Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater, beherrschte die Sozialstruktur Londons bis in die ersten Notare, Juristen und EDV-Spezialisten, an Bedeutung Nachkriegsjahrzehnte. Noch in den 1960er Jahren war zu. der Gegensatz zwischen dem vornehmen West End mit Zudem korrespondierte der massive Aufschwung der seinen noblen Stadthäusern, breiten Boulevards und Dienstleistungsökonomie mit einer sich beschleunigen- begrünten Plätzen und den von Hafenwirtschaft, In- den Deindustrialisierung, die tiefe, an manchen Stellen dustrie und Slums geprägten Armenvierteln des East sogar hässliche Spuren in Form von Industriebrachen End unübersehbar. (brownfields), in der Stadt hinterlassen hat. Tiefe soziale Spaltungen der Stadtbevölkerung und Zugleich wirkte sich die Veränderung des städtischen sozialräumliche Kontraste prägen London nach wie vor, Arbeitsmarktes auf die Sozialstruktur der Londoner man muss jedoch genauer hinschauen, um sie wahrzu- Bevölkerung aus. Vor allem die obere Mittelschicht pro- nehmen. Zwar existieren auch gegenwärtig noch immer fitierte von den neuen gut bezahlten Arbeitsplätzen in Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten der der aufstrebenden Dienstleistungswirtschaft. Zugleich Stadt, sowohl im Hinblick auf Einkommen, Bildung als nahm auch der Anteil der in schlecht bezahlten Berufen auch Herkunft der Stadtbewohner. In vielen Fällen sind oder sogar prekären Beschäftigungsverhältnissen arbei- heute allerdings die sozialräumlichen Kontraste inner- tenden Personen überdurchschnittlich zu. Dieser Wan- halb einzelner Stadtteile größer als die zwischen dem del der Sozialstruktur wird ausführlich in Abschnitt 4.3 West und East End. Dies gilt insbesondere für Inner diskutiert. London. Stadtviertel wie Islington, Wandsworth oder Besonderes Augenmerk wird dabei auf die räum- Shadwell, die bis in die frühe Nachkriegszeit überwie- lichen Aspekte des soziostrukturellen Wandels gelegt. gend durch Industrie und Arbeitersiedlungen geprägt Schon im Industriezeitalter war London eine Stadt kras- wurden, sind in den letzten Jahrzehnten beliebte ser sozialer Gegensätze, die sich räumlich in einem Zuzugsgebiete für junge urbane Eliten geworden. Als, 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung 79 4 besonders attraktiv erwiesen sich Grundstücke in der tendsten Städte der Erde. Heute, viereinhalb Jahrzehnte Nähe von Parks oder am Wasser, sei es an der Themse später, ist Halls Einschätzung nicht nur immer noch oder an einem der Hafenbecken. In Wapping beispiels- zutreffend, sondern sogar erheblich zu bekräftigen. weise, einem Stadtteil in Ostlondon, werden für Ufer- Denn London hat sich in den zurückliegenden 44 Jahren parzellen exorbitant hohe Bodenpreise verlangt und von einer traditionellen Weltstadt mit Kontrollfunktio- entsprechende Mieten bezahlt, während nur wenige nen, die im Wesentlichen auf Westeuropa und das Com- Straßenzüge von der Waterfront entfernt kommunale monwealth gerichtet waren, zu einer der drei wichtigs- Mietblöcke anzutreffen sind, in denen marginalisierte ten Global Cities entwickelt. Mit Tokio und New York Bevölkerungsgruppen leben. steht London gegenwärtig auf der obersten Sprosse der Wie bereits angedeutet wurde, lassen sich Kontraste globalen Städtehierarchie. Legt man als Indikator für die innerhalb von Stadtteilen besonders gut im Londoner ökonomische Bedeutung den Schlüsselsektor des Ban- Osten studieren. Nach 200 Jahren wirtschaftlicher ken- und Finanzwesens zugrunde, dann nimmt die bri- Abhängigkeit von Industrie und Hafenwirtschaft erfuhr tische Hauptstadt sogar unangefochten den Spitzenplatz dieses Stadtgebiet erstmals in den 1980er Jahren eine ein. Der wesentliche Grund hierfür ist die starke Globa- neue Belebung. Ausgelöst wurden die Impulse durch lität des Finanzsektors. Auf ihrer Website hebt die City die politisch und in der Öffentlichkeit umstrittene of London Corporation hervor: „While a substantial Umwandlung des stillgelegten Hafengebiets zu einer proportion of New York and Tokyo’s business is domes- Nebencity mit Wolkenkratzern und Luxusappartments. tic in origin, London is pre-emenently an international Die Planung, Entwicklung und Durchführung dieses centre and can be regarded as the only true world cen- weltweit wohl einzigartigen Stadterneuerungsprojektes ter“ (City Research Project 1995, xviii). werden in Abschnitt 4.4 aufgearbeitet. Aus heutiger Sicht hat sich die Londoner Wirtschaft Eine besondere Rolle in der Stadtentwicklungspla- in den 1980er Jahren am stärksten gewandelt. In jenem nung Londons spielen seit etwa drei Jahrzehnten Groß- Jahrzehnt entwickelte sich London vom wichtigsten oder Flaggschiffprojekte. Sie sind einerseits Landmarken politischen und wirtschaftlichen Zentrum Europas und städtebaulicher Erneuerungen, zum anderen wirken sie der – gemessen an der absoluten Zahl der Beschäftigten in die angrenzenden Stadträume hinein, indem sie dort – größten Industriestadt Großbritanniens zu einem weitere Transformationen anstoßen. Das bedeutendste Finanzzentrum von globaler Bedeutung. Dieser Bedeu- Großprojekt wird derzeit im Lea Valley, im Osten Lon- tungszugewinn ist hauptsächlich der sich in dieser dons, durchgeführt. Das Lea Valley wird 2012 Schau- Zeit verstärkenden wirtschaftlichen Globalisierung platz der Olympischen Spiele sein. Welche Bedeutung zuzuschreiben. Eine Folge der Globalisierung war die die Spiele im Vorfeld für London haben und welche Wir- Konzentration globaler Steuerungs- und Kontrollfunk- kungen von ihnen ausgehen können, erörtern Christian tionen in einer kleinen Gruppe von Städten von heraus- Dietsche und Boris Braun in Abschnitt 4.5. ragender Bedeutung, den Global Cities. London zählte von Beginn an zu diesem „erlauchten Kreis“. Obwohl die Hauptstadt Großbritanniens und des 4.2 London im Jahre 2010 – Commonwealth bis in die Gegenwart ein hochrangiges politisches Zentrum geblieben ist, so hatte die Entwick-

Prozesse und Projekte lung Londons zu einer Global City vor allem wirtschaft-

der Stadtentwicklung liche Ursachen. Ab Mitte der 1980er Jahre übernahm die Finanzwirtschaft die Funktion eines Wachstumspols für den Großraum London. Eine genauere Betrachtung des Klaus Zehner Bankensektors, der in der amtlichen Statistik Groß- britanniens unter der schlichten Bezeichnung banking „To me the life of the businessman who eats his breakfast early and finance geführt wird, enthüllt ein ausgesprochen in the morning, catches a train for the city, stays there in the heterogenes Spektrum unterschiedlichster Finanz- dingy, dusty atmosphere of the commercial world, and goes back to his house in the evening, and after supper to sleep, is dienstleistungen. Zu den Akteuren dieses Wirtschafts- worse than the life of the galley slave. His chains are golden sektors zählen Unternehmen aus der Anlagen- und Ver- instead of iron“ (Oscar Wilde 1882). mögensberatung, der Vermögensverwaltung sowie aus dem Kreditkarten- und Emissionsgeschäft. Von dem In seinem wohl bekanntesten Werk The World Cities, das wirtschaftlichen Erfolg dieser Branche profitierte wiede- 1966 veröffentlicht wurde, würdigte der renommierte rum ein spezielles Segment unternehmensbezogener britische Stadtgeograph Sir Peter Hall London als eine Dienstleister, die diesem Sektor zuarbeiten und ihn der wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell bedeu- unterstützen. Dazu zählen im Wesentlichen juristische, 4 80 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Tabelle 4.1 Veränderung des Londoner Arbeitsmarktes zwischen 1981 und 1991 Beschäftigte nach Wirtschaftszweigen Veränderung der Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen 1981–1991 1981 1991 abs. % abs. % abs. % (bezogen % (bezogen auf auf abs. 1981) % 1981) Wirtschaftszweige des primären 57 725 1,6 41 364 1,3 –15 911 –27,8 –0,3 Sektors gesamt Industrie 683 951 19,2 358 848 11,0 –325 103 –47,5 –8,2 Baugewerbe 161 407 4,5 118 367 3,6 –43 040 –26,7 –0,9 Hotelgewerbe etc 686 598 19,3 645 955 19,8 –40 643 –5,9 0,5 Transport- und 368 288 10,3 307 682 9,5 –60 606 –16,5 –0,8 Kommunikationswesen Banken, Finanzdienstleistungen, 565 876 15,9 733 513 22,5 167 637 29,6 6,6 Versicherungen etc. sonstige Dienstleistungen 1 034 526 29,1 1 049 015 32,2 14 489 1,4 3,1 Dienstleistungen gesamt 2 655 288 74,6 2 736 165 84,1 80 877 3,0 9,5 Beschäftigte gesamt 3 560 688 100,0 3 254 744 100,0 –305 944 –8,6 0 Quelle: Leicht verändert nach Hamnett 2003, S. 31 und unternehmensbezogene Beratungsdienste, wie bei- Der Aufstieg des Finanzsektors spielsweise Anwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfer, No ta - riate, EDV-Dienstleister und Unternehmensberater (Tab. 4.1). Erste Anzeichen eines signifikanten Wandels der wirt- Diese Unternehmungen waren allerdings nicht die schaftlichen Struktur Londons konnten aufmerksame einzigen Gewinner der ökonomischen Bedeutungszu- Beobachter schon in den frühen 1960er Jahren erken- nahme Londons: Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg nen, als der Eurokreditmarkt für Wertpapiere sich zu Londons ging eine in vielen Teilen des zentralen Stadt- etablieren begann. In den 1970er Jahren wurden die gebiets und der inneren Vororte zu beobachtende städ- Finanzmärkte schrittweise dereguliert. Von besonderer tebauliche Transformation einher, wodurch die Attrak- Bedeutung waren das Aufbrechen fester Währungs- tivität der Stadt erheblich gesteigert wurde. Dadurch wechselkurse und die Aufhebung von Devisenkontrol- erhielt die Tourismusbranche Impulse, so dass auch im len (1979). Entscheidend für die jüngere Entwicklung Freizeitsektor, im Hotelgewerbe und anderen, eng mit Londons war jedoch der sog. Big Bang im Oktober 1986. dem Städtetourismus verknüpften Branchen neue Der Begriff Big Bang ist ein Synonym für eine Reihe Arbeitsplätze entstanden. Starke Zugewinne konnte schlagartig eingeführter grundlegender Innovationen zudem der höherwertige Einzelhandel verbuchen, da im und Veränderungen im Bereich des Wertpapierhandels Sog der zunehmenden Globalisierung Arbeitskräfte an der Börse. Eine wichtige Innovation war die Aufhe- nach London kamen, die gut ausgebildet und vor allem bung der rechtlichen Stellungen zwischen Stockjobbern kaufkräftig waren. (Saalhändlern), die auf eigene Rechnung Börsenge- schäfte durchführen konnten, und fest angestellten Stockbrokern (Börsenhändlern). Im Jahre 1997 wurde, 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung 81 4 Tabelle 4.2 Beschäftigtenzahlen in der City, ausgewählten inneren Vororten und Canary Wharf Wirtschaftssektoren City City Umgebung*** Canary Wharf (Blackwell & Cubitt Town, Millwall) abs. (in 1 000) % abs. (in 1 000) % abs. (in 1 000) % Banken und andere Finanz- 134,6 43,8 49,5 6,3 56,0 54,1 dienstleister (1)* unternehmensbezogene 66,1 21,5 67,5 8,6 7,6 7,3 Dienstleister (2)** Summe (1) und (2) 200,7 65,3 117,0 14,9 63,6 61,4 sonstige unternehmensbezogene 48,2 15,7 146,6 18,6 16,1 15,6 Dienstleister Hotels und Restaurants 14,0 4,6 49,1 6,2 3,9 3,8 öffentliche Verwaltung, Gesund- 12,7 4,2 181,0 22,9 3,6 3,5 heits- und Bildungswesen Transport- und Kommunikations- 9,4 3,1 61,8 7,8 3,1 3,0 wesen Groß- und Einzelhandel 9,6 3,1 66,5 8,4 4,0 3,9 Industrie 3,4 1,1 41,1 5,2 4,3 4,1 Baugewerbe 1,3 0,4 19,7 2,5 2,7 2,6 sonstige Sparten 7,8 2,5 106,9 13,5 2,2 2,1 Summe 307,1 100 789,7 100 103,5 100 * Einschließlich Versicherungswirtschaft ** Juristische Dienstleistungen, Unternehmensberatungen *** Stadtbezirke Camden, Hackney, Islington, Southwark und Tower Hamlets (ohne Canary Wharf) Quelle: cityoflondon.gov.uk (Abruf: 19.11.09) der Wertpapierhandel vollends von der klassischen, existierten kaum Baulücken, die hätten geschlossen wer- durch Ausrufen durchgeführten Handelsweise auf das den können, zum anderen verhinderte eine Bauhöhen- ausschließlich elektronisch abgewickelte Kaufen und beschränkung, die von der City of London Corporation Verkaufen von Wertpapieren umgestellt. Diese techni- und der nationalen Denkmalschutzorganisation English schen und organisatorischen Reformen öffneten den Heritage erlassen worden war, lange Zeit eine Expansion Börsenplatz London für international tätige, insbeson- in die Höhe. dere US-amerikanische Investmentbanken und andere Infolge dieser Einschränkungen nahm der Druck auf global operierende Finanzdienstleister, die in den fol- den Immobilienmarkt der City zu. Ende der 1980er genden Jahren mit Macht auf den Londoner Markt Jahre hatten die Mieten und Bodenpreise bereits merk- drängten. lich angezogen, so dass ansiedlungswillige Unterneh- Die Suche nach geeigneten Standorten für diese men nun auch andere Standorte in Betracht zogen. Die neuen Marktteilnehmer gestaltete sich zunächst jedoch Funktion eines Ventils übernahmen in diesem Kontext schwierig, weil die City nur wenig Spielraum für bauli- zunächst die benachbarten Stadtbezirke nördlich und che Erneuerungen bzw. Erweiterungen bot. Zum einen östlich der City (City Fringe), die bis dahin überwiegend, 4 82 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens

Zehn ausgewählte Strukturkennziffern der City of London

für das Jahr 2007 • 1,679 Mrd. US-Dollar ist die mittlere Summe des tägli - fast ausschließlich börsennotierten Unternehmen der chen Auslandsdevisenumsatzes, der in London generiert Welt bezeichnet. Entsprechende Aufstellungen werden wird. Dieser Wert entspricht 35% des globalen Umsatzes. regelmäßig vom US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin • 22% der auf dem globalen Auslandsaktienmarkt erzielten Fortune veröffentlicht. Umsätze wurden 2007 in London generiert. • 250 ausländische Banken sind in London vertreten. • 70% des gesamten Eurobondhandels des Jahres 2007 • 618 ausländische Unternehmen sind an der Londoner entfiel auf London. Börse (London Stock Exchange (LSE)) gelistet. • 93 Mio. Aufträge pro Jahr wurden an der Londoner • 20% Anteil des weltweiten Umsatzes von Schiffsversi- Metallbörse abgewickelt. cherern entfallen auf London. • 1,050 Mio. Aufträge pro Jahr wurden an der Londoner Filiale von NYSE Liffe, der bedeutendsten internationalen (http://www.cityoflondon.gov.uk/Corporation/LGNL_Ser- Terminbörse, abgewickelt. vices/Business/Business_support_and_advice/Economic_ • 50% des globalen Anteils frei verkäuflicher Derivate wur- information_and_analysis/Research+and+statistics+FAQ. den in London gehandelt. htm, Abruf: 16.11.2009) • 75% aller Fortune-500-Unternehmen unterhalten Büros in London. Als solche werden die 500 umsatzstärksten, industriell geprägt gewesen waren. Neue Bürostandorte waren mittlerweile wegen des technischen Fortschritts entstanden vor allem in Camden, Hackney, Islington, im Bereich der Telematik für viele Finanzdienstleister Southwark and Tower Hamlets. Mit dem Eindringen und Versicherer zu einer betriebswirtschaftlich interes- neuer Nutzer und Nutzungen ging in Teilen dieser santen Option geworden. Während sie ihr Beratungsge- Bezirke eine soziale und bauliche Aufwertung (Gentrifi- schäft und andere kundenbezogene Dienstleistungen zierung) einher. Nach außen wurde sie durch eine auf noch in der City beließen, verlegten sie Routineopera- die neuen Bewohner aus der oberen Mittelschicht zuge- tionen an preiswertere Standorte. Und der attraktivste schnittene Form des Einzelhandels und der Gastrono- Ausweichstandort war mittlerweile Canary Wharf ge- mie sichtbar. Teure Boutiquen und Restaurants, Wine worden, nicht zuletzt, weil die Wirtschaftskrise dort Bars und Bistros sowie Convenience Stores begannen zwischenzeitlich für Leerstände gesorgt hatte und infol- zunehmend die traditionellen Pubs und Lebensmittel- gedessen die Mieten hier besonders niedrig angesetzt geschäfte zu ersetzen. wurden. Aufgrund ihres neuen und attraktiven Bestands an Bei der Funktionszuweisung als back-office location Bürogebäuden und ihrer Nähe zum Wasser (Themse, blieb es jedoch nicht lange. Ab 1993, nach dem Ende der Docks) entwickelte sich jedoch vor allem die Isle of Dogs Finanzkrise, setzte der Aufstieg von Canary Wharf zum im Londoner Osten, und hier insbesondere Canary zweitwichtigsten Standort der Finanzwirtschaft in Lon- Wharf, zu einem wichtigen Ausweichstandort für die don ein. Zu den ersten Unternehmen, die Canary Wharf Unternehmen der Londoner Finanz- und Versiche- als Hauptsitz für ihre Londoner Niederlassung wählten, rungswirtschaft (Abschnitt 4.4). zählten die global operierenden amerikanischen Invest- Allerdings hatte es in den Jahren nach der Fertigstel- mentbanken Lehman Brothers, Citigroup und die Bank lung des ersten Bauabschnitts von Canary Wharf of America sowie die in Hongkong basierte HSBC; (1991–1993) seitens der traditionsbewussten britischen ihnen folgten wenig später auch einheimische Banken, Banken mit einer Adresse in der Londoner City noch wobei Barclays Bank eine Vorreiterrolle übernahm. größere Vorbehalte gegen einen potenziellen neuen Seit etwa fünf Jahren hat die City ihre Funktion als Standort im einstigen Hafengelände Londons gegeben. wichtigster Standort der Finanzwirtschaft innerhalb Daher lagerten britische Banken und Versicherungen Londons wieder stärken können. Ein wesentlicher zunächst nur ihre Backoffices, wo im Wesentlichen Grund dafür ist, dass die City of London Corporation Routinearbeiten erledigt wurden, nach Canary Wharf mittlerweile ihre starre Haltung gegenüber dem Bau aus. Die interne Aufspaltung und räumliche Trennung höherer Gebäude aufgegeben hat. Im Jahre 2004 hat sie von Unternehmensbereichen nach Wertigkeitskriterien einen Masterplan veröffentlicht, der auch den Bau von, 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung 83 4 Abb. 4.2 Die Skyline der City von London. Im Hintergrund des Bildes sind der Tower 42 (links) und The Gherkin (rechts) zu erken- nen. Quelle: Zehner 2006. Hochhäusern, zum Teil sogar spektakulären Wolken- Londoner stark angeregt und dem Gebäude eine Reihe kratzern, vorsieht. Dass der Bau höherer Häuser auch von Spitznamen beschert. Im Volksmund durchgesetzt wirtschaftlich einen Sinn macht, belegt eine jüngst hat sich die Bezeichnung The Gherkin („Die Gurke“) veröffentlichte Studie des Londoner Immobilien- (Abb. 4.2). Dienstleistungsunternehmens Savills. Danach sind in Seit die Höhenbegrenzung für Bürogebäude gelo- Bürohochhäusern deutlich geringere Leerstände festzu- ckert wurde, entstehen vor allem in der City eine Reihe stellen. Außerdem lassen sich hier höhere Mieten als in deutlich höherer Bürogebäude. Diese Häuser werden in kleineren Büroimmobilien erzielen. Während der letz- Zukunft nicht nur Büroflächen bieten, die repräsentativ ten Jahre, so betonen die Makler, hätte der Mietpreis für sein und dem neuesten technischen Stand im Hinblick Hochhäuser in Toplagen um 17 % höher gelegen als bei auf Bürokommunikation entsprechen werden; vielmehr normal hohen Gebäuden. werden sie sich auch durch ihre spektakuläre Architek- Bis vor kurzem überragten allerdings nur zwei Büro- tur voneinander abheben. Damit sie als individuelle türme die im Vergleich mit anderen Weltstädten eher Bauwerke deutlich wahrgenommen werden, haben die unspektakuläre Stadtsilhouette Londons. Das ältere von Investoren die weltweit renommiertesten Architekten- beiden Gebäuden ist der sog. Tower 42, ein 30 Jahre altes, büros, unter ihnen Renzo Piano und Richard Rogers, schmuckloses Hochhaus, in dem früher die National engagiert. Zurzeit sind im zentralen Stadtgebiet sechs Westminster Bank residierte. Durch einen Anschlag der Wolkenkratzer im Bau, die eine Bauhöhe von mehr als IRA 1993 wurde das Gebäude so stark in Mitleidenschaft 170 m erreichen und der City eine neue Silhouette ver- gezogen, dass es geräumt und komplett saniert werden leihen werden (Tab. 4.3). musste. Sein wenig attraktives Äußeres hat es jedoch Das spektakulärste Hochhaus Londons entsteht der- beibehalten. zeit allerdings nicht in der City, sondern auf dem Süd- Unweit des Tower 42, ebenfalls mitten im Finanzdis- ufer der Themse. Unweit des südlichen Brückenkopfes trikt der City, befindet sich der zweite Londoner Wol- der Tower Bridge sind seit März 2009 die Arbeiten an kenkratzer, 30 St Mary Axe, der aufgrund seiner spekta- Europas höchstem Gebäude im Gange, das nach seiner kulären Gestalt der Öffentlichkeit wesentlich bekannter Fertigstellung im Jahre 2012 eine Höhe von 310 m ist. Das Gebäude wurde vom Stararchitekten Sir Nor- erreicht haben wird. Der Name dieses von saudiarabi- man Foster entworfen, Investor war die Schweizer Rück- schen Investoren finanzierten Vorhabens lautet „Shard versicherungsgesellschaft Swiss-Re. Die außergewöhn- (= Scherbe, Anm. d. Hrsg.) London Bridge“. Durch seine liche Gestalt des Hochhauses hat die Fantasie der Gestalt, die an eine Pyramide erinnert, und seine Höhe, 4 84 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Tabelle 4.3 Im Bau befindliche Hochhäuser in Central London Gebäudename Standort Gebäudehöhe Stockwerkzahl Jahr der Architekt Bemerkung (m) Fertigstellung Shard London Southwark 310 76 2012 Renzo Piano zurzeit höchstes Bridge Gebäude in der

EU

Bishopsgate Bankenviertel 288 64 2012 Kohn Perderson Im Volksmund als Tower Fox The Pinnacle („Die Mauer- zinne“) bekannt Heron Tower Bankenviertel 246 47 2011 Kohn Perderson Fox Riverside South Canary Wharf 236 45 2012 Richard Rogers Tower 1 The Leadenhall Bankenviertel 225 50 2012 Rogers Stirk Verzögerungen Building H arbour & durch Baustopp Partners aufgrund der Wirtschaftskrise Riverside South Canary Wharf 189 34 2012 Richard Rogers Tower 2 Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Grundlage von Angaben der jeweiligen Projektentwickler wird das Gebäude eine Ausnahmestellung in London Deindustrialisierung einnehmen. Zudem wird es – im Gegensatz zu anderen Hochhäusern in der City und in Canary Wharf – für die Öffentlichkeit zugänglich sein. In 230 m Höhe wird eine Der stetige Aufstieg Londons zur global führenden Aussichtsplattform Besuchern einen vermutlich einzig- Finanzmetropole wurde allerdings von einer massiven artigen und faszinierenden Blick auf die gegenüberlie- Deindustrialisierung begleitet. Insbesondere während gende City gestatten (Abb. 4.3). der letzten drei Jahrzehnte verschwanden erhebliche Die Finanzkrise im Herbst 2008 hat in allen Teilen Teile der industriellen Basis von London. Begonnen Londons, in denen Unternehmen aus der Finanzwirt- hatte der Abbau industrieller Arbeitsplätze bereits schaft ansässig waren, ihre Spuren hinterlassen. In schleichend in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, um besonderer Weise war die City betroffen, wo drei Viertel in den 1980er Jahren deutlich an Fahrt aufzunehmen. aller registrierten Unternehmen dem Finanzsektor Noch bis in die 1960er Jahre war London die bedeu- zugeordnet werden können. Unternehmenskonkurse tendste Industriestadt Großbritanniens, wenngleich der ließen dort die Mieten, die zuvor in guten Lagen bei 90 Charakter der Industrie ein anderer war als jener der Euro pro Quadratmeter und Monat gelegen hatten, um Industriestädte des Nordens und der Midlands, etwa bis zu 50 % einbrechen. Nur New York hatte noch Manchesters, Liverpools oder Birminghams. In London höhere Rückgänge zu verkraften. Die jüngsten Zahlen gab es kaum Schwerindustrie, keine textile mills, keine lassen jedoch wieder eine bescheidene Zunahme der Hütten- und Stahlwerke und nur wenige Schiffswerften. Mietpreise erkennen. Dieser Aufschwung könnte aller- Stattdessen hatten sich bereits im 19. Jahrhundert klei- dings 2012, falls nach der Fertigstellung der neuen nere, zum Teil hoch spezialisierte Industriecluster aus Hochhäuser ein Überangebot an Büroflächen existiert, dem Bereich der Konsumgüterproduktion, herausgebil- wieder gebremst werden. det. Für sie war London nicht nur Produktionsstandort, sondern zugleich ein wichtiger Absatzmarkt, der schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 6,6 Mio., 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung 85 4 ley, in Kürze Austragungsort der Olympischen Spiele (Abschnitt 4.5), zu einer regelrechten Industriegasse. Hier siedelten sich Unternehmen der Konsumgüterin- dustrie, insbesondere der Elektroindustrie, an. Zu den wichtigsten Produkten, die im Lea Valley hergestellt wurden, zählten noch in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diverse Haus- haltsgeräte, z. B. Fernsehgeräte, Radios, Kühlschränke, Herde, Lampen und elektrische Heizungen. Auch Be - triebe der chemischen Industrie und der Automobilin- dustrie mit ihren Zulieferern waren im Lea Valley an- sässig. In der Nähe der Docks und der Themse hingegen war schon im 18. Jahrhundert ein industrielles Milieu u. a. aus Schiffsausrüstern, Reparaturwerften, Öl- und Ge- treidemühlen, Zuckerraffinerien und Sägewerken ent- standen. In der Nähe dieser Standorte lagen häufig auch Güterbahnhöfe mit den dazugehörigen Gleisanlagen, Kraftwerken und Gasometern. Obwohl die Industriestruktur Londons stets durch Betriebe mittlerer Größe geprägt wurde, entstanden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch einige Großbetriebe. Zu den größten Arbeitgebern zählten die Eisenbahnwerke in Stratford mit 7 000 Beschäftigten, die Thames Ironworks in Canning Town mit 6 000 Mitar- beitern, Siemens in Woolwich mit 7 000 Beschäftigten, Abb. 4.3 Das neue Hochhaus Shard London Bridge und seine Woolwich Arsenal, eine Rüstungsfabrik, mit 70 000 und Umgebung auf dem Südufer der Themse (Fotomontage). Die Ford in Dagenham mit etwa 15 000 Beschäftigten. Fertigstellung des Wolkenkratzers ist für das Jahr 2012 geplant. Noch bis in die erste Hälfte der 1960er Jahre nahm Quelle: http://www.shardlondonbridge.com. die Entwicklung der Londoner Industrie einen positiven Verlauf. Im Jahre 1961 stellte sie rund ein Drittel aller Arbeitsplätze. Mitte der 1960er Jahre jedoch erfasste eine Einwohner umfasste. Als Beispiele für kleinräumige zunächst noch flache, ab Mitte der 1970er Jahre an Höhe Industriekonzentrationen lassen sich die Möbelindus- und Geschwindigkeit zunehmende Welle der Deindus- trie, die Bekleidungsindustrie, die Papierherstellung trialisierung die Stadt. Sie schlug breite Schneisen in den sowie die Uhren- und Schmuckindustrie nennen. Auch industriellen Bestand Londons, was zwischen 1961 und die Nahrungsmittelindustrie war in London schon zu 1981 zu einem Rückgang der Industriearbeitsplätze von Beginn des Industriezeitalters stark vertreten. Für sie 1,45 Mio. auf 681 000 führte. In den 1980er Jahren ging stellte der Hafen, wo Agrarprodukte aus allen Regionen die Zahl der Industriearbeitsplätze auf 359 000 zurück, des British Empire gelöscht wurden (vor allem Zucker, und weitere 160 000 wurden in den letzten beiden Jahr- Getreide), einen wichtiger Standortfaktor dar. zehnten aufgegeben. Heute sind der Londoner Industrie Den stärksten Besatz mit Industrien wies stets der noch ca. 200 000 Beschäftigte geblieben. Angesichts nördliche und östliche Sektor des Kranzes innerer Vor- einer Gesamtzahl von 4,08 Mio. Arbeitsplätzen (2007) orte auf. Stadtteile wie Islington, Finsbury, Holborn, bedeutet diese Zahl, dass nur noch etwa jeder 20. Bethnal Green und Stepney wurden bis in die 1970er Beschäftigte in London in einem Industrieunternehmen Jahre durch ein dichtes Geflecht von Fabriken und arbeitet. Arbeiterquartieren geprägt. Auch Southwark, südlich Mit der Ausnahme des Verlags- und Druckereiwesens der Themse, entwickelte sich durch seine Nähe zum hat die Deindustrialisierung alle Sparten der Londoner Hafen zu einem bedeutenden Industriestandort Industrie getroffen. Die Verschonung von Verlagen und (Abschnitt 4.3). Druckereien liegt darin begründet, dass diese, im Engli- Die wichtigste Industriekonzentration bildete sich schen mit dem Etikett publishing and print versehene jedoch im Osten Londons heraus. Während der Industriesparte direkt und unmittelbar an nahezu alle Zwischenkriegszeit entwickelte sich das dortige Lea Val- Dienstleistungssektoren gekoppelt ist und infolgedessen, 4 86 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens von deren positiver wirtschaftlicher Entwicklung profi- Neue Großprojekte auf brownfields tieren konnte. Ansonsten werden in London heute nur noch in klei- nem Maßstab „Dinge“, also Güter im traditionellen Räumlich spiegelte sich der Niedergang der Industrie in Sinne, hergestellt. Vielmehr stehen – auch in der Industrie einer rapiden Zunahme von Industrie- und Verkehrs- – die Produktion und Verbreitung von Wissen und brachflächen wider. Besonders augenfällig wurde dieser Informationen im Vordergrund. Zu den wichtigsten Prozess in bahnhofsnahen Gebieten. Das Gelände zwi- Produktgruppen zählen neben Zeitungen und Zeit- schen den nördlichen Bahnhöfen King’s Cross und St. schriften Fernseh-, Video- und Internetproduktionen, Pancras ist diesbezüglich ein besonders prominentes Software- und Musikproduktionen. Beispiel. Dieses Areal war bis in die Mitte der 1990er Für den radikalen Wandel der Industriestruktur Lon- Jahre eine klassische No-go-Area. Ein Gasversorger, dons gibt es eine Reihe von Gründen. Entscheidend war Schrottplätze, Zementwerke und vernachlässigte Rei- die zunehmende Abhängigkeit von Unternehmen der henhäuser aus der viktorianischen Ära prägten das Bild klassischen Konsumgüterindustrie von Rentabilitätskri- dieses typischen Bahnhofsviertels, in dem sich zusätzlich terien, die den Standort London mit seinen hohen Pro- Drogenhandel und Prostitution ausgebreitet hatten. Im duktions- und Lohnkosten zunehmend unattraktiv Zusammenhang mit dem Ausbau der neuen Hochge- erscheinen ließ. Allerdings haben auch britische Regie- schwindigkeitsstrecke des Eurostar (Channel Tunnel rungen keine entscheidenden Anstrengungen unter- Rail Link), die 2007 komplettiert wurde und in dem nommen, der Deindustrialisierung entgegenzuwirken. erweiterten und modernisierten Bahnhof St. Pancras Im Gegenteil: Bis Mitte der 1980er Jahre versuchten endet, hat man sich der Neugestaltung des Geländes Regierungen durch eine auf Südostengland bezogene nördlich des benachbarten Bahnhofs King’s Cross ange- restriktive Industriestandortkontrolle mit sog. Indus- nommen. Nachdem Mitte der 1990er Jahre die Ent- trial Development Certificates (IDCs) die Ansiedlung scheidung getroffen worden war, dass St. Pancras der neuer und die Erweiterung bestehender Fabriken zu Londoner Terminal für den Channel Tunnel Rail Link steuern. Dieses Instrument war 1947 in die Regionalent- mit Verbindungen nach Lille und Brüssel bzw. nach wicklungspolitik eingeführt worden. Mit der Industrie- Paris werden würde, wurde schnell die strategische standortkontrolle sollten strukturschwache Gebiete in Bedeutung dieses Standortes klar. Denn hier verlassen Altindustrieregionen gefördert werden, was nur zum bzw. besteigen nicht nur jährlich ca. 8 Mio. Gäste die Teil gelang. Entscheidend für London war, dass durch schnellen Züge aus bzw. nach Frankreich und Belgien, die bis Anfang 1982 praktizierte IDC-Vergabepolitik ein erheblicher Teil von ihnen reist von hier oder vom neue industrielle Entwicklungen in London gesetzlich benachbarten Bahnhof Euston weiter in die mittleren verhindert wurden (Abschnitt 7.2). und nördlichen Landesteile Großbritanniens. Mit ande- ren Worten: St. Pancras ist durch den Eurostar-Terminal zu einem der bedeutendsten Hubs im Londoner Ver- kehrssystem geworden (Abb. 4.4). Abb. 4.4 Der 2007 wieder eröffnete Bahnhof St. Pancras ist Endhaltepunkt des Eurostar. Mit ca. 8 Mio. Passagie- ren zählt St. Pancras zu den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten in London. Quelle: Wikipedia, Peter Skuce 2008., 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung 87 4 Abb. 4.5 Das Gebiet um die beiden Kopfbahnhöfe King’s Cross und St. Pancras. Deutlich zu erkennen an seinem Flach- dach ist der neue Terminal für die 400 m langen Eurostar-Züge. Im Mittelpunkt des Bildes ist – als Fotomontage (weiß darge- stellt) – das in der Entstehung begriffene gehobene Quartier nördlich des Bahnhofs King’s Cross. Quelle: King’s Cross Cen- tral Limited Partnership, © Miller Hare. Als entsprechend hochwertig wurden nun die Abb. 4.6 Paddington Basin Redevelopment – eines der aktu - benachbarten Flächen eingestuft, die bis schätzungs- ellen städtebaulichen Flaggschiffprojekte Londons. Quelle: weise 2015 revitalisiert sein werden. Auf rund 27 ha Wood 2006. e ntsteht zurzeit in der Nähe von King’s Cross ein neues Quartier mit einem Mix aus Einzelhandel und Gastro- nomie, kulturellen Einrichtungen, Büronutzung und Die Bedeutung städtischer hochpreisigem Wohnungsbau (Abb. 4.5). Ein weiteres städtebauliches Großprojekt wird zur- Governance: Der London Plan zeit in Paddington verwirklicht. Das Projekt firmiert unter dem Namen Paddington Basin Redevelopment. Die dargestellten Entwicklungen nahe Paddington und Um den gleichnamigen Bahnhof und beiderseits des King’s Cross betten sich ein in ein umfassendes städte- weiter nördlich verlaufenden Grand-Union-Kanals wer- bauliches Gesamtkonzept, das 2004 von der Greater den Bürokomplexe und Appartmenthäuser errichtet London Authority (GLA) verabschiedet wurde und (Abb. 4.6). unter dem schlichten Namen London Plan veröffent- Insgesamt entstehen hier 3 000 neue Wohnungen licht wurde. Die GLA ist eine 1999 von der Labour- und 23 000 Arbeitsplätze. Die Standortvorteile dieses Regierung eingesetzte Behörde, die administrative und Gebiets liegen in der ausgezeichneten Anbindung an den planungsbezogene Aufgaben für Greater London wahr- Flughafen Heathrow, der nur 15 Zugminuten von Pad- nimmt. Obwohl sie schlanker als der 1986 von der That- dington entfernt liegt. Zugleich verkehren in Padding- cher-Administration aufgelöste Greater London Coun- ton die Hochgeschwindigkeitszüge, die London mit cil (GLC) ist, übernimmt sie doch ähnliche Aufgaben, Städten innerhalb des M4-Korridors verbinden. Der insbesondere im Bereich der strategischen Planung. M4-Korridor ist ein streifenförmiges Gebiet, das sich Der London Plan zeichnet sich dadurch aus, dass er von Heathrow in westliche Richtung längs der Autobahn nicht nur ein thematisches Leitbild für die künftige Ent- M4 bis etwa Bristol erstreckt. Es zeichnet sich durch eine wicklung Londons enthält, sondern noch einen Schritt besonders hohe Entwicklungsdynamik aus. weiter geht und konkret benennt, welche Projekte an welchen Orten zu bestimmten Zeitpunkten verwirklicht sein sollen. Dazu weist der Plan 28 sog. opportunity areas aus (Abb. 4.7). Unter diesem Etikett werden Standorte in, 4 88 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.7 Entwicklungsschwerpunkte und Entwicklungsachsen im Großraum London. Die dieser vereinfachten Kartenskizze zugrunde liegende Originalkarte ist Bestandteil des London Plan, der 2004 von der Greater London Authority (GLA) veröffentlicht wurde. Quelle: Greater London Authority 2004. verkehrsgünstiger Lage zusammengefasst, die zurzeit Jahrzehnt des Wandels bezeichnet werden. In diesem brachliegen bzw. mindergenutzt sind, denen jedoch ein Zeitfenster vollzog sich ein massiver Wandel der Wirt- großes Entwicklungspotenzial bescheinigt wird. Damit schaftsstruktur Londons. Es gab im Wesentlichen drei verbindet sich die Einschätzung, dass in jeder opportu- Faktoren, die diesen Umbruch begünstigten. Erstens nity area mittelfristig mindestens 5 000 neue Arbeits- führte die sich stark beschleunigende wirtschaftliche plätze oder 2 500 neue Wohnungen entstehen können. Globalisierung zu einer räumlichen Konzentration von Ziel ist es, diese Standorte zu kompakten Subzentren zu Unternehmen des FIRE-Sektors (FIRE = Finance, Insu- entwickeln. Hieran wird deutlich, dass sich der London rance und Real Estate) auf weltweit wenige Städte, zu Plan sehr stark am Leitbild der kompakten Stadt bzw. denen auch London zählte. Zweitens bot das neoliberale Stadt der kurzen Wege orientiert. Auf einer zweiten Wirtschaftsklima unter der Thatcher-Regierung einen Hierarchiestufe weist der Plan sog. areas for intensifica- geeigneten politischen Rahmen für den Ausbau Lon- tion aus. Damit werden bereits bestehende Zentren dons zum international bedeutendsten Finanzzentrum. bezeichnet, die durch Verdichtung bestehender Nutzun- Die bis Ende der 1970er Jahre straffe Regulierung von gen in ihrer Funktion weiter gestärkt werden können. städtischer Planung, Architektur und Finanzsystem Schließlich werden vier Wachstumskorridore defi- wurde sukzessive gelockert, um London im globalen niert. Diese sind der Thames Gateway, der London Stan- Wettbewerb Standortvorteile zu sichern. Drittens führ- sted Cambridge Corridor, der Western Wedge und das ten die Deindustrialisierung Londons sowie die Schlie- Wandle Valley. Sie folgen wichtigen Verkehrsachsen und ßung der Docks zu einem attraktiven Angebot an Flä- schließen Verkehrsknotenpunkte von überregionaler chen, auf denen eine stark durch die Finanzwirtschaft und nationaler Bedeutung ein. Auf sie sollen sich in geprägte Nebencity entwickelt werden konnte. Schließ- Zukunft das wirtschaftliche und städtebauliche Wachs- lich wird die aktuelle Stadtentwicklung Londons durch tum der Stadt konzentrieren. verschiedene Großprojekte geprägt, die den Bau neuer spektakulärer Hochhäuser einschließen. Von entschei-

Fazit dender Bedeutung ist dabei, dass die Einzelvorhaben Teil

eines Masterplans sind, der von einer demokratisch legi- timierten Körperschaft erarbeitet und verabschiedet In der jüngeren Entwicklung Londons können aus wurde. heutiger Sicht die 1980er Jahre als das entscheidende, 4.3 Geteilte Stadt: Soziale Gegensätze und sozialräumliche Kontraste in London 89 4

Informationen im Internet East End von Grotjahn 1904, S. 768, zit. nach Schubert 1997,

S. 119). http://www.cityoflondon.gov.uk „When the magnates purchased houses near London it was not Website der City of London Corporation, die für die räum- town-houses in narrow streets but country-houses with a series liche und wirtschaftliche Entwicklung der berühmten of different buildings and vast gardens. The arrival of each Square Mile als städtische Behörde mitverantwortlich ist. noble family increased the population not only by the family Die Seite ist u. a. ein Portal, in dem Pfade zu einer Fülle von itself and its many servants with their relatives but also by mer- relevanten Daten und Informationen gelegt werden, die die chants, artisans and others who lived on the aristocracy. Besides Entwicklung des citybasierten FIRE-Sektors dokumentieren (Abruf: 28.01.2010). London, the town of producers, the capital of the world trade and industry, there arose another London, the town of cons- umers, the town of the Court, of the nobility, of the retired

Weiterführende Literatur capitalists“ (Rasmussen 1934, S. 165).

Bugler, J. (1985): The Changing Face of London: A Tale of Two Treffender, als es diese beiden einleitenden Zitate ver- Cities, The Listener, 11. April. mitteln, lassen sich wohl kaum die sozialen und sozial- Corporation of London (Hrsg.) (1995): City Research Project. räumlichen Disparitäten beschreiben, die London noch The Competitive Position of London’s Financial Services: Final Report. London. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geprägt haben. Die Cohen, P.; Rustin, M. J. (Hrsg.) (2006): London’s Turning. The Stadt war sozial und sozialräumlich tief gespalten, und Making of Thames Gateway. Aldershot. zwar in einen armen Osten und einen reichen Westen. Gossop, C. (2008): Towards a More Compact City – The Plan Wesentliche Einflussgrößen dieses räumlichen Musters for London. In: disP 173, 2, S. 47–55. waren die Lage des Hafens und der Industrien in der öst- Greater London Authority (Hrsg.) (2004): The London Plan. lichen Stadthälfte und der Sitz von Krone und Parla- Spatial Development Strategy for Greater London. London. ment im Westen der Stadt. Hamnett, C. (2003): Unequal City. London in the Global Arena. London/New York. Heineberg, H. (2007): Die Global City London im Rahmen der Das aristokratische London Weltwirtschaftsentwicklung. In: Geographie und Schule 165, S. 9–18. Imrie, R.; Lees, L.; Raco, M. (Hrsg.) (2009): Regenerating Lon- Wirklich ausschlaggebend für die Entwicklung eines don. Governance, Sustainability and Community in a Global West End war allerdings ein einziges wirkungsmächtiges City. London/New York. Ereignis, der Große Brand Londons. Er wütete vom 2. Massey, D. (2007): World City. Cambridge. bis zum 5. September 1666 und legte vier Fünftel der damaligen Stadt, deren Umriss in etwa mit dem der heu- tigen City identisch war, in Schutt und Asche. Nach dem Feuer kehrten die reichen Familien aus Angst vor einer 4.3 Geteilte Stadt: Soziale möglichen Wiederholung des schrecklichen Brandes dem alten London den Rücken. Es galt als gefährlich,

Gegensätze und sozialräum- schmutzig und unsicher. Als Standort für ihre neuen

liche Kontraste in London Häuser bevorzugten sie Gebiete westlich der alten Stadt. In einer Zeit, in der persönliche Kontakte und Kommu- nikation entscheidend für das gesellschaftliche und poli-

Klaus Zehner tische Leben waren, wirkte Westminster mit seinen

Regierungsfunktionen und seinem aristokratischem „Man kann kilometerweit gehen, ohne auch nur einem einzi- Ambiente wie ein Magnet, um den sich neue Stadt- gen nicht zerlumpten Rock oder nicht durchlöcherten Schuh zu begegnen. Diese Verwahrlosung des Aeußern erstreckt sich viertel wie St. James, Soho, Mayfair, Marylebone und auf beide Geschlechter und jede Altersstufe. Dazu die Einför- Bloomsbury herausbildeten. Dabei konzentrierte sich migkeit der Häuserreihen, der Schmutz der Straße und dann die Bebauung auf 35 größere, zusammenhängende vor allem der Umstand, daß das Auge hier und da auf einen Grundstücke (estates), die sich auf einen ca. 5 km breiten Repräsentanten jener unglücklichen Armee von sogenannten Streifen zwischen Westminster im Süden und dem Par- ‚Arabern‘ fällt, die so ziemlich die abschreckendsten mensch- liamentary Hill im Norden verteilten. Die Estates waren lichen Wesen sind, die das Auge des kontinentalen Arztes zu im Besitz von Krone, Kirche und Adel und bis Mitte des sehen bekommen hat. Langsam schleppen sich diese gebückten, 17. Jahrhunderts überwiegend landwirtschaftlich oder nur aus Knochen, Haut und Lumpen bestehenden Wesen an zur Jagd genutzt worden. Nach dem Großen Brand Lon- den Häuserreihen dahin […]“ (Beschreibung des Londoner dons erfuhren die Estates mit einem Male eine neue, 4 90 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens

Das Londoner Stadthaus

Die eleganten Stadthäuser des Londoner West End waren Vorderseite der Häuser. Insofern macht der Begriff terrace die ersten Wohngebäude in der Stadtbaugeschichte Lon- houses wirklich einen Sinn, weil die Hausreihen auf künstlich dons, die komplett aus Ziegelsteinen gebaut wurden. Ihre erhöhten Streifen, die man als Terrassen bezeichnen könnte, Farbe variierte von einem dunklen Rot, das man an der errichtet wurden. Weitere typische Gestaltungsmerkmale Wende vom 17. und 18. Jahrhundert bevorzugte (Queen der Häuser waren zum Teil verzierte Gesimsbänder sowie Anne Style), bis zu einem bräunlichen Gelb, das ab der Mitte von Stockwerk zu Stockwerk variierende Proportionen der des 18. Jahrhunderts in Mode kam (Georgian Style). Holz Fenster. Das ausgeprägteste Verhältnis von Fensterhöhe zu und Fachwerk spielten als Baumaterialien praktisch keine -breite wies das erste Stockwerk, die sog. Beletage, auf. Sie Rolle mehr, denn nach dem Großen Brand waren neue Bau- erhielt daher das meiste Tageslicht, was ihrer Bedeutung – vorschriften erlassen worden, die aus Sicherheitsgründen hier lagen die repräsentativen Räume des Hauses – gerecht den Bau von Holzhäusern ausschlossen. Ein charakteristi- wurde. Zu den typischen Merkmalen des Londoner Stadt- sches Merkmal war der Ausbau des Kellergeschosses, das in hauses zählen auch die verzierten Türportale sowie die vollem Umfang durch Küche und Vorratsräume genutzt wer- Mansardendächer. Die Reduzierung auf einen Haustyp und den konnte, weil es durch einen Schacht, der das Haus vom dessen Weiterentwicklung im Detail lassen heute noch diffe- Bürgersteig absetzte, Licht erhielt. Zur rückwärtigen Seite renzierte Rückschlüsse auf die städtebauliche Entwicklung führte der Keller ohne Niveauunterschied direkt in den Gar- Londons im 17. und 18. Jahrhundert zu. ten, der ein Stockwerk tiefer lag als die Straßen an der Form der Wertschätzung, und zwar als potenzielles Bau- Bedford zuzuschreiben, was sich im Namensgut der land. Squares widerspiegelt. So gibt es außer dem Bedford Die Estates wurden von Baugesellschaften erschlos- Square einen Russell Square und einen Woburn Square. sen, die eng mit den Landbesitzern kooperierten. Letzterer ist nach Woburn Abbey benannt, die bis zur Grundlage dieses speculative building bildete die Vergabe Reformation ein Kloster war und im 17. Jahrhundert von Baulizenzen durch den König, wodurch dieser einen zum Landsitz des Duke of Bedford umgebaut wurde. gewissen Einfluss auf Gestaltung und Architektur aus- Der Russell Square erhielt dagegen seinen Namen von üben konnte. Dennoch konnte auch er nicht verhindern, der Russell-Familie, aus der im späten 17. und 18. Jahr- dass jeder Estate nach eigenen Grundrissmustern und hundert die Herzöge von Bedford stammten. Gestaltungsprinzipien entwickelt wurde, so dass sich East und West End verkörperten bereits vor dem auch heute noch das West End als ein kaum zusammen- Beginn der Industriellen Revolution zwei völlig ver- hängender Flickenteppich von Stadtvierteln zeigt. schiedene Stadtwelten mit gänzlich unterschiedlichen Ausgangspunkte der Erschließungen bildeten in der Funktionen, Bebauungsformen und Bevölkerungsgrup- Regel sog. Squares. Als Squares wurden rechteckige oder pen. Den meisten Bürgern aus dem West End war die ovale Plätze bezeichnet, die begrünt und mit Rasenflä- Osthälfte der Stadt vollkommen unbekannt. Der Osten chen, Beeten und Baumindividuen verschönert wurden. Londons war gewissermaßen eine Terra incognita, die In diesem Sinne bildeten die Squares verkleinerte Abbil- man wenn irgend möglich mied. In Engels Buch über der bzw. Ausschnitte aus der englischen Countryside, die Die Lage der arbeitenden Klasse in England wird ein Pfar- der Adel so sehr schätzte. Neben der schönen Aussicht rer aus dem East-End-Viertel Bethnal Green zitiert, der boten sie des Weiteren die gesellschaftlich wichtige Mög- geäußert haben soll, dass man von der Wohnungsnot im lichkeit des Promenierens. Viele Squares wurden mit East End Londons „am Westende der Stadt ebensowenig Eisenzäunen eingefasst und auf diese Weise vor unge- … wußte wie von den Wilden Australiens oder der Süd- liebten Besuchern geschützt. Zutritt hatten nur die see-Inseln“ (zit. nach Schubert 1997, S. 36). Bewohner der an sie grenzenden Häuser. Manche Squa- res sind bis heute nur einem ausgewählten Personen- Londons dunkle Seite – kreis zugänglich, was an den Eingangstoren durch ent- sprechende Schilder deutlich angezeigt wird (Abb. 4.8). das East End Die Squares wurden nach den adligen Familien benannt, deren Stadtpaläste vis-a-vis der Grünflächen Das East End, der Londoner Osten, war bereits lange vor standen. So ist beispielsweise die Entwicklung des Stadt- Beginn der Industriellen Revolution ein Schauplatz teils Bloomsbury im Wesentlichen den Herzögen von gewerblicher Produktion. Vor allem längs des Flüsschens, 4.3 Geteilte Stadt: Soziale Gegensätze und sozialräumliche Kontraste in London 91 4 Abb. 4.8 Das Hinweisschild am Ein- gang zum Bedford Square zeigt an, dass der Aufenthalt auf dem Square nur „Keyholders“, also Schlüsselbesitzern, möglich ist. Die meisten Squares sind heute jedoch für die Öffentlichkeit zugänglich. Quelle: Zehner 2009. Lea, das sich durch den Nordosten Londons schlängelt, S traßenhändler, Schreiber und Fuhrleute, Schmiede und um östlich der Isle of Dogs in die Themse zu münden, Schauerleute, und auch die Angehörigen des ganzen dienst- hatten sich nach 1600 etliche Mühlenbetriebe und leistenden Gewerbes, wie Schankwirte und Wäscherinnen, Manufakturen angesiedelt. Der von diesen Betrieben Ladenbesitzer und Prostituierte, Händler mit seemänni- ausgehende Rauch, Dampf und Gestank belastete schon schem Bedarf und Austernverkäufer, bildeten zusammen im 17. Jahrhundert den Londoner Osten und beein- eine Arbeiterschaft von vielen tausend Köpfen, alle auf trächtigte die Gesundheit seiner Bewohner, die häufiger einem kleinen Gebiet des East End zusammengedrängt“ als in anderen Teilen Londons wohnende Bürger an (Ackroyd 2007, S. 212). Schwindsucht und Fieber erkrankten, wie Peter Ackroyd in seiner lesenswerten Biografie über London feststellt. Für die Entwicklung des East End war entscheidend, Hinzu kamen Färbereien, Gerbereien, Glockengieße- dass die Bevölkerung Londons im 19. Jahrhundert von reien, Pulverfabriken, Schlachthöfe und Bäckereien 1 Mio. auf 6,5 Mio. zunahm. Dadurch stieg die lokale (Abschnitt 4.2). Nachfrage nach Konsumgütern unterschiedlichster Art Und doch bildeten die Verhältnisse im späten 17. und kräftig an, was sich im Bau neuer Fabriken, die überwie- 18. Jahrhundert erst die Vorhut zu einer dramatischen gend in Ostlondon entstanden, niederschlug. Unter Zuspitzung der sozialen Problematik während des 19. ihnen waren zahlreiche Betriebe, deren Abfälle bzw. Jahrhunderts. Entscheidend hierfür war der massive Abwässer die Umwelt stark belasteten, z. B. Chemie- Ausbau des Hafens zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die werke und Düngemittelhersteller, Färbereien, Leim- Hafenerweiterung durch Docksysteme war notwendig und Paraffinhersteller und Farbenfabriken. geworden, da mit dem Aufstieg Großbritanniens zur Von besonderer Bedeutung waren die Seidenweber Weltmacht und der Entwicklung des British Empire der im East End, die sich schwerpunktmäßig in Spitalfields, Seeverkehr zwischen England und seinen Kolonien stark Mile End und Bethnal Green niedergelassen hatten. In zugenommen hatte, und die Kais und Liegeplätze im den späten 1830er Jahren waren in diesem Industrie- Fluss nicht mehr ausreichten. Mit dem vermehrten zweig mehr als 9 000 Arbeitskräfte tätig. Frachtaufkommen nahm auch die Zahl der hafengebun- Das East End entwickelte sich immer mehr zu einem denen und rohstoffverarbeitenden Industrien im Lon- Gebiet, in dem sich Menschen verschiedenster Herkunft doner Osten stark zu. und Glaubens sammelten. Von besonderer Bedeutung waren jüdische Immigranten aus Osteuropa, vor allem In seinem Werk über die Themse beschreibt Peter Ackroyd aus Russland. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhun- sehr anschaulich, welche verschiedenen Berufsgruppen dert lebten vermutlich 100 000 Juden im Londoner East sich unter dem Einfluss der Hafenwirtschaft im East End End. Die Neuankömmlinge waren in den meisten Fällen gebildet hatten: mittellos und fanden in der Nähe der Docks sowohl eine „Dockarbeiter und Lastträger, Maschinisten und Lager- preiswerte Bleibe als auch Arbeit. Die Sparsamkeit und arbeiter, Schiffer und Rollkutscher, Kundenwerber und der Arbeitswille der Juden waren zentrale Voraussetzun-, 4 92 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens

Das West End im Wandel

Der Adel selbst wohnt heute nicht mehr in den vornehmen Nicht in allen Fällen blieb die Originalbebauung erhalten. Häusern rund um die Squares. Die repräsentativen Stadt - Einige Squares wurden durch Bomben während des Zweiten häuser werden mittlerweile kommerziell genutzt. Manche Weltkrieges zerstört, in anderen Fällen hat man die Stadt- sind Sitze von Botschaften und Konsulaten. Auch renom- häuser der ersten Generation abgerissen, um sie durch mierte Organisationen und Verbände, Verlage, Rechtsan- zweckmäßigere Gebäude, wie Hotels, zu ersetzen. Der Rus- wälte, Notare und Wirtschaftsprüfer haben hier ihre Kanz- sell Square, an dessen Nordostseite 1894 das Russell-Hotel leien eröffnet. Rund um den Bedford Square haben sich z. B. errichtet wurde, liefert hierfür das Musterbeispiel. Architekten und Verlage niedergelassen, unter ihnen die Komplett erhalten ist dagegen die Randbebauung um den Architectural Association, British Museum Publications, The Bedford Square, was daran liegt, das der gesamte Platz noch Publishers Association und Heinemann International, wäh- den Herzögen von Bedford gehört. Seine Gesamtkomposi- rend in den Palais um den St. James’s Square die Botschaf- tion vermittelt in anschaulicher Weise einen Eindruck von ten Zyperns und Libyens untergebracht sind. Dort haben der Stadtgestalt Bloomsburys im späten 18. Jahrhundert, auch die Hauptverwaltung von BP und einige der renom- zumal auch der PKW-Verkehr (wieder) weitgehend von dem mierten Londoner Clubs ihren Sitz. Platz verbannt wurde (Abb. 4.9). In seiner Hommage an Lon- Abb. 4.9 Der Bedford Square im Stadtteil Bloomsbury ist nahezu in seinem Originalzustand von 1780 erhalten geblieben. Quelle: Zehner 2009. gen für deren sozialen Aufstieg, der dazu führte, dass sie stärkte sich nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, vor das East End verlassen konnten. Ihre Zielgebiete waren allem in den 1960er Jahren, als die Nachfrage nach vor allem nördliche Londoner Vororte, wie Hackney, Büroraum in zentralen Lagen zunahm. Golders Green und Hampstead. Zu dieser Zeit hatte der Londoner Osten noch weitest - Der Kontrast zwischen West End und East End hatte gehend seine alten Funktionen inne, wenngleich sich der bis ins 20. Jahrhundert Bestand. Erst in der Zwischen- Charakter der Industrien mittlerweile deutlich gewan- kriegszeit begannen sich die Gegensätze allmählich delt hatte. London hatte sich in der ersten Hälfte des abzuschwächen. Die Transformation setzte zunächst im 20. Jahrhunderts zu einem Zentrum der light industry, West End ein, das zunehmend seine Wohnbevölkerung der Konsumgüterindustrie, gewandelt. Diese hatte ihre verlor und stattdessen von kommerziellen Nutzungen wichtigsten Standorte im Lea Valley. Zu Standorten von durchsetzt wurde. Verlage, Redaktionen, Anwaltskanz- Industriebetrieben waren aber auch nördlich und süd- leien sowie kulturelle und Bildungseinrichtungen ließen lich der City gelegene Vororte geworden, in denen sich sich in Kensington und Bloomsbury nieder, während zum Teil hoch spezialisierte Industriecluster herausge- Mayfair zum bevorzugten Sitz von Unternehmenszen- bildet hatten. So hatte sich Camden Town zu einem tralen und Werbeagenturen wurde. Dieser Prozess ver- Z entrum der Herstellung von Musikinstrumenten ent-, 4.3 Geteilte Stadt: Soziale Gegensätze und sozialräumliche Kontraste in London 93 4 don würdigt David Piper den Bedford Square als „noch Stallstraßen, kleine Stichstraßen, die als Mews bezeichnet immer ein geradezu wie eine Halluzination wirkendes, voll- werden. Mittlerweile wurden die Pferdeställe in Garagen kommen erhaltenes Stück London aus dem späten 18. Jahr- umgewandelt, und im ersten Stock finden sich hochwertige hundert“ (Piper 1966, S. 301 f.). Zweizimmerwohnungen mit Bad, WC und Küche. Heute zäh- In besonders gutem Zustand befinden sich vor allem die len die Mews zu den beliebtesten Wohnstandorten im zen- Gebäude an seiner südwestlichen Seite. Unschwer zu erken- tralen Stadtgebiet von London (Abb. 4.10). Hier wohnt man nen ist das ehemalige Haus der Adelsfamilie, das aus wei- zentral und ruhig, profitiert also von zwei Eigenschaften, die ßem Stein gebaut ist und sich durch die Pilaster (Säulen- auf den ersten Blick in der Londoner Innenstadt unvereinbar streifen) und den Mittelrisalithen (dreieckförmigen Giebel) erscheinen. farblich und architektonisch deutlich von den benachbarten Der Bedford Estate war im Übrigen eine Gated Commu- Gebäuden abgrenzt. Hinter den Stadtpalais befanden sich nity des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Wohngebiet wurde die Gärten der Häuser, die nach außen durch niedrigere Häu- durch bewachte Schranken von den großen Hauptverkehrs- serzeilen begrenzt wurden. In diesen Häusern waren eben - straßen, die den Bezirk einfassen, abgeschirmt. Zugang hat- erdig die Pferdeställe und die Unterstellplätze für die Kut- ten nur Bewohner, angemeldete Besucher und Lieferanten. schen untergebracht, während im ersten Stock das Personal Erst im Jahre 1893 wurde die Zutrittsbeschränkung durch wohnte und das Heu für die Pferde eingelagert wurde. ein Gesetz aufgehoben. Zugänglich waren diese Häuser zumeist über die ehemaligen Abb. 4.10 Die Gower Mews im Stadtteil Bloomsbury. Die ehemaligen Unterstellplätze für die Kutschen die- nen heute als Garagen. Die einstigen Wohnungen des Personals zählen heute zu den teuersten Wohnlagen in Central London. Quelle: Zehner 2007. wickelt, während in Clerkenwell überwiegend Präzi- Semidetached London sionsgeräte fabriziert wurden. In Hatton Garden hatte sich ein Schwerpunkt der Uhren- und Schmuckindus- trie herausgebildet, und in Shoreditch war ein Drucke- Außerhalb dieses Industrie- und Arbeitergürtels hatten reiviertel entstanden. Dort, wie auch in Bethnal Green, sich zwischen den beiden Weltkriegen Wohngebiete wurden auch Möbel hergestellt, während in Whitecha- geringerer Dichte entwickelt. Dieser suburbane Gürtel pel die Bekleidungsindustrie ansässig war. Für die Sozi- schloss Inner London komplett ein und breitete sich in algeographie der Stadt war entscheidend, dass die den 1930er Jahren an seinen Rändern immer weiter aus. Arbeitskräfte zumeist in unmittelbarer Nachbarschaft Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bedeckte zu den Produktionsstätten wohnten und somit das zen- das suburbane London etwa das Vierfache der Fläche trale Stadtgebiet Londons von einem Kranz von Arbei- Inner Londons, wies aber noch nicht einmal die dop- terquartieren eingefasst wurde. pelte Bevölkerungszahl auf. Entscheidend für seine Ent- wicklung war zunächst das Aufkommen der Eisenbahn gewesen und ab 1900 der elektrifizierten Vorortzüge und der Motorbusse. Zum Sinnbild der (eintönigen) Vorort-, 4 94 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens entwicklung wurde das Doppelhaus (semidetached sich in der Zwischenkriegszeit unter dem Einfluss house). Der Londoner Vorortring entwickelte sich zum zunehmender Motorisierung das Muster der Industrie- Wohngebiet hauptsächlich mittlerer Einkommensgrup- ansiedlung und somit auch das der sozialräumlichen pen. Die charakteristische Bebauungsdichte orientierte Struktur. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte sich vor allem sich an dem von Ebenezer Howard, dem Vater der längs der großen Ausfallstraßen nach Westen, der Great G artenstadtidee, vorgeschlagenen Richtwert von zwölf West Road, der Western Avenue und der Edgware Road, Häusern pro Acre (1 Acre entspricht 4 000 qm). Mittel- ein Band von Fabriken angesiedelt. In östliche Richtung punkte der neuen Vororte waren häufig ältere Dorf- reihten sich Industriebetriebe nördlich der Themse bis kerne, die im Zuge der Suburbanisierung in Subzentren nach Dagenford zu den Fordwerken. Erwähnt wurde umgewandelt wurden. Hier entstanden neue Halte- bereits die Industriegasse des Lea Valley im Nordosten, punkte für die Vorortzüge oder die Londoner U-Bahn, während sich auch in Südlondon, längs des Flusses die Tube, deren Trassen in den Außenbereichen zumeist Wandle, Industrie angesiedelt hatte. Diese Industrie- oberirdisch geführt wurden. Um die Bahnhöfe grup- gasse zog sich von Wandsworth in südwestliche Rich- pierten sich Geschäfte, die Post, die Bücherei und in den tung nach Merton und Mitcham. In den tiefer gelegenen größeren Orten auch das eine oder andere Kino. Ealing, Arealen längs der Flüsse lagen auch die Arbeiterquar- Croydon, Harrow und Ilford sind gute Beispiele für sol- tiere, während sich auf den etwas höher gelegenen Are- che suburbanen Zentren. In anderen Stadtrandgebieten alen zwischen diesen Bändern die Wohngebiete der wurden komplett neue Subzentren errichtet, beispiels- Mittelschichten ausgebreitet hatten. weise Rayners Lane und Hendon Central (Abb. 4.11). Ende der 1950er Jahre begann sich die Sozialgeo- Der äußere Vorortring blieb weitestgehend von graphie Londons erneut zu verändern. Die mittleren Industrieansiedlungen verschont. Allerdings veränderte Schichten wanderten zunehmend aus Inner London ab. Ihre Zielgebiete lagen entweder im suburbanen Vorort- gürtel oder in einer der New Towns, die in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in 30–40 km Ent- fernung von der Londoner Innenstadt entstanden waren. Kompensiert wurde dieser Bevölkerungsverlust durch den Zuzug ärmerer Bevölkerungsgruppen, unter ihnen zunächst hauptsächlich Iren und Kariber. Trotz dieser Verschiebungen war Mitte der 1960er Jahre noch immer ein deutliches soziales Gefälle zwi- schen der westlichen und der östlichen Stadthälfte zu erkennen. Eine im Auftrag des Greater London Council durchgeführte sozialgeographische Untersu- chung belegt, dass Mitte der 1960er Jahre der Osten Londons überdurchschnittliche Anteile an Sozialwoh- nungen und Arbeitern aufwies, während das West End durch eine junge, mobile und in Eigentumswohnungen bzw. privat gemietetem Wohnraum lebende Bevölke- rung gekennzeichnet war.

Gentrifizierung und

sozialräumliche Fragmentierung Dieses sozialräumliche Muster blieb bis Mitte der 1960er Jahren gültig. Dann jedoch setzte ein dramatischer Wan- del der städtischen Wirtschaft ein. Es waren im Wesent- Abb. 4.11 Poster, mit dem in der Zwischenkriegszeit Werbung lichen drei sich zum Teil überlagernde Prozesse, die Lon- für die neuen Wohngebiete Londons an der Peripherie gemacht dons Ökonomie in ihren Grundzügen veränderte. wurde. Betont werden die neuen Ideale vom Wohnen im Grü- nen bei gleichzeitig schneller und preiswerter Erreichbarkeit Erstens schrumpfte der industrielle Sektor signifikant. der Londoner Innenstadt. Quelle: http://london-under- Zwischen 1961 und 1981 büßte London 770 000 in- ground.blogspot.com/2009/03/moving-to-metro-land-bus- dustrielle Arbeitsplätze ein. Dieser Rückgang führte back-to-1950s.html. dazu, dass der Anteil der in der Industrie Beschäftigten, 4.3 Geteilte Stadt: Soziale Gegensätze und sozialräumliche Kontraste in London 95 4 von 32,4 % (1961) auf 19 % (1981) zurückging. Zwei- tens führten wirtschaftliche Überlegungen zur Schlie- £333 a glass. The bankers ordered two rounds for their ßung des Londoner Hafens, die zwischen 1969 und 1981 table of eight. Their final bill for the night: £15,000. vollzogen wurde. Dadurch gingen zwischen 1961 und Those same men, or their colleagues, may well have invested £200,000 in a Bentley or Aston Martin, or they 1981 23 000 Arbeitsplätze in der Hafenwirtschaft verlo- might have paid celebrity hairdresser Nicky Clarke £500 for ren (Abschnitt 4.4). what the salon describes as an ‚aspirational haircut‘. They Drittens konnte London seine Position innerhalb des are the costumers sought by the London estate agent who globalen Städtesystems im Zuge des Umbaus der Welt- offers a three-bed-room flat in Kensington as a ‚starter wirtschaft im späten 20. Jahrhundert weiter ausbauen, home‘ for £2.25m. They are the target reader of the newly was sich in einer signifikanten Zunahme von höherwer- launched Trader magazine, with its ads for private jets or tigen und gut bezahlten Arbeitsplätzen widerspiegelte. five-storey yachts (complete with submarine)“ (Auszug aus Von besonderer Bedeutung war der sog. Big Bang, der einem Artikel von Jonathan Friedland in der Londoner im Oktober 1986 die wirtschaftliche Stellung der City Tageszeitung The Guardian vom 23. November 2005). von London maßgeblich beeinflusste. Geschäftsabläufe an der Börse wurden vereinfacht, was sich positiv auf Dabei sind diese generellen Zuwachsraten das Ergebnis ihre internationale Bedeutung auswirkte. Dies führte von in der Regel räumlich begrenzten Aufwertungs- auch zu einem Bedeutungszuwachs des Bankensektors, prozessen. So wurden insbesondere im Osten Londons der vom Zuzug internationaler Investmentbanken pro- ehemalige Lagerhäuser bzw. industriell genutzte Ge- fitierte (Abschnitt 4.2). Von seiner gewachsenen Bedeu- bäude nach kurzen Phasen der Stilllegung und Zwi- tung profitierten unmittelbar unternehmensbezogene schen nutzung in luxuriöse Wohnanlagen umgewandelt Dienstleister, wie Unternehmensberatungen, EDV- (Abb. 4.12). Fachleute, Wirtschaftsprüfer, Notare und Juristen. Aber Dieser Prozess nahm seinen Anfang während der spä- auch die Dienste von Boten, Gebäudereinigern, Wach- ten 1970er Jahre in Wapping, östlich der City, und setzte leuten etc. wurden verstärkt nachgefragt. Zudem erfuhr sich auf dem Südufer der Themse fort, wo alte Wharfs in die Bauwirtschaft neue Impulse, denn viele der alten moderne Lofts konvertiert wurden. Das prominenteste Gebäude in der City entsprachen nicht mehr den Anfor- Beispiel dürfte Butler’s Wharf auf der sog. South Bank derungen an die neue Bürokommunikation. Gefragt sein. Mittlerweile gibt es in nahezu allen Stadtteilen waren neue Gebäude, die dem Stand der EDV-Technik Inner Londons Beispiele für konvertierte Lager- und entsprechend verkabelt waren und eine flexible Gestal- Industriehallen. Des Weiteren entstand hochwertiger tung von Büroräumen gestatteten. Wohnraum als Geschosswohnungsbau an Standorten Der dramatische Wandel des Arbeitsmarktes schlug mit besonderen Qualitäten. Bevorzugt wurden Lagen in sich auf den Wohnungsmarkt nieder. Insbesondere stieg der Nähe von Wasserflächen, also am Themseufer oder die Nachfrage nach attraktivem Wohnraum für die gut einem der Docks. Von hohem Wert waren auch Stand- verdienenden Angestellten des FIRE-Sektors und der orte, die besondere Vorzüge hinsichtlich der Verkehrs- unternehmensbezogenen Dienstleistungen. Besonders anbindung boten. Das zurzeit im Werden begriffene auffällig war, dass die Stadtbezirke im Osten und Süd- Quartier im Schatten des erweiterten und umgestalteten osten Londons die höchsten Zuwächse an Besserverdie- St.-Pancras-Bahnhofs liefert hierfür das Paradebeispiel nenden zu verzeichnen hatten. So nahm zwischen 1981 (Abschnitt 4.2). und 1991 der Anteil jener Berufsgruppen, die in der Das wohl imposanteste Neubauprojekt der letzten amtlichen Statistik auf der höchsten Hierarchiestufe ste- Jahre an der Themse entstand allerdings nicht im Lon- hen und als professionals and managers bezeichnet wer- doner Osten, sondern westlich der City, im Stadtteil den, in Tower Hamlets um 72 % zu, in Southwark um Vauxhall. Am südlichen Brückenkopf der Vauxhall 46 %, in Lambeth um 43 % und in Hackney um 42 %. Bridge wurde auf dem Gelände eines ehemaligen Gas- werkes zwischen 1998 und 2005 ein spektakulärer Neu- „Late last month two bankers strode into Umbaba, one of baukomplex, die St. George’s Wharf, errichtet. Die London’s most modish watering holes, and asked the bar- Anlage besteht aus fünf miteinander verbundenen Häu- tender to fix them a drink. Not any drink, you understand, sern, die stufenförmig bis zu 22 Stockwerken ansteigen. but the most expensive cocktail he could concoct. He set to Die obersten Stockwerke bestehen jeweils aus seegras- work, blending a Richard Hennessy cognac that sells at grünen Penthäusern. Architektonisch bemerkenswert £ 3,000 a bottle, Dom Perignon champagne, fresh lemon- sind die extravaganten Dachkonstruktionen in Form grass and lychees – all topped off with an extract of von riesigen Flügeln, die ein maritimes Ambiente yohimbe bark, a West African import said to possess aphro- v ermitteln. Die St. George’s Wharf umfasst über 750 disiac powers. He called it the Magic Noir – and he charged Luxuswohnungen, ein Hotel sowie zahlreiche Dienst-, 4 96 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.12 Butler’s Wharf ist ein kon- vertiertes historisches Lagerhaus, unweit der Tower Bridge, am Südufer der Themse gelegen. Die Wharf wurde 1972 außer Betrieb gestellt und drohte zu verfallen. In den 1980er Jahren wurde aus dem einstigen Lagerhaus ein Komplex mit Lofts der Luxusklasse. Heute ist Butler’s Wharf auch durch ihre gehobene Gastronomie bekannt. Quelle: Wikimedia Commons, Colin G regory Palmer 2005. leistungseinrichtungen und gastronomische Betriebe dem Areal der verfüllten London Docks ein solches (Abb. 4.13). Quartier entstanden ist (Abb. 4.14). Des Weiteren findet Eine dritte Form der Gentrifizierung repräsentieren man diese Form der Gentrifizierung auch auf der Süd- neue größere Wohngebiete mit einer verdichteten seite der Themse im Gebiet der einstigen Surrey Docks. Bebauung, die sowohl Ein- und Zweifamilienhäuser als Am Beispiel Wapping lässt sich im Übrigen deutlich auch einen moderaten Geschosswohnungsbau umfas- erkennen, wie feinkörnig sozialräumliche Muster in sen. Ihr Wohnungsangebot richtet sich weniger an Spit- London mittlerweile geworden sind. Nur wenige Stra- zenverdiener als vielmehr an die gehobenen Mittel- ßenzüge von den Luxusappartments an der Waterfront schichten, die ihren Arbeitsplatz in der City oder den und den neuen Quartieren der oberen Mittelschicht ent- Docklands haben. Ein Beispiel hierfür ist wiederum fernt liegen heruntergekommene Wohnblöcke mit Sozi- Wapping, wo in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf alwohnungen, in denen Angehörige ethnischer Minder- Abb. 4.13 St. George’s Wharf ist ein architektonisch spektakuläres Großpro- jekt in Vauxhall mit guten innerstädti- schen Verbindungen. Die hier verwirk- lichte Kombination von Wohnen und Arbeiten entspricht dem aktuell präfe- rierten Leitbild von der Stadt der kurzen Wege. Quelle: Zehner 2006., 4.3 Geteilte Stadt: Soziale Gegensätze und sozialräumliche Kontraste in London 97 4 Abb. 4.14 Wohngebiet für die obere Mittelschicht in Wapping. Der Kanal erinnert noch an die ehemalige Nutzung des Geländes als Dock. Quelle: Zehner 2004. heiten zur Miete wohnen. Vor allem Bangladeshi sind Statistik. Der sog. Index of Multiple Deprivation, eine hier in der Mehrheit. statistische Kennziffer, die aus insgesamt 38 Variablen Wie Wapping ist ganz Inner London heute stark se - zur Beschreibung sozialer, ökonomischer und ökologi- gregiert und fragmentiert. Ähnliche Kontraste findet scher Benachteiligungen entwickelt wurde, weist die im man auch in Islington, in Wandsworth und in Camden Osten liegenden Stadtbezirke Newham, Hackney und Town. Dort ist eine aus städtebaulicher Sicht vierte Vari- Tower Hamlets der Gruppe der am stärksten benachtei- ante der Gentrifizierung zu beobachten. Sie besteht in ligten Local Authorities in ganz England zu. Auf der der Aufwertung älterer Reihenhäuser, sog. terrace houses. anderen Seite weist die EU-Statistik Inner London als Äußerlich spiegelt sich der Wandel der Sozialstruktur reichste Region innerhalb der EU aus. Ungefähr ein häufig in den bunt gestrichenen Hausfassaden wider Fünftel der Einwohner Inner Londons gehört mittler- (Abb. 4.15). weile zur neuen urbanen Mittelschicht, deren mittleres Die ausgeprägte Viertelsbildung in Inner London Jahreseinkommen über 70 000 Pfund liegt. erklärt auch scheinbare Widersprüche in der amtlichen Abb. 4.15 Gentrifiziertes Wohngebiet in Notting Hill. Quelle: Zehner 2004., 4 98 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens

Die amtliche Statistik in Großbritannien

Grundlage für alle Formen sozialgeographischer Analysen sie dort zum ersten Mal eine ärztliche Leistung in Anspruch sind zuverlässige und aktuelle Daten über die Bevölkerung. nehmen dürfen. Ein weiterer Vorzug der amtlichen Statistik Solche Daten sind in Großbritannien zentral verfügbar und in Großbritannien ist, dass die Daten zentral, und zwar beim können zumeist kostenlos bezogen werden. Grundlage der Office for National Statistics (ONS) mit Sitz in London, meisten Bevölkerungsdaten ist der Zensus. Seit dem Jahr gesammelt, aufbereitet und von dort abgegeben werden. 1801 wird regelmäßig, d.h. stets im ersten Jahr eines neuen Sein Zuständigkeitsbereich umfasst uneingeschränkt Eng- Jahrzehnts, eine Volkszählung durchgeführt. Die einzige Aus- land und Wales und mit gewissen Limitierungen auch Schott- nahme bildet das Kriegsjahr 1941. Die kurzen Abstände zwi- land und Nordirland. Deren Datenbestände werden zwar von schen zwei Totalerhebungen bedeuten, dass das Zahlenma- eigenen Ämtern gepflegt, sie sind allerdings in die Home- terial stets aktuell ist und die Fortschreibungen sich auf ein page des ONS eingebunden, so dass der Nutzer in der Pra- Zeitintervall von maximal zehn Jahren erstrecken, so dass xis die verschiedene Herkunft der Daten kaum bemerkt. statistische Fehler und Ungenauigkeiten klein und kalkulier- Schließlich ist hervorzuheben, dass die meisten Daten regio- bar bleiben. Da es in Großbritannien keine Meldepflicht gibt, nal tief gegliedert vorliegen. Der Nutzer kann in Abhängigkeit werden Migrationen innerhalb des Landes zumindest direkt von den Variablen und Daten, an denen er ein Interesse hat, nicht erfasst. Dennoch lassen sie sich seriös abschätzen. Ein zwischen verschiedenen räumlichen Gliederungssystemen wichtiges Instrument für die Ermittlung von Wanderungs- wählen. Die kleinste Einheit, für die Daten verfügbar sind, strömen innerhalb Großbritanniens liefert die Meldedatei sind die lower super output areas, statistische Bezirke, die in des National Health Service. Bürger, die ihren Wohnstandort der Regel Haushalte mit 1000 bis 1500 Einwohnern zu sam - innerhalb des Landes wechseln, müssen sich beim örtlichen menf assen. Gesundheitsamt ihres neuen Wohnortes anmelden, bevor

Fazit Buck, N.; Gordon, I.; Hall, P.; Harloe, M.; Kleinman, M. (2002):

Working Capital. Life and Labour in Contemporary London. London/New York. Hafen und Regierungssitz waren schon in der frühen Engels, F. (1845): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Neuzeit ausschlaggebend für die Entfaltung eines tief Leipzig. greifenden sozialgeographischen West-Ost-Kontrasts in Grotjahn, A. (1904): Soziale Hygiene und Entartungsproblem. London. Das Grundmuster eines aristokratisch gepräg- In: Soziale Hygiene, Handbuch der Hygiene, 4. Supplement- ten Westens und eines durch Handel und Gewerbe Band. Jena. geprägten Ostens verstärkte sich im Industriezeitalter Hamnett, C. (2003): Unequal City. London in the Global Arena. weiter. Heute – unter dem Einfluss von Deindustrialisie- London/New York. rung und der Stärkung des FIRE-Sektors sowie unter- Höfle, G. (1977): Das Londoner Stadthaus. Heidelberg. Piper, D. (1966): London, München. nehmensbezogener Dienstleistungen – ist die Struktur Rasmussen, S. E. (1934): London. The Unique City. Cambridge der sozialräumlichen Gliederung viel feinkörniger (Mass.). geworden. Dies betrifft vor allem Inner London, wo eth- Schubert, D. (1997): Stadterneuerung in London und Hamburg. nisch und sozial sehr unterschiedliche Stadtviertel in oft Eine Stadtbaugeschichte zwischen Modernisierung und enger räumlicher Nachbarschaft liegen und aneinander Disziplinierung. Braunschweig/Wiesbaden. stoßen. Aus ehemaligen Arbeiterquartieren haben sich einerseits Gebiete, die durch spezifische ethnische und soziale Merkmale ihrer Bevölkerung geprägt werden, entwickelt, während andererseits, an Standorten mit besonderen Qualitäten, durch Gentrifizierung Wohnge- biete für urbane Eliten entstanden sind.

Weiterführende Literatur

Ackroyd, P. (2002). London. Die Biographie. München. Ackroyd, P. (2007). Die Themse. Biographie eines Flusses. München., 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity 99 4 4.4 Vom maroden Hafen zur entweder in Stratford oder am Endhaltepunkt, dem modernisierten St.-Pancras-Bahnhof, aus dem Zug. glitzernden Nebencity: Die 2012 wird der Osten Londons dann vollends aus dem

London Docklands – eine Schatten der City und des vornehmen Regierungsvier-

tels Westminster herausgetreten sein. Denn hier, unweit

Bilanz nach drei Jahrzehnten von Stratford, entsteht zurzeit auf einer ehemaligen Strukturwandel Industriebrachfläche der Schauplatz für die Olympi-

schen Sommerspiele (Abb. 4.16). Dass sich der Londoner Osten heute deutlich attrak- Klaus Zehner tiver als vor 30 Jahren präsentiert, ist einem tief greifen- den Strukturwandel zuzuschreiben, der vor etwa 25 Noch vor 30 Jahren endete London auf handelsübli- J ahren einsetzte und bis heute andauert. Besonders ein- chen Stadtplänen am Tower bzw. an der Tower Bridge. drucksvoll spiegelt sich dieser Wandel in den Docklands Warum auch hätte man weiter flussabwärts gelegene wider. Die Entwicklung des einstigen Hafens zu einem Stadtteile auf Stadtplänen verzeichnen sollen, lagen neuen Stadtteil mit spektakulären Bürohochhäusern, doch hier die Hafen- und Industriegebiete der Haupt- aber auch Luxuswohnungen in umgebauten Lagerhäu- stadt. In das Gewirr aus Lagerhäusern, Schuppen, sern, fiel hauptsächlich in die 1980er und in die erste Getreidemühlen, Werften und den Wohnquartieren von Hälfte der 1990er Jahre. Die damalige Premierministerin Hafen- und Industriearbeitern hätte sich ohnehin kein Margaret Thatcher mit dem Spitznamen „Eiserne Lady“ Tourist freiwillig begeben. hatte die Hafenerneuerung zu ihrem Prestigeprojekt Heute dagegen ist auch der Ostteil der Metropole auf erklärt. Dementsprechend flossen erhebliche Mittel aus Stadtplänen dargestellt. Manche Touristen kommen hier der Staatskasse in das Projekt „Hafenerneuerung“. Aller- sogar an, wenn sie London besuchen. Einige landen mit dings waren die Maßnahmen der Regierung umstritten, dem Flugzeug auf dem nur wenige Kilometer östlich der da sie die Interessen und Belange der lokalen Bevölke- City gelegenen Stadtflughafen im Gebiet der ehemaligen rung kaum berücksichtigten. Royal Docks. Andere wiederum durchqueren mittler- Die erfolgreiche Umwandlung des Hafens in eine weile, von Paris oder Brüssel kommend, mit den schnel- pulsierende Nebencity Londons war an drei Vorausset- len Eurostar-Zügen den Ostteil der Stadt und steigen zungen gebunden: Abb. 4.16 Touristische Landmarken im Osten Londons. Quelle: Zehner 2009., 4 100 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.17 Eröffnung und Schließung der Schleusendocks im Londoner Hafen. Quelle: Zehner 2009. Erstens musste die Nutzung des Gebiets als Hafen Kommunikation und Information wichtige Standort- komplett aufgegeben werden. Diese Voraussetzung war voraussetzungen sein würden, als zukünftige Nutzer 1981 erfüllt, als die Londoner Hafenbehörde mit den gewinnen. Royal Docks die letzten, noch in Betrieb befindlichen Hafenareale innerhalb der Stadtgrenzen aufgab (Abb.

Rückblick:

4.17). Als einziger Hafen Londons verblieben die Til- bury Docks, die jedoch nicht in London selbst liegen, Vom Welthafen zur Hafenbrache sondern Ende des 19. Jahrhunderts als Vorhafen, 35 km Themse-abwärts, angelegt worden waren. Wie aber war es überhaupt dazu gekommen, dass der Zweitens war es zwingend notwendig, das beschä- noch Mitte der 1960er Jahre florierende Londoner digte Image der Docklands aufzubessern. Insbesondere Hafen nur 15 Jahre später nicht mehr existierte? die Isle of Dogs im Herzen des einstigen Hafens litt noch Durch den Seehandel mit den Kolonien, aber auch bis in die frühen 1980er Jahre unter dem zweifelhaften durch die zahlreichen Kohleschiffe und Kanalboote, Ruf einer No-go-Area. Die Isle of Dogs war nahezu zwei hatte der Schiffsverkehr auf der Themse im 18. Jahrhun- Jahrhunderte ein Gebiet gewesen, in dem ausschließlich dert stark zugenommen und teilweise chaotische For- Hafenarbeiter und Seeleute lebten und verkehrten. men angenommen. Daher war aus wirtschaftlicher Sicht Investoren für städtebauliche Großprojekte in einem eine Erweiterung des Hafens unumgänglich geworden. solchen Gebiet zu finden, war deswegen sehr schwierig. Allerdings reichten hierfür die Kaimauern zwischen Daher war das Marketing der Docklands eine zentrale Tower und London Bridge nicht mehr aus. Daher ent- Aufgabe der 1981 von der Thatcher-Regierung ins Leben schloss sich der Stadtrat, dem Drängen Londoner Kauf- gerufenen Entwicklungsgesellschaft London Docklands leute und Handelsgesellschaften nachzugeben und Development Corporation (LDDC). In ihre Hände den Bau neuer Hafenbecken östlich der damaligen Stadt hatte die Regierung die Entwicklung der gesamten Lon- zu genehmigen. So wurden ab 1776 flussabwärts zu bei- doner Docklands gelegt. Sie sollte für das Gebiet werben den Ufern der Themse neue sog. Flutdocks in Betrieb und seine Vorzüge als zukunftsfähiger Bürostandort im genommen. Sie boten gegenüber den Flusskais den Vor- Schatten der Londoner City herausstellen. teil, dass sich mit den Dockschleusen der Wasserstand in Drittens mussten technische Voraussetzungen für den Hafenbecken konstant halten ließ. Somit konnte der den Umbau zu einem zukunftsweisenden Dienstleis- starke Tidenhub der Themse, der im Osten Londons tungsstandort geschaffen werden. Dazu zählte vor allem über6mbeträgt, die manuelle Be- und Entladung von die Verlegung eines Glasfasernetzes, das eine leistungs- Seeschiffen nicht mehr beeinträchtigen. fähige und schnelle Datenübertragung gewährleistete. Der kostspielige Bau der Docks war von privaten Denn man wollte vor allem Finanzdienstleister, Versi- Handelsgesellschaften finanziert worden. Diese Gesell- cherer und andere Unternehmen, für die elektronische schaften kümmerten sich nach der Inbetriebnahme, 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity 101 4 zunächst auch um die Bewirtschaftung der Docks. Zu Umschlag- und Handelsplätze mehr haben würden, rea- Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Aufgabe aus gierten weder Politiker noch Planer auf diese – auch wirtschaftlichen Gründen in die Hände einer neu städtebauliche – Herausforderung. Erst 1971, vier Jahre gegründeten Hafengesellschaft, der Port of London nach Schließung der East India Docks, erteilte die Regie- Authority (PLA), gelegt. Mit dem stetigen Wachstum rung einem privaten Planungsbüro den Auftrag, alterna- Londons und dem (noch) regen Handel mit den Kolo- tive Pläne für Nachfolgenutzungen in den stillgelegten nien des British Empire stiegen auch die Umschlagszah- Hafenteilen zu erarbeiten. len des Londoner Hafens weiter an. Sowohl im Stadtparlament als auch im Unterhaus Einen derben Rückschlag musste der Hafen in den besaßen damals die Konservativen die Mehrheit. Diese Jahren 1940 und 1941 hinnehmen, als durch Luftan- Machtverhältnisse erklären, warum ausgerechnet ein griffe erhebliche Teile der Hafenanlagen zerstört wurden. Plan mit dem Titel „City New Town“ favorisiert wurde. Nach dem Ende des Krieges erholte sich die Hafenwirt- Dieser Plan sah nämlich vor, den Güterumschlag und schaft zwar zunächst rasch wieder, und 1964 verzeich- die wenig zukunftsfähigen Industrien in den Docklands nete der Londoner Hafen sogar einen Rekordumschlag. durch den Bau einer „Neuen Stadt in der Stadt“ mit ca. Ab diesem Zeitpunkt jedoch verlor der Hafen Jahr für 60 000 Büroarbeitsplätzen zu ersetzen. Aus heutiger Jahr an Bedeutung. Bis 1970 nahm die umgeschlagene Sicht ist bemerkenswert, dass ein Jahrzehnt später dieser Gütermenge zunächst nur allmählich, ab 1970 jedoch Plan tatsächlich verwirklicht wurde. sehr deutlich ab. Ein wesentlicher Grund war der Sieges- Bis dahin allerdings bewegte sich nur wenig im alten zug des Containers, von dem die alten Docks leider nicht Hafen, denn mittlerweile hatten sich erneut die politi- profitieren konnten. Denn zum einen waren, wie im schen Kräfteverhältnisse verändert. Bei den Kommunal- Falle der St. Katharine‘s und London Docks, die Hafen- wahlen im April 1973 hatte die Labour Party in London becken für die neuen Generationen von Containerschif- mit deutlichem Vorsprung vor den Konservativen fen schlicht zu klein. Zum anderen fehlten jenseits der gewonnen, und ein Jahr später wiederholte sie ihren Kaimauern die notwendigen Flächen zum Stapeln und Erfolg auch auf nationaler Ebene. Manövrieren der Container. Die neuen politischen Mehrheiten schlugen sich auch Die PLA sah sich daher genötigt, sich von ihren stadt- in den Docklands nieder. 1974 wurde eine durch Labour nahen Flutdocks zu trennen. Zwar wurde dieser Ent- kontrollierte Planungsbehörde, das Docklands Joint schluss insbesondere von den direkt betroffenen Hafen- Committee, eingesetzt. Sie verfolgte das Ziel, in den arbeitern heftig kritisiert. Trotzdem war der Einschnitt Docklands sozialen Wohnungsbau voranzutreiben und wirtschaftlich notwendig und vernünftig. Denn London neue Industrien anzusiedeln. In einer Zeit jedoch, in war auch von einem generellen Rückgang des Handels- der in Großbritannien und insbesondere in London volumens betroffen. Mittlerweile waren andere britische Industriebetriebe zunehmend aus dem Stadtbild ver- Häfen mit modernerer Infrastruktur und günstigerer schwanden, waren derartige Ziele sehr realitätsfern. Lage zu Kontinentaleuropa, wie etwa Felixstowe, Har- Demzufolge fiel nach sechs Jahren die Bilanz des Dock- wich, Southampton und Dover zu ernsthaften Konkur- lands Joint Committee ernüchternd aus: Eine wirt- renten der Hauptstadt aufgestiegen. Im internationalen schaftliche Neubelebung des Hafens war ausgeblieben Seeschifffahrtshandel hatten Häfen auf dem Kontinent, und der soziale Wohnungsbau aus Kostengründen über wie Rotterdam, Antwerpen, Le Havre, Bremerhaven und ein bescheidenes Anfangsstadium nicht hinausgekom- Hamburg, London den Rang abgelaufen. men. Als dritter Grund für die Schließung der Häfen ist das Themsesperrwerk bei Woolwich zu nennen. Man

Paradigmenwechsel:

befürchtete, dass durch das sperrige Bauwerk die Erreichbarkeit der stromaufwärts gelegenen Docks Die LDDC und die Enterprise Zone zusätzlich erschwert werden würde. Seine Aufgaben übernahm ein Jahr später die staatlich kontrollierte Entwicklungsgesellschaft London Dock-

Von den Docks zu den Docklands: lands Development Corporation (LDDC) (Abb. 4.18). Erste Konzepte und Strategien Die LDDC war die erste von 14 Urban Development

Corporations, die zwischen 1981 und 1993 zur Lösung der Transformation wirtschaftlicher und städtebaulicher Entwicklungspro- bleme in englischen und walisischen Städten eingesetzt Obwohl bereits Mitte der 1960er Jahre absehbar war, wurden. Aus politischer Perspektive spiegelt der Einsatz dass zumindest die kleineren Docks keine Zukunft als von Urban Development Corporations ein tiefes Miss-, 4 102 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.18 Gründungsmitglieder der LDDC. Quelle: London Docklands D evelopment Corporation (Hrsg.): Annual Report and Accounts 1981/82, S. 3. trauen, das die Regierung gegenüber den lokalen Parla- „Wenn wir den Innenstädten tatsächlich helfen wollen, wie menten und Stadtverwaltungen hegte, wider. Denn die den Städten insgesamt, müssen wir vielleicht höchst unor- Regierung hielt die lokalen politischen Akteure nicht thodoxe Methoden anwenden, […] Das letzte mögliche mehr für fähig, die anstehenden Probleme zeitnah und Mittel möchte ich als die Freihafen-Lösung bezeichnen. […] effektiv zu lösen. Kleine, ausgewählte Bereiche der Innenstädte würden ein- Zugleich machte die Thatcher-Administration mit fach für jegliche Art von Initiativen geöffnet, mit minimalen dem Einsetzen staatlich kontrollierter Entwicklungsge- Kontrollen. Mit anderen Worten, wir würden die Situation sellschaften deutlich, welche Auffassung von räumlicher Hongkongs in den 1950er und 1970er Jahren in den Zentren Entwicklungsplanung sie vertrat. „Privatisierung“ und von Liverpool oder Glasgow neu erschaffen“ (Hall 1977, S. 5). „Deregulierung“ lauteten die entscheidenden Schlag- worte, die den Planungsansatz der LDDC wohl am tref- Damit die LDDC die Wünsche von Investoren berück- fendsten beschreiben. Durch eine flexible, bedarfsorien- sichtigen konnte, musste sie sich ein Höchstmaß an Fle- tierte Arbeitsweise wollte man Investoren anlocken. Sie xibilität vorbehalten. Daher verzichtete sie auf konkrete sollten ihre städtebaulichen und wirtschaftlichen Vor- Flächennutzungs- und Bebauungspläne und konzen- stellungen und Interessen einbringen können, ohne trierte sich in der Praxis auf die Moderation und Koor- dabei auf so trockene und restriktive Dinge wie Nut- dination von Projekten. Leider bedeutete ein solches zungspläne, städtebauliche Konzepte oder gar demokra- Planungsverständnis auch, dass die Interessen der loka- tische Planungsverfahren Rücksicht nehmen zu müssen. len Bevölkerung hinten angestellt wurden. Soziale und Räumlich sollte sich der überwiegende Teil der priva- ökologische Aspekte wurden kaum beachtet. Profitieren ten Investitionen auf die Isle of Dogs konzentrieren, da konnte die angestammte Bewohnerschaft der Docklands ihr die Rolle eines Entwicklungspols für die gesamten nur durch spärliche „Sicker-Effekte“, die sich aus einer Docklands zugedacht worden war. Um dieses Ziel mög- allgemeinen Verbesserung der Wirtschaftslage ergaben. lichst rasch zu erreichen, richtete die Regierung hier eine Eine wesentliche Voraussetzung zur wirtschaftlichen Sonderwirtschaftszone, eine sog. Enterprise Zone, ein. Neubelebung war die Erschließung der Isle of Dogs Enterprise Zones waren kleine Steuerparadiese, die nach durch neue Verkehrssysteme und Straßen. Dabei kam dem Vorbild Hongkongs konzipiert waren. Sie gingen der Docklands Light Railway (DLR), einer computerge- auf eine Idee des Geographen und Stadtplaners Sir Peter steuerten Stadtbahn, eine Vorreiterrolle zu (Abb. 4.19). Hall zurück. In diesen Zonen konnten Investoren bereits Die DLR schloss ab 1987 die Isle of Dogs an die Londo- im ersten Jahr ihre Ausgaben in vollem Umfange steuer- ner City an. Obwohl die DLR zunächst noch stark ver- lich abschreiben, und Unternehmen wurden zehn Jahre höhnt und ihr Wert in Frage gestellt wurde, zeigte sich von Gewerbesteuern befreit. schon unmittelbar nach ihrer Eröffnung im Herbst, 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity 103 4

Die London Docklands Development Corporation (LDDC)

Unter allen Instrumenten, die in den 1980er Jahren von der zu über 80% im Besitz staatlicher oder kommunaler Körper- konservativen Regierung unter Margret Thatcher zur Ent- schaften (British Gas, Port of London Authority, Greater L on- wicklung von Stadt und städtischer Wirtschaft zum Einsatz don Council) befunden, so dass Grundstücke zügig erwor- kamen, nehmen die städtischen Entwicklungsgesellschaften ben, erschlossen, parzelliert und mit Gewinn am Markt (Urban Development Corporations) eine besondere Rolle veräußert werden konnten. Eine zweite zentrale Aufgabe ein. Sie drücken, noch deutlicher als andere Maßnahmen, bestand in der Entwicklung einer leistungsfähigen Verkehrs- aus, dass Stadtentwicklung von der damaligen Regierung infrastruktur. Das Hafengebiet war damals nicht an das Lon- überwiegend im Sinne wirtschaftlicher und städtebaulicher doner U-Bahnnetz angeschlossen, und auch die Anbindung Entwicklung interpretiert wurde. an das Straßennetz war unzureichend. Drittens spielte das Urban Development Corporations sollten in besonders Marketing eine zentrale Rolle, da der Hafen zum Zeitpunkt problematischen Stadträumen kurzfristig die Voraussetzung seiner Schließung als No-go-Area galt, in die zumindest bri- für eine im Wesentlichen von privaten Investoren finanzierte tische Anleger nicht zu investieren bereit waren. Stadtentwicklung schaffen. Im Kern bedeutete ihre Einset- Die LDDC geriet schon bald nach ihrer Gründung in das zung die politische Entmachtung von Gemeinden bzw. Stadt- Kreuzfeuer öffentlicher Kritik, weil sie Planung ausschließ- bezirken. Die Regierung konnte sich dabei auf Erfahrungen lich als wirtschaftliche und städtebauliche Aufgabe begriff; stützen, die ihre Vorgänger seit Mitte der 1940er Jahre beim soziale Verantwortung und die Nachhaltigkeit raumwirksa- Bau von New Towns gemacht hatte, für den ebenfalls staat- mer Entscheidungen spielten für sie dagegen nur eine unter- liche Entwicklungsgesellschaften und nicht die Gemeinden geordnete Rolle. verantwortlich gewesen waren. Trotz ihres offensichtlich fehlenden Gespürs für politi- Unter allen Urban Development Corporations wurde die sche Zwischentöne und ihrer geringen sozialen Kompetenz LDDC rasch die bekannteste. Ihr kam die Aufgabe zu, inner- gelang es der LDDC, durch beachtliche Vorleistungen in halb von zehn Jahren das damals weitgehend brachliegende Straßenbau und Grundstückserschließung sowie durch in - Gebiet des einstigen Londoner Hafens neuen Nutzungen ten sive Bewerbung, vor allem die Isle of Dogs innerhalb von zuzuführen. Eine entscheidende Voraussetzung hierfür war gut anderthalb Jahrzehnten von einem maroden Hafengebiet die Möglichkeit der Akquisition von Land. Dieses hatte sich in eine attraktive Nebencity umzuwandeln. Abb. 4.19 Die Docklands Light Railway (DLR) – computergesteuerte Stadtbahn ohne Fahrer. Quelle: Zehner 2002., 4 104 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens 1987, dass sie nicht nur ausgelastet war, sondern sogar so dieser frühen Phase des Umbaus noch als zu hoch ein- stark frequentiert wurde, dass ihr Ausbau aus wirt- geschätzt wurde. schaftlicher Sicht dringend geboten erschien. Das erste größere Einzelprojekt entstand 1984 auf Parallel zur Erweiterung der DLR wurde mit dem dem östlichen Kai des Millwall Inner Docks. Hier wurde Limehouse Link, dem damals teuersten Tunnelprojekt die London Arena, eine Mehrzweckhalle für Sport- und Großbritanniens, eine leistungsfähige Straßenverbin- kulturelle Großveranstaltungen, errichtet. Sie wurde dung zwischen der Isle of Dogs und der City geschaf- jedoch schon im Jahre 2006 wieder abgerissen, weil von fen. Der Limehouse Link ist Teil des Docklands High- Beginn an PKW-Parkplätze gefehlt hatten, was sich als way, einer Schnellstraße, die unter dem Limehouse schweres Handikap für die Akzeptanz der Halle erwie- Basin verläuft und die City mit den Docklands verbin- sen hatte. det sowie beide Wirtschaftszentren an das regionale Autobahnnetz anschließt. Das dritte, aus heutiger Per- spektive wohl wichtigste Verkehrsprojekt war die Ver- Die Boomphase längerung der U-Bahnstrecke Jubilee Line, die nach einer Bauzeit von rund zehn Jahren im Jahre 2000 fer- Die zweite Phase der Revitalisierung setzte ab Mitte der tig gestellt wurde und Canary Wharf an die Londoner 1980er Jahre ein, als es zu einem abrupten funktionalen U-Bahn anschloss. und städtebaulichen Wandel in der Enterprise Zone kam. Mittlerweile hatte sich das Image der Docklands in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich verbessert.

Entwicklungsphasen Investoren schienen sich mit einem Male des Wertes von

und städtebauliche Ergebnisse Grundstücken in diesem Gebiet bewusst zu werden. Die veränderte Bewertung hatte zugleich andere Bauweisen auf der Isle of Dogs zur Folge. Die Zeit des Baus kleinteiliger Gewerbehöfe war beendet. Insbesondere auf den Grundstücken mit Die unter dem Patronat der LDDC einsetzenden städte- unmittelbarem Anschluss an die Docks entstanden in baulichen Entwicklungen lassen sich drei Phasen zu- kurzer Zeit imposante Bürogebäude, zumeist Hoch- ordnen. häuser mit Glas- und Stahlfassaden. Da es jedoch noch immer keine Gesamtkonzeption gab, entstand innerhalb kurzer Zeit ein Konglomerat unterschiedlichster Gebäu- Der „architektonische Zoo“ detypen, was an manchen Orten sogar zu regelrecht absurden städtebaulichen Kontrasten führte. Kennzeichnend für das Initialstadium der Revitalisie- Allerdings gab es auch ganz konkrete und handfeste rung war die fehlende Bereitschaft, klar zu formulieren, Gründe für die gesteigerte Nachfrage nach Büroflächen. wie sich die Isle of Dogs städtebaulich und wirtschaftlich So bot die Londoner City mittlerweile keine Expan- entwickeln sollte. Zwar hatte die LDDC eigene Überle- sionsmöglichkeiten mehr. Ein aus Perspektive des Denk- gungen zu Form und Qualität der neuen Gebäude ange- malschutzes zwar nachvollziehbares, aus wirtschaft- stellt. Gleichwohl fehlte ihr der Mut, diese Konzepte licher Sicht jedoch fatales restriktives Höhenkonzept offensiv zu vertreten. Aus heutiger Sicht gewinnt man verhinderte dort den Bau neuer Bürohochhäuser. den Eindruck, dass der Erfolgsdruck sehr hoch war und Angesichts des gestiegenen Bedarfs nach hochwertigen man Angst hatte, mit zu restriktiven Vorgaben poten- Büroflächen, insbesondere durch US-amerikanische zielle Investoren zu verschrecken. Investmentbanken, waren Firmen aus der Finanz- und Dabei blieben in der Anfangszeit die Projekte noch Versicherungsbranche gezwungen, nach Ausweichstand- bescheiden. Bis 1986 entstanden im Wesentlichen meh- orten zu suchen. Zwar hatte sich das Image der Dock- rere kleine Gewerbehöfe (Workshops), in denen sich lands damals noch nicht so weit zum Positiven verän- Dienstleistungs-, Handwerks- und Gewerbebetriebe nie- dert, dass sich führende Wirtschaftsunternehmen hätten derließen. Weder architektonisch noch städtebaulich vorstellen können, hierhin ihren Hauptsitz zu verlagern. waren diese Projekte jedoch aufeinander abgestimmt, so Dennoch deutete sich ein Stimmungsumschwung an. dass vor allem im südlichen Teil der Enterprise Zone Auch hochrangige Dienstleister aus der Finanz- und eine Mischung aus Gebäuden unterschiedlicher Qua- Versicherungsbranche fühlten sich ermutigt, zumindest litäten und Baustile entstand. einen Teil ihrer Büros in die Docklands zu verlagern. Die Bemerkenswert war, dass die meisten Investoren Hauptsitze ihrer Unternehmen verblieben zwar nach nicht aus London kamen, da offensichtlich in der wie vor in der City. Routinearbeiten jedoch, sog. back- Hauptstadt das Risiko eines finanziellen Fehlschlags in office activities, wurden wegen der deutlich günstigeren, 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity 105 4 Mieten nun in die Docklands ausgelagert. Die inzwi- ihre Erfahrungen bisher überwiegend in Nordamerika schen weiterentwickelte Datenkommunikationstechnik gesammelt hatten. bot für diese Entscheidungen den technischen und orga- Trotz der zügigen und professionell organisierten nisatorischen Rahmen. Durchführung des Baus konnte im Falle von Canary Wharf von einer geordneten Stadtentwicklungspolitik nicht die Rede sein. Ein großes Manko war die fehlende Canary Wharf Kompatibilität des Großprojekts mit der damals vor- handenen Verkehrsinfrastruktur. Schon nach den ersten Hierdurch entfaltete die Entwicklung auf der Isle of Beratungen mit den Projektentwicklern war klar gewor- Dogs eine Eigendynamik. Diese gipfelte 1985 in der den, dass angesichts der erwarteten 75 000 neuen Genehmigung von Canary Wharf, einer auf dem Reiß- Arbeitsplätze in Canary Wharf eine Nachbesserung der brett entworfenen Bürostadt nordamerikanischen Verkehrsinfrastruktur notwendig sein würde. Dazu war Zuschnitts. Canary Wharf sollte das größte städtebauli- in erster Linie die Weiterführung der U-Bahnstrecke che Einzelprojekt in ganz Europa werden. Jubilee Line nach Osten erforderlich. Nur zwei Jahre später begannen im Norden der Isle of Wie wichtig dieses Verkehrsprojekt war, zeigte sich, Dogs die Bauarbeiten. Sie leiteten die dritte und wir- als die neue Strecke im Jahre 2000 schließlich eröffnet kungsmächtigste Phase der Revitalisierung ein. Bis 1992 wurde. Nun setzte ein zweiter Entwicklungsschub ein, wurden zwischen den beiden nördlichen Becken der der sich im Bau zwölf weiterer Bürohochhäuser wider- West India Docks zunächst 13 Bürohäuser hochgezogen spiegelt. Sie wurden zwischen 2002 und 2004 fertig (Abb. 4.20). In ihrer Fassadengestaltung spiegelt sich gestellt. Die beiden größten Gebäude sind die Wolken- deutlich wider, dass Investoren und Projektentwickler kratzer zweier Banken, der britischen HSBC und der Abb. 4.20 Entwicklung des städtebaulichen Großprojekts Canary Wharf. Quelle: Zehner 2009, verändert nach http://www. canarywharf.com., 4 106 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.21 Canada One Square (Mitte) und die beiden neuen Hochhäuser von HSBC und der Citygroup. Quelle: Zehner 2007. US-amerikanischen Citygroup. Beide Türme flankieren don Arena werden derzeit acht bis zu 43 Stockwerke auf- den bereits 1991 fertig gestellten Canary Wharf Tower ragende Gebäude errichtet. In ihnen werden mehr als (One Canada Square). Letzterer, gut zu erkennen an sei- 1 000 Wohnungen, zwei Hotels und zahlreiche Büros nem auffälligen Dachaufsatz, der ihm übrigens den entstehen. An der nordwestlichen Flanke des Millwall Spitznamen „Obelisk“ beschert hat, ist allerdings noch Inner Dock stehen zurzeit zwei 39 und 48 Stockwerke immer das höchste Gebäude und Wahrzeichen von hohe Wohngebäude kurz vor der Vollendung. Sie erset- Canary Wharf (Abb. 4.21). zen einen erst 1987 in Betrieb genommenen, deutlich Canary Wharf präsentiert sich heute als eine pul- kleineren Bürokomplex. sierende Nebencity mit 75 000 Arbeitsplätzen, über- Ironischerweise ist es heute die Stadtbezirksverwal- wiegend aus den Branchen Finanzdienstleistungen, tung von Tower Hamlets, die Planungsgenehmigungen Versicherungen, Medien, Telekommunikation und Un - für spektakuläre Hochhausbauten, in denen Luxusap- ternehmensberatungen. Zu den prominentesten Unter- partments zu Spitzenpreisen angeboten werden, erteilt. nehmen der Finanzbranche zählen die Citigroup, HSBC, Diese Politik zeigt deutlich, wie weit sich mittlerweile Barclays Bank und die Bank of America. Vertreten sind der immer noch Labour-regierte Stadtbezirk von den hier aber auch renommierte Wirtschaftshochschulen einstigen Zielen einer an Reindustrialisierung und sozi- (z. B. Teach First) sowie Regierungs- und Nichtregie- alem Wohnungsbau orientierten Stadtentwicklungspo- rungsorganisationen (z. B. International Sugar Organi- litik entfernt hat. zation). Im Gegensatz zur City, in der Handel, Gastro- nomie, kulturelle und Freizeiteinrichtungen den Büronutzungen klar untergeordnet sind, definiert sich Strukturwandel die Attraktivität von Canary Wharf aus einer durchaus reizvollen Mischung von Funktionen. Einen wesent- in den übrigen Docklands lichen Anteil daran haben über 200 Geschäfte, die sich auf zwei unterirdische Malls südlich und nördlich der Auch wenn die strukturellen und städtebaulichen Ver- U-Bahn-Station Canary Wharf verteilen. änderungen auf der Isle of Dogs am augenfälligsten Zwar kann trotz Erweiterungsvorhaben, vor allem sind, darf doch nicht übersehen werden, dass die übri- am westlichen Rand, die Entwicklung von Canary gen Areale der Docklands ebenfalls von einem erheb- Wharf als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden. lichen Nutzungswandel erfasst wurden. Eine besondere Im Süden der Enterprise Zone jedoch, wo in den frühen Rolle kam dabei den St. Katharine’s Docks zu. Sie wur- 1980er Jahren die ersten Gewerbehöfe entstanden den bereits in den 1970er Jahren in einen privaten Jacht- waren, steht bereits eine neue Generation von Gebäuden hafen umgewandelt, der durch eine Sammlung histori- vor ihrer Vollendung. Auf dem Areal der einstigen Lon- scher Segelschiffe aufgewertet wurde., 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity 107 4

St. Katharine’s Docks

Obwohl die St. Katharine’s Docks in fußläufiger Entfernung Docks für 1,25 Mio. Pfund an den Greater London Council zur Londoner City liegen, wurden sie erst ca. 25 Jahre später (GLC), der einen städtebaulichen Wettbewerb für die Docks als die East und West India Docks erbaut. Letztere waren in unter privaten Entwicklungsgesellschaften ausschrieb. Als respektabler Entfernung vor den Toren der Stadt, auf der Sieger aus diesem Wettbewerb ging das Unternehmen Tay- sog. Isle of Dogs, angelegt worden. Aus dieser abseitigen lor Woodrow hervor, das den einstigen Wirtschaftshafen in Lage resultierte jedoch ein massives Sicherheitsproblem. einen privaten Jachthafen umwandelte. Durch eine Samm- Diebstähle von wertvollen Gütern, die hier gelagert wurden, lung historischer Schiffe wurde der Hafen aufgewertet, waren an der Tagesordnung. Daher wurde die Forderung wodurch seine Attraktivität als Freizeitstandort gesteigert Londoner Kaufleute nach stadtnäher gelegenen Docks wurde. Die alten Lagerhallen wurden mit Ausnahme des zunehmend lauter. Dass die Stadtverwaltung dem wirt- Ivory House abgerissen und durch ein Hotel, ein sog. World schaftlichen Druck relativ lange standhielt und erst 1825 Trade Center, weitere Bürogebäude und durch eine dem Bau der St. Katharine’s Docks zustimmte, lag darin Mischung von privat und mit öffentlichen Mitteln finanzier- begründet, dass sich auf ihrem Areal ein dicht besiedeltes ten Wohngebäuden ersetzt. Das Ivory House wurde in ein Stadtviertel befand. Dieses Quartier, in dem über 11000 Wohn- und Geschäftshaus mit Luxuswohnungen, Büros, Menschen lebten, musste einschließlich eines Krankenhau- Gastronomie und hochwertigen Einzelhandelsgeschäften ses abgerissen und für seine Bewohner Wohnersatz gefun- umgewandelt. den werden. Obwohl diese Entscheidung keineswegs einver- Allmählich entwickelten sich die St. Katharine’s Docks zu nehmlich stattfand, entschied sich der Rat der Stadt einer neuen touristischen Attraktion, die zweifellos von der schließlich für den Bau der Docks. unmittelbaren Nachbarschaft zu zwei Hauptsehenswürdig- Nach dreijähriger Bauzeit wurden die St. Katharine’s keiten Londons, dem Tower und der Tower Bridge, profi- Docks 1828 eröffnet. Die Anlage setzte sich aus zwei größe- tierte. In den Blickpunkt einer breiten Öffentlichkeit gerieten ren und einem kleineren Becken zusammen. Unmittelbar an die Docks allerdings erst 1985, als der erstmals ausgetra- die Kaimauern schlossen sich sechsstöckige aus gelb- gene London Marathon durch die Anlage führte und ihre grauem Ziegelstein erbaute Lagerhallen an, in denen wert- Qualitäten einer breiten Öffentlichkeit über das Fernsehen volle Güter, z. B. Elfenbein, Wein und Gewürze, aufbewahrt vermittelt wurden (Abb. 4.22). wurden. Aus Platzgründen hatte man auf die damals übliche Trennung zwischen Transitschuppen und Lagerhäusern ver- zichten müssen. Im Jahre 1968 wurde nach nur 140 Jahren der Hafenbe- trieb in den St. Katharine’s Docks eingestellt. Die kleine Hafenanlage war mittlerweile nicht mehr in der Lage, moderne Frachtschiffe aufzunehmen; die Schleusenzufahrt war für diese Schiffe zu eng, und auch die Größe der Hafen- becken entsprach nicht mehr den Abmessungen der neuen Generation von Frachtschiffen. Zudem hatte sich mittler- weile die Umschlagtechnik verändert. Bedingt durch die Containerisierung der Warentransporte hatten sich seit den 1960er Jahren viele arbeitskraftintensive Häfen zu kapitalin- tensiven Logistikstandorten entwickelt. Die St. Katharine’s Docks gehörten zu dieser Gruppe allerdings nicht, da ihnen die notwendigen Landflächen fehlten. Damit hatten die Docks als Hafenstandorte das Ende ihres Lebenszyklus erreicht. Der Weg für neue Nutzungen war damit frei. Noch im gleichen Jahr verkaufte die Londoner Hafenbe- Abb. 4.22 St. Katharine’s Docks – Oase der Ruhe im hekti- hörde, die Port of London Authority (PLA), die St. Katharine’s schen L ondon. Quelle: Zehner 2004. Unweit der Kais, wo einst mehrstöckige Lagerhallen gebraucht wurden. Der erfolgreiche Umbau der St. standen, säumen heute Restaurants, Bistros und Luxus- Katharine’s Docks zu einer reizvollen Freizeitstätte lässt wohnungen die Hafenbecken. Diese Form der Revitali- sich zweifellos mit ihrer unmittelbaren Nähe zu den tou- sierung war allerdings nicht unumstritten, fiel sie doch ristischen Attraktionen Tower und Tower Bridge erklä- in eine Zeit, in der dringend Industriearbeitsplätze ren., 4 108 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Zitat aus einer Protestrede der East End Docklands Action Group, einer lokalen Bürgervereinigung, angesichts der Wiedereröffnung der St. Katharine’s Docks: „We demand a massive increase in industrial jobs in the borough to replace the thousands that have been lost in recent years […] We have the chance now to catch up with the basic amenities enjoyed by the rest of London. We want playspace for our kids, better schools, better shopping cen- tres, decent public transport and community facilities for the people of the East End. We want the riverside to be enjoy by all the people – not to be parcelled off for sale to the rich. We have no use for safari parks, yachting marinas and luxury hotels. Local people must decide, what is going to happen to their area. We want genuine participation on planning and will not be fobbed off with silly public relations exercises“ (Pudney 1975, S. 85). Nur wenige Meter östlich der St. Katharine’s Docks enden die Touristenströme jedoch abrupt. Hier, im Stadtteil Wapping, wurde auf dem Areal der verfüllten London Docks ein neues Wohngebiet errichtet, in dem überwiegend Angehörige der oberen Mittelschicht woh- Abb. 4.23 Luxuswohnungen in umgebauten Lagerhäusern im nen. Dieses Quartier kontrastiert wiederum in starkem Stadtteil Wapping. Quelle: Zehner 2002. Maße mit den nur wenige Straßenzüge entfernten, trist wirkenden Mietskasernen, in denen überwiegend Ein- wandererfamilien aus Bangladesh leben. Ein wiederum pus der East London University, der ebenfalls im Jahr völlig anderes Bild zeigt sich direkt am Themseufer. Hier 2000 seiner Bestimmung übergeben wurde. wurden ehemalige Lagerhäuser in moderne Lofts umge- wandelt. Bestehende Baulücken wurden durch luxuriöse

Fazit

Wohnanlagen geschlossen (Abb. 4.23). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das alte Hafenviertel Wapping sich zu einem Stadtteil starker Ob die Umwandlung der London Docklands von einem sozialer Kontraste gewandelt hat. Ausschlaggebend für abgewirtschafteten Hafengebiet in einen prosperieren- die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Quartier ist die den Wirtschaftsstandort als gelungen zu bezeichnen ist, Mikrolage, deren Qualität sich entscheidend über die hängt entscheidend von der Interpretation des Pla- unmittelbare Nähe zu Wasserflächen, sei es die Themse nungsbegriffs ab. Planung im Sinne der damals verant- oder seien es die Reste eines Docks, definiert. wortlichen konservativen Regierung bedeutete schlicht Ganz andere Nachfolgenutzungen sind im Gebiet der Deregulierung von planungsrechtlichen Rahmenbedin- sog. Royal Docks zu erkennen. Hier dominieren Groß- gungen. Physische und wirtschaftliche Erneuerung hat- projekte, von denen Londons fünfter Flughafen, der ten absolute Priorität, während soziale und umweltbe- London City Airport, wohl am bekanntesten sein dürfte. zogene Belange nahezu unberücksichtigt blieben. Er wurde 1987 eröffnet. Als Start- und Landeb ahn bot Nimmt man die neoliberale Auslegung des Planungs- sich die von Lagerhäusern und Getreidespeichern begriffs als Messlatte, so war die Arbeit der LDDC ein geräumte Landzunge zwischen Albert Dock und King voller Erfolg, denn ihr gelang es, innerhalb von nur zwei George V Dock an. Der wirtschaftliche Erfolg des klei- Jahrzehnten das „Herz“ der London Docklands, die auf- nen Stadtflughafens resultiert aus seinem attraktiven gelassenen Hafenareale der West India und Millwall Angebot für Geschäftsreisende. Entscheidende Erfolgs- Docks, in ein architektonisch spektakuläres Dienstleis- faktoren sind zum einen die räumliche Nähe zu Canary tungszentrum mit dem Flair einer angloamerikanischen Wharf und zur City, zum anderen die mittlerweile gute City umzuwandeln. Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz. Die Stärke des neoliberalen Planungsansatzes lag Ein weiteres Großprojekt, das im Jahre 2000 eröffnet zweifellos in seiner Flexibilität, die zeitnah „vorzeigbare“ wurde, ist Excel, Londons größte Messehalle. Sie liegt Ergebnisse förderte. Im Laufe der Zeit wurden jedoch nördlich des Victoria Dock, in Nachbarschaft zum Cam- eine Reihe erheblicher Schwächen sichtbar. Dass letzt -, 4.4 Vom maroden Hafen zur glitzernden Nebencity 109 4 endlich die Transformation der alten Docks zu einer http://www.canarywharf.com Nebencity – zumindest vordergründig – zu einer Auf der Website von Londons städtebaulichem Megaprojekt Erfolgsgeschichte wurde, lag aber nur zum Teil an der finden sich zahlreiche Karten, Bilder und Daten u. a. zur Ent- wicklung des Gebiets sowie zur Gebäudenutzung (Abruf: konkreten Arbeit der LDDC. Vielmehr wurde die Ent- 28.01.2010). wicklung der Docklands auch durch externe Entwick- http://www.skdocks.co.uk lungen, insbesondere die Deregulierung des Finanz- Auf dieser Homepage ist viel Wissenswertes über die Ent- marktes in der City und die Stärkung der Position wicklung, aktuelle Nutzung und Zukunft von Londons Londons als Global City höchster Stufe, stark beein- kleinst er Dockgruppe im Schatten des Tower zusammenge- flusst. Der LDDC ist anzurechnen, ein gutes Gespür für stellt (Abruf: 28.01.2010). Richtung und Ausmaß des globalen Wirtschaftsstruk- turwandels entwickelt zu haben. Im Gegensatz zum Docklands Joint Committee hatte sie die Zeichen der Weiterführende Literatur Zeit, nämlich eine massive Deindustrialisierung sowie eine Tertiärisierung der städtischen Wirtschaft erkannt Brownill, S. (1990): Developing London’s Docklands. Another und diese Tendenzen durch entsprechende Entschei- Great Planning Disaster? London. dungen und Handlungen unterstützt. Entmayr, W. (1977): Der Hafen von London. Ein Welthafen im Dennoch ist die Frage, ob der für London gewählte Strukturwandel. Wiener Geographische Schriften 49/50. Wien. Planungsansatz auch Vorbild für Aufwertungsprozesse Church, A. (1988): Urban Regeneration in London Docklands: in anderen Metropolen sein kann, klar zu verneinen. A Five Year Policy Review. In: Environment and Planning C: Selbst unter der Prämisse eines neoliberalen Verständ- Government and Policy, 6, S. 44–61. nisses räumlicher Entwicklungsplanung sind die Risiken Davey, P. (1988): Die Docklands. Eine gründlich mißverstan- und potenziellen Schäden, die mit einem derartigen dene Herausforderung. In: Bauwelt 48, S. 2070–2074. Ansatz in Kauf genommen werden, zu groß. London hat Foster, J. (1999): Docklands. Cultures in Conflict, Worlds in Col- großes Glück gehabt, dass die Geschichte der Transfor- lision. London/Philadelphia. mation eines maroden Hafens zu einer glitzernden Hall, P. (1977): Green Fields and Grey Areas. In: Proceedings Nebencity ein so gutes Ende genommen hat. Royal Town Planning Institute, Annual Conference. London, S. 1–12. Hamnett, C. (2003): Unequal City. London in the Global Arena.

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Bühne: Flaggschiffprojekte der letzten Jahre

und die Planungen für die In London wurden im Zusammenhang mit den Millen-

Olympischen Spiele 2012 nium-Feierlichkeiten im Jahre 2000 gleich mehrere

Flaggschiffprojekte realisiert. Zu den bekanntesten gehören die Millennium Bridge, eine Fußgängerbrücke Christian Dietsche und Boris Braun als Verbindung zwischen St Paul’s Cathedral und dem Global ausgerichtete Städte wie London stehen in einem ebenfalls in einem umgebauten Kraftwerk neu gestalte- weltweiten Wettbewerb um hochrangige Dienstleis- ten Museumskomplex der Tate Gallery of Modern Art, tungsfunktionen, qualifizierte Arbeitskräfte, Investitio- das insbesondere bei Touristen beliebte, 135 m hohe Rie- nen, Touristen und mediale Aufmerksamkeit. Nicht senrad London Eye sowie vor allem der Millennium zuletzt sind Städtenamen globale „Marken“, die gepflegt Dome im Osten der Stadt. Die Planungen für die Bau- und immer wieder mit neuen Inhalten versehen werden projekte begannen noch unter der konservativen Regie- müssen. International beachtete Großereignisse (mega rung Major. Damals bestand in breiten politischen Krei- events) sind deshalb beliebte Möglichkeiten, nicht nur sen die Sorge, dass London im Wettbewerb mit anderen lokal bedeutsame Attraktionen zu schaffen, sondern europäischen Metropolen wie Paris, Frankfurt, Berlin auch im Sinne des Stadtmarketings Branding oder Re- oder Barcelona langfristig an Boden verlieren könnte. branding zu betreiben. Somit entstehen für Kommunen Die Millennium-Projekte – und besonders der Dome – neue Aufgaben, denen die traditionellen, oft unbeweg- sollten als Vehikel dienen, London um die Jahrtausend- lichen Verwaltungsstrukturen und die althergebrachte wende ins Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit zu Stadtplanung mit ihren langwierigen Abwägungspro - rücken. Auch nach dem Regierungswechsel im Jahre zessen immer weniger gewachsen sind. 1997 wurden die Pläne trotz aller ideologischen Gegen- Vor diesem Hintergrund konnte sich ab den 1980er sätze in der Planungspolitik von der Labour-Regierung Jahren mit der „Festivalisierung“ weltweit ein Politiktyp unter Tony Blair weitergeführt. Durch die Millennium- etablieren, mit dem Städte versuchen, Investitionsmittel, Feierlichkeiten und die damit verbundenen Bauvorha- Menschen und Medien auf ein klar umrissenes Ziel hin ben sollte der Welt zu Beginn des neuen Jahrtausends zu mobilisieren. Massen- und medienwirksame Selbst- ein modernes, multikulturelles und „cooles“ Großbri- inszenierungen sollen dabei jenseits der langfristigen tannien präsentiert werden. Flächennutzungsplanung als zeitliche Kristallisations- Keines der Millennium-Projekte löste so heftige Kon- punkte der Stadtentwicklung dienen. So sollen Wachs- troversen aus wie der Millennium Dome, der mit tumspotenziale geschaffen, Ikonen produziert und Zu - G eldern der Staatlichen Lotterie eigens für eine multi- kunftsvisionen transportiert werden. Letztlich lassen mediale Ausstellung zur Menschheitsgeschichte (The sich mit Großereignissen aber nicht nur Imagevorteile Millennium Experience) am Nordende der Greenwich- schaffen und privates Kapital anziehen, sondern auch Halbinsel im Londoner East End gebaut wurde (zur Blockaden in unübersichtlichen Interessenlagen durch- Lage des heute The O2 genannten Projekts siehe Abb. brechen und die sonst üblichen Planungszeiten verkür- 4.16). Der Dome hat einen Durchmesser von 365 m und zen. überdacht eine Fläche von 100 000 m2. Er galt zeitweilig Eine zentrale Rolle spielen bei dieser Strategie große als die größte Baustelle Europas. Kritiker wiesen von Bauvorhaben, sog. flagship developments (Flaggschiff- Anfang an auf die isolierte Lage im Stadtraum – durch projekte). Als solche werden große städtische Entwick- die Halbinsellage ist der Dome auf drei Seiten von der lungsprojekte bezeichnet, die eine bedeutsame Katalysa- Themse umgeben – sowie die mangelnde Integration torwirkung für die Stadterneuerung haben und des Großprojekts in einen längerfristigen strategischen aufgrund ihrer kritischen Masse weitere öffentliche und Planungskontext hin. Im Grunde wurde der Millennium private Investitionen nach sich ziehen. Dabei werden Dome ohne wirkliche Einbindung in den ihn umgeben- häufig brachliegende Industrieflächen in städtischen den städtischen Kontext geplant und verwirklicht. Randlagen revitalisiert. Viele Projekte dienen aber auch Erschwert wurde die Situation auch durch die sich dazu, den funktionalen Wandel in innerstädtischen ü berlagernden Kompetenzen der eigens gegründeten Gebieten zu beschleunigen und das Image der Städte bei Millennium Experience Company sowie verschiedener Touristen und potenziellen Investoren zu verändern. öffentlicher und halböffentlicher Stellen. Dies gilt insbe- sondere im Hinblick auf die Verkehrsanbindung des Großprojekts. Zwar konnte rechtzeitig vor dem Beginn, 4.5 London als globale Bühne 111 4 Abb. 4.24 Innengestaltung The O2 (ehemals Millennium Dome). Quelle: Dietsche/Braun 2009. der Ausstellung im Mai 1999 eine U-Bahn-Station an Lösung für die bei Großveranstaltungen immer wieder der verlängerten Jubilee Line eröffnet werden. Als pro- problematische Verkehrssituation, und auch das städte- blematisch erwies sich aber die Erreichbarkeit des Dome bauliche Umfeld bleibt weiterhin unbefriedigend. für Autofahrer. Obwohl dies den Vorstellungen der Mil- Die Geschichte des Millennium Dome zeigte deutlich lennium Experience Company von einem autofreien die Probleme und Risiken auf, die mit öffentlich finan- Großereignis entsprach, wurde damit für viele Besucher zierten Großprojekten und einer Politik der Festivalisie- aus dem weiteren Londoner Umland die Anreise schwie- rung verbunden sein können. Dessen ungeachtet rig, zumal auch die Einrichtung entsprechender Park- w urden in den letzten Jahren weitere Flaggschiffe ver- and-Ride-Parkplätze nicht problemlos vonstatten ging. wirklicht. Große Beachtung fand etwa der spektakuläre Als die Ausstellung Ende Dezember 2000 ihre Tore Bau der City Hall von Norman Foster, der als Sitz des schloss, konnten zwar insgesamt mehr als 6 Mio. Besu- Londoner Bürgermeisters und der im Jahre 2000 nach cher gezählt werden. Die angepeilte Zielgröße von 14-jähriger Unterbrechung wieder eingerichteten Ver- 12 Mio. wurde jedoch deutlich verfehlt, so dass auch die waltung für Greater London dient. Auch aktuell werden Einnahmen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. in London weitere Großprojekte umgesetzt, beispiels- Was nach dem Ende der knapp einjährigen Ausstel- weise die Revitalisierung des 27 ha großen Geländes um lung mit dem Dome geschehen sollte, war lange Zeit die beiden aufwendig modernisierten Kopfbahnhöfe St. unklar. Die Weiternutzung des Gebäudekomplexes Pancras (seit 2007 Endpunkt der Eurostar-Verbindung erwies sich als ausgesprochen schwierig. Private Investo- von Brüssel und Paris) und King’s Cross (Umbau zum ren waren kaum interessiert, und für viele Jahre fanden modernen Bahnknotenpunkt für den nationalen Ver- im Millennium Dome nur sehr vereinzelt größere Ver- kehr bis 2012). Auf dem Gelände sollen in einer anstaltungen statt. Erst nachdem mit der Anschutz Mischung von neuen und sorgfältig renovierten histori- Entertainment Group Europe ein potenter privater schen Gebäuden hochwertige Büroflächen, Einkaufs- Investor gefunden wurde, konnte der Dome im Juni möglichkeiten und Wohnungen entstehen. 2007 unter dem Namen The O2 mit einem Popkonzert Das größte Bauvorhaben findet allerdings nicht in von Bon Jovi wieder eröffnet werden. Geblieben ist vom der Innenstadt der Metropole, sondern im bislang ursprünglichen Millennium Dome aber nur die zeltar- industriell geprägten Nordosten bei Stratford statt. Dort tige Außenhülle mit ihren auffälligen Pylonen. Das Zen- im Lower Lea Valley rüstet sich London für das größte trum des völlig neu gestalteten Innenraumes bildet Ereignis von allen – die Olympischen Spiele im Jahre heute eine 20 000 Zuschauer fassende Indoor-Arena für 2012. Konzerte und Sportveranstaltungen. Darum gruppieren sich ein großer Ausstellungsbereich sowie eine Restau- rant- und Shoppingzeile (Abb. 4.24). Viele Probleme sind aber geblieben. Bis heute gibt es keine tragfähige, 4 112 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens

London und die dende Impulse für die Stadtentwicklung (Tab. 4.4). Olympischen Spiele 2012 Dabei kommt insbesondere dem gewählten Standort

innerhalb Londons eine entscheidende Bedeutung zu (siehe Abb. 4.16). Die Olympischen Spiele werden in Nachhaltige Stadtentwicklung den wirtschaftlich und sozial am stärksten benachteilig- durch Olympische Spiele ten Stadtbezirken Londons durchgeführt und sollen zu einer Revitalisierung dieser Wohngebiete beitragen. London bekam die Olympischen und Paralympischen Zudem liegt das zukünftige Olympiagelände auf einer Spiele auf der Sitzung des International Olympic Com- der größten industriellen Brachflächen Londons, die im mittee (IOC) in Singapur im Juli 2005 nach einer inten- Vorfeld der Spiele umfassend ökologisch saniert wird. siven Bewerbungsphase zugesprochen. Die Stadt setzte London kann hierbei von den Erfahrungen in Sydney sich mit ihrer Bewerbung gegen eine starke Konkurrenz profitieren, wo im Rahmen der sog. Green Games im anderer Weltstädte wie Paris, Madrid, New York und Jahre 2000 ebenfalls eine industrielle Brache mit großem Moskau durch. Die französische Hauptstadt wurde Aufwand von Altlasten befreit werden musste. lange Zeit als Favorit gehandelt, während der Londoner Darüber hinaus kann London auf die Erfahrungen Bewerbung nur Außenseiterchancen eingeräumt wur- anderer Olympiastädte zurückgreifen. Mit ihren ambi- den. Viele Kommentatoren gehen davon aus, dass Lon- tionierten Zielen für eine nachhaltige Stadtentwicklung don vom Erfolg der Commonwealth Games in Man- stellt sich die Stadt bewusst in die Tradition vorheriger chester 2002 profitierte, weil sich Großbritannien Austragungsorte. Einen ganz wesentlichen Referenz- dadurch einen guten Ruf als Ausrichter von Großereig- punkt für die Londoner Planungen stellen die Spiele von nissen verschaffen konnte. Ein weiterer Pluspunkt von Barcelona 1992 dar. Ähnlich wie später in Atlanta 1996 London war, dass die Bewerbungsunterlagen den Aspekt versuchte man dort, durch die Olympischen Spiele das der legacy, der nachhaltigen Wirkung der für die Spiele Image der Stadt zu verbessern und vor allem sozial geschaffenen Infrastruktur, am deutlichsten herausar- benachteiligte Stadtteile aufzuwerten. Während dieses beiteten. Dies kam den Vorstellungen des IOC sehr ent- Vorgehen in Atlanta weniger erfolgreich war, haben die gegen. Um den kritischen Stimmen entgegenzutreten, Olympischen Spiele in der katalanischen Stadt vielfäl- die den zunehmenden Gigantismus der olympischen tige positive Impulse für die Stadtentwicklung ausgelöst, Bewegung und die nach den Spielen kaum mehr genutz- die bis heute nachwirken. Aktuelle Bauprojekte wie die ten Olympiaanlagen in Sydney und Athen anprangerten, Entwicklung eines als 22@ bezeichneten Hightech- legte das IOC zunehmenden Wert auf die Nachhaltigkeit Stadtteils im Südosten der Innenstadt, die Erweiterung der geschaffenen Infrastruktur. des Flughafens oder verschiedene Verkehrsgroßprojekte Der Anspruch an eine dauerhafte olympische legacy wären ohne die Katalysatorwirkung der Olympischen spielte im Londoner Olympiakonzept von Anfang an Spiele kaum denkbar gewesen. Die ökonomischen eine zentrale Rolle. Von der Austragung der Olympi- Impulse für Barcelona werden ebenfalls positiv bewer- schen Spiele erhoffen sich die Veranstalter entschei- tet. So vervierfachte sich die Zahl der Auslandstouristen Tabelle 4.4 Erwartete Impulse für die Stadtentwicklung Wohnungsbau Stadterneuerungsprogramm für Stratford City: Bau von 4 000 Wohnungen, davon 3 000 im olympischen Dorf (z. T. Sozialwohnungen) Wirtschaft und Beschäftigung bis zu 20 000 Arbeitsplätze im Bausektor, Ausbildung von 70 000 Freiwilligen, 2,1 Mrd. Pfund Einnahmen durch 7,9 Mio. Zuschauer Verkehrsinfrastruktur Anbindung an die London Underground, Docklands Light Railway und nationale Eisen- bahnlinien; neuer Bahnhof Stratford International als Haltestelle für Shuttlezug Olympic Javelin und Eurostar-Züge mit Verbindung nach Paris und Brüssel Sportanlagen Olympiastadion, London Velopark, Aquatics Centre, Olympic Hockey Centre, vier t emporäre Sporthallen für Volleyball, Basketball, Handball, Fechten Umwelt ökologische Sanierung von Brachflächen im Lower Lea Valley, Beseitigung wilder M ülldeponien und chemischer Verunreinigungen, 4.5 London als globale Bühne 113 4 zwischen 1992 und 2000 auf 3,5 Mio. Besucher pro Jahr. umsteigen. An den Sportstätten selbst werden lediglich Zugleich profitierte die Stadt von deutlich ansteigenden Behindertenparkplätze zur Verfügung stehen. Damit Auslandsinvestitionen. tatsächlich alle Besucher die Sportstätten mit öffent- lichen Verkehrsmitteln erreichen können, wird der V orortbahnhof Stratford zum zentralen Verkehrskno- Infrastruktur für das Großereignis tenpunkt ausgebaut. Über den Bahnhof wird der Olym- piapark von zwei Linien der London Underground, der Als zentraler Schauplatz der Olympischen Spiele wird Docklands Light Railway und mehreren nationalen der Olympic Park im Lower Lea Valley dienen (Abb. Eisenbahnlinien angefahren. Nach dem Neubau eines 4.25). Auf einer knapp 2,5 km2 großen Baustelle wird im zusätzlichen internationalen Bahnhofs wird Stratford Vorfeld der Spiele unter anderem das später etwa 80 000 außerdem Haltepunkt des Shuttlezuges Olympic Javelin Zuschauer fassende Olympiastadion errichtet, in dem sowie der Eurostar-Züge aus Paris und Brüssel. Zusätz- die Eröffnungs- und Abschlussfeier sowie die Leichtath- lich wird ein umfangreiches Netz von Fuß- und Fahr- letikwettbewerbe stattfinden werden (Abb. 4.26). In fuß- radwegen angelegt, über das der Olympiapark von Strat- läufiger Distanz vom Olympiastadion werden mehrere ford aus erreichbar sein wird. Sportstätten erreichbar sein. Neben dem olympischen Die Lage des Olympiaparks im Lower Lea Valley bie- Dorf, das ca. 17 500 Athleten und Offizielle beherbergen tet aus planerischer Sicht große Vorteile. Trotz der zen- wird, zählen hierzu das Aquatics Centre, der London tralen Lage war das Gebiet größtenteils unbewohnt, so Velopark, das Olympic Hockey Centre sowie mehrere dass die Umsiedlung von Anwohnern weitestgehend Sportarenen für die Wettbewerbe im Volleyball, Hand- vermieden werden konnte. Allerdings mussten zahlrei- ball, Basketball und Fechten. Weitere Sportanlagen lie- che kleine und mittelständische Unternehmen den gen in Themsenähe südlich des Olympiaparks sowie im Bauarbeiten weichen. Zwischen alten Industriekanälen zentralen und westlichen London. und Gleisanlagen zog sich bis vor wenigen Jahren ein Als Teil der olympischen legacy sollen die errichteten großes Industrie- und Gewerbegebiet durch das Tal des Sportstätten über die Spiele hinaus der lokalen Bevölke- Lea-Flusses, in dem beispielsweise Recyclingbetriebe, rung zugute kommen. Allerdings wird gerade angesichts Großhändler und Busdepots, aber auch industrielle der negativen Erfahrungen mit dem Millennium Dome Kleinbetriebe angesiedelt waren (Abb. 4.27). Von den großer Wert darauf gelegt, dass die Olympischen Spiele etwa 400 im Bereich des Olympiageländes ansässigen keine kostenintensiven Altlasten hinterlassen. Um die Unternehmen wurden im Zuge der Baumaßnahmen finanzielle Belastung zu minimieren, wird daher zum etwa 300 umgesiedelt. Abseits der Unternehmen ist das einen auf bereits bestehende Veranstaltungsorte zurück- Lower Lea Valley vor allem von industriellen Brachflä- gegriffen – darunter The O2 (Turnen und Endspiele des chen geprägt, die zum Teil zur illegalen Ablagerung von Basketballturniers) und bekannte Sportstätten wie Abfällen verwendet wurden. Der Boden ist dadurch Wimbledon (Tennis) oder das seit dem Umbau von stellenweise stark mit Schadstoffen wie Quecksilber 2003 bis 2007 rund 90 000 Zuschauer fassende Wem- oder Blei belastet. Im Zuge der Olympiavorbereitungen bley-Stadion (Fußball). Zum anderen wird schon bei werden diese ökologisch degradierten Brachflächen der Planung darauf geachtet, die Folgekosten der neu saniert und zu künftig als Grünanlagen öffentlich zu - errichteten Anlagen in Grenzen zu halten. So werden das gänglich gemacht. Auf diese Weise soll im Lea Valley ein Olympiastadion und das Aquatics Centre nach Beendi- 12 km langer Korridor entstehen, in dem Freizeitnut- gung der Spiele zurückgebaut und in verkleinerter Form zung und Naturschutz harmonisch verbunden werden weitergenutzt. Einige Sporthallen sollen nach den Spie- sollen. len abgebaut und an anderen Orten Großbritanniens wieder aufgestellt werden. Um während der Olympischen Spiele eine reibungs- Aufwertung der olympischen Stadtbezirke lose An- und Abreise der täglich bis zu 500 000 erwarte- ten Zuschauer zu gewährleisten, wurde ein umfassendes Die Olympischen Spiele sollen helfen, das markante Verkehrskonzept erstellt. Durch die weitgehende Zen- Entwicklungsgefälle zwischen dem Westen und dem tralisierung der Veranstaltungsorte im Olympiapark Osten Londons abzubauen. Die zentralen Veranstal- werden die Wege kurz gehalten und auf diese Weise tungsorte der Olympischen Spiele liegen im Grenzbe- überwiegend autofreie Spiele ermöglicht. Um Verkehrs- reich der Stadtbezirke (boroughs) Hackney, Newham problemen im Stadtbereich vorzubeugen, sollen auswär- und Tower Hamlets. In diesen Bezirken liegt der alte tige Besucher Park-and-Ride-Parkplätze am Stadtrand industrielle Kern der Stadt, der schon seit einigen Jahr- Londons nutzen und in den öffentlichen Nahverkehr zehnten einem fundamentalen Strukturwandel unter-, 4 114 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.25 Olympic Park und Stratford City. Quelle: Dietsche/Braun 2009., 4.2 London im Jahre 2010 – Prozesse und Projekte der Stadtentwicklung 115 4 Abb. 4.26 Baustelle des Olympia- stadions (Stand April 2009). Quelle: Dietsche/Braun 2009. worfen ist (Abschnitt 4.2). Anfang der 1970er Jahre barbezirk Hackney den englischen Deprivationsindex waren im Osten Londons noch fast 30 % der Erwerbstä- an. Die soziale Lage der Bewohner Ostlondons drückt tigen in der Industrie beschäftigt. Mit der Schließung sich beispielsweise in einem relativ geringen Einkom- der Londoner Hafenanlagen und der zunehmenden mens niveau, hoher Arbeitslosigkeit, schlechter Gesund- globalen Verlagerung industrieller Produktion ging der heitsversorgung und einer hohen Kriminalitätsrate aus Großteil dieser Arbeitsplätze verloren. Zwar wurde der (Tab. 4.5). Niedergang der Industrie von einem rasanten Auf- Der größte Teil der olympischen Infrastruktur ent- schwung des Finanzsektors in den Docklands begleitet. fällt auf Newham, insbesondere auf das im Norden des Dennoch blieben insbesondere in Newham und Tower Bezirks gelegene Verkehrs- und Einkaufzentrum Strat- Hamlets altindustrielle Inseln bestehen, die von den ford (Abb. 4.29). Newham ist ein ethnisch heterogener Aufwertungsprozessen nicht erreicht wurden. Diese Bezirk mit einer sehr jungen Bevölkerung – 41 % der Stadtteile zählen nach wie vor zu den am stärksten Bewohner sind jünger als 24 – und dem größten Anteil benachteiligten Bezirken Großbritanniens (Abb. 4.28) allein erziehender Eltern in ganz Großbritannien. Das und führten im Jahr 2007 zusammen mit dem Nach- Bildungsniveau ist niedrig, und das durchschnittliche Abb. 4.27 Ehemals gewerblich genutztes Gebäude im Lower Lea Valley unweit des Olympic Park. Quelle: Dietsche/Braun 2009., 4 116 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens Abb. 4.28 Einfaches Wohnviertel mit Erneuerungsbedarf in Tower Hamlets. Quelle: Dietsche/Braun 2009. Jahreseinkommen liegt lediglich bei einem Fünftel Stratford City – ein Flaggschiffprojekt des Gehaltsniveaus von Stadtteilen wie Richmond-on- für das East End Thames im Westen Londons. Die Armut wirkt sich un- mittelbar auf die Gesundheitsversorgung der Bewohner In direkter Nachbarschaft des Bahnhofs von Stratford aus. So ist die durchschnittliche Lebenserwartung in wird das größte Stadtentwicklungsprojekt im Umfeld Newham um ganze sechs Jahre niedriger als in manchen der Olympischen Spiele verwirklicht. Am Rande des Westlondoner Stadtteilen. Wie große Teile des East End Olympiaparks wird mit Stratford City ein neues Stadt- ist auch Newham durch prekäre Wohnverhältnisse ge - zentrum geschaffen, von dem wichtige Entwicklungsim- kennzeichnet. Obwohl die Wohnungsmieten für Lon - pulse für ganz Ostlondon ausgehen sollen. Stratford doner Verhältnisse auf vergleichsweise niedrigem City ist in die übergreifenden Bemühungen der briti- Niveau liegen, sind sie für Geringverdiener kaum be- schen Regierung zur Entwicklung des Thames Gateway zahlbar. Da sich gerade große Familien kaum ausrei- eingebunden, einer Entwicklungsachse, die sich vom chend große Wohnungen leisten können, ist etwa jedes östlichen London bis zur Themsemündung in den Graf- vierte Haus im Osten Londons überbelegt. schaften Essex und Kent erstreckt. Der Entwicklung des Thames Gateway wird von den Planungsbehörden Tabelle 4.5 Indikatoren sozialer Benachteiligung in den olympischen Stadtbezirken Einwohner, in Arbeitslosen - wöchentliche Empfänger von Anteil der Grund- 1 000 (2005) quote, in % Durchschnitts- Einkommenszu - schüler mit einer (2005/06) einkommen, in schüssen, in % a nderen Mutter- GBP, Median (2006) sprache als E nglisch, (2006) in % (2006/07) Newham 246 8,7 460,4 11,3 71,0 Hackney 208 10,7 489,5 13,3 53,7 Tower Hamlets 213 12,9 546,1 10,7 75,5 London 7 518 7,6 540,8 7,7 39,1 Quellen: Daten des UK Office for National Statistics 2007 und 2008 sowie des Department for Children, Schools and Families, 4.5 London als globale Bühne 117 4 Abb. 4.29 Stadtzentrum Stratford. Quelle: Dietsche/Braun 2009. höchste Priorität eingeräumt, da hier der Großteil des durch Stratford City auch in den Nachbarstadtteilen zukünftigen Wachstums im Großraum London erwartet Aufwertungsprozesse in Gang gesetzt werden und deren wird. Bis zum Jahr 2016 sollen in einer Vielzahl von Ein- Bewohner durch neu geschaffene Arbeitsplätze und ein zelprojekten etwa 160 000 neue Wohnungen gebaut und verbessertes Wohnungs- und Versorgungsangebot profi- 180 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Dank der tieren. Olympischen Spiele und der Planung von Stratford City Ein Beitrag zur Revitalisierung des Londoner Ostens wird die Entwicklung des Thames Gateway zumindest soll auch von dem olympischen Verkehrskonzept ausge- im westlichen Teil erheblich beschleunigt. Dabei kann hen. Das East End ist traditionell nur schlecht an das allerdings nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Londoner Verkehrsnetz angebunden. Durch den Bau durch die Fokussierung auf diesen relativ kleinen der Docklands Light Railway Ende der 1980er Jahre und Abschnitt des Thames Gateway Ressourcen aus anderen die Verlängerung einer Linie der London Underground Teilprojekten abgezogen werden. (Jubilee Line) im Jahre 1999 konnte die Situation zwar Mit dem Flaggschiffprojekt Stratford City wird in verbessert werden. Dennoch stellte die oft mangelhafte unmittelbarer Nähe zum Olympiagelände eine präg- Erreichbarkeit von Wohnungen und Arbeitsplätzen bis nante und weithin sichtbare Landmarke entstehen. Die zuletzt ein wesentliches Merkmal der Benachteiligung Skyline des u. a. von dem australischen Shopping-Cen- des Londoner Ostens dar. Durch den Ausbau des Ver- tre-Betreiber Westfield errichteten Zentrums wird von kehrsknotenpunktes Stratford bietet sich nun die mehreren bis zu 50-stöckigen Hochhäusern dominiert Chance, diese Probleme zu lösen. werden. Ein gigantisches Einkaufszentrum mit drei gro- ßen Warenhäusern und einer Gesamteinzelhandelsflä- che von 175 000 m2 soll Stratford City zu einem der Chancen und Risiken für die Stadtentwicklung wichtigsten Einzelhandelsstandorte im Großraum Lon- don machen. Zusätzlich werden umfangreiche Flächen In der öffentlichen Diskussion erhoben sich bislang für Büroräume, Hotels und Tagungsstätten bereitge- überraschend wenige kritische Stimmen gegen die stellt. Mit dem Bau von 4 000 Wohnungen soll zudem Olympischen Spiele und die damit verbundenen Stadt - das Angebot von günstigem Wohnraum ausgebaut wer- erneuerungsmaßnahmen. Selbst im unmittelbaren den. Hierzu wird vor allem das als Teil von Stratford City lokalen Umfeld des zukünftigen Olympiaparks bleiben errichtete olympische Dorf beitragen. Die Athleten- die Proteste bis zum heutigen Tag relativ gemäßigt und unterkünfte werden nach Beendigung der Olympischen weitgehend unkoordiniert. Dass sich kaum öffentlicher Spiele in Wohnungen umgewandelt – ein Teil davon in Protest gegen die Planungen formierte, lässt sich u. a. Sozialwohnungen. mit dem Außenseiterstatus begründen, den London in Mit der Fertigstellung von Stratford City soll sich der Bewerbungsphase innehatte. Da das Sanierungsge- London weiter in Richtung einer polyzentrischen Stadt- biet größtenteils aus Brachland und ehemaligen Gewer- region entwickeln. Die Hoffnung der Planer ist, dass beflächen besteht, beschränkte sich der Widerstand vor, 4 118 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens allem auf die von Umsiedlungsmaßnahmen betroffenen dung und Arbeit – zu sehr in den Hintergrund treten. Kleinunternehmen. Als zentrales Problem könnte sich der durch die Stadt- Die Bewohner der umliegenden Stadtteile werden entwicklungsprojekte ausgelöste Anstieg der Immobi- von den Planungsbehörden und Entwicklungsgesell- lienpreise und der Wohnungsmieten erweisen. Die mit schaften nur wenig zu aktiven Beiträgen ermuntert. Es der Durchführung der Projekte beauftragten privaten werden zwar Veranstaltungen wie die Cultural Olym- Entwicklungsgesellschaften haben grundsätzlich ein piad durchgeführt, die helfen sollen, die Identifikation Interesse an einer schnellen Gentrifizierung und der der Bevölkerung mit den Spielen zu stärken und ehren- damit einhergehenden Wertsteigerung ihrer Immobi- amtliche Mitarbeiter für die Großveranstaltung zu lien. Bereits nach der Bekanntgabe der Bewerbung Lon- gewinnen. Doch letztendlich sind, wie bei vielen Groß- dons im Jahr 2001 und vor allem nach der Entscheidung projekten der letzten Jahre, die Planungen der Olympi- des IOC im Jahr 2005 kam es in Stratford zu deutlichen schen Spiele überwiegend zentralistisch organisiert. Preissprüngen bei Häusern und Wohnungen. Mittel- bis Die deutschen Stadtsoziologen Häußermann und langfristig könnten weitere Preisschübe dazu führen, Siebel haben bereits 1993 darauf hingewiesen, dass ein dass einkommensschwache Schichten verdrängt werden. wichtiges Merkmal für eine „Politik der Festivalisie- Um Gentrifizierungsprozesse zu Lasten sozial be- rung“ die Schaffung von Sonderorganisationen zur nacht eiligter Bevölkerungsgruppen zu verlangsamen, Projektdurchführung ist. Diese stehen außerhalb der soll ein erheblicher Teil des neu errichteten Wohnrau- regulären Verwaltungsstrukturen und werden mit mes in Form von preiswerten Miet- oder Eigentums- besonderen Rechten ausgestattet. Die Londoner Olym- wohnungen angeboten werden. Dennoch wird der neue piaplanungen sind da keine Ausnahme. Eine zentrale olympische Stadtteil im Wesentlichen die Konsum- und Rolle spielen die von der Regierung beauftragten und Wohnansprüche der Mittelschicht befriedigen. So wer- mit umfassenden Befugnissen ausgestatteten Sonderor- den sich in der für Stratford City geplanten Shopping ganisationen. Das London Organising Committee for Mall vor allem Einzelhandelsgeschäfte des gehobenen the Olympic Games and Paralympic Games (LOCOG) Preissegments niederlassen. Im Umfeld des Olympia- ist für die Durchführung der Spiele verantwortlich. Die parks wurden von privaten Immobilienunternehmen Olympics Delivery Authority (ODA) ist zuständig für bereits hochpreisige Wohnanlagen und erste Gated die Planung und den Bau der Infrastruktur und der Communities (z. B. das sog. Bow Quarter) errichtet Sportstätten. Fragen der Verkehrsplanung und der (Abb. 4.30). Es scheint fraglich, ob sich dabei die erhoff- regionalen Entwicklungsstrategie werden auf der Ebene ten Ausstrahlungseffekte einstellen werden und eine Re - des Großraum Londons durch die Greater London vitalisierung der Nachbarstadtteile in Gang gesetzt wird Assembly entschieden. Die London Development oder ob vielmehr Wohlstandsinseln in einem nach wie Agency (LDA) hat einen bestimmenden Einfluss auf die vor armen und benachteiligten Umfeld entstehen und Umsiedlung der Gewerbebetriebe von dem zukünftigen die soziale Segregation auf diese Weise weiter zunimmt. Olympiagelände an andere Standorte. Lokale Behörden Bei früheren Stadterneuerungsprojekten lässt sich genau und die unmittelbar betroffene Bevölkerung werden diese Entwicklung beobachten. Ein Beispiel hierfür ist dagegen nur in geringem Umfang in Entscheidungen der Stadtteil Canning Town im Süden von Newham, der eingebunden. Im Wesentlichen reduziert sich die Rolle in direkter Nachbarschaft von Canary Wharf liegt und der lokalen Councils auf die Durchführung von Geneh- auch heute noch, viele Jahre nach Fertigstellung des migungsverfahren. Der von der Labour-Partei geführte boomenden Wirtschaftszentrums in den Docklands, zu Gemeinderat von Newham hat die Planungen dennoch den ärmsten Stadtteilen Londons zählt. positiv aufgenommen und erhofft sich für seinen Stadt- Neben infrastrukturellen Verbesserungen bieten die bezirk eine Zunahme von bezahlbarem Wohnraum Olympischen Spiele für London die Chance, das Stadt- sowie wichtige Impulse für den Ausbildungs- und image neu auszurichten. Durch ein Rebranding soll die Arbeitsmarkt. Stadt nicht mehr vorrangig mit ihrem historischen Erbe Die für die Olympischen Spiele benötigten Investi- identifiziert, sondern vielmehr als vielfältige, bunte und tionssummen können nur durch eine Mischung von multikulturelle Stadt wahrgenommen werden. Gerade staatlichen und privaten Mitteln (public private part- die mit einem überwiegend negativen Image belegten nerships) und die Einbindung privater Konsortien in die olympischen Stadtbezirke im Londoner Osten könnten baulichen Aufgaben aufgebracht werden. Kritiker ihre durch den industriellen Niedergang unterhöhlte bemängeln vor diesem Hintergrund, dass die Stadter- Identität neu ausrichten und ihr öffentliches Bild zum neuerungsmaßnahmen in erster Linie von wirtschaft- Positiven wenden. Hierdurch ergibt sich die Chance, lichen Erwägungen getragen werden und die sozialen durch die internationale Aufmerksamkeit einen höheren Aspekte – vor allem die Bereiche Wohnungsmarkt, Bil- Stellenwert bei Touristen und Investoren zu gewinnen., 4.5 London als globale Bühne 119 4 Abb. 4.30 Neue hochwertige Wohn- anlagen am Rande des entstehenden Olympic Park. Quelle: Dietsche/Braun 2009. Dennoch birgt die Ausrichtung der Olympischen Fazit Spiele für die Weltstadt London auch Risiken. Anders als Barcelona ist London auch ohne die Ausrichtung der Schon heute lässt sich sagen, dass die Londoner Olympi- Spiele eine weltbekannte „Marke“ und ein wichtiges schen Spiele ein weiteres und sehr typisches Beispiel für Tourismus- und Investitionsziel. Während sich Barce- eine Stadtpolitik der Festivalisierung sind. Jedoch wurde lona und Sydney durch die Spiele erstmals vor einem in London, nicht zuletzt den Vorstellungen des IOC fol- weltweiten Publikum als attraktive, weltoffene Metropo- gend, ein besonderer Wert auf die legacy, also die dauer- len präsentieren konnten, hat London dieses Vehikel haft positiven Wirkungen, des Großereignisses gelegt. kaum nötig. Andererseits steigen die Risiken, wenn Inwieweit sich die Hoffnungen auf nachhaltige Impulse etwas nicht oder schlecht funktioniert. Noch bekannter für London und insbesondere für den benachteiligten kann die Marke London kaum werden, aber jedes wäh- Osten der Stadt erfüllen, lässt sich aus heutiger Sicht rend der Spiele auftauchende Organisations- oder nicht zuverlässig abschätzen. Die Voraussetzungen sind Sicherheitsproblem schlägt negativ auf das Image der aber relativ günstig. Anders als einige frühere Flagg- Stadt zurück. So erscheint trotz allen berechtigten Opti- schiffprojekte und insbesondere der Millennium Dome mismus auch die Einschätzung nicht abwegig, dass Lon- sind die Stadterneuerungsprojekte der Olympischen don hinsichtlich der internationalen Reputation durch Spiele in übergreifende Stadt- und Regionalplanungs- die Spiele wenig gewinnen, aber einiges verlieren kann. strategien eingebunden. Die Spiele sind insbesondere Dass Olympische Spiele keinesfalls immer mit einem für das Thames-Gateway-Entwicklungsprogramm von Imagegewinn verbunden sein müssen, sondern viel - zentraler Bedeutung und bieten für die Realisierung der mehr auch Anlass für eine schlechte Presse sein können, Aufwertungsziele im bislang oft vernachlässigten Osten mussten in der Vergangenheit schon Städte wie Mon- von Greater London einen unersetzlichen Stimulus. treal (1976), Atlanta (1996) oder teilweise auch Peking Auch darf nicht vergessen werden, dass es viele weiche (2008) erleben. Erfahrungen früherer Ausrichterstädte Faktoren gibt, über die sich die Olympischen Spiele belegen zudem, dass der Umgang mit der für Olympi- langfristig positiv für die Menschen in London auswir- sche Spiele geschaffenen Infrastruktur nicht immer ein- ken können. So kann das Sportereignis etwa dazu bei- fach ist. Insbesondere die Weiternutzung der teuren tragen, dass Teile der Bevölkerung eine größere Affinität Sportstätten und Olympiaparks erweist sich nach Been- zum Sport und zu einem gesunden Lebensstil entwi- digung der Spiele oft als problematisch. ckeln. Auch das soziale Miteinander der Menschen kann durch gemeinsame bewegende Erlebnisse während der Spiele gefördert werden. Flaggschiffprojekte und Megafestivals können zwei- fellos dazu beitragen, regionale Entwicklungspotenziale, 4 120 4 London – Herz und Kopf Großbritanniens zu mobilisieren. Dennoch: Großprojekte und urbane Fainstein, S. S. (2008): Mega-Projects in New York, London and „Festivals“ wirken letztlich auch in London überwie- Amsterdam. In: International Journal of Urban and Regional gend als Trendverstärker von ohnehin ablaufenden öko- Research 32, 4, S. 768–785. Gold, J. R.; Gold, M. M. (2008): Olympic Sites: Regeneration, nomischen und sozialen Umstrukturierungsprozessen. City Rebranding and Changing Urban Agendas. In: Geogra- Korrekturen von Fehlentwicklungen sind mit einer phy Compass 2, 1, S. 300–318. Politik der Festivalisierung erfahrungsgemäß sehr viel Gossop, C. (2008): Towards a More Compact City – the Plan for schwieriger zu erreichen. Erst die Zukunft wird zeigen, London. In: disP 173, 2, S. 47-55. inwieweit es in London gelingt, die ökonomischen Häußermann, H.; Siebel, W. (1993): Die Politik der Festivalisie- Potenziale der Metropole dauerhaft zu mobilisieren, rung und die Festivalisierung der Politik. In: Häußermann, ohne die sozialen und ökologischen Probleme aus dem H.; Siebel, W. (Hrsg.): Festivalisierung der Stadtpolitik. Blick zu verlieren. Wirklich erfolgreich wird auch eine Stadtentwicklung durch große Projekte. Leviathan Sonder- Stadtentwicklungspolitik neuen Stils nur sein können, heft 13. Opladen, S. 7–31. wenn sie die Lebenssituation großer Bevölkerungsteile Keith, M. (2009): Figuring City Change: Understanding Urban Regeneration and Britain’s Thames Gateway. In: Imrie, R.; spürbar verbessert. Rees, L.; Raco, M. (Hrsg.): Regenerating London. Gover- nance, Sustainability and Community in a Global City. Lon- don/New York, S. 75–91.

Weiterführende Literatur Poynter, G. (2009): The 2012 Olympic Games and the Resha-

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Kapitel 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken

des Dienstleistungssektors 5.1 Einführung Regionen, in denen diese Wirtschaftszweige angesiedelt waren, haben in diesem Umgestaltungsprozess erhebli- che Einbußen an Erwerbsmöglichkeiten, Wohlstand Gerald Wood und Zukunftsperspektiven hinnehmen müssen. Als gro- ßes Problem erwies sich in der Zeit der Weltwirtschafts- Großbritannien gilt vielen nicht nur als first industrial krise die hochgradige ökonomische Spezialisierung die- nation, also als Pionier der Industriellen Revolution, ser Regionen und die damit verbundene besondere sondern gleichermaßen als Vorreiter in der nachfolgen- Verletzlichkeit gegenüber konjunkturellen oder struktu- den – und wiederholten – Umgestaltung der wirtschaft- rellen Problemen der Leitindustrien. Eine Konsequenz, lichen Basis des Landes. Auf der Grundlage wichtiger die der Zentralstaat aus der großen Notlage gerade die- technischer Entwicklungen (Mechanisierung von Pro- ser Regionen zog, war die Etablierung staatlicher Pro- duktionsprozessen, Weiterentwicklung der Dampfma- gramme zur Verbreiterung der ökonomischen Basis schine etc.) und organisatorischer Neuerungen (insbe- (Abschnitt 7.2). So kam es, vor allem in der unmittelba- sondere Einführung des Fabriksystems) entwickelte sich ren Nachkriegszeit, zu einer staatlich geförderten Großbritannien von einer agrarisch-feudalen Gesell- Ansiedlung von neuen Industrien, nämlich den Kon- schaft zur führenden Industrienation, die vor allem über sumgüterindustrien in den Entwicklungsgebieten (spe- das Empire mit weiten Teilen der Welt ökonomisch, cial areas) des Landes. Ein besonderes Merkmal dieser politisch, sozial und kulturell verbunden war (Abschnitt Phase war das große Engagement US-amerikanischer 3.7). Diese engen Verbindungen waren eine wichtige multinationaler Unternehmen, von deren Ansiedlung Voraussetzung für den frühen industriellen Take-off man sich vor allem ein Anknüpfen an die alte wirt- Großbritanniens im 18. und beginnenden 19. Jahrhun- schaftliche Größe versprach. dert und für die große internationale Bedeutung, die die In der Nachkriegszeit besaßen sowohl die Altin - heimischen Industrien über Jahrzehnte hatten. So wur- dustrien als auch die Konsumgüterindustrien zunächst den im Rahmen des atlantischen Dreieckshandels große eine große volkswirtschaftliche Bedeutung. Im Zuge des Geldmengen akkumuliert, die in den Aufbau der Indus- Wiederaufbaus und der steigenden Nachfrage durch trien flossen (Abschnitt 3.6). Gleichzeitig waren die die Konsumgüterindustrien erlebte die Montanindus- überseeischen Besitzungen wichtige Rohstofflieferanten trie eine Zeit erneuter Blüte. Der Boom der Konsumgü- und Absatzmärkte der in Großbritannien hergestellten terindustrien ist im Wesentlichen auf die Ausweitung Produkte. des allgemeinen Wohlstands sowohl in Großbritannien Seit den frühen Tagen der industriellen Entwicklung als auch in anderen Ländern zurückzuführen, in die die hat sich die wirtschaftliche Basis des Landes vor dem heimischen Waren exportiert wurden (Commonwealth Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen mehr- und in zunehmendem Maße EG/EU). fach tief greifend verändert. Die sog. Altindustrien, also Ab den 1960er Jahren allerdings endete diese Phase. vor allem Textil- und Montanindustrie, waren als Erste Für die meisten Industriezweige des Landes war die Zeit mit strukturellen Veränderungen konfrontiert, und zwar zwischen den 1960er und den frühen 1990er Jahren bereits in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er durch Schrumpfungsprozesse gekennzeichnet. Sowohl Jahren und dann vor allem seit den 1960er Jahren. Die die Altindustrien als auch neuere Wirtschaftszweige,, 5 122 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors allen voran die Automobilindustrie, verzeichneten bei die frühen Leitindustrien Weißblech, Kohle und Stahl Produktion und Absatz zum Teil erhebliche Einbußen, und ihren Niedergang beziehen, sondern durchaus auch die einen massiven Arbeitsplatzabbau zur Folge hatten. auf die neueren Konsumgüterindustrien (Automobil- So ging die Zahl der Arbeitsplätze in der britischen Tex- bau und Elektronikindustrie) und ihre wechselvolle tilindustrie von 843 000 im Jahr 1960 auf 179 000 im Entwicklung. Ein zentraler Erklärungszusammenhang Jahr 1994 zurück (–79 %). Ähnlich gravierend war die für den absoluten wie relativen Bedeutungsverlust der Entwicklung im Bergbau und in der Stahlindustrie. Mit Industriezweige in Südwales wird in den Defiziten des dem Rückgang der absoluten Beschäftigtenzahlen ging regionalen Innovationssystems gesehen, vor allem in ein relativer Bedeutungsverlust des industriellen Sektors seiner mangelnden Stabilität und institutionellen wie einher. Mitte der 1980er Jahre waren ca. 5 Mio. Men- organisatorischen Kontinuität. Im Zusammenhang mit schen (UK) in der Industrie beschäftigt, was einem hoheitsstaatlichen Formen der Steuerung und Interven- Anteil von 23,4 % an der Gesamtbeschäftigtenzahl ent- tion (als zentralem Bestandteil des walisischen Innova- spricht. Bis 1993 verringerten sich die Werte auf 3,9 Mio. tionssystems) kommt Phil Cooke zu der ambivalenten bzw. 18,1 %. In den Folgejahren, bis zum Jahr 2000, kam Einschätzung, dass staatliche Eingriffe auf der einen es zwar zu einem erneuten Anwachsen der Beschäftig- Seite zu einer deutlichen Stabilisierung von Ökonomie tenzahlen auf ca. 4,5 Mio., doch der Beschäftigtenan- und Arbeitsmarkt beigetragen haben, auf der anderen teil verringerte sich weiter auf 15,1 %. 2008 lag er bei Seite aber durch die mangelnde Kontinuität britischer 10,5 % (ca. 3,3 Mio. Beschäftigte). Hinter diesen weni- und walisischer Wirtschaftspolitik essenzielle Vorausset- gen schlaglichtartigen Zahlen verbergen sich komplexe zungen für das dauerhafte Funktionieren des regionalen Zus amm enhänge, die in Abschnitt 5.2 und 5.3 anhand Innovationssystems in Wales nicht gegeben sind. eines regionalen (Wales) und eines sektoralen Beispiels Ein weiterer interessanter Aspekt, der in Abschnitt 5.2 (Automobilindustrie) exemplarisch beleuchtet werden. angesprochen wird, dreht sich um die Frage der Innova- Die positive Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in tionsfähigkeit des für die Region so wichtigen Energie- der Zeit zwischen 1994 und 2000 verweist u. a. auf eine sektors, wobei nicht nur die Optionen für „saubere wachsende Bedeutung neuerer Wirtschaftszweige (sog. Kohle“ ausgelotet werden, sondern auch die Entwick- Hightech-Industrien wie Pharma- und IT-Unterneh- lungspotenziale erneuerbarer „grüner“ Energien. men) sowie fernöstlicher, vor allem japanischer Unter- Parallel zu den hier angerissenen Entwicklungen im nehmen, die nicht zuletzt auf die Politik der offenen Tür Bereich der Industrie haben sich mindestens ebenso gra- für ausländische Investitionen durch den Zentralstaat vierende Veränderungen bei den Dienstleistungen voll- bzw. durch regionale Entwicklungsagenturen und -ge- zogen, und zwar sowohl in quantitativer als auch in qua- sellschaften zurückzuführen ist. In Abschnitt 5.3 über litativer Hinsicht. Ein zentrales Merkmal der britischen das Engagement japanischer Unternehmen in der briti- Gesellschaft ist die Tatsache, dass Dienstleistungen heute schen Automobilindustrie greift Christoph Scheuplein die wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes darstellen. diesen Entwicklungstrend auf und beleuchtet die Folgen, Dies lässt sich an einer Reihe von Indikatoren aufzeigen, die sich für die Geographie der Automobil wirtschaft, beispielsweise an der Bruttowertschöpfung, den Arbeits- die Arbeitsorganisation und das Verhältnis zwischen marktzahlen oder dem Außenbeitrag (Erläuterung Unternehmensleitung, Beschäftigten und staatlichen s. Abb. 5.2). Ein Blick auf die Bruttowertschöpfung Akteuren ergeben haben. Im Zusammenhang mit der unterschiedlicher Wirtschaftszweige für das Jahr 2007 Einführung neuer Produktionsweisen und den Strate- (Abb. 5.1) verdeutlicht die generelle volkswirtschaftliche gien ihrer Durchsetzung durch die japanischen (Auto- Bedeutung der Dienstleistungen und die besonders her- mobil-)Unternehmen ist es sicherlich kaum übertrie- ausgehobene Rolle der Finanzdienstleistungen. An die- ben, von einem tief greifenden kulturellen Wandel zu sen Zahlen lässt sich u. a. die exponierte Rolle Groß- sprechen, der sich in den letzten Jahrzehnten in der bri- britanniens bzw. Londons als einem der wichtigsten tischen (Automobil-)Industrie vollzogen hat. Ob dies Knotenpunkte der Weltwirtschaft ablesen. die Überlebensfähigkeit der Automobilproduktion in Auch anhand der Arbeitsmarktzahlen lässt sich die Großbritannien auf Dauer sichert, ist eine offene Frage. besondere Bedeutung der Dienstleistungen dokumen- Allerdings stehen die Chancen angesichts der ökonomi- tieren. So lag der Beschäftigtenanteil im Jahr 2008 bei schen und politischen Rahmenbedingungen auch nicht etwa 81 %, bei einer Beschäftigtenzahl von 24,5 Mio. in schlecht. diesem Sektor (UK). Es waren auch die Dienstleistun- Ein weniger rosiges Bild der Entwicklung der briti- gen, die dazu beigetragen haben, den Außenbeitrag ab schen Industrie seit den 1980er Jahren zeichnet Phil den frühen 1970er Jahren zu stabilisieren (Abb. 5.2, Cooke am Beispiel der Entwicklungen in Südwales grüne Linie). Allerdings war der Importüberschuss bei (Abschnitt 5.2). Die lost worlds lassen sich nicht nur auf Waren in den letzten Jahren so außergewöhnlich hoch,, 5.1 Einführung 123 5 Abb. 5.1 Bruttowertschöpfung nach Branchen 2007 (Angaben in Milliarden Pfund). Quelle: UK National Accounts: The Blue Book, 2009, S. 80. dass trotz sprunghaft gestiegener positiver Bilanz bei für die weltwirtschaftliche Stellung des Landes wurde den Dienstleistungen der Außenbeitrag insgesamt hohe bereits angesprochen und in Abschnitt 4.1 am Beispiel negative Werte aufwies. Londons gesondert betrachtet. Auch für andere Städte Hinter diesen Zahlen und der außergewöhnlich des Landes sind Finanzdienstleistungen von großer dynamischen Entwicklung des Dienstleistungssektors in Bedeutung, vor allem für deren Wirtschaftsleistung und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbergen sich Arbeitsmärkte (vgl. Abschnitt 8.5, in dem die Transfor - eine Vielzahl von Einzeltrends, die in ihrer Summe zu mation Manchesters von einer Industrie- zu einer post- einem tief greifenden Umbau der britischen Wirtschaft industriellen Dienstleistungsmetropole diskutiert wird). und Gesellschaft beigetragen haben. Die Bedeutung der Ein weiterer bedeutsamer Punkt ist die erhebliche Finanzdienstleistungen für die gesamte Wirtschaft und Ausweitung des Staatshandels in unterschiedlichen £ Milliarden – Waren –20 Dienstleistungen gesamt –40 –60 –80 –100 –120 1971 1974 1977 1980 1983 1986 1989 1992 1995 1998 2001 2004 2007 Abb. 5.2 Saldi der Exporte und Importe von Waren (blaue Linie) und Dienstleistungen (rote Linie) sowie Außenbeitrag (Addition beider Saldi = grüne Linie) 1971–2008 (UK; Angabe in Milliarden Pfund). Quelle: Eigene Berechnungen, auf der Basis von http://www.statistics.gov.uk/StatBase/tsdataset.asp?vlnk=219&More=N&All=Y (Abruf: 10.07.2009)., 5 124 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Handlungsfeldern. Hierzu lassen sich beispielhaft zäh- 5.2 Lost worlds – len: Bildungs- und Gesundheitswesen, Verkehr, Kultur- politik, Beschäftigungsförderung, Wirtschaftspolitik, Altindustriegebiete Technologie- und Forschungsförderung, Wohnungsbau, und ihre Zukunft: Raumordnung und Städtebau, Verbraucherschutz und Marktregulierung. Die Etablierung des öffentlichen Das Beispiel Südwales Gesundheitsdienstes (National Health Service) im Jahr 1948, der Ausbau des Schul- und Hochschulsystems, die Bereitstellung öffentlich geförderter Sozialwohnungen Phil Cooke und andere Entwicklungen haben nicht nur zu einer Übersetzung und Redaktion: Gerald Wood Umverteilung des (wachsenden) Sozialprodukts beige- tragen, sie haben auch erhebliche Beschäftigungseffekte Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht Südwales – eine nach sich gezogen und einen wesentlichen Beitrag zur Altindustrieregion Großbritanniens, die bereits gegen Transformation der Arbeitsmärkte geleistet. Mit deut- Ende des 18. Jahrhunderts eine ausgeprägte industrielle lich über 200 Mrd. Pfund Bruttowertschöpfung (Abb. Struktur aufwies und insofern als eine der frühesten 5.1) belegten die öffentlichen Dienstleistungen nach den Industrieregionen überhaupt angesehen werden kann. Finanzdienstleistungen in der Wirtschaftsstatistik des Die ökonomischen Strukturen haben sich seit der Zeit Jahres 2007 den zweiten Rang und in der Beschäftigten- der frühen Industrialisierung im 18. Jahrhundert gleich statistik des Jahres 2008 mit 31,6 % Beschäftigungsanteil mehrfach grundlegend gewandelt, und es ist abzusehen, sogar den ersten Platz (Finanzdienstleistungen: 21 % dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Dieser bzw. dritter Rang). In Abschnitt 5.2 greift Phil Cooke die Abschnitt zeichnet die ökonomischen Entwicklungsli- Bedeutung der von der öffentlichen Hand ausgelösten nien in groben Zügen nach, konzentriert sich dabei auf Beschäftigungseffekte für eine periphere Region Groß- das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert und unter- britanniens auf und diskutiert in diesem Zusammen- nimmt vor dem Hintergrund der Wirtschaftsgeschichte hang die grundsätzliche Frage, wie die Belebung des der Region abschließend den Versuch eines Ausblicks Arbeitsmarktes durch staatliche Eingriffe zu bewerten auf die nahe Zukunft. ist. Die Industrielle Revolution in Wales begann in den Die wirtschaftlichen Transformationsprozesse des 20. 1770er Jahren mit der Verhüttung von Eisenerzen, die und frühen 21. Jahrhunderts waren begleitet von ebenso man westlich des Tals des Flusses Usk abbaute. Diese fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen, zu Linie markiert bis heute die Grenze zwischen dem in- denen sich vor allem eine gestiegene räumliche und dustrialisierten und dem ländlichen Südwales. Bis zum soziale Mobilität, eine erhebliche Ausweitung von Haus- heutigen Tag ist das Gebiet östlich des Tales ländlich haltseinkommen und Freizeit, veränderte Sozialstruktu- strukturiert, während sich westlich eine historische ren und die Neubestimmung des Geschlechterverhält- Industrielandschaft befindet, die in das UNESCO-Welt- nisses rechnen lassen. In ihrer Summe haben diese erbe aufgenommen worden ist. Hier wurde das Gilchrist- Trends, im Verbund mit anderen Entwicklungen, zu Thomas-Verfahren zur Stahlherstellung weiterentwi- einer weitreichenden Modernisierung der alltäglichen ckelt, für das Andrew Carnegie im Jahre 1880 250 000 Lebensführung beigetragen. Ein wichtiger Trend, auf US-Dollar bezahlte, um es in seinem Großbetrieb in den auch in Kapitel 8 eingegangen wird, betrifft die Pittsburgh, USA, einzusetzen. In unmittelbarer Nachbar- zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in sog. schaft zu den Erzlagerstätten befanden sich auch Kohle- Lebensstile, mit denen in der Sozialforschung verhält- vorkommen. Diese wurden zunächst in horizont alen nismäßig stabile und regelmäßig wiederkehrende Mus- Stollen abgebaut, die man in die Steilhänge der engen ter der alltäglichen Lebensführung bezeichnet werden. Täler von Südwales trieb. Im Jahre 1847 wurde dann der Diese Ausdifferenzierung hat u. a. Auswirkungen auf das erste Tiefbauschacht im Rhondda-Tal (Rhondda Valley) Konsumverhalten und damit auch auf ökonomische durch das Unternehmen von Walter Coffin abgeteuft. Entwicklungen. In Abschnitt 5.4 spürt Doris Schmied Mit über 56 Zechen wurde das Rhondda Valley zum den Entwicklungen des britischen Binnentourismus in Schwerpunkt des Kohleabbaus in Südwales (Abb. 5.3). Abhängigkeit von gesellschaftlichen Trends nach und Cardiff stieg zum größten Kohleumschlaghafen der Welt bezieht dabei auch die jüngere sozialwissenschaftliche auf, da von hier die in den südwalisischen Tälern abge- Debatte über die Auswirkungen einer zunehmenden baute Kohle in alle Welt verschifft wurde. sozialen Ausdifferenzierung auf das Konsumverhalten Zum wirtschaftlichen Erbe von Wales gehörte ganz ein. maßgeblich die Weißblechindustrie. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrug der Anteil des in Wales hergestell-, 5.2 Lost worlds – Altindustriegebiete und ihre Zukunft: Das Beispiel Südwales 125 5 Abb. 5.3 Südwales. ten Weißbleches an der Gesamtproduktion des Vereinig- erzvorkommen, aus denen Energie, Eisen und Stahl ten Königreiches 95 %, und auch der Weltmarktanteil gewonnen wurden (Abb. 5.4). Aufgrund des steigenden war beträchtlich. Lokalisiert war dieser Wirtschaftszweig Arbeitskräftebedarfs wanderten Bewohner der umlie- in Südwestwales, wo er von Alfred Marshall untersucht gend en ländlichen Regionen zu, die zur Erntezeit jedoch und als ein Beispiel seiner „Industriebezirke“ bekannt häufig wieder in ihre Heimatorte zurückkehrten, um wurde. Der wichtigste Ort dieses industrial district war ihren Familien bei der Ernte zu helfen. Aufgrund des Llanelli, den man noch heute unter dem Namen Tino- steigenden Lebensmittelbedarfs durch die Industriali- polis kennt (tin = Weißblech). In zahlreichen kleineren sierung bei gleichzeitiger Abwanderung eines Teiles der Orten und Dörfern befanden sich die Unternehmen und ländlichen Bevölkerung vollzog sich in der Landwirt- Betriebe der Weißblechindustrie, die hier auf die für die schaft eine spürbare Steigerung der Arbeitsprodukti- Herstellung von Weißblech notwendige Anthrazitkohle vität. zurückgreifen konnten. Im nahe gelegenen Swansea Die Industrialisierung führte auch im Siedlungssys- hatte man sich auf die Kupfer- und Zinkverhüttung spe- tem zu Veränderungen, im Falle von Südwales nahm zialisiert. Ursprünglich wurden die zur Verhüttung not- diese Entwicklung jedoch zum Teil merkwürdige Züge wendigen Erze per Schiff aus Cornwall in Llanelli und an. An den Mündungen der großen Flüsse bildeten sich Swansea angelandet. Später verlagerte sich die Rohstoff- wichtige Hafenstädte, wie das bereits erwähnte Cardiff. basis und reichte bis nach Antofagasta in Chile. Im Dieser Ort erhielt erst im Jahr 1905 das Stadtrecht, Folgenden soll Tinopolis näher betrachtet werden, vor und im Jahr 1955 folgte die Ernennung zur Hauptstadt allem sollen die Hintergründe für den Aufstieg und von Wales, vor allem wegen der ökonomischen Vorherr- Niedergang dieses industrial district in Augenschein schaft, die Cardiff durch den Kohlehandel erlangt hatte. genommen werden. Im Kohlerevier entstanden hingegen keine neuen Städte. Südwales war eine der ersten Regionen der Welt, Vielmehr entwickelten sich aus den bestehenden land- deren ökonomische, soziale, landschaftliche, bauliche wirtschaftlich geprägten Siedlungen Industriedörfer, die und auch politische Strukturen von der Industrialisie- aufgrund der bandartigen Bebauung entlang der engen rung grundlegend umgestaltet worden sind. In Gang Täler häufig zusammenwuchsen (Abb. 5.5). gesetzt und gehalten wurde die Industrialisierung von So interessant diese und auch weitere historische Ent- Südwales durch die vorhandenen Kohle- und Eisen- wicklungen gewesen sind, der eigentliche Fokus des vor-, 5 126 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Abb. 5.4 Bergbaulandschaft bei Blaenavon. Quelle: Wood 2004. liegenden Abschnitts liegt nicht auf der Zeit der frühen Schätzung ermittelt (anhand einer häufig praktizierten Phase der Industrialisierung im Zeichen von Kohleab- 2/3-Schätzung). bau und Metallverhüttung, sondern auf der Zeit der wirtschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des Tinopolis: Ein frühes Beispiel eines 20. Jahrhunderts. Vor allem wird der Bedeutungsverlust der Industrie, der sich seit Ende der 1990er Jahre voll- Wirtschaftsclusters in Südwales zogen hat, genauer untersucht. Im Anschluss wird die aktuelle wirtschaftliche Situation betrachtet, die im Wie bereits erwähnt, leitete sich der Beiname „Tinopo- Wesentlichen durch eine starke Ausweitung des Dienst- lis“ für Llanelli aus der Tatsache ab, dass sich die Stadt leistungssektors bestimmt wird. Für diese Diskussion und ihr Umland auf die Erzeugung von Weißblechpro- werden offizielle staatliche Statistiken herangezogen, in dukten spezialisiert hatten und damit den Markt im Ver- denen die Situation für Wales insgesamt angegeben ist. einigten Königreich lange Zeit dominieren konnten. Ein Die Zahlen für Südwales werden im Rahmen einer hoher Anteil der Belegschaft in den Fabriken war weib- Abb. 5.5 Rhondda Valley (in Trehafod bei Pontypridd): Eines der wenigen erhaltenen Übertage-Ensembles der Kohleindustrie in Südwales. Das Areal und die Gebäude dienen heute als Industriemuseum (Rhondda Heritage Park). Im Hintergrund sind die für die engen südwalisischen Täler typischen Reihenhäuser der Bergarbeiterfamilien zu erkennen, die dem Talverlauf folgen. Quelle: Wood 2004., 5.2 Lost worlds – Altindustriegebiete und ihre Zukunft: Das Beispiel Südwales 127 5 lich. Mit der Verstaatlichung der britischen Stahlindus- Aufstieg und Niedergang des trie ab den 1950er Jahren änderte sich dies deutlich (die industriellen Sektors in Südwales Stahlindustrie wurde später wieder privatisiert, im Jahre 1967 erneut verstaatlicht und 1980 schließlich, in der Regierungszeit von M. Thatcher, ein letztes Mal privati- In der Nachkriegszeit hatten diverse Förderprogramme siert). Im Rahmen der ersten Verstaatlichung wurde die der britischen Regierung Industrieunternehmen dazu Produktion von Tinopolis in zwei großen Werken ermutigt, sich im Industriegürtel von Südwales nieder- zusammengefasst, von denen heute noch eines existiert. zulassen. Dies führte zu einer Ansiedlung einer Vielzahl Für das Phänomen der frühen wirtschaftlichen Speziali- namhafter Unternehmen, darunter Ford (Automobile), sierung lassen sich weitere Beispiele in Großbritannien Hoover (Haushaltsgeräte), GEC (Haushaltsgeräte) und finden: Leicester als Stadt der Herstellung von Wirkwa- Borg-Warner (Automobilzulieferer). Zudem profitierte ren und Northampton als Schuhe produzierende Stadt. die britische Wirtschaft vom Marshallplan. An dieser Nottingham hingegen war bekannt für die Herstellung Entwicklung lässt sich die Abhängigkeit der britischen von Spitze. In den Städten setzte sich die räumliche Spe- Nachkriegswirtschaft von amerikanischem Engagement zialisierung im kleineren Maßstab fort. So war beispiels- ablesen, mit dem nicht zuletzt angestammte Märkte auf weise Clerkenwell der Uhrmacherdistrikt in London, in der gesamten Welt zurückerobert werden sollten. In Birmingham gab es einen Bezirk zur Herstellung von d ieser Zeit (1945–1975) wiesen die ausländischen Schusswaffen sowie einen noch heute bestehenden Direktinvestitionen kein erkennbares Muster auf, mit Bezirk zur Schmuckherstellung. In anderen Teilen Euro- der Ausnahme, dass es sich bei den Betrieben um sog. pas waren ähnliche Phänomene zu beobachten, bei- verlängerte Werkbänke Konsumgüter herstellender spielsweise in Leipzig mit seinem Graphischen Viertel, Unternehmen handelte, die vor allem auf der Suche in dem sich heute ein Mediencluster befindet. nach einer großen Zahl von angelernten Beschäftigten Moderne Cluster haben viel mit Industriebezirken waren. Diese Betriebe gingen nur wenige Zuliefererbe- gemein, allerdings lassen sich aber auch zahlreiche ziehungen zu lokal ansässigen Unternehmen ein, z. B. Unterschiede aufzeigen. Im Falle von Tinopolis gehör- mit Verpackungs- oder Transportunternehmen. Von ten hierzu die fehlenden Technologie- und Wissens- großer Bedeutung für die walisische Wirtschaft waren in transferzentren, das fehlende Risikokapitel sowie die bis dieser Zeit aber auch noch die Montanindustrie. So bil- heute nicht vorhandene Hochschule. Es gab hingegen dete die Kohle eine wichtige Energiegrundlage der wie- Banken, Häfen, die Eisenbahnen und ab 1873 die Inde- der in Schwung gekommenen britischen Nachkriegs- pendent Tinplate Makers Association, einen Vorläufer wirtschaft, und die Hüttenwerke spielten mit ihrer der späteren Gewerkschaften, sowie ab 1939 die Llanelli Spezialisierung auf die Herstellung von Bandstahl eine Associated Tinplate Companies, einen Zusammen- wichtige Rolle in der dynamischen Entwicklung der bri- schluss der fünf (von ehemals zehn) Weißblech verar- tischen Konsumgüterindustrien. beitenden Unternehmen der Stadt. Die Spezialisierung Im Jahre 1976 wurde die Welsh Development Agency von Stadt und Umland war im 19. Jahrhundert so weit (WDA) eingerichtet, wodurch Wales zum ersten Mal vorangeschritten, dass die Verwundbarkeit gegenüber über eine Einrichtung zur strategischen Planung der wirtschaftlichem Abschwung oder institutionellem Wirtschaftsentwicklung verfügte. Obwohl die WDA nie- Wandel deutlich hervortrat. Industriedistrikte in Groß- mals einen Wirtschaftsplan für Wales erstellt hat – und britannien waren oft geprägt von Konflikten zwischen bis zum Jahr 1992 auch keine Unternehmensstrategie –, den unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagern. Der schälte sich eine mehr oder weniger stillschweigende Grad gewerkschaftlicher Organisation war häufig hoch, sektorale Strategie zur Intensivierung britischer und um die Arbeitnehmer vor starken Einkommensverlus- ausländischer Investitionen im Bereich der Automobil- ten zu schützen; gleichzeitig handelte es sich häufig um und Elektronikindustrie heraus. Diese Strategie ver- company towns, die von den Unternehmerfamilien zeichnete in den 1980er Jahren einen spektakulären gesteuert wurden. Diese Kontrolle wurde dadurch Erfolg – allerdings vor dem Hintergrund des Nieder- erleichtert, dass die Unternehmerfamilien einen weitrei- gangs der Montanindustrie sowie der ersten Betriebe, chenden Einfluss in den Kommunalparlamenten hatten. die in der Nachkriegszeit angesiedelt worden waren. Tinopolis war nicht sonderlich konfliktorientiert, Zwischen 1983 und 1993 entfielen auf Wales etwa anders als beispielsweise der Bergbau in Südwales, des- 15–20 % aller ausländischen Direktinvestitionen im sen Gewerkschaft das 20. Jahrhundert hindurch fast Vereinigten Königreich – gemessen am Anteil an der durchweg kommunistisch geprägt war. Gesamtbevölkerung und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Höhe von 5 % ein ausgesprochen eindrucksvol- ler Wert., 5 128 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Ein Großteil der ausländischen Investitionen stammt wie bereits erwähnt, ein Wirtschaftscluster herausgebil- aus Japan, Amerika und Europa (hier vor allem aus det. Im Jahre 1990 waren Büro- und Unterhaltungselek- Deutschland). Sony kam bereits im Jahre 1974, es folg- tronik die wichtigsten Produkte dieses Clusters, andere ten Hitachi, Panasonic (Matsushita), Aiwa und Orion, wichtige Produkte waren Telekommunikationsausrüs- die alle Büro- und Unterhaltungselektronik herstellten. tung, Instrumente, elektronische Bauteile und Software. Später schlossen sich LG (Korea), die Siliziumwafer- Die Dynamik dieses Clusters lässt sich u. a. an der Ent- Hersteller International Rectifier (USA) und Trikon wicklung der Beschäftigtenzahl aufzeigen, die zwischen (UK) sowie die Hersteller elektronischer Bauteile aus 1980 und 1990 um 110 % wuchs. Die Mehrzahl der Hongkong und Singapur dem Elektronikcluster in Süd- Betriebe sind Endmontagebetriebe und zudem meist im wales an. Allerdings haben sich seitdem auch negative Besitz japanischer Unternehmen wie Panasonic, Orion Entwicklungen vollzogen. So haben Sony und Panasonic oder Sony. Die Zulieferer sind überwiegend in Südwales ihre Beschäftigtenzahl auf jeweils 500 gesenkt, und im lokalisiert. Ein Beispiel hierfür ist das japanisch- Falle von Hitachi, Aiwa und Panasonic kam es zu Teil- deutsche Joint Venture NEC-Schott in Cardiff zur Her- oder Komplettschließungen der Betriebe. stellung von Bildschirmen für Fernsehgeräte und Com- Im Bereich der Automobilindustrie hat Ford im Jahr putermonitore, das später vollständig von NEC über- 1978 ein Motorenwerk in Bridgend eröffnet. Dieser nommen worden ist. Dieser Betrieb arbeitete mit Ansiedlung folgten weitere, zumeist durch Zulieferer anderen ausländischen Betrieben der Elektronikbranche (Calsonic, Valeo, Lucas-SEI, Robert Bosch, Trico, ITT- in Südwales (Matsushita Components, Diaplastics, Nin- Alfred Teves, Ina Bearings, Sekisui, Yuasa, Gillet, Grundy kaplast und Meiki) eng zusammen, musste jedoch Mitte und Hoesch-Camford). Aber auch in der Automobilin- der 2000er Jahre schließen, als die Sony-Trinitron- dustrie gab es in der Zwischenzeit Rückschläge. So Bildschirmröhre gegenüber der Flachbildschirmtechno- haben sich Valeo und Lucas-SEI ganz aus Wales zurück- logie immer stärker ins Hintertreffen geriet. gezogen (Lucas-SEI hat sich stattdessen in der Slowakei Der hohe Anteil an ausländischen Direktinvestitio- und Polen angesiedelt). Seit 1999 ist das Ford-Motoren- nen in Wales ist verantwortlich dafür, dass die Bedeu- werk in Bridgend der einzige Hersteller des Zetec- tung der Industrie für die walisische Wirtschaft in den Motors, von dem jährlich 700 000 Stück gefertigt wer- 1990er Jahren deutlich größer war als im Falle des Ver- den. Außerdem produziert das Werk weitere 55 000 einigten Königreiches. In der Zwischenzeit hat sich die Jaguar-AJ26-V8-Motoren. So hat sich Südwales als ein positive Entwicklungslinie der walisischen Industrie wichtiges Zentrum zur Herstellung qualitativ hochwer- jedoch umgekehrt. tiger Automobilmotoren in Europa etabliert, in dem Besonders anschaulich lässt sich der Wandel von über 2 400 qualifizierte Mitarbeiter beschäftigt sind. Wachstum zu Stagnation und Schrumpfung mit Ähnlich wie in der Elektronikindustrie hat sich die Beschäftigtenzahlen verdeutlichen. Interessanterweise Automobilindustrie zu einem wichtigen regionalen konnte sich die Beschäftigtenbasis in der Industrie im Wirtschaftscluster entwickelt. Zeitraum zwischen 1991 und 1998 gegenüber Großbri- Nach Rhys (2001) lassen sich diesem Cluster 150 tannien und allen anderen britischen Regionen durch Zuliefererbetriebe zurechnen, von denen 40 unmittel- einen leichten Zuwachs weiter stabilisieren. In den nach- bare Lieferbeziehungen zu Automobilproduzenten folgenden Jahren bis 2001 kam es allerdings auch in unterhalten. Hierzu gehören auch Weltmarktführer wie Wales zu einem Abbau der Beschäftigtenzahlen in der Bosch oder Calsonic. Die walisischen Automobilzuliefe- Industrie, der absolut mit etwas weniger als 10 000 rer unterhalten Lieferbeziehungen zu Herstellern in Arbeitsplätzen zwar nicht außerordentlich hoch ausfiel, Großbritannien (Ford, Jaguar, Nissan, Toyota, Honda aber dazu führte, dass der Anteil der Industriebeschäf- und GM) wie auch in anderen europäischen Ländern tigten an den Gesamtbeschäftigten um 4,6 Prozent- (u. a. Volvo, Saab, Fiat, Opel und Renault). Dennoch punkte abnahm. Einen ähnlich hohen Rückgang gab es besteht für die walisische Automobilindustrie ein nur noch in zwei anderen britischen Regionen, nämlich P roblem in der unterdurchschnittlichen Pro-Kopf- in dem traditionell ökonomisch schwachen Nord- Wertschöpfung (7 % unter dem Mittelwert für das Ver- ostengland sowie in den West Midlands. Durch diesen einigte Königreich) und den Nettoinvestitionen (20 % Rückgang rutschte Wales beim Anteil der Industriebe- unter dem landesweiten Mittelwert), was auf eine gerin- schäftigten an den Gesamtbeschäftigten vom zweiten gere Produktivität des gesamten Sektors schließen lässt auf den vierten Platz im Vergleich mit den englischen und ein möglicher Grund für dessen Schrumpfung ab Wirtschaftsregionen und Schottland. Verantwortlich den späten 1990er Jahren ist. hierfür waren im Wesentlichen die Entwicklungen in Auch im Bereich der Elektronik und der Informa- großen Firmen, wie sich anhand der offiziellen Statisti- tions- und Kommunikationstechnologie (IKT) hatte sich, ken für das Vereinigte Königreich nachweisen lässt., 5.2 Lost worlds – Altindustriegebiete und ihre Zukunft: Das Beispiel Südwales 129 5 Danach bauten große Firmen im Vereinigten Königreich Wales abermals, diesmal vom vierten auf den sechsten (d. h. Betriebe mit mehr als 250 Beschäftigten) etwa Rang (innerhalb eines Jahres). Damit liegt das ökonomi- 228 000 Arbeitsplätze von insgesamt 348 000 ab, was sche Profil von Wales nun deutlich näher an dem der einem Anteil von ca. zwei Dritteln entspricht (Office for „postindustriellen“ Regionen im Südosten und Süd- National Statistics 2003), und es gibt keinen stichhalti- westen des Landes als an den Profilen von Industrie - gen Grund für die Annahme, dass die Situation in Wales regionen wie den Midlands. Dies markiert eine sehr eine grundlegend andere gewesen sein soll. In Tab. 5.1 deutliche Abkehr von den Entwicklungslinien der sind die absoluten Zahlen der Industriebeschäftigten in 1990er Jahre, als Wales strukturell viel mehr Gemein- den englischen Regionen sowie in Wales und Schottland samkeiten mit den Industrieregionen East und West von 1998 bis 2008 aufgeführt, ebenso der Anteil der Midlands aufwies als mit dem Süden Englands. Im Jahr Industriebeschäftigten an den Gesamtbeschäftigten für 2008 lag der Anteil der Industriebeschäftigten an den denselben Zeitraum. Aus ihr lassen sich einige interes- Gesamtbeschäftigten nur noch einen halben Prozent- sante Entwicklungen ablesen. Es ist zu erkennen, dass punkt über dem Mittelwert für Großbritannien. der Verlust an Arbeitsplätzen in Wales zwischen 1998 Hinter diesen Veränderungen stehen vor allem die und 2002 – weniger in absoluten Zahlen als vielmehr in Entwicklungen in den Industriebetrieben der ausländi- Prozentwerten – der größte in ganz Großbritannien schen multinationalen Unternehmen sowie in den übrig gewesen ist. Unter Zugrundelegung der Annahme, dass gebliebenen Betrieben der walisischen Metallindustrie, der Beschäftigtenverlust in Großbetrieben etwa zwei die entweder die Zahl ihrer Arbeitsplätze reduzierten Drittel betrug, entfielen von den insgesamt 44 000 verlo- oder aber den Standort in Wales komplett aufgaben ren gegangenen Arbeitsplätzen in Wales zwischen 1998 (z. B. Hitachi). LG, das mit großem PR-Aufwand und und 2002 allein 30 000 auf solche Betriebe. Im Hinblick staatlicher Unterstützung seinen Betrieb aufgenommen auf den Anteil der Industriebeschäftigten an den Ge - hatte, musste angesichts seiner schlechten Ertragslage samtbeschäftigten verschlechterte sich die Position von und unter erheblichem Druck der südkoreanischen Tabelle 5.1 Industriebeschäftigte in Großbritannien 1998–2008 (November) – absolute Werte und Anteil der Industriebeschäftig- ten an den Gesamtbeschäftigten 2008 2006 2002 1998 Region in 1000 % in 1000 % in 1000 % in 1000 % E. Midlands 359 16,7 366 17,2 434 21,0 481 24,1 Eastern 343 12,2 355 12,9 430 15,5 465 17,6 London 280 7,5 256 7,1 287 8,0 319 9,4 North East 163 14,1 167 14,5 194 17,6 233 21,7 North West 452 14,3 449 14,3 557 17,4 622 20,4 Scotland 267 10,5 264 10,6 336 13,9 375 16,1 South East 450 10,8 480 11,6 569 13,6 656 16,3 South West 296 11,6 307 12,3 366 14,7 378 16,2 Wales 173 12,9 187 14,2 206 15,8 250 20,4 W. Midlands 398 16,1 436 17,6 563 22,5 639 25,8 Yorks. & H. 356 14,5 363 15,0 444 18,7 477 20,8 GB 3 622 12,4 3 728 12,9 4 386 15,7 4 893 18,2 Quelle: Office of National Statistics, 5 130 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Abb. 5.6 LG. Philips-Werk bei Newport zur Herstellung von Röhrenmonitoren (Schließung August 2003). Quelle: Wood 2004. Regierung seine Halbleiterherstellung und Forschungs- In dem für Europa und vor allem für Wales typischen abteilung an den Konkurrenten Hyundai verkaufen, institutionellen regionalen Innovationssystem (Institu- dessen Tochterfirma Hynix schließlich versuchte, den tional Regional Innovation System, IRIS) hingegen ist Betrieb an die WDA zurückzuverkaufen, die ihn ur - eine solche flexible und kurzfristige Anpassungsleistung sprünglich errichtet hatte (Abb. 5.6). Im Jahr 2004 deutlich schwieriger zu erreichen. wurde die WDA durch die walisische Regierung aufge- Der folgende Abschnitt wendet sich der Frage zu, wie löst, nicht zuletzt wegen dieses Desasters und ähnlicher das Innovationssystem in Wales auf die wirtschaftlichen Missgeschicke. Herausforderungen der späten 1990er Jahre reagierte Die dargestellte ökonomische Entwicklung ist Teil und wie erfolgreich diese Reaktion gewesen ist. bzw. Ergebnis globaler Wettbewerbsstrategien multina- tionaler Konzerne, die angesichts sich verändernder

Die Reaktion des Wohlfahrtsstaates

Marktbedingungen die Qualitäten bestehender und potenzieller Standorte ständig neu bewerten. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird allerdings leicht überse- Für ein Verständnis der Entwicklungen in der Wirtschaft hen, dass regionale Innovationssysteme, auch solche, die und auf dem Arbeitsmarkt von Wales ab ca. 2001 ist es durch ausländische Direktinvestitionen geschaffen wor- wichtig, zwei Dinge vorwegzuschicken. Erstens war es den sind, auf Stabilität und institutionelle und organisa- aufgrund der Etablierung des walisischen Parlaments im torische Kontinuität angewiesen sind. Die für den Fort- Jahre 1999 und der damit verbundenen zentralstaat- bestand von Unternehmen wichtigen Innovationen lichen Mittelzuweisungen notwendig geworden, die erzeugen gleichzeitig Unsicherheit und haben tenden- wirtschaftlichen Leistungsunterschiede auf der regiona- ziell eine destabilisierende Wirkung. Besonders regio- len Ebene (also unterhalb der Ebene von Gesamtwales) nale Innovationssysteme müssen hochsensibel gegen- neu zu fassen. Die so entstandene neue Karte der wirt- über Wandel sein, um sich auf Dauer behaupten zu schaftlichen Leistungsfähigkeit der walisischen Regio- k önnen, und auch sie sind gleichzeitig auf ein stabiles, nen brachte als Nebeneffekt die Erkenntnis mit sich, stützendes institutionelles und organisatorisches Um- dass über die Hälfte des gesamten Landes Anspruch auf feld angewiesen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Massachu- Förderung nach Maßgabe der EU-Strukturfonds (Ziel setts, wo Kleincomputer verschwanden und stattdessen 1) hatte. Konkret bedeutete dies: Anspruch auf 1,2 Mrd. Biowissenschaften zu globaler Bedeutung heranreiften. Pfund zur ökonomischen Restrukturierung für die Der Erfolg dieses regionalen Innovationssystems hängt Dauer von sechs Jahren, plus einen weiteren Betrag in eng mit dem Umstand zusammen, dass es schnell und der gleichen Größenordnung für weitere sechs Jahre flexibel auf Marktveränderungen und die daraus resul- (Gesamtlaufzeit: 2001–2013). Zweitens führte die Pla- tierenden Chancen reagieren konnte. Dies ist typisch für nung der Verwendung von EU-Mitteln zu einer deut- unternehmensgesteuerte regionale Innovationssysteme lichen Veränderung der bisherigen ökonomischen Pla- (Entrepreneurial Regional Innovation Systems, ERIS). nungsstrategien. Im Wesentlichen bedeutete dies die, 5.2 Lost worlds – Altindustriegebiete und ihre Zukunft: Das Beispiel Südwales 131 5 Beendigung der von der WDA verfolgten Direktinves- tung (public administration), sowie, zum anderen, in tionsstrategie und stattdessen einen massiven Ausbau Form des Anteils dieser Beschäftigten an der Gesamtbe- der Mittelstandsförderung (Small and Medium-Sized schäftigtenzahl. Interessant an dieser Tabelle sind meh- Enterprisses, SMEs). Das neue Mantra hieß: die Unter- rere Dinge. Erstens bekleidet Wales seit 1998 unange- stützung des sog. endogenen Potenzials, wenn möglich fochten den ersten Platz im Hinblick auf den Anteil aller verbunden mit einer Stärkung bestehender oder der Beschäftigten an den Gesamtbeschäftigten. Zweitens Schaffung neuer Wirtschaftscluster. stieg die Zahl der Beschäftigten in Wales in diesem Das neu geschaffene walisische Parlament führte eine Bereich zwischen 1998 und 2002 um über 67 000. Damit Reihe administrativer Reformen durch, mit denen be- wurden erheblich mehr neue Arbeitsplätze geschaffen, stehende staatliche Einrichtungen neu organisiert oder als in der gleichen Zeit in den Industrieunternehmen – im Falle der WDA – abgeschafft worden sind. Im Ver- verloren gingen (44 000). Drittens setzte sich der Wachs- bund mit einer außerordentlich großen Menge neuer tumskurs ungebrochen bis zum Jahr 2008 fort, so dass Finanzhilfen (EU-Förderung, UK-Mittel für die Aufga- nach zehn Jahren annähernd 100 000 neue Arbeitsplätze ben des neu geschaffenen walisischen Parlaments, durch die öffentliche Hand geschaffen worden waren. erhebliche Ausweitung des Gesundheitsfonds für Wales Auch bei den privaten Dienstleistungen fand ein Wachs- von 3,8 Mrd. Pfund im Jahre 2003 auf 5,8 Mrd. Pfund tum statt, allerdings war es nicht annähernd so signifi- im Jahre 2008/09) ergaben sich hieraus deutliche öko- kant. Diese Entwicklung wirft die Frage danach auf, wie nomische Effekte, die einen besonders spürbaren eine von der öffentlichen Hand ausgehende Belebung Niederschlag am Arbeitsmarkt fanden. In Tab. 5.2 sind des Arbeitsmarktes zu bewerten ist. In der öffentlichen diese Veränderungen am Arbeitsmarkt zwischen 1998 Debatte werden vor allem zwei Positionen deutlich. Die und 2008 dargestellt, und zwar zum einen in Form der erste unterstellt, dass die Einmischung des Staates der absoluten Beschäftigtenzahlen im Bereich des Bildungs- „realen Ökonomie“ Wachstumsimpulse entzieht, die und Gesundheitswesens und der öffentlichen Verwal- andere, dass eine solche Intervention der Ausgangs- Tabelle 5.2 Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung 1998–2008 (November) – absolute Werte und Anteil der Beschäftigten in der Public Administration an den Gesamtbeschäftigten 2008 2006 2002 1998 Region in 1000 % in 1000 % in 1000 % in 1000 % E. Midlands 572 26,5 571 26,7 502 24,3 438 21,4 Eastern 732 26,1 695 25,3 640 23,1 570 21,6 London 929 25,0 975 27,2 850 23,8 769 22,7 North East 375 32,4 356 31,1 326 29,6 283 26,4 North West 918 29,0 942 29,9 874 27,4 756 24,8 Scotland 803 31,6 783 31,4 690 28,6 635 27,2 South East 1 153 27,6 1 096 27,0 1 004 24,0 960 23,8 South West 728 28,6 728 29,9 653 26,1 588 25,2 Wales 445 33,3 431 32,7 415 31,8 348 28,4 W. Midlands 681 27,5 688 27,7 606 24,2 559 22,5 Yorks. & H. 680 28,4 688 28,5 634 26,7 552 24,1 GB 8 031 28,2 7 989 28,4 7 193 25,7 6 459 24,1 Quelle: Office for National Statistics, 5 132 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors punkt für eine sozial gerechtere und nachhaltigere 1990er Jahren. Japanische Investitionen waren bes on- regionale Wirtschaftsentwicklung sein kann. Im Falle ders hoch und zahlreich; so siedelten sich in Südwales von Wales lässt sich festhalten, dass die Ausweitung der über 50 japanische Betriebe an, viele davon im Kohle- Beschäftigtenzahlen im öffentlichen Dienst im Wesent- revier. Diese Investitionen im Bereich der Büro- und lichen drei positive Effekte mit sich gebracht hat: Sie hat Unterhaltungselektronik und die Investitionen im die Arbeitslosenstatistik positiv beeinflusst, sie hat vielen Bereich des Automobilbaus führten zu einer spürbaren Frauen Erwerbsmöglichkeiten eröffnet, gerade auch sol- Zunahme von Wertschöpfungsketten innerhalb der chen Frauen, die ihren Arbeitsplatz in der Industrie ver- Region, da die neu angesiedelten Betriebe Zulieferer in loren haben, und schließlich hat sie die Lebensqualität räumlicher Nähe bevorzugten, sofern die Qualität der vieler Menschen in Wales verbessert, indem die Qualität gelieferten Produkte stimmte. Auf diese Weise bildeten des Bildungs- und Gesundheitssystems erheblich gestei- sich clustertypische Interaktionen zwischen Zulieferern gert worden ist. Allerdings muss auch hervorgehoben und Endmontagebetrieben aus, wobei ein nicht uner- werden, dass die durch die öffentliche Hand ausgelöste heblicher Teil der Innovationsleistungen von den Zulie- Arbeitsmarktbelebung keine weiteren ökonomischen ferern übernommen wurde. Das entstehende regionale Wachstumsimpulse mit sich gebracht hat. Außerdem Innovationssystem von Kunden, Zulieferern, Hochschu- kam die ganze Entwicklung im Jahr 2009 zu einem len und Einrichtungen der beruflichen Bildung wurde abrupten Halt, als die Zentralregierung in London das u. a. gesteuert durch Zusammenschlüsse der Zulieferer walisische Parlament zu einer 5 %igen Haushaltskür- (supplier associations), deren Entstehung in vielen Fällen zung zwang. auf die Initiative der WDA zurückzuführen ist. Der his- torische Vorläufer dieses regionalen Innovationssystems war der Industriedistrikt gewesen, der sich um den

Fazit

Werkstoff Weißblech herum gebildet hatte. Den Höhepunkt seiner Entwicklung erreichte das Südwales war bis zur Mitte der 1980er Jahre, als die „neue“, Konsumgüter produzierende Südwales Ende der damalige Regierung den Ausstieg aus der Kohleförde- 1990er Jahre – von da an befindet es sich in einem kon- rung in Südwales beschloss, eine klassische schwerin- tinuierlichen Schrumpfungsprozess. Parallel zum Rück- dustrielle Region gewesen. Über lange Zeit trieb die zug der großen Unternehmen vollzog sich vor dem Kohle aus Südwales ganze Schiffsflotten an und trug zur Hintergrund der Devolution (Abschnitt 7.5) eine tief Energieversorgung anderer europäischer Länder bei, die greifende Verwaltungsreform, die vor allem in die selbst (noch) keinen eigenen Kohleabbau betrieben, z. B. Abschaffung der WDA und in eine Neuausrichtung der Frankreich, Spanien oder Italien. Darüber hinaus war Wirtschaftspolitik für Wales mündete. In dieser Zeit die Kohle aus Südwales wichtig für die Metallgewinnung flossen zudem umfangreiche öffentliche Mittel nach und -verarbeitung in den südwalisischen Hüttenwerken. Wales, die mit dazu beitrugen, den Beschäftigungsver- Das hier produzierte Eisen wurde im 18. und 19. Jahr- lust in der Industrie durch Schaffung neuer Arbeits- hundert zunächst in der Rüstungsindustrie verwendet, plätze im öffentlichen Sektor aufzufangen. Allerdings doch später, als die großen Eisenbahnprojekte in Nord- muss in diesem Zusammenhang auch hervorgehoben und Südamerika realisiert wurden, verlagerte sich die werden, dass die Beschäftigungsverluste in vielen ande- Produktion. So kommt es, dass sich noch heute Schie- ren, wenngleich auch kleineren Revieren Großbritan- nen aus Merthyr Tydfil in den Eisenbahnstrecken Kana- niens in erheblich größerem Umfang aufgefangen wer- das, der USA und Argentiniens wiederfinden. Die Stahl- den konnten als in Südwales. Dort wurden zwischen 50 industrie spezialisierte sich auf die Herstellung von und 100 % aller verloren gegangenen Arbeitsplätze Bandstahl, einem wichtigen Werkstoff in der Automo- ersetzt, in Südwales hingegen nur 19 %. Gerade auch vor bil- und Haushaltsgeräteindustrie. Beide Industrie- diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das Erbe zweige boomten ab den 1950er Jahren und waren, nicht des Kohlezeitalters bei den „ökonomisch inaktiven“ ehe- zuletzt durch staatliche Fördermaßnahmen, auch in maligen Bergarbeitern weiterlebt, deren große Zahl in Südwales angesiedelt worden. Im Laufe der Zeit wurden der Ära Thatcher durch statistische Kniffe aus der diese Konsumgüterindustrien für die Wirtschaft und Arbeitslosenstatistik herausgerechnet worden ist. Der den Arbeitsmarkt Südwales wichtiger als die einst so doppelte ökonomische Strukturbruch in Südwales ab dominante Kohlewirtschaft. den 1970er Jahren hat neue Erwerbsmöglichkeiten Das Wachstum der Konsumgüterindustrien erhielt geschaffen, aber auch neue „Verwerfungen“ hervorge- einen weiteren wichtigen Impuls durch die ausländi- bracht, da für einen erheblichen Teil der männlichen schen Direktinvestitionen aus anderen europäischen, Bevölkerung der Zugang zu den neuen Arbeitsplätzen aber auch aus asiatischen Ländern in den 1980er und deutlich schwieriger ist als für den weiblichen Teil. In, 5.3 Japanische Direktinvestitionen in der britischen Automobilindustrie – das Beispiel Nissan 133 5 einer Befragung anlässlich des 25. Jahrestages des denk- Crooks, E. (2009): Mining Recovery Needs Longer-Term Aid. In: würdigen Bergarbeiterstreikes von 1984/85 gaben viele Financial Times, 12. März 2009, S. 4. ehemalige Bergarbeiter an, bei einer Wiederaufnahme Office for National Statistics (2003): Small Business Statistics. London. der Kohleförderung sofort wieder unter Tage fahren zu Pritchard, J. (2003): Warning as Jobs Move away from Industry, wollen. Warum? In großer Einmütigkeit erklärten die In: Western Mail, 13. Februar 2003. Befragten, dass sie seit dem Ausscheiden aus dem Berg- Rees, W.; Rees, B. (2004): Llanelli – Birth of a Town, ART bau nie wieder ein solches Maß an Verbundenheit, Designs, CD-ROM. Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl erfahren Rhys, G. (2002): The Automotive Sector in Wales: Still Alive and haben wie hier und dass kein noch so hohes Einkom- Well. Report to Third Autoconference, London, November men den Verlust dieser sozialen Bindungen ausgleichen 2002 (http://www.autoconference.co.uk). könne. Angesichts der Entwicklungen der Kohlepreise auf dem Weltmarkt erscheinen die Aussichten auf einen wiederbelebten walisischen Bergbau jedoch eher bescheiden. Allerdings machen seit einiger Zeit Überle- 5.3 Japanische Direkt- gungen von „sauberer Kohle“ die Runde, bei der ein investitionen in der britischen Großteil des emittierten CO2 und anderer Treibhausgase nicht in die Luft gelangen, sondern durch neue (tech- Automobilindustrie – nisch aufwendige und damit teure) Verfahren unterir- das Beispiel Nissan disch deponiert werden soll. Derzeit zeichnet sich durch das Statoil-Experiment in Norwegen ab, dass die techni- schen Probleme bei der sicheren Einlagerung der Treib- Christoph Scheuplein hausgase in den Griff zu bekommen sind. Sollte sich auch die Kostenfrage lösen lassen, könnte die Wieder- In der britischen Automobilindustrie dreht sich seit lan- aufnahme der Kohleförderung in Südwales also durch- gem das Karussell des Kaufens und Verkaufens. In den aus eine sinnvolle (ökonomische) Option darstellen. letzten Jahren aber fanden Verkäufe mit besonderer Wahrscheinlicher als dieses Szenario ist hingegen die Symbolik statt: MG Rover wurde im Jahr 2005 an den (Weiter-)Entwicklung von Technologien im Bereich chinesischen Konzern Nanjing Automobile Corporation erneuerbarer, „sauberer“ Energien in neuen Unterneh- veräußert, und die beiden Marken Land Rover und men (Photovoltaik, Biokraftstoffe, Brennstoffzellen und Jaguar wurden im Jahr 2008 von dem indischen Unter- Energiegewinnung aus dem Meer). Viele der in Süd- nehmen Tata Motors übernommen. Jaguar war seit 1989 wales ansässigen Unternehmen sind bereits heute in der im Besitz des US-Unternehmens Ford gewesen, das im Herstellung solcher Technologien aktiv. Von daher Jahr 2000 auch Land Rover von dem deutschen Auto- zeichnet sich für Südwales eine neue Zukunft im Ener- mobilbauer BMW gekauft hatte. BMW besaß zuvor giesektor ab. Wie immer sich diese Zukunft konkret aus- auch MG Rover, bevor die Firma ebenfalls im Jahr 2000 gestaltet, eines ist heute schon sicher: Sie ist „sauber“ an ein britisches Konsortium abgegeben wurde. All dies und „grün“ und entspricht nicht mehr dem sprichwört- wirft ein neues Schlaglicht auf die externe Steuerung der lichen „schwarzen Gold“, das sich einst aus den Tälern Branche in Großbritannien und markiert den „zweiten des industrialisierten Südwales ergoss. Untergang“ der britischen Automobilindustrie. Dennoch ist die Automobilproduktion in Großbri- tannien weiterhin eine feste Größe. Das Land hielt auch

Weiterführende Literatur im Jahr 2008 den Platz des viertgrößten Herstellerlandes

an Automobilen im erweiterten Europa. Gemessen an Bathelt, H. (2002): The Re-Emergence of a Media Industry den Beschäftigten lag Großbritannien mit 173 000 Cluster in Leipzig. In: European Planning Studies, 10, S. Beschäftigten noch knapp vor Italien auf dem dritten 583–612. Platz. Äußere Abhängigkeit bei relativer Stabilität von Cooke, P. (Hrsg.) (1995): The Rise of the Rustbelt. London. Produktion und Beschäftigung – dies ist die Grundten- Cooke, P. (2004): Introduction: Regional Innovation Systems, denz im letzten Jahrzehnt in der britischen Automobil- an Evolutionary Approach. In: Cooke, P., Heidenreich, M.; Braczyk, H. (Hrsg.): Regional Innovation Systems. London. industrie. Was aber hat diese Stabilisierung möglich Cooke, P.; De Laurentis, C.; Wilson, R. (2003): The Future of gemacht? Und wie hat sich dabei die Geographie der Manufacturing Jobs In Europe: Wales as a Case Study. A Industrie verändert? Report for the Green Alliance MEP Group, European Parlia- ment. Brüssel/Straßburg., 5 134 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors

Niedergang und Neubeginn rern gehört, dominieren inzwischen ausländische Eigen-

tümer. So hat Ford die Marke Aston Martin gekauft, Lotus wird von General Motors geführt, Bentley befin- Der erste Niedergang der britischen Automobilindustrie det sich im Besitz von Volkswagen und Rolls-Royce im geschah bereits vor drei Jahrzehnten. Im Jahr 1975 war Besitz von BMW. der größte Produzent, die British Leyland Motor Corpo- Daneben existiert bereits eine lange Präsenz auslän- ration, bankrott. In den staatlich geführten Nachfolge- discher Automobilunternehmen mit eigenen Marken firmen wurden 25 Fabriken geschlossen, die Beschäftig- und Produktionsstätten im Vereinigten Königreich. Der tenzahl sank zwischen 1977 und 1982 von 176 000 auf britische Automobilproduzent Vauxhall war bereits 82 000. Ebenso wurden 1978 die Werke der ehemaligen 1925 von General Motors übernommen worden. Vier Rootes-Gruppe an Peugeot verkauft und später weitge- Jahre später errichtete Ford eine erste Fabrik in Dagen- hend zerschlagen. Die Gründe für diesen Niedergang ham/London. Der erneute Aufschwung ab der Mitte der lagen vor allem in einem unzulänglichen Management, 1980er Jahre ging allerdings von einem neuen Spieler in in konfliktreichen Auseinandersetzungen mit den der globalen Automobilindustrie aus: den japanischen Beschäftigten und in einer ungenügenden Industriepo- Unternehmen. Nachdem sich die Industriekonzerne litik. Japans in den 1970er Jahren mit ihren Produkten auf Die Zahl der produzierten PKW-Einheiten sank dra- zahlreichen europäischen Märkten etabliert hatten, gin- matisch. Im Jahr 1972 wurde das höchste Produktions- gen sie zu Beginn der 1980er Jahren zur Produktion volumen erzielt: 1,9 Millionen Stück. Im Jahr 1980 war innerhalb dieser Märkte über. Die Investitionen wurden hiervon nur noch die Hälfte übrig. Die Talfahrt konnte im Bereich der Industrie vor allem in den Branchen jedoch auf diesem Niveau gestoppt werden (Abb. 5.7). hochwertiger Konsumgüter mit Massenproduktion In den folgenden Jahren wurden wieder deutliche Z u- getätigt, d. h. vorwiegend in den Bereichen wie Elektro- gewinne verzeichnet. Der bisherige neue Höhepunkt nik, Telekommunikation und Automobilbau. Ein wich- wurde im Jahr 1999 mit 1,78 Mio. PKW-Einheiten tiger Impuls ging von der Herstellung eines gemeinsa- erreicht; nach einigen Höhen und Tiefen der Folgejahre men Binnenmarktes durch die Europäische Union im lag die Produktion im Jahr 2008 noch bei 1,44 Mio. Jahr 1993 aus. Dies verlangte von den nichteuropäischen Stück. Die Abbildung zeigt zugleich, dass die Branche Konzernen, sich bereits in den vorausgehenden Jahren sich im Rahmen dieser Entwicklung enorm auf auslän- zu positionieren. Dabei war Großbritannien innerhalb dische Märkte orientiert hat. Der Exportanteil bei Per- Europas das bevorzugte Zielland. Es eignete sich bes on- sonenkraftwagen lag bereits Ende der 1990er Jahre bei ders durch seine traditionell investorenfreundliche Poli- fast 60 %; seitdem wurde der Anteil bis zum Jahr 2008 tik, die von der Thatcher-Regierung Anfang der 1980er auf 78 % gesteigert. noch einmal forciert wurde. Zudem waren die japani- Mit den Verkäufen an Peugeot und später an Ford schen Manager am stärksten mit der englischen Sprache und BMW gingen die letzten britischen Massenherstel- und der britischen Kultur vertraut. Insgesamt konnte ler in ausländischen Besitz. Auch in dem spezialisierten Großbritannien in den Jahren vor der Herstellung des Segment der Luxuswagen, in dem die britische Automo- Binnenmarktes 1993 zeitweise 30–40 % der ausländi- bilindustrie seit vielen Jahrzehnten zu den Marktfüh- schen Direktinvestitionen in Europa auf sich ziehen. Binnenmarkt 500 Export Abb. 5.7 PKW-Produktion in Groß- britannien 1977–2008 (in 1000). 1977 1982 1987 1992 1997 2002 2007 Quelle: National Statistics Authority (für 1977–2007); SMMT (für 2008). PKW-Einheiten in 1 000, 5.3 Japanische Direktinvestitionen in der britischen Automobilindustrie – das Beispiel Nissan 135 5

Japanisierung Jahren waren rund 270 Betriebe mit mehr als 80 000

Beschäftigten im Vereinigten Königreich tätig. Wie Befragungen gezeigt haben, waren dabei weniger die all- Der Investitionsprozess der japanischen Automobilin- gemeinen Standortfaktoren wichtig – der ausschlagge- dustrie begann in den 1970er Jahren mit der Eröffnung bende Grund für fast alle Ansiedlungen war die Anwe- einiger kleinerer Zulieferbetriebe. Ab dem Anfang der senheit der großen japanischen Finalwerke. 1980er Jahre, als erst etwas mehr als 30 Betriebe in Nissan, Toyota und Honda sind seit der Mitte der Großbritannien tätig waren, nahm der Zustrom stark 1990er Jahre die drei größten Automobilproduzenten in zu. Den entscheidenden Katalysator für diese Entwick- Großbritannien. Im Jahr 2007 lag ihr gemeinsamer lung stellte im Jahr 1984 die Investitionsentscheidung Anteil an den in Großbritannien hergestellten PKW bei von Nissan dar, eine neue Automobilfabrik im engli- 56,5 %, wie Tab. 5.3 zeigt. Auf den beiden folgenden schen Nordosten bei der Stadt Sunderland zu errichten. Plätzen finden sich zwei traditionelle Marken (Mini, Ein zweites japanisches Unternehmen, Honda, gründete Land Rover), die heute in ausländischem Besitz sind. 1985 eine Tochterfirma in Großbritannien, die seit 1992 In dem kleineren Bereich der Nutzfahrzeuge, in dem in Swindon (Wiltshire) produziert. Schließlich wurde zuletzt jährlich etwa 200 000 Einheiten produziert 1989 die Toyota Manufacturing UK etabliert, die 1992 w urden, dominieren dagegen weiterhin die amerikani- ein transplant (ausländische Fertigungsstätte) in Bur- schen Unternehmen. Hier sind die beiden mit Abstand naston (Derbyshire) in Betrieb nahm. Außerdem größten Unternehmen IBC, eine Tochter von General betreibt Toyota ein Motorenwerk bei Deeside in Nord- Motors, und Ford. wales. Nach der Ansiedlung der japanischen Automobil- Die Japanisierung zeigt sich auch in der veränderten bauer zogen diese weitere Zulieferer des Automobilsek- Geographie der britischen Automobilindustrie. Über tors nach Großbritannien. Dabei handelte es sich zum viele Jahrzehnte waren die West Midlands die dominie- einen um japanische Zulieferer, die bereits in festen Lie- rende Region. Noch 1990 lag der Anteil der Firmen aus ferbeziehungen zu den Autoherstellern standen. Zum dieser Region bei der Hälfte des Volumens. Hier sind anderen gelang es jedoch auch einigen europäischen weiterhin die Werke von Jaguar, Rover und Land Rover Zulieferunternehmen, Lieferant von Nissan, Toyota oder angesiedelt, deren Produktionszahlen jedoch zurückge- Honda zu werden und erstmals Betriebsstandorte in hen. Inzwischen werden noch etwa 35 % der britischen Großbritannien zu eröffnen. Bis 1990 nahmen weitere Automobile in den West Midlands produziert. Dagegen 140 Unternehmen den Betrieb auf, und Mitte der 1990er sind die drei größten Werke der japanischen Hersteller Tabelle 5.3 Produktion von PKW in Großbritannien 2007 Rang Unternehmen PKW in 1 000 in v. H. 1 Nissan Motor Manufacturing UK 353 23,0 2 Toyota Manufacturing UK 277 18,1 3 Honda 237 15,4 4 BMW (MINI) 237 15,4 5 Land Rover 232 15,1 – sonstige Unternehmen (u. a. Vauxhall/GM, Jaguar, 198 12,9 Aston Martin, Bentley, Rolls-Royce) Summe 1 534 100 Summe von 1–3 867 56,5 Quelle: SMMT: Motor Industry Facts 2008 und eigene Berechnungen, 5 136 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors außerhalb dieses Kerngebiets lokalisiert. Während das spricht man in diesem Zusammenhang auch von dem Werk von Nissan an der Nordseeküste liegt (North East), System der Lean Production, das sich durch eine hohe ist der Standort von Honda in Swindon im Südwesten Flexibilität auszeichnet. Mit diesem Produktionssystem (Wiltshire) (Abb. 5.8). Die Produktionsstätte von Toyota kann schneller, mit einem geringeren Materialverbrauch in Burnaston (Derbyshire) in den East Midlands befin- und mit weniger Fehlern produziert werden. In der Tat det sich noch am nächsten zum alten Zentrum. ging von den japanischen Arbeitsmethoden wohl ein Die Zulieferindustrie war ebenfalls vor allem in den wichtigerer Einfluss auf das britische industrielle System West Midlands stark, daneben hatte sie Zentren zum aus als von den japanischen Investitionen in Bauten und einen im Nordwesten im Umkreis der Werke von GM Maschinen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass dem (Ellesmere Port) und Ford (Halewood). Zum anderen „japanischen Syndrom“ manchmal viele Prozesse der hatte sich eine Reihe von Zulieferern im Umkreis von Modernisierung und Flexibilisierung zugeordnet wer- London angesiedelt. Auch dieses räumliche Konzentra- den, die ohnehin in der Industrie stattgefunden hätten tionsmuster ist abgeschwächt, weil sich eine Reihe von und durch die Ankunft der japanischen Firmen nur Zulieferern in direkter Nähe zu den neuen Montagewer- beschleunigt wurden. ken angesiedelt hat. Insgesamt ging also die Japanisie- Diese Arbeits- und Produktionsorganisation ist in rung mit einer räumlichen Dekonzentration einher. Man Japan innerhalb eines kulturellen Rahmens entstanden, kann dies auch deuten als einen Trend zur Neubelebung der in Europa nicht vorhanden war und auch nicht ein- traditioneller Industriestandorte, die bis zur In vesti- fach übernommen werden konnte. Auch im Wirt- tionsentscheidung bereits stark deindustrialisiert waren. schaftssystem sind deutliche Unterschiede vorhanden, Neben dieser Japanisierung der Direktinvestitionen so etwa die einflussreiche Industriepolitik in Japan oder und der Produktion wird auch von einer Japanisierung die Organisation der Industrie in netzwerkartigen in einem weiteren Sinne gesprochen. Damit ist die Über- Gruppen („Keiretsu“). Umso spannender ist es zu sehen, nahme der Arbeits- und Produktionsorganisation wie in Großbritannien einzelne Elemente der Lean Pro- gemeint, die den Aufstieg Japans in vielen Industrie- duction innerhalb einer andersartigen Wirtschafts- und zweigen ermöglicht hat. In der westlichen Diskussion Sozialordnung sowie Kultur angewandt worden sind.

Lean Production

Lean Production bezeichnet ein in Japan erfundenes System • Keine Zwischenpuffer: Jedes Teil wird bearbeitet und der Arbeits- und Produktionsorganisation. Es hat seine his- sofort wieder in den Arbeitsprozess gegeben. torischen Wurzeln im Wiederaufbau nach dem Zweiten Welt- • Kaizen: Der Produktionsprozess wird kontinuierlich ver- krieg, als Japan mit geringen Ressourcen seine Industrie wie- bessert. Dies wird durch permanente Qualitätskontrol- der in Gang brachte. Dies gelang durch eine material- und len, Diskussion der Ergebnisse und durch Anreizsysteme zeitsparende Produktion, die sich strikt an der aktuellen für Verbesserungsvorschläge gewährleistet. Nachfrage orientierte. Hierdurch wurde jede Form von Über- • Null-Fehler-Prinzip: Wird ein Fehler festgestellt, soll die- produktion vermieden. Die Lean Production wird u. a. durch ser unmittelbar in der laufenden Produktion beseitigt folgende Elemente gekennzeichnet: werden. Dies vermeidet eine teure Nachbearbeitung am • Umkehrung der Prozessflusssteuerung: Die Logik der Ende des Montagebandes. Produktion beginnt am Ende des Montagebandes, d. h., • Gruppenarbeit: Die Organisation und Erledigung der die dort tätigen Arbeiter holen sich das Werkstück der Arbeit werden nicht von einzelnen Vorgesetzten, sondern davor gelagerten Produktionseinheit; diese wiederum von Gruppen verantwortet. Dies ermöglicht eine starke bedient sich bei der vorigen Einheit usw. Dies vermeidet, Motivation und soziale Kontrolle der Beschäftigten. dass produziert wird, ohne dass die Produkte an einer späteren Stelle wieder benötigt werden. Die Lean Production verlangt von den Arbeitern eine hohe • Just-in-Time: Sitze, Inneneinrichtung, Leuchten usw. wer- Flexibilität und Lernbereitschaft. Im Ausgleich garantieren den erst dann beim Zulieferer bestellt, wenn sie für die die japanischen Unternehmen den Stammbelegschaften Produktion eines von einem Kunden bereits bestellten eine lebenslange Beschäftigung. Modells benötigt werden. An das Montageband werden Im Westen wurde die Lean Production bekannt durch das diese Teile in genau dem Moment angeliefert, in dem sie 1990 veröffentlichte Buch The Machine That Changed the dort eingebaut werden sollen. Die Lager dieser Werke World: The Story of Lean Production der Autoren James P. befinden sich gewissermaßen „auf der Straße“. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos., 5.3 Japanische Direktinvestitionen in der britischen Automobilindustrie – das Beispiel Nissan 137 5 1–50 000 50 001–100 000 100 001–300 000 300 001–400 000 Abb. 5.8 Produktionsstandorte der britischen Automobilindustrie. Quelle: SMMT und eigene Recherchen., 5 138 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Hierbei mussten häufig auch Kompromisse gefunden vom Band, das Modell „Bluebird“. Das Werk wurde in werden. mehreren Stufen weiter ausgebaut. Insgesamt wurden seit 1984 rund 2,5 Mrd. Pfund in Bauten und Anlagen investiert. 1992 wurde bereits eine Produktionskapazität

Nissan

von 175 000 PKW pro Jahr erreicht. Seit 1998 ist Sun- derland die größte Produktionsstätte für Automobile in Die Nissan Motor Corporation wurde 1928 gegründet. Großbritannien. Insgesamt sind fast 5 Mio. Personen- Sie war vor dem Zweiten Weltkrieg eine der beiden Fir- kraftwagen in Sunderland hergestellt worden, und jeder men (neben Toyota), denen in der staatsdominierten fünfte im Vereinigten Königreich gefertigte Wagen japanischen Wirtschaft die Automobilindustrie erlaubt stammt aus Sunderland. Im Jahr 2008 wurden dort die war. Nach dem Krieg gelang der zügige Wiederaufstieg. Modelle „Micra“, „Qashqai“ und „Note“ produziert. Ins- Heute ist Nissan ein global aufgestelltes Unternehmen, gesamt sind in dem Werk fast 5 000 Beschäftigte tätig. das im Geschäftsjahr 2007 mit 180 000 Beschäftigten Die Unternehmen der Zuliefererkette verfügen über rund 3,5 Mio. Fahrzeuge herstellte. Nissan hat seine Hei- weitere ca. 15 000 Beschäftigte. matbasis weiterhin in Japan, produziert aber inzwischen Sunderland liegt an der Mündung des Flusses Wear auf fünf Kontinenten. In Europa fasste Nissan zuerst und hat heute rund 280 000 Einwohner. Gemeinsam mit 1980 mit der Übernahme eines Werkes bei Barcelona dem nahe gelegenen Newcastle bildete Sunderland seit Fuß. Anschließend siedelte sich das Unternehmen in dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein industrielles Zen- Großbritannien an, wo es seitdem seinen eindeutigen trum. Vorherrschende Branchen waren der Kohleberg- Schwerpunkt in Europa hat. 1999 ging Nissan mit bau und der Schiffsbau. Beide Branchen schrumpften ab Renault eine Allianz durch eine wechselseitige Kapital- den 1970er Jahren rasant. 1988 wurde die letzte Werft beteiligung ein. Sie kooperieren seitdem vor allem bei und 1994 die letzte Kohlezeche im Stadtgebiet geschlos- der Entwicklung und Vermarktung von Modellen. Beide sen. Dieser Trend der Deindustrialisierung erstreckte Unternehmen sind jedoch weiterhin eigenständig und sich auf die gesamte Region. Insgesamt waren von 1977 führen eigene Marken. bis 1985 in Englands Norden rund 230 000 Arbeitsplätze Seit 1968 exportierte Nissan Autos nach Großbritan- verloren gegangen, davon 146 000 im verarbeitenden nien, zunächst noch unter dem Markennamen Datsun. Gewerbe. Bereits in der Mitte der 1970er Jahre erlangte Nissan Die japanischen Standorte in Europa wurden häufig einen Marktanteil von 6 % in Großbritannien, so dass in Gegenden mit einer hohen Arbeitslosigkeit eröffnet, dieser nationale Markt eine zunehmende Bedeutung für was eine starke Selektion bei der Rekrutierung der das Unternehmen erhielt. 1984 wurde die Nissan Motor Beschäftigten ermöglichte. Bevorzugt wurden junge Manufacturing UK Ltd. gegründet. Sie errichtete ein Arbeiter mit einem niedrigen Ausbildungsgrad und Werk im Nordosten Englands auf dem Gebiet der Stadt ohne gewerkschaftliche Bindung eingestellt. Die Bezah- Sunderland (Abb. 5.9). 1986 rollte dort das erste Auto lung in den transplants ist gemessen an den jeweiligen Abb. 5.9 Das Nissan-Werk in S underland. Quelle: Nissan., 5.3 Japanische Direktinvestitionen in der britischen Automobilindustrie – das Beispiel Nissan 139 5 lokalen Lohnverhältnissen überdurchschnittlich. Im davon sprechen, dass das Nissan-Werk eine starke Posi- Vergleich zu anderen Großunternehmen, speziell aus- tion in der lokalen Ökonomie Sunderlands gewonnen ländischen Unternehmen, sind die Löhne jedoch nie- hat. Die Kontrolle über die lokale Verwaltung zu gewin- drig. Nissans Lokalisierung in Sunderland ist ein Para- nen, fällt Investoren von der Größe Nissans in wirt- debeispiel für eine derartige Strategie. Die arbeitslosen, schaftlich geschwächten Regionen nicht schwer. Das eher niedrig qualifizierten Berg- und Werftarbeiter bil- Unternehmen schaffte es mit seinem Versprechen vieler deten einen wichtigen Pool an Arbeitskräften bei der Arbeitsplätze, in kurzer Zeit alle Genehmigungen zur Werkseröffnung. Errichtung des Werkes zu erhalten. Zugleich konnte Nis- Die Fabrik ist teilweise auf dem Gelände des ehema- san eine sehr große Freifläche von fast 300 Hektar (733 ligen Sunderland Airfield angesiedelt; östlich liegt die Acres) kaufen, auf der es nicht nur die eigenen Betriebs- eigentliche Stadt Sunderland, westlich die New Town gebäude unterbringen konnte, sondern auch Flächen für Washington. Der Standort ist gut an das Fernstraßen- Zulieferer vorhielt. Dieser Grundstückserwerb, der in netz angebunden und liegt in der Nähe von zwei Nord- mehreren Schritten vor sich ging und an dem verschie- seehäfen, dem Port of Teesside und dem Port of Tyne. dene öffentliche Grundstückeigner beteiligt waren, wird Beides ist für einen Standort außerhalb der traditionel- als Schlüsselfaktor für den Erfolg Sunderlands gegen- len Automobilregionen unerlässlich. In unmittelbarer über anderen britischen Alternativstandorten betrach- Nähe des Werkes wurden bedeutende Zulieferbetriebe tet. Interessanterweise stellte die Kommune nach der angesiedelt, so etwa der Unternehmen Valeo, Tacle Sea- Veröffentlichung der Investitionsentscheidung auch ein ting, Magna Kansei, Johnson Control, Hashimoto und Programm mit Ausstellungen und Festivals zusammen, Unipres. mit dem der Bevölkerung die japanische Kultur nahe- Ein weiterer wichtiger Grund für die Investition in gebracht wurde. Großbritannien war die Subventionierung des Werkes mit 125 Mio. Pfund (bei einer Gesamtinvestition von 1,2 Mrd. Pfund bis Anfang der 1990er Jahre). Dabei „The Nissan car factory in Sunderland is an indication of a new style of industrial relations that has been imported wurde die Höhe der Subvention sicherlich von den Sym- from Japan in recent years. The company, which has Japa- pathien der Thatcher-Regierung mit den neuen Produk- nese directors but only British workers on the factory floor tionsmethoden und der gewerkschaftsfernen Haltung has attempted to avoid an ‚us and them‘ attitude which is von Nissan beeinflusst. Allerdings hätte das Unterneh- common in manufacturing. There is no traditional division men wohl ähnliche Subventionssummen auch für between Nissan ‚management‘ and ‚workers‘. Everyone andere Standorte in Großbritannien und vermutlich uses the same car park and canteen, has the same sickness auch für Standorte in anderen europäischen Ländern scheme and perks. There is only one union allowed in the erhalten. Somit ist diese industriepolitische Förderung plant – the Amalgamated Engineering Union (AEU), which kaum als ausschlaggebender Grund für die Ansiedlung represents about 35 % of the staff. Workers elect represan- zu bewerten. tatives to a Company Council to deal with their problems“ (The Guardian, 11.9.1990).

Modellfabrik Sunderland

Die Kontrolle über den zweiten Akteur, die Beschäftig- ten, zu gewinnen, war komplizierter. Bereits im Vorfeld Nissan gelang es im Werk Sunderland, die oben aufge- der Werkseröffnung wurde ein Abkommen mit der führten Prinzipien der Lean Production an die briti- Gewerkschaft Amalgamated Engineering Union ge- schen Verhältnisse anzupassen. Sunderland bot als ein schloss en. Dies eröffnete der Gewerkschaft einen exklu- neu errichtetes Werk (greenfield sites) gute Vorausset- siven Zutritt zu dem Betrieb. Sie sicherte im Gegenzug zungen für eine solche Übertragung. Dagegen wirkten zu, den Betriebsfrieden zu sichern. Für ein Abkommen in älteren, übernommenen Werken (brownfield sites) mit dieser Gewerkschaft sprach, dass sie einen starken zahlreiche Widerstände gegen die neuen Management- Einsatz von Robotern in der Produktion erlaubte. methoden. Es ist kein Zufall, dass die japanischen Inves- Innerbetrieblich wurde sehr viel Wert gelegt auf Aus- toren – im Unterschied etwa zu Peugeot, Ford und bildung und Training. Die Beschäftigten trugen Arbeits- BMW – eine Übernahme bestehender Fabriken fast uniformen, und sie wurden in Teams gegliedert. Jedes immer vermieden haben. Team wurde angehalten, eigenverantwortlich und mit Eine unabdingbare Voraussetzung für die Verwirkli- interner Diskussion die Arbeitsziele zu erfüllen. Zudem chung der Lean Production war eine möglichst weitge- wurde mit den Beschäftigten über die Gruppenleiter, hende Kontrolle über die Beschäftigten, die Zulieferer über Ansprachen und Betriebszeitungen auf vielfältige und die lokale Administration. In der Tat kann man Weise kommuniziert. Insgesamt hat es Nissan mit dieser, 5 140 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Arbeitspolitik geschafft, das Werk Sunderland streikfrei nehmen zu einer Art „Taiwan“ von Europa entwickeln zu halten. wird, d. h. zu einer verlängerten Werkbank mit niedri- Eine dritte Arena waren die Beziehungen zu den gen Qualifikationen und wenigen Entscheidungsmög- Zulieferern. Traditionell war ein Großteil der Zulieferin- lichkeiten. Dieses negative Szenario wich jedoch bald dustrie in den West Midlands angesiedelt. Nissan setzte einer positiveren Sicht. Mitte der 1990er hatten sich die dagegen als erstes Automobilunternehmen in Großbri- drei japanischen Werke zum Rückgrat der britischen tannien auf eine eigene Logistik im Umkreis des Final- Automobilindustrie entwickelt. Die moderne indus- werkes. Nach dem Just-in-Time-Prinzip werden die trielle Produktion und die flexible, kundennahe Modell- Zuliefererteile je nach ihrer Stückzahl und Besonderheit politik wirkten als Vorbild auf viele andere Industrie- stundengenau oder tagesgenau angeliefert. Um dies unternehmen. sicherzustellen, müssen sich die Zulieferer entsprechend Zunehmend wurde Großbritannien von Nissan auch nah beim Endhersteller ansiedeln. Diese Strategie wurde als Standort für hochwertige Arbeitsschritte ausgewählt. von Nissan beim Aufbau des Werkes Sunderland konse- Bereits 1988 wurde die Nissan European Technical quent umgesetzt, und die Zulieferer wurden straff in den C entre Ltd. mit Sitz in Bedford gegründet. 2003 wurde Produktionsprozess eingebunden. Eine besondere Rolle dann das europäische Design-Zentrum von Deutsch- spielten hierbei japanische Zulieferer, mit denen Nissan land nach London verlegt. seit Jahrzehnten auf dem Heimatmarkt vertraut war. Deutlich wird der qualifikatorische Zugewinn bei Mit Ikeda-Hoover, einem Hersteller von Autositzen, dem im September 2006 auf den Markt gebrachten erwarb 1987 ein japanisch-amerikanisches Unterneh- Modell „Qashqai“. Dieses Modell, angesiedelt zwischen men eine erste Parzelle auf dem Nissan-Industriege- einer Limousine und einem sportlichen Geländewagen, lände. Auf diese Weise zog das Endmontagewerk Sun- zielt auf ein wählerisches Kundensegment. Das Auto derland die Schaffung eines ganzen Unterbaus an wurde gemeinsam mit dem Partner Renault entworfen. Zulieferern in der Region nach sich. Bis zum Ende der Soweit Nissan für Technik und Design verantwortlich ersten Aufbaustufe des Nissan-Werkes 1992 waren 25 war, wurden diese Funktionen vollständig in Großbri- von insgesamt 120 der in Großbritannien befindlichen tannien geleistet. Das Modell wurde zu einem Erfolg. Im Nissan-Zulieferer im Nordosten des Landes angesiedelt. Verlauf des Jahres 2008 wurde eine dritte Produktions- Es ist zu beachten, dass die unterschiedlichen Ele- linie für den „Qashqai“ im Werk Sunderland eingerich- mente der Steuerung und Kontrolle ineinandergreifen. tet, und damit entstanden 800 weitere Arbeitsplätze im Die Kontrolle der Zuliefererkette baut auf die Kontrolle Werk. Erstmals exportiert Nissan dieses Modell auch der lokalen Ökonomie und auf die Kontrolle der Arbeits- von Europa auf den japanischen Markt (unter dem beziehungen auf bzw. unterstützt diese. Denn erst die Namen „Dualis“). Für das Jahr 2010 ist geplant, eine großen Freiflächen in Sunderland ermöglichten es Nis- etwas kleinere Version unter dem Namen „Qazana“ san, Zulieferer in unmittelbarer Werksnähe anzusiedeln. anzubieten. Auch diese Weiterentwicklung wurde über- Und mit den wachsenden Umsatz- und Beschäftigten- wiegend in Großbritannien entworfen und soll in Sun- zahlen des Nissan-Komplexes wuchs seine Bedeutung derland produziert werden. in der Region. Zugleich konnte man solche (japani- Von der derzeitigen weltweiten Finanz- und Wirt- schen) Unternehmen ansiedeln, die gleiche Modelle in schaftkrise wird auch die britische Wirtschaft stark der Arbeitsorganisation und im Umgang mit den getroffen. Im Jahr 2008 ist die Produktion in der briti- Beschäftigten anwandten. Damit gelang es Nissan, neue schen Automobilproduktion insgesamt nur um 5,8 % Management- und Arbeitsstrategien nicht nur im eige- gefallen. Dies beruhte jedoch auf deutlichen Zugewin- nen Unternehmen anzuwenden, sondern sie auch im nen in der ersten Jahreshälfte und einem rasanten Ver- unternehmerischen Umfeld zu verbreiten. lust im letzten Quartal. Für das Gesamtjahr 2009 zeich- Diese Strategie hat Früchte getragen. Dem Werk Sun- net sich eine Halbierung der Produktionszahlen ab. derland wurde bereits seit den späten 1980er Jahren die Ähnlich wie in allen Ländern mit einer bedeutenden höchste Produktivität aller Automobilwerke in Europa Automobilindustrie kam es damit zu einer intensiven attestiert. Auch in späteren Studien hat die Fabrik politischen Debatte über staatliche Unterstützung. Die immer wieder hervorragend abgeschnitten. Interessenorganisation der Automobilindustrie, die Society of Motor Manufacturers and Traders (SMMT) rief vehement nach Maßnahmen, die besondere Kredit-

Zukünftige Perspektiven zugänge bei der Bank of England, eine Senkung der Kfz-

Steuern und eine finanzielle Hilfe für die Forschungs- Zu Beginn der 1990er Jahre wurde befürchtet, dass sich und Entwicklungsarbeiten der Branche umfassen sollte. Großbritannien mit den japanischen Automobilunter- Unabhängig davon, ob staatliche Interventionen erfol-, 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 141 5 gen, werden die Folgen der Krise für die gesamte Bran- Pickernell, D. (1998): FDI in the UK Car Component Industry: che tief greifend sein. Recent Causes and Consequences. In: Tijdschrift voor Eco- Bislang absehbar ist, dass in kurzer bis mittlerer Frist nomische en Sociale Geografie, 89, 3, S. 239–252. Turnbull, P.; Delbridge, R. (1994): Making Sense of Japanisa- Autos gefragt sein werden, die preiswert in der Anschaf- tion: A Review of the British Experience. In: International fung und im Verbrauch sind. Zusätzlich werden die poli- Journal of Employment Studies, 2, 2, S. 343–365. tisch Verantwortlichen auf nationaler und auf europä - Wood, J. (1988): Wheels of Misfortune: The Rise and Fall of the ischer Ebene die Weichen für umweltverträgliche Autos British Motor Industry. London. stellen. Die japanischen Hersteller sind in den niedrig- preisigen Marktsegmenten gut vertreten, und sie zählen zu den Technologieführern bei spritsparenden Antrie- ben. All dies bietet ihnen gute Chancen im schärfer 5.4 Von Thomas Cook gewordenen Wettbewerb. Den kleineren britischen Mar- zum Fünf-Sterne-Cottage: ken MG Rover, Land Rover und Jaguar steht dagegen eine neue Existenzkrise bevor. Dies könnte die räumli- Der britische Binnen- che Umstrukturierung noch einmal dramatisch tourismus im Wandel beschleunigen. Es zeichnet sich ab, dass das überkom- mene Zentrum der Automobilindustrie in den West Midlands noch weiter ausgedünnt wird, während sich Doris Schmied an den vormals peripheren Standorten Sunderland, Swindon und Burnaston die Finalwerke mindestens sta- Vom Elite- zum Massentourismus bilisieren und sich eine immer tiefer gestaffelte Automo- bilzulieferindustrie in ihrem Umkreis ansiedelt. Großbritannien war das erste Land der Welt, das im Zuge der Industrialisierung einen Massentourismus

Informationen im Internet entwickelte. Und obwohl es hier viele Entwicklungen

gab, die den Tourismus weltweit beeinflusst haben (z. B. http://www.smmt.co.uk Cox & Kings als älteste Reiseagentur der Welt, deren Auf dieser Seite der Society of Motor Manufacturers and Anfänge bis in das Jahr 1758 zurückreichen), hat der Traders Ltd sind aktuelle Zahlen zur Automobilindustrie für Binnentourismus in Großbritannien bis heute eigene Großbritannien zu beziehen. http://www.acea.net Charakteristika bewahrt. Auf dieser Seite der European Automobile Manufacturers Die Vorläufer des britischen Tourismus waren die Pil- Association stehen entsprechende Informationen für gerreisen während des Mittelalters. Der auf sie zurück- Europa. gehende Begriff holy day zeigt, dass sie nicht nur als reli- http://www.oica.net giöse Pflicht, sondern auch als Erfahrung außerhalb des Auf dieser Seite der Internationale des Constructeurs d’Au- Alltagslebens begriffen wurden. Beliebte Ziele waren im tomobiles finden sich Angaben zur weltweiten Automobilin- Inland u. a. Canterbury (vgl. die Canterbury Tales von dustrie. Geoffrey Chaucer), Walsingham, St Albans oder im Aus- http://www.nissan-global.com land Santiago de Compostela und Palästina. Die Pilger- http://www.nissaneurope-newsbureau.com reisen wurden aus Sicherheitsgründen meist in Gruppen Diese beiden offiziellen Unternehmensseiten enthalten Informationen zu Nissan. durchgeführt und waren so beschwerlich, dass sich Wohlhabende manchmal gegen Entgelt von Ärmeren „vertreten“ ließen.

Weiterführende Literatur Nichtreligiöses, nichtgeschäftliches Reisen war für

lange Zeit ein Privileg der gehobenen sozialen Schichten. Church, R. (1995): The Rise and Decline of the British Motor Seit der Renaissance besuchten Angehörige des Adels die Industry (= New Studies in Economic and Social History). europäischen Höfe, aber bereits vom Ende des 16. Jahr- Cambridge. hunderts bis ca. 1840 unternahmen auch Angehörige Foreman-Peck, J., Bowden, S. McKinlay, A. (1995): The British Motor Industry. Manchester/New York. des gehobenen Bürgertums die sog. Grand Tour, auf der Garrahan, P.; Stewart, P. (1992): The Nissan Enigma: Flexibility sie vor allem Frankreich, die Schweiz, Italien, Deutsch- at Work in a Local Economy. London. land und die Niederlande besuchten. Dabei handelte es Loewendahl, H. B. (2001): Bargaining with Multinationals. The sich um eine Kultur- oder Bildungsreise, die mehrere Investment of Siemens and Nissan in North-East England. Monate oder mehrere Jahre dauerte und durch die junge Basingstoke. Männer – später auch Frauen (vgl. E. M. Forsters Roman, 5 142 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Room with a View) – in einer Art Übergangsritual ihren der Arbeitern das Recht auf einige freie Tage zugestand. Status als Angehörige der „herrschenden Klasse“ und Gab es vorher nur zwei freie Tage pro Jahr (Karfreitag der „zivilisierten Westeuropäer“ etablierten. und Weihnachtsfeiertag), erhöhte sich damals die Zahl Reisen innerhalb des eigenen Landes gab es natürlich der Tage, an denen in Banken nicht gehandelt wurde, auf auch. Die englische Oberschicht besaß ohnehin meist vier öffentliche Feiertage in England, Wales und Irland zwei Wohnsitze (ein Haus in London, eines auf dem sowie auf fünf in Schottland (heute acht in England, Lande) und wechselte zwischen beiden. Daneben zeig- Wales und Nordirland, zehn in Schottland). Im letzten ten die Angehörigen des höheren und niedrigeren Adels Viertel des 19. Jahrhunderts begannen einige Industrie- (nobility bzw. gentry), aber auch das gehobene Bürger- zweige zudem, ihren Beschäftigten eine freie Woche mit tum Interesse an Herrenhäusern oder Naturschönheiten Lohnzahlung pro Jahr zu gewähren. 1925 erhielten in Großbritannien, wie es z. B. in Pride and Prejudice von 1,5 Mio. Arbeiter bezahlten Urlaub, 1939 waren es Jane Austen dargestellt ist. Im 18. Jahrhundert kamen bereits 11 Mio., was bedeutete, dass ca. 30 % der Bevöl- dann Heil- und Seebäder in Mode, ebenfalls von Jane kerung in Familien mit bezahltem Urlaub lebten. Die Austen in Persuasion oder Northanger Abbey beschrie- Situation verbesserte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ben. Diese wurden vorwiegend, aber nicht ausschließ- für alle Arbeitnehmer, allerdings blieb es sehr lange bei lich von persons of leisure (Adeligen, oberen Rängen des Vereinbarungen für bestimmte Gruppierungen der Militärs in Friedenszeiten) aufgesucht, um Gicht, Leber- Arbeitnehmerschaft; eine allgemeine gesetzliche Rege- leiden, Bronchitis und andere Krankheiten zu behan- lung wurde erst sehr spät eingeführt. Auch heute ist deln. Großbritannien mit nur 28 Tagen pro Jahr eines der Aber die wirkliche soziale Ausweitung und gewisser- Schlusslichter in Europa. maßen „Demokratisierung“ des Tourismus erfolgte erst Ungeachtet dessen wuchs die Bedeutung des Touris- in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge des mussektors rasch an, auch wenn der Aufstieg durch zwei Aufbaus des Eisenbahnnetzes. Klassenunterschiede wur- Weltkriege unterbrochen wurde. Den Höhepunkt den von nun auch dadurch markiert, wie und wohin erreichte der Binnentourismus in den 1950er und jemand fuhr. 1960er Jahren, als der Urlaub an der Küste in Seebädern An dieser touristischen Revolution war Thomas und Holiday Camps blühte. In den 1980er Jahren waren Cook (1808–1892) maßgeblich beteiligt. Der Buch- mehr Menschen in der Hotellerie beschäftigt als in der händler organisierte 1841 die erste Pauschalreise (Zug- Bergbau- und Autoindustrie zusammengenommen. fahrt mit Tee und Rosinenbrötchen als Verköstigung für Dabei hatte bereits eine schwierige Phase für den briti- einen Schilling) für 570 Kollegen der lokalen Abstinenz- schen Tourismussektor begonnen, denn der – mitunter bewegung von Leicester ins nahe gelegene Loughbo- in Analogie zur industriellen Produktion als modern rough zu einem Treffen der Mitglieder. Dieser erste Aus- oder fordistisch bezeichnete – Massentourismus ging flug war für einen sozialen Zweck bestimmt und nur immer mehr in eine postmoderne oder postfordistische, kostendeckend. Doch später veranstaltete Cook immer d. h. an verschiedene Touristengruppen oder sogar Indi- mehr vergnügungs- und profitorientierte Reisen: 1845 viduen angepasste, Form über. Durch die Globalisierung nach Liverpool und 1851 zur Weltausstellung in Lon- bzw. die Internationalisierung der Tourismusökonomie don, 1855 auf das europäische Festland nach Paris, 1866 erweiterte sich die Palette der touristischen Produkte nach Amerika und 1872 die erste Weltreise. 1865 eröff- ständig, und immer mehr Ziele, darunter auch „exoti- nete Thomas Cook ein Reisebüro, das von ihm, seinem sche“, traten in zunehmende Konkurrenz mit den ein- Sohn John Mason Cook und später seinen Enkeln gelei- heimischen Angeboten. Dabei spielten die viel zitierten tet wurde und bis 1928 in Familienbesitz blieb. Auf budget airlines (Billigfluglinien), package holidays (Pau- Cook und seine Nachfahren gehen neben dem Beginn schalreisen) und später All-inclusive-Reisen ins Ausland der Pauschalreisen so wichtige Innovationen wie die eine entscheidende Rolle. Es kam teilweise zur Überpro- Einführung von Reisebroschüren, Reiseschecks und duktion auf dem Binnenmarkt, dem nur zögerlich eine Hotelcoupons zurück. Heute ist die Thomas-Cook- Anpassung und territoriale Reorganisation folgten. Gruppe einer der größten global agierenden Tourismus- konzerne und innerhalb des Vereinigten Königreiches das zweitgrößte Reiseunternehmen. Spas – ein untergenutztes Potenzial Eine wichtige Rolle bei der Ausdehnung des Tou- rismus spielten die steigenden Einkommen, die Verbes- Die wahrscheinlich längste touristische Geschichte in serung der Verkehrsverbindungen und der Infrastruk- Großbritannien haben die Heilbäder. So nutzten bereits turausstattung sowie die allmählich wachsende Freizeit. die Kelten und Römer die Quellen von Bath. Doch der Ein erster Schritt war der Bank Holiday Act von 1871, wirkliche Aufstieg der im Binnenland gelegenen Spas –, 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 143 5 benannt nach dem gleichnamigen belgischen Kurort gleich zu anderen europäischen Ländern bisher relativ Spa – begann erst im 18. Jahrhundert, als die medizini- unterentwickelt ist; es wird ihm allerdings eine positive sche Behandlung mit mineralhaltigem Wasser in Bath, Entwicklung in der Zukunft vorausgesagt. Buxton und Tonbridge Wells zur Mode unter der Ober- schicht wurde. Mit der Zeit besuchten immer mehr Per- Seaside resorts – zwischen sonen die watering places, um zu sehen und gesehen zu werden, und Heilbäder galten als resorts of frivolity and Niedergang und Wiederbelebung fashion. Die Orte wuchsen, entwickelten eigene architek- tonische und stadtgeographische Merkmale (mit thera- Die ersten Ansätze eines zunächst vor allem medizi- peutischen und kulturellen Einrichtungen ebenso wie nisch begründeten Tourismus an der Küste gehen auf gehobenen Einkaufsmöglichkeiten), was besonders am das 18. Jahrhundert zurück. Ärzte empfahlen damals Beispiel von Bath deutlich wird. das Trinken von Meerwasser und das Baden im Meer – 1841 erstellte Dr. A. B. Granville eine Karte mit den eigentlich das Ins-Meer-getaucht-Werden mithilfe von wichtigsten britischen Heil- und Seebädern. Darauf sind Bademaschinen – als wirksame Heilmittel. Dabei ent- 70 Orte mit wichtigen Mineralquellen verzeichnet, wäh- wickelten sich zunächst Scarborough in North York- rend heute – abhängig von der Zählung – nur noch 18 shire (ab 1730) und dann Brighton (ab 1736) zu den als echte bzw. aktive Spa towns gelten, nämlich Bath, ersten Seebädern. Boston Spa, Buxton, Cheltenham, Droitwich, Epsom, Im 19. Jahrhundert waren die Küsten nach dem Ende Harrogate, Ilkley, Knaresborough, Leamington Spa, der napoleonischen Kriege nicht mehr gefährdet und Malvern, Matlock Bath, Shearsby, Tenbury Wells, Tun- wurden zudem nach und nach durch den Aufbau des bridge Wells, Woodhall Spa in England, Builth Wells und Eisenbahnnetzes erschlossen. So verzeichneten die meis- Llandidrod Wells in Wales. Dies ist im Vergleich zu ten englischen Seebäder in der ersten Hälfte des 19. Jahr- Deutschland, wo das Kurwesen ein wichtiger Bestandteil hunderts ein sprunghaftes Bevölkerungswachstum, das des Gesundheitssystems ist und es über 300 Heilbäder zum Teil über dem von London oder vieler anderer und Kurorte gibt, nicht viel. Unter den britischen Heil- Industriestädte lag. Nach der bereits erwähnten Karte bädern gibt es zudem nur zwei Orte mit Thermalquellen von Dr. A. B. Granville gab es 1841 36 bedeutende See- (Bath, Matlock), während die anderen nur über kalte bäder, 1911 war die Zahl der wichtigen Seebäder mit Mineralquellen verfügen. mehr als 2 000 Einwohner auf über 100 gestiegen. Die Erst in den vergangenen Jahren scheint sich der Küste von South Devon um Torquay, Paignton, Brixham Bädertourismus im Zuge des Wellness-Gedankens wie- erhielt den Beinamen „englische Riviera“, die Küste in der etwas zu beleben. So konnte der medizinische Bade- Cornwall mit den Orten St Ives, Newquay, Penzance, betrieb in Bath, der 1978 aufgrund von gesundheit- Hayle and Perranporth „cornische Riviera“. Auch Küs- lichen Bedenken eingestellt werden musste, 2006 nach tenorte in Wales, Nordirland und Schottland entwickel- vielen fehlgeschlagenen Wiederbelebungsversuchen und ten sich zu viel besuchten touristischen Zielen. nach zehnjährigem Baubetrieb im neuen Thermalbad Der elitäre Charakter der Erholung am Meer ging wieder aufgenommen werden. Ende des 19. Jahrhunderts verloren und wurde durch Allerdings erfolgt die gesundheitsfördernde Nutzung das Konzept des bürgerlichen Familienurlaubs abgelöst. von Wasser in Großbritannien relativ wenig in Form von Jahrzehntelang war der prototypische Urlaub einer bri- traditionellen Heilkuren, viel beliebter ist der Besuch tischen Familie ein Aufenthalt in einem englischen oder von destination spas, wozu Gesundheitsfarmen oder walisischen Seebad. Dazu gehörte, am Strand zu liegen, spezialisierte Hotels gehören, in denen medizinische, spazieren zu gehen oder Sandburgen zu bauen und ab Schönheits- und Entspannungsanwendungen miteinan- und zu – bei akzeptablem Wetter – im Meer oder im der kombiniert werden. In der Regel wird ein mehrere Falle der sog. Lidos in einem Salzwasser-Swimmingpool Tage (meist eine Woche oder ein Wochenende) dauern- zu schwimmen, Fish & Chips, Candyfloss oder eine der des Programm aus Wasseranwendungen, Fitnessakti- vielen anderen Süßigkeiten zu essen, die Vergnügungs- vitäten, gesunder Ernährung, Beratung oder Kursen für hallen zu besuchen und Karten mit der Aufschrift Wish spezielle Interessen geboten. Daneben gibt es auch die you were here zu schreiben. day spas mit verschiedenen Gesundheits- und Schön- Auch die Seebäder entwickelten eigene stadtgeogra- heitsbehandlungen, aber ohne angegliederte Übernach- phische Merkmale, zu denen die klare Ausrichtung auf tungsmöglichkeit. das Meer mit den Stränden, Strandpromenaden und in Trotz der jüngeren Wiederbelebung und der Ent- vielen Seebädern den sog. Pleasure Piers – in der vikto- wicklung neuer Varianten gilt, dass der Gesundheits- rianischen Zeit erbaute, aus Gusseisen bestehende Ver- bzw. Wellness-Tourismus in Großbritannien im Ver- gnügungspiers (Abb. 5.10) – gehörten. Dort und an, 5 144 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors anderen zentralen Stellen der Seebäder gab es ein breites tigt und bald sogar dominierend wurden. Für die Unterhaltungsangebot (Theater, Tanzsäle, Musik- und Ü bernachtung der Besucher sorgte eine Auswahl an Bingohallen usw.), das später durch Einkaufsmeilen gehobenen Hotels mit Meerblick bis hin zu einfachen ergänzt wurde. Dabei zeigt sich schon früh, dass gesund- Unterkünften. Allerdings entwickelte sich unter den See- heitliche Aspekte für die Seebäder zwar wichtig waren, bädern auch eine gewisse Spezialisierung: Brighton galt aber Erlebnis- und Konsumwelten schnell gleichberech- – aufgrund der Präsenz von Mitgliedern der königlichen

Blackpool und Brighton – britische Seebäder im Wandel Blackpool birnen. Ursprünglich fanden die Illuminationen nur eine

Woche lang im September statt, jetzt aber ungefähr von Aufgrund seiner Nähe zu den großen Industriestädten Nord- Ende August/Anfang September bis Anfang November, englands war Blackpool in Lancashire eine der Geburtsstät- wodurch es gelang, die Saison deutlich zu verlängern. ten des modernen Massentourismus. Spätestens seitdem Doch trotz der etablierten touristischen Infrastruktur die Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts Blackpool err eich- begann mit dem Niedergang der alten Industrien in England te, erlebte das Seebad einen außergewöhnlichen Aufstieg. in den 1960er Jahren auch in Blackpool der Abstieg; die Fabriken in den nahe gelegenen Industriestädten sprachen Besucherzahlen, die Aufenthaltsdauer und die Einnahmen ihre jährliche einwöchige Schließung der Produktion, in der pro Besucher begannen zu sinken. Die Zahl der Beherber- die Maschinen gewartet, repariert oder erneuert wurden, gungsbetriebe nahm von 1990 bis 2005 um 40 % ab, viele untereinander ab, damit die Unterkünfte in Blackpool opti- der weiter betriebenen Hotels haben nur noch eine Auslas- mal ausgelastet wurden, und sorgten so für eine lange tungsquote von 25 %. Blackpool ist zwar immer noch das gleichmäßige Saison. In den 1890er Jahren verfügte Black- größte und beliebteste Seebad Großbritanniens, aber die pool bei 35 000 Einwohnern über eine Kapazität von Besucherzahlen sanken auf ca. 7,2 Mio. pro Jahr, und die 250 000 Betten und verzeichnete ca. 3 Mio. Besucher pro Abnahme beschleunigte sich. Jahr. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs das Heute hat die Stadt große wirtschaftliche und soziale Tourismusgeschäft noch weiter an und erreichte unmittelbar Probleme. Blackpool erzielt das zwölftniedrigste Bruttosozi- nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich ca. 17 Mio. Besu- alprodukt aller britischen Gemeinden. Das Lohnniveau ist chern seinen Höhepunkt. das zweitniedrigste Großbritanniens, die Arbeitslosenquote In dieser Zeit entwickelte sich Blackpool als eine fast aus- ist deutlich höher, die Qualifikationen der arbeitsfähigen schließlich auf die Bedürfnisse von Touristen – vor allem aus Bevölkerung deutlich niedriger als der nationale Durch- der Arbeiterklasse – ausgerichtete Stadt. Durch den Bau von schnitt. Abseits von der immer noch attraktiven Golden- drei Piers – dem North Pier (1863), dem Central Pier (1868) Mile-Strandpromenade finden sich in den Einkaufsstraßen und dem South Pier (1893) – gelang es Blackpool, seine See- Ein-Pfund-Läden, Pfandleihen und billige Alkoholläden. Ge- badkonkurrenten zu übertrumpfen. Zwischen Nord- und Zen- schäfte und Unterkünfte stehen leer, immer mehr Pensionen tralpier bildete sich die entlang des Sandstrandes verlau- sind in möblierte Zimmer oder kleine Wohnungen umgewan- fende Golden Mile mit Amüsierbetrieben, Spielautomaten delt worden. Der Anteil der alten und/oder armen Bevölke- und Imbissständen heraus, die das Kernstück der touristi- rung in Blackpool ist sehr hoch. schen Aktivitäten bis heute bildet. Im Jahr 1894 wurde der Obwohl es Blackpool in der Vergangenheit durch Innova- 158 m hohe Blackpool Tower eröffnet, der als die größte tou- tionen immer wieder geschafft hat, sich zu erneuern, haben ristische Sehenswürdigkeit des Nordens galt und unter die Versuche zur Wiederbelebung in den letzten Jahren Denkmalschutz steht. In der Nähe des Südpiers liegt Black- wenig Erfolg gezeigt. In einem Masterplan von 2003 formu- pool Pleasure Beach, der 1896 als Vergnügungspark im ame- lierte Blackpool das ambitionierte Ziel, die Stadt zum See- rikanischen Stil für Jung und Alt angelegt wurde und heute bad Nummer 1 in Europa aufzuwerten. Dies sollte vor allem beispielsweise die höchste Achterbahn Europas bietet. In durch ein Projekt erreicht werden, dessen Kernstück das der Liste der beliebtesten touristischen Sehenswürdigkeiten erste in Großbritannien erbaute Supercasino im Las-Vegas- rangierte der ca. 20 ha große Freizeitpark mit mehr als Stil sein sollte. Dies hätte Investitionen angelockt, neue 5,5 Mio. Besuchern 2007 noch vor dem British Museum in Arbeitsplätze geschaffen und garantiert, dass die touristi- London. schen Kapazitäten des Seebades ganzjährig ausgelastet Große touristische Anziehungskraft haben auch die sog. worden wären. Doch die Bewerbung von Blackpool fiel Blackpool Illuminations, die bereits seit 1879 abgehalten durch; Manchester erhielt 2007 die begehrte Lizenz für das werden. Bei dieser jährlichen Lichtershow, die als die größte Großprojekt, die im Zuge der Liberalisierung der Glücksspiel- der Welt beworben und durch bekannte Stars eröffnet wird, Gesetzgebung in Großbritannien vergeben wurde. Nun ver- leuchten heute auf über 9 km in der Nacht über 1 Mio. Glüh- sucht die neu gegründete Stadterneuerungsgesellschaft, 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 145 5 Familie – als vornehm-dezent, aber gleichzeitig auch als In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gay (ein Image, das sich bis heute – parallel zur Wand- erreichten die Erholungsorte an der Küste ihre größte lung des Wortes von „fröhlich“, „ausschweifend“ zu Bedeutung und zogen 75 % des britischen Binnentou- „homosexuell“ – gehalten hat). Southend galt anfäng- rismus an; aber in den 1970er Jahren begann der lich als ruhig, Margate als bürgerlich und Blackpool und Abschwung, der sich in den 1980er Jahren fortsetzte. Ramsgate als eher proletarisch. Immer mehr Destinationen im In- und Ausland traten ReBlackpool eine veränderte Variante der Wiederbelebung schaffende, Verleger, Galeristen, Designer), die vom bereits zu verwirklichen. Dazu gehören Maßnahmen zur Erhöhung in georgianischer Zeit begründeten Bohemien-Image Brigh- der touristischen Attraktivität wie die der Strandpromenade, tons angelockt werden. Diese suchen und verstärken die aber auch die Verbesserung des Stadtzentrums, insbeson- alternativ-künstlerische Atmosphäre und sind wichtig für dere die Aufwertung der Einkaufsmöglichkeiten und die des das breite kulturelle Angebot, das eine Vielzahl an Theatern, Lebens in Blackpool allgemein. Galerien, Kunst- und Musikveranstaltungen und 400 Pubs und Nachtclubs einschließt. 1962 eröffnete hier im Metro- pole Hotel das erste Casino in Großbritannien. Daneben gibt

Brighton es kulturelle Großveranstaltungen, die sehr viele Besucher

anziehen: Brighton Festival ist das zweitgrößte Kulturfestival Das an der Südküste Englands gelegene Brighton gehört zu des Vereinigten Königreiches nach Edinburgh, und Brighton den Seebädern, die von wohlhabenden Landeigentümern Fringe, das gleichzeitig stattfindet, soll angeblich das zweit- angelegt wurden, um relativ wohlhabende Badeurlauber größte Rahmenprogramm der Welt sein. anzuziehen. Brightons Aufstieg zum Tourismusort begann Eine wichtige Rolle spielt auch die Kultur der dort leben- Anfang der 1750er Jahre, als Dr. Richard Russell eine Praxis den homo-, bi- und transsexuellen Gemeinschaften. Brighton in Brighthelmstone (heute Brighton) eröffnete und für seine gilt nach London und Manchester als wichtige Destination Meerwasserkuren eine adelige Klientel gewinnen konnte. des britischen gay tourism. Höhepunkt dieses Tourismus ist Der Ort entwickelte sich zum Kur-/Bade- und Wohnort und ein von Pride in Brighton & Hove veranstaltetes einwöchiges wurde zum beliebten Aufenthaltsort für Mitglieder der könig- Sommerfestival in der ersten Augustwoche, das jährlich ca. lichen Familie. Besonders wichtig für die Entwicklung der 120 000 Besucher anzieht und in einer eintägigen Karnevals- Stadt und ihres Tourismus war, dass der Prinzregent, der parade gipfelt. spätere George IV., 1783 erstmals nach Brighton kam, hier Trotz (oder zum Teil auch wegen) dieses bunten bis leicht seine Freizeit mit seiner Langzeitgeliebten verbrachte und ab anrüchigen Images hat Brighton es geschafft, gleichzeitig 1787 den Royal Pavilion bauen ließ. Dieser wurde von 1815 ein wichtiger Standort des Konferenztourismus zu werden. bis 1822 mit indisch-chinesischen Stilelementen endgültig So finden insbesondere im Brighton Centre, dem größten gestaltet und entwickelte sich zum Symbol von Brighton. In Mehrzweckgebäude in Südengland, und im Grand viele Kon- den 1850er Jahren wurde die Zahl der Besucher von Brigh- gresse, Geschäftstreffen, gesellschaftliche Ereignisse von ton auf 1 Mio. pro Jahr geschätzt. Aufgrund der Nähe zu Lon- Unternehmen oder Ausstellungen statt. Daneben wirbt don handelte es sich allerdings häufig nur um Tagesgäste, Brighton mit seiner Erfahrung im Gruppen- und im Sprach- die mit der 1841 fertig gestellten Eisenbahnlinie ankamen, tourismus (zahlreiche Sprachschulen, die Englischkurse für was Brighton auch den Spitznamen „London by the Sea“ ein- internationale Besucher anbieten, haben sich aufgrund der trug. Lage am Meer und der Nähe zum Kontinent und zum Flug- In viktorianischer Zeit wurde eine ganze Reihe von Bau- hafen Heathrow hier niedergelassen). Außerdem bietet das ten errichtet, die die touristische Infrastruktur des Seebades Tourismusbüro in Brighton spezielle Dienste für Journalisten, erhöhten. Brightons Beliebtheit als Seebad setzte sich auch Reporter, Fotografen oder Werbefachleute, z.B. auch bei der im 20. Jahrhundert fort, obwohl immer mehr besser gestellte Suche nach geeigneten Standorten für Aufnahmen für Film Touristen Seebäder auf dem Kontinent aufsuchten. Nach oder Fernsehen, und erhöht so indirekt seinen touristischen dem Zweiten Weltkrieg wurde Brighton durch wenig attrak- Bekanntheitsgrad. tive Neubauviertel erweitert. In den 1960er und 1970er Jah- Heute ist Brighton, das zur Jahrtausendwende zusammen ren kam es zu einer Phase des Niedergangs, und die Stadt mit Hove zur City erhoben wurde, zwar weiterhin ein Touris- zeigte Zeichen von Verfall, an den Stränden kam es zu Kämp- musort, aber gleichzeitig auch Standort anderer nur zum Teil fen von Jugendbanden. Doch dann erholte sich die Stadt wie- mit dem Tourismus in Verbindung stehender Wirtschafts- der, als sich immer mehr Arbeitskräfte und Unternehmen zweige. Brighton besitzt also – im Gegensatz zu Blackpool – aus London ansiedelten und Teile der Stadt gentrifiziert wur- eine diversifizierte Wirtschaft und konnte so dem Nieder- den. gang entgehen, der so viele britische Seebäder betroffen Besonders wichtig für die Renaissance der Stadt ist die hat. creative class, also Angehörige kreativer Berufe (z. B. Film-, 5 146 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Abb. 5.10 Brighton Pier bzw. Palace Pier, der 1891–1899 erbaute dritte und als Einziger noch genutzte Pier in B righton. Quelle: Schmied 2005. in Konkurrenz mit den britischen Seebädern, die Auf- sich nicht selten um das dirty weekend (Liebeswochen- enthalte der verbliebenen, nun fast ausschließlich der ende, das meist nicht oder nicht miteinander verheira- Unter- oder unteren Mittelschicht angehörenden Besu- tete Paare an der Küste verbrachten). Heute gehören zu cher wurden immer kürzer. Eine Abwärtsspirale setzte den immer beliebter gewordenen Vergnügungsaufent- ein: Viele kleinere Hotels und Gästehäuser mussten halten die hen and stag parties. Bei diesen „Hennen- und schließen oder an eine wachsende Zahl von Sozialhil- Hirsch-Partys“ handelt es sich traditionell um die Ver- feempfängern billig vermieten, die touristische Einnah- abschiedung vom Junggesellendasein, die die Braut mit men wurden immer geringer, es wurden kaum noch weiblichen bzw. der Bräutigam mit männlichen Freun- Investitionen getätigt, die Attraktivität der touristisch den und Verwandten feiert. Die Partys finden meist monostrukturierten Orte verringerte sich deutlich, und nicht mehr zu Hause oder im Stammlokal statt, sondern das Image der Seebäder sank trotz des Aufkaufs von frei werdenden Häusern als Zweitwohnung durch relativ wohlhabende Städter. Diese Entwicklung der Seebade- orte in England und Wales ist eine gute Illustration des 1980 von Butler vorgeschlagenen Modells des Tourism Area Life Cycle (TALC), in dem er die Idee des Produkt- lebenszyklus auf touristische Destinationen übertrug (Abb. 5.11). Viele Seebäder haben Versuche unternommen, den Tourismus wiederzubeleben, was ihnen aber in sehr unterschiedlichem Maße gelungen ist. Größere Seebäder wie Blackpool oder Brighton bemühen sich um Geschäfts-, Konferenz-, Bildungs-, Sprach- oder Casino- tourismus, kleinere Küstenorte versuchen bestimmte Gruppen (ältere Menschen, Familien mit Kindern, Sur- fer usw.) anzusprechen und ein an die veränderten Bedürfnisse angepasstes Angebot aufzubauen. Ein anderer touristischer Trend in einigen Seebädern ist die Party-isierung. Öffentliche wie private Vergnü- Abb. 5.11 Das Modell von Butler zur Entwicklung von Destina- gungen waren schon immer ein wichtiger Bestandteil tionen. Quelle: Schmied und Zehner, leicht verändert nach der Aufenthalte in Seebädern; bei letzteren handelte es Agarval 1997, S. 66., 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 147 5 werden oft mit einer Reise verbunden. Unter den Zielor- Comeback der Holiday Camps, ten sind besonders häufig Seebäder, die spezielle Ange- Parks und Villages? bote für diese Anlässe bieten. Allerdings werden hen and stag parties auch in anderen britischen Städten und ein Drittel bis über die Hälfte sogar im Ausland abgehalten, Nicht ausschließlich, aber doch überwiegend an der vor allem an Orten mit billiger Flugverbindung und bil- Küste, zum Teil sogar in oder in der Nähe von Seebädern ligem Alkohol (Amsterdam, Bratislava, Prag, Krakow, gelegen sind Holiday Camps, Holiday Parks bzw. Holi- Riga, Tallinn usw.). Eine Studie von Morgan Stanley’s day Villages, wobei es keine klare Abgrenzung der Consumer Banking Group aus dem Jahr 2004 schätzte, Begriffe gibt. Bei diesen Ferienparks handelt es sich um dass bei diesen Vorhochzeitsfeiern pro Jahr mehr als großflächige, abgegrenzte Ferienkomplexe, die Über- 530 Mio. Pfund ausgegeben werden. nachtungsmöglichkeit für eine große Zahl von Personen Es gibt spezialisierte Reiseveranstalter, die eine ganze sowie eine breite Palette an Unterhaltung und anderen Reihe von besonderen Aktivitäten anbieten. Dazu gehö- Serviceleistungen bieten. ren Fahrten in Stretch-Limousinen, Shows mit männ- Der erste Vorläufer der klassischen Holiday Camps lichem oder weiblichem Striptease (Abb. 5.12), Go- war Cunningham Young Men’s Holiday Camp auf der Kart-Wettrennen, Paintball (Gotcha), Verwöhn- bzw. Isle of Man, das Ende des 19. Jahrhunderts als einfacher Luxustage, Unterricht im Tanzen an der Stange, Quer- Campingplatz begann, aber bereits 1908 viele Merkmale feldeinfahrten mit Quads, Bungee-Springen usw. Aller- des organisierten Holiday Camps entwickelte: billige dings werden hen- und stag-Gäste nicht bei allen Hotels Unterkunft, großer Speisesaal, Konzerthalle, Bäckerei, oder Unterkünften geschätzt, da aufgrund des meist Friseur, Reinigungsdienst, Bank, Swimmingpool. In den übermäßigen Alkoholkonsums Konflikte mit anderen folgenden Jahrzehnten wurde eine Reihe ähnlicher Gästen an der Tagesordnung sind. Überhaupt ist binge Komplexe in Betrieb genommen, aber als die prototypi- drinking (Kampftrinken bzw. übermäßiger Alkoholkon- schen britischen Holiday Camps schlechthin gelten die sum), gerade von Jugendlichen und jungen Erwach- Ferienanlagen von Butlins. Billy Butlin eröffnete 1936 in senen auch außerhalb von Junggesellenpartys, ein Pro- Skegness sein erstes Camp, das sich durch verbesserte blem für Seebäder (allerdings auch für andere Städte), Qualität, Ausmaß und Angebot von den früheren unter- das enorme Kosten für Polizei und Stadtverwaltung ver- schied. ursacht. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen der Höhepunkt dieser Ferienform lag, dominierte Butlins vor seinen Konkurrenten Pontin’s und Warner den Markt. Die Gäste übernachteten in sog. Chalets und konnten zwischen Selbstverpflegung, Halb- oder Voll- pension wählen. Dazu war die Nutzung vieler Einrich- tungen im Preis enthalten, z. B. Tanzsäle, Vergnügungs- parkanlagen, Kinos und Swimmingpools. Zusätzliche Gebühren wurden nur in Bars, Restaurants und Spiel- hallen verlangt. Außerdem gab es Betreuung für Kinder in Krippen und Clubs. Für die Unterhaltung der Gäste waren bei Butlins die Redcoats, bei Pontin’s die Blue- coats und bei Warner die Greencoats zuständig, eine Mischung aus normalen Angestellten, Kellnern und Unterhaltern, aus der eine ganze Reihe berühmter briti- scher Entertainer (z. B. Cliff Richard, Michael Barry- more) hervorging. In den 1970er Jahren, als bereits billige Pauschalrei- sen nach Spanien und Griechenland den Abstieg dieser Ferienform einläuteten, gelang es durch ausgedehnte Werbekampagnen gegenzusteuern. Damals verbrachten bis zu 10 000 Menschen pro Woche pro Camp ihren Urlaub bei Butlins. In den 1980er Jahren kam es zu Schließungen, aber in den 1990er Jahren wurden wieder Abb. 5.12 Werbung für hen parties mit dem Blackpool Tower als Investitionen getätigt, um den Standard der noch übrig Phallus-Symbol. Quelle: crapwebdesign. gebliebenen Camps zu heben. Außerdem erhöhte der, 5 148 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Markteintritt des niederländischen Unternehmens Cen- Größe und Ausstattung (zum Teil in Kombination mit ter Parcs den Wettbewerb. Heute werden von Butlins Hotels oder Anlagen für feste oder mobile Wohnwagen drei, Center Parcs UK vier, Haven Parks 35, von Pontin’s oder Wohnmobile) betrieben. Die geographische Vertei- sechs, von Parkdean Holidays 24 und von Warner Lei- lung der Holiday Camps (Abb. 5.13) zeigt deutlich die sure Hotels vier Holiday Camps unterschiedlicher Bevorzugung der Küstenlage. Abb. 5.13 Holiday Camps, Holiday Parks und Holiday Villages in Großbritannien. Quelle: Schmied und Zehner 2009., 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 149 5 Zu den neueren Trends der Ferienparks gehört die halte, über 400 000 Personen) und dem Caravan Club Flexibilisierung, d. h. die Verbreiterung des Angebots bei (370 000 Mitgliedsfamilien, fast 1 Mio. Menschen). gleichzeitiger Schwerpunktsetzung, um den Bedürfnis- sen der sich weiter ausdifferenzierenden Nachfrage

Heritage tourism – die britische

gerecht zu werden. So gibt es Ferienanlagen mit Aus- richtung auf Familien mit Kindern (mit Kinderbetreu- Variante des Kulturtourismus ung, -disko oder Treffen der Eltern mit einer bekannten Erziehungsexpertin/Autorin), Anlagen ausschließlich Eine sehr wichtige Rolle für den Tourismus in Großbri- für Erwachsene oder solche, die bewusst verschiedene tannien spielt die Suche nach heritage, dem von Genera- Generationen mischen. Das Spektrum an Unterhal- tion zu Generation weitergegebenen Erbe. Diese Suche tungsmöglichkeiten kann bewusst beschränkt bis sehr ist zwar nur selten ausschließlicher, häufig aber Haupt- breit sein, es kann etablierte und modische Ferienpark- zweck und fast immer ein Bestandteil von britischen vergnügungen umfassen und dabei Komponenten des Urlaubsreisen im Inland. Die Welttourismusorganisa- Abenteuerurlaubs (Ballonfahrten) oder des Wellness- tion (WTO) definiert heritage tourism als das Eintau- Urlaubs (Luxus-Badekomplexe) aufnehmen. Die Varia- chen in das menschliche Erbe, die Künste, Philosophie tionsbreite bei den Übernachtungsmöglichkeiten reicht und Institutionen eines Landes/einer Region. Er schließt von normalen Caravans und Caravans für spezielle – im Gegensatz zum Kulturtourismus, der meist als Bedürfnisse über Chalets, Holzhütten und kleine Häu- Beschäftigung mit Hoch-, Massen- und Alltagskultur ser bis hin zu Superzelten und Jurten. Auch ökologische definiert wird – auch das Naturerbe mit ein. In diesem Belange werden aufgegriffen. So wirbt ein Anbieter in Abschnitt werden der Einfachheit halber heritage tou- klarer Antithese zu den Auslandsflugreisen unter dem rism und Kulturtourismus als Synonyme verwendet, Motto „Urlaub näher an Zuhause“ mit der Reduzierung und das Naturerbe wird getrennt dargestellt. des ökologischen Fußabdrucks durch eine kurze, um- Zu den touristischen heritage-Attraktionen gehören weltfreundliche Anreise, die umweltschonende Gestal- Museen, Galerien, Kathedralen, Kirchen, Klöster, Bur- tung der Anlage (Wassersparvorrichtungen, Recycling) gen, Schlösser und andere Herrensitze, Gärten, Dampf- ebenso wie mit speziellen „grünen Wochenenden“ mit eisenbahnen usw., die immer mehr als Event bzw. erleb- Workshops zu Natur und Umwelt. nisorientiert vermarktet werden, was in der Form von Durch diese inhaltlichen Innovationen, die Anpas- Themenparks besonders deutlich wird. In den 1970er sung an die gestiegenen Standardbedürfnisse, eine ge - Jahren erlebte der heritage tourism, der im Prinzip ein wisse zeitliche Flexibilisierung (Möglichkeit von Wochen - Besichtigungstourismus ist, seinen großen Aufschwung, end- oder Kurzaufenthalten), die Einführung der und Spötter meinten, dass die heritage industry in dieser Internetbuchungsmöglichkeit sowie ein gutes Preis- Zeit, als Großbritannien aufgrund der Deindustrialisie- Leistungs-Verhältnis haben Holiday Parks wieder an rung eine schwierige wirtschaftliche Umstrukturierung Attraktivität gewonnen und in den letzten Jahren einen durchmachte, die einzige Wachstumsindustrie war. Zuwachs an Urlaubern verzeichnen können. Auch im neuen Jahrtausend sind Ausstellungen, histo - Eine Variante der Holiday Camps/Parks/Villages sind risierte Produkte und Themeninszenierungen weiterhin die Camping- und Caravanplätze, die sich verwirrender- wichtige Vermittlungsformen eines kulturorientierten weise manchmal ebenfalls als Holiday oder Touring Tourismus. Parks bezeichnen, aber nicht die Größe und das Angebot Großbritannien hat eine Fülle von Burgen, Schlös- der Ferienparks erreichen, obwohl sich die Ausstattung sern und Herrensitzen, von denen viele nach dem Zwei- (zum Teil auch mit Swimmingpools) deutlich verbessert ten Weltkrieg der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Auf der Liste der British Holiday & Home Parks wurden, weil deren Eigentümer nach gewinnbringender Association stehen über 2 700 solcher Parks. Sie bieten Nutzung aufgrund von hoher Erbschaftssteuer suchten. vorübergehend oder permanent Stellplätze, aber ver- Richtungweisend war die Entwicklung von Longleat, in mieten auch Caravans, Chalets und Cottages. der Grafschaft Wiltshire im Südwesten Englands gele- Ende 2008/Anfang 2009 besaßen Briten etwa 300 000 gen, das 1949 als erster Landsitz für Besichtigungen feste, 500 000 mobile Wohnwagen und 164 000 Wohn- geöffnet wurde; 1966 wurde hier der erste Safaripark mobile. Das heißt, dass mehr als 1 Mio. Menschen ihre außerhalb Afrikas eingerichtet. Auch heute macht Long - Freizeit und ihren Urlaub in eigenen „vier Wänden auf leat durch ungewöhnliche Veranstaltungen (z. B. Red Rädern“ verbringen. Viele dieser Eigentümer von Bull Air Race) oder als Filmkulisse von sich Reden, was Wohnwagen oder Wohnmobilen sind auch Mitglied in die touristische Vermarktung weiter fördert. einem der beiden größten Organisationen, dem Cam- Ein anderes wichtiges Ziel für heritage-Touristen sind ping and Caravanning Club (ca. 230 000 Mitgliedshaus- Gärten. Dazu gehören Gartenanlagen, die sich an histo-, 5 150 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors rische Häuser anschließen (z. B. Sissinghurst Castle Gar- Wiege der Industriellen Revolution überhaupt bezeich- dens), Gärten ohne historische Häuser (z. B. Stourhead) net wird und wo die gusseiserne Telford Bridge zum oder botanische Gärten (z. B. Kew Gardens in London). Symbol der technischen Entwicklung wurde), das Big Großbritannien soll heute die größte Anzahl an Gärten Pit National Coal Museum bei Blaenavon (das den Besu- besitzen, die für touristische Besuche offen stehen. chern die frühere Bedeutung des Kohlebergbaus und der Allein in England und Wales beläuft sich die Zahl auf Eisenverhüttung für die regionale Entwicklung sowie über 3 500 Gartenanlagen. die Lebens- und Arbeitswelt in Südwales veranschau- Eine große Zahl von historischen Häusern und Gär- licht) oder New Lanark (die schottische Textilarbeiter- ten gehört heute nicht mehr Privatpersonen, sondern siedlung, in der bereits im 18. Jahrhundert entschei- halbstaatlichen oder allgemein nützigen Organisatio- dende soziale Verbesserungen für Arbeiter realisiert nen, die einen wichtigen Beitrag zur Popularisierung des wurden). Alle drei genannten Standorte sind übrigens britischen Erbes leisten. Die bekannteste ist wohl der auch auf der Liste des UNESCO-Welterbes, auf der in National Trust, der 1895 gegründet wurde, heute Eng- Großbritannien 22 Kultur-, vier Natur- und eine ge- land, Wales und Nordirland abdeckt und über 300 mischte Welterbestätten stehen. h istorische Häuser und Gärten sowie 49 Industriemo- Immer größerer Beliebtheit innerhalb des heritage numente bzw. Mühlen, daneben auch Wälder, Küsten- tourism erfreuen sich auch Stätten des militärischen abschnitte, Inseln, Moor- und Heideland, Agrarland, Erbes wie Schlachtfelder (z. B. Hastings bzw. „1066 archäologische Überreste, Naturreservate und ganze Country“), Soldatenfriedhöfe, Gedenkstätten oder Dörfer betreut. Die Wohlfahrtsorganisation zählte -monumente, militärische Paraden (z. B. Edinburgh 2007/08 3,5 Mio. Mitglieder und 52 000 Freiwillige, Tattoo). Besonders ausgeprägt ist der battlefield tourism, 12 Mio. Besucher bei gebührenpflichtigen Objekten und der allein in England auf über 500 Schauplätze von 50 Mio. bei Freiluftobjekten. Der National Trust for Schlachten oder anderen kriegerischen Auseinander- Scotland, der 1931 gegründet wurde, betreut 128 Ob- setzungen zurückgreifen kann, in Schottland auf etwa jekte und 76 000 ha Land, hatte im gleichen Zeitraum 350. Das wohl am meisten besuchte Schlachtfeld ist etwa 270 000 Mitglieder, 2 500 Freiwillige und 1,7 Mio. C ulloden, der Schauplatz der Schlacht von 1746 zwi- Besucher. schen englischen Regierungstruppen und den aufstän- Ein wichtiges Element des heritage tourism ist im dischen Jakobiten um Prinz Charles Edward Stuart Mutterland der Industriellen Revolution auch das in - (genannt Bonnie Prince Charlie), die das Ende des alten dustrielle Erbe, das gerade in der Phase der Deindustri- gälischen Clansystems und die endgültige Eingliederung alisierung an Popularität gewann und neue touristische Schottlands in ein englisch dominiertes Vereinigtes Arbeitsplätze schaffen half. Überall in Europa werden Königreich bedeutete. Das nahe Inverness gelegene derzeit die genannten ERIH (European Routes of Indus- Gelände entwickelte sich zu einem Fokus des schotti- trial Heritage bzw. Europäische Themenrouten der schen Romantizismus und einer Art Pilgerort für Schot- Industriekultur) in den Bereichen Bergbau, Eisen/Stahl, ten bzw. Personen schottischer Abstammung auf Identi- Textil, Produktion, Energie, Transport & Kommunika- tätssuche. Culloden wird aber nicht nur von diesen tion, Wasser, Wohnen & Architektur, Dienstleistungs- aufgesucht, sondern auch von Engländern, Walisern sektor & Freizeitindustrie sowie industrielle Landschaf- und Nordiren mit Interesse an Wendepunkten der ten aufgebaut. Das Ziel ist, Regionen, Orte und Objekte nationalen Ge schichte – ebenso wie von vielen interna- der Industriegeschichte bekannt zu machen und im tionalen Touristen. Freizeit- und Tourismusbereich als Ausflugs- und Reise- Heritage tourismus ist häufig die Besichtigung von ziele zu etablieren. Neben den zehn europäischen Rou- einzelnen Objekten. Aber in einigen Städten ist das kul- ten gibt es auch regionale Routen; in Großbritannien, turelle historische Erbe so entscheidend für den Tou- das über eine vergleichsweise lange Erfahrung im Indus- rismus, dass sie häufig als heritage cities bezeichnet wer- trietourismus verfügt, sind dies die Northwest England den und bei Kulturreisenden besonders beliebt sind. Regional Route, die „Heart of England“ Regional Route, Dazu gehören in England beispielsweise Städte wie Bath, die South Wales Regional Route, die Industrious East Brighton, Bristol, Cambridge, Canterbury, Dover, Liver- Regional Route. Insgesamt wurden in Europa bisher in pool, Oxford, Nottingham, Portsmouth, Salisbury, 29 Ländern 845 Standorte industriellen Erbes ausgewie- Stratford-upon-Avon und York. Aber auch oder gerade sen, 219 allein in Großbritannien. Davon wurden wiede- kleinere Orte wie Haworth (für literaturbegeisterte rum 27 als Ankerpunkte eingestuft, die industrie- Anhänger der Bronte-Schwestern) oder Wells (aufgrund geschichtlich als besonders wichtig angesehen und seiner Kathedrale) werden fast völlig vom heritage tou- gleichzeitig touristisch als besonders attraktiv gelten. rism bestimmt. Dazu gehören z. B. Ironbridge bei Telford (das oft als, 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 151 5

Natur-/Landtourismus – Naturschutzbelange sowie die Interessen der Landeigen-

wenig beachtet, aber wichtig tümer/-nutzer (insbesondere der Farmer) in Einklang zu bringen. Andere Reiseziele des Naturtourismus sind neben Naturnahe bzw. ländliche Räume haben auch in der den Nationalparks besonders attraktive Küstenab- postindustriellen Zeit ihre Bedeutung nicht verloren, die schnitte. Steigender Beliebtheit erfreut sich die Jurassic sie als Gegenpol zum städtischen Leben und seinen Coast (Juraküste) in Dorset und Devon, seit sie 2001 in Problemen in der Phase der Industrialisierung gewon- die Liste des UNESCO-Weltnaturerbes aufgenommen nen hatten. Ruralität, „das Ländliche“ und ländliche wurde. Außerdem ist etwa ein Drittel der englischen Aktivitäten haben einen hohen Stellenwert auch in der Küste (1 027 km) und der walisischen Küste (500 km) Freizeit und bei den Urlaubsreisen der Briten. national als Heritage Coast klassifiziert (ein Teil davon Natur-/Landtourismus wird hier verstanden als Tou- liegt in Nationalparks). Vor allem im Binnenland finden rismus in freier Natur bzw. im ländlichen Raum und sich außerdem die sog. „Gebiete außergewöhnlicher umfasst eine Vielzahl touristischer, insbesondere sport- Naturschönheit“ (Areas of Outstanding Natural Beauty, licher Aktivitäten (outdoor activities), z. B. Wandern, AONBs), eine ganze Reihe anderer geschützter Gebiete Bergsteigen, Klettern, Wassersport, Luftsport und Ski- und zahlreiche Country Parks, die bei Erholungssu- fahren. Besonders britisch sind die Beobachtung von chenden sehr beliebt sind. Vögeln und anderen Tieren oder das Munro-bagging, Eine wichtige Variante des Natur-/Landtourismus ist d. h. das Sammeln von Besteigungen der 284 schotti- der Farmtourismus, bei dem die Urlauber auf Bauern- schen Berge, die höher als 3 000 Fuß (914,4 m) sind und höfen übernachten und/oder an von landwirtschaft- Munros genannt werden. Zu den Vergnügungen der lichen Betrieben angebotenen Aktivitäten (z. B. Reiten, Oberschicht und ihrer Aspiranten gehören die (2004 Tier- und Streichelzoos, Bauernhofcafés) teilnehmen. verbotene und seitdem variierte) Fuchsjagd, die Jagd auf Bauernhoftourismus, der vor allem bei Familien mit Rotwild, das Schießen von Moorhühnern oder – etwas Kindern sehr beliebt ist, ist im letzten Jahrzehnt gewach- weniger klassenmarkiert – das Angeln von Lachs und sen, da viele britische Agrarbetriebe aufgrund abneh- Forellen. mender Einnahmen aus der Nahrungsmittelproduktion Große Attraktivität für den Naturtourismus haben u. a. in den touristischen Bereich diversifiziert haben. seit langem die Nationalparks, die derzeit als „Großbri- tanniens Räume zum Atmen“ bezeichnet werden. Der National Parks and Access to the Countryside Act 1949 Destinationen des britischen ermöglichte den Schutz landschaftlich besonders schö- ner Gegenden und – in heftigen Auseinandersetzungen Binnentourismus mit Landeigentümern erstritten – auch den gesetzlich garantierten Zugang von Erholungssuchenden zu diesen Bei den Destinationen lag England 2007 mit 81 % aller Gebieten. Damit wurde die Vision des romantischen Reisen deutlich vor Schottland mit 11 %, Wales mit 7 % Dichters William Wordworth von einer Art Nationalbe- und Nordirland mit 2 %. Allerdings ist der prozentuale sitz, an dem jedermann ein Anrecht und Interesse hat, Anteil Englands und Nordirlands an den unternomme- der ein Auge zum Wahrnehmen und ein Herz zum nen Reisen geringer als der prozentuale Anteil ihrer Genießen hat, Realität („a sort of national property in Bevölkerung, der von Schottland und Wales dagegen which every man has a right and interest who has an eye größer. Die Mehrheit der Binnenreisen wurde in Eng- to perceive and a heart to enjoy“). Seit den 1950er Jah- land von den Engländern, in Schottland von den Schot- ren wurden nach und nach Nationalparks in Großbri- ten und in Nordirland von den Nordiren durchgeführt. tannien (aber bis heute nicht in Nordirland) ausgewie- Nur in Wales dominierten die Engländer den Tourismus sen. Durch die Anerkennung von Loch Lomond & the deutlich vor den Walisern. Trossachs (2002) und den Cairngorms (2003) nach der England ist das wichtigste Zielgebiet des britischen Devolution in Schottland sowie den South Downs in Binnentourismus. Beim Städtetourismus liegt London England (2009) hat sich die Zahl der Nationalparks auf mit seinen vielfältigen kulturellen Attraktionen (z. B. 15 erhöht (Tab. 5.4). Sie besitzen in der Regel eine gute Tate Modern, British Museum, London Eye, Tower of touristische Infrastruktur und bieten ein breites London) wie bei den internationalen Touristen unange- „gelenktes“ Angebot (Management von Wanderwegen, fochten an erster Stelle, erst dann folgen historische geführte Wanderungen, Informationsveranstaltungen Städte im Rahmen des heritage tourism und Industrie- und -material usw.). Denn die Parkverwaltungen bemü- städte im Rahmen des business tourism. Der Küstentou- hen sich, die Erholungsinteressen der vielen Besucher, rismus und Natur-/ländlicher Tourismus sind ebenfalls, 5 152 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors Tabelle 5.4 Nationalparks in Großbritannien (Stand: Mai 2009) Name Lage Gründungsjahr Besucher pro Jahr (Millionen) Brecon Beacons Wales 1957 7,0 Broads England 1989 5,4 Cairngorms Schottland 2003 1,5 Dartmoor England 1951 4,0 Exmoor England 1954 1,4 Lake District England 1951 22,0 Loch Lomond & the Trossachs Schottland 2002 4,1 New Forest England 2005 k. A. Northumberland England 1956 1,5 North York Moors England 1952 9,5 Peak District England 1951 22,0 Pembrokeshire Coast Wales 1952 4,7 Snowdonia Wales 1951 10,5 South Downs England 2009 39,0 Yorkshire Dales England 1954 9,0 k. A.: keine Angaben Quelle: Angaben nach http://www.nationalparks.gov.uk (Abruf: 07.08.2009) von großer Bedeutung und sind schon an anderer Stelle arten nachgehen. Beim Städtetourismus führt Cardiff ausführlicher beschrieben worden. mit seinen Museen deutlich vor den anderen größeren Die Anfänge des Tourismus in Wales gehen wohl auf Städten. Pastor William Gilpin zurück, der das Tal des Wye mit Schottland wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu- seiner Ruine von Tintern Abbey 1782 im ersten illus- nächst von Bildungsreisenden und Künstlern als touris- trierten Reiseführer Großbritanniens als „pittoresk“ tisches Ziel „entdeckt“. Durch die Reiseberichte von Dr. beschrieb. Die bergigen Teile von Wild Wales (Titel eines Samuel Johnson bzw. seinem Begleiter James Boswell, Buches von George Borrow, 1862) wurden erst 80 Jahre die Romane von Sir Walter Scott und viele andere litera- später als Reiseziel entdeckt. In viktorianischen Zeiten rische Texte wurde ein spezielles Image geschaffen, das kamen auch Hotels an der Küste in Llandudno, am die Landschaft, das Leben und die Kultur der Highlands Fluss bei Betwys-y-Coed und der Kurort Llandidrod & Islands in heroischer und romantischer Verklärung zu Wells in Mode. Mit der Zeit weitete sich der Küsten - dem Schottland-Bild schlechthin hochstilisierte. Auf- tourismus immer weiter aus und spielt bis heute eine trieb erhielt der Schottland-Tourismus zudem 1822 große Rolle, wobei überraschend viele Übernachtungen durch den Besuch von King George IV. in Edinburgh in Wohnwagen und Wohnmobilen oder Zweitwohn- und vor allem 1842 durch den Kauf des Großgrundbe- sitzen erfolgen. Beim Naturtourismus ziehen vor allem sitzes Balmoral durch Prince Albert für Queen Victoria. die drei Nationalparks (Snowdonia, Brecon Beacons, Hier wurde in den 1850er Jahren ein romantisches Pembrokeshire Coast) die Besucher an, die dort tradi- Schloss gebaut, das seit dieser Zeit der Sommersitz der tionelleren Aktivitäten oder moderneren Extremsport- königlichen Familie ist. Die königliche Präsenz in Royal, 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 153 5 Deeside hat bis heute ungebrochene Anziehungskraft Die kleineren Städte hielten sich erstaunlich gut und auf Touristen. Die wichtigsten Bereiche des Tourismus konnten fast ein Viertel der Reisen und Übernachtungen in Schottland sind der Naturtourismus mit verschie- verbuchen. Der ländliche Raum konnte nur weniger als densten Aktivitäten, insbesondere Wandern, Fischen, ein Fünftel aller und etwas mehr als ein Fünftel der Jagen und Golfen, und der heritage tourism mit Besu- Urlaubsreisen verzeichnen, doch dürfte dies am ver- chen von Schlössern und Gärten. Erst in den letzten gleichsweise geringen Übernachtungsangebot liegen, Jahrzehnten hat der Städtetourismus immer größere das sich eher in den kleinen Städten findet. Bedeutung erlangt. So kommen alljährlich zum dreiwö- Die wirtschaftliche Bedeutung des Binnentourismus chigen Edinburgh Festival (das eigentlich mehrere Festi- ist damit außerhalb der metropolitanen Gebiete größer vals in sich vereint) im August/September fast 2 Mio. als innerhalb: Während in den großen Städten 2007 Menschen. Doch auch Glasgow hat sich zur Stadt mit direkt ein Bruttosozialprodukt von 15,9 Mrd. Pfund reichem Kulturangebot gewandelt, in der über 20 erwirtschaftet wurde, betrug dies in den nichtmetropo- Museen und Galerien kostenlos zugänglich sind. litanen Gebieten, also an der Küste, 8,9 Mrd. Pfund, in Nordirland litt lange Jahre unter dem politischen kleineren Städten 7,8 Mrd. Pfund und im ländlichen Konflikt, der die Entwicklung des Tourismus stark Raum 6,2 Mrd. Pfund, zusammengenommen 22,9 Mrd. behinderte. Erst seit greifbaren Erfolgen im Friedens- Pfund (Oxford Economics). prozess verläuft die Tourismusentwicklung in Nordir- land sehr positiv. Die größten Besuchermagneten sind

Beherbergungsarten

Giant’s Causeway, die zoologischen und botanischen Gärten in Belfast und W5 bzw. das Science and Disco- very Centre in Belfast. Die Erfassung der touristischen Angebotsseite, also des Nach Regionen betrachtet ist Südwestengland die am Beherbergungsgewerbes (das eigentlich auch das Gast- meisten besuchte Region Großbritanniens (20,5 Mio. stättengewerbe einschließt), ist in Großbritannien wenig Besuche 2007), gefolgt von Südostengland (17,9 Mio.), entwickelt, da z. B. eine zentrale Registrierung der Schottland (14,5 Mio.), Nordwestengland (13,0 Mio.), Betriebe gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. In England Ostengland (10,6 Mio.), Yorkshire & Humberside (10,4 gab es laut einer Erhebung von VisitBritain 2007 etwa Mio.) und London (10,1 Mio.). In allen anderen Regio- 30 600 Hotelleriebetriebe mit 1,062 Mio. Betten. Davon nen – einschließlich Wales – lagen die Besucherzahlen waren ca. 41 % Bed & Breakfast, 24 % Hotels, 18 % deutlich unter 10 Mio. G uesthouses und der Rest andere Beherbergungsfor- Die britische Statistik unterscheidet die Reiseziele men. Das untermauert die oft zitierte Annahme, dass ca. aber auch nach der Grobeinteilung Küste – Groß-/ drei Viertel der britischen Tourismusbetriebe zu den Mittelstadt – Kleinstadt – ländlicher Raum/Dorf. Für kleinen und mittleren Unternehmen zählen. sich genommen ist der Binnentourismus in großen Statistisch besser erfasst ist die Inanspruchnahme der Städten am stärksten: Er machte 2007 39 % aller touris- verschiedenen Beherbergungsarten durch die Binnen- tischen Reisen, aber nur 30 % aller Urlaubsreisen aus. touristen. Die Beherbergungssituation wird von der Erstaunlich wichtig waren die Städtereisen in Schottland Nachfragerseite her durch die Befragung von in Groß- (45 % aller Reisen) und England (40 %), aber kaum in britannien lebenden Personen zu ihrem touristischen Wales (17 %). Allerdings war die durchschnittliche Auf- Verhalten erschlossen. Problematisch ist allerdings, dass enthaltsdauer vergleichsweise kurz, dafür waren die durch die weite Definition von Binnentourismus, die Ausgaben leicht überdurchschnittlich. auch Besuche von Freunden und Verwandten ein- 21 % aller touristischen Reisen (also einschließlich schließt, kommerzielle und nichtkommerzielle Über- Geschäfts- und Besuchsreisen) in Großbritannien gin- nachtungen nicht voneinander getrennt werden, was gen an die Küste, in England 20 %, aber deutlich mehr in aber wünschenswert wäre. Wales (37 %) und sehr viel weniger in Schottland So kommt es, dass bei allen 2007 statistisch erfassten (12 %). Bei den Urlaubsreisen waren die Werte deutlich Reisen [Urlaubsreisen in Klammern] 44 % [42 %] der höher (England 28 %, Wales 43 %, Schottland 18 %, Unterkünfte im Prinzip nicht oder allenfalls teilweise Großbritannien 28 %). Und bei den Einzeldestinationen kommerziell waren. Dabei handelte es sich um Besuche beh aupten die Seebäder weiterhin eine führende Posi- von Verwandten, Freunden oder um Aufenthalte in tion: Blackpool (zweite Stelle nach London), Scarbo- einer Zweit-/Ferienwohnung, die den Reisenden zumin- rough, Isle of Wight, Bournemouth, Skegness, Torquay, dest teilweise gehört, im eigenen Caravan, Boot usw. Great Yarmouth, Newquay, Brighton and Hove, Ports- Nur etwa ein Drittel, nämlich 36 % aller Reisenden mouth und Southampton rangierten unter den 20 wich- [33 %], nahmen kommerzielle Betriebe des Beherber- tigsten Reisezielen. gungsgewerbes mit Service (Hotel, Motel, Guesthouse,, 5 154 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors

Tourismus im Vereinigten Königreich – eine kurze Übersicht

Das Vereinigte Königreich ist ein beliebtes Reiseland bei In- Urlaubsreisen im Jahr 2000 zahlenmäßig erstmals sogar die und Ausländern. Beim sog. in-bound tourism hielten sich Binnenurlaubsreisen mit einer Dauer von vier und mehr 2007 32,8 Mio. ausländische Besucher im Land auf und Tagen. gaben dabei vor Ort 16 Mrd. Pfund aus. Damit nahm das Ver- Die Tourismusindustrie ist einer der wichtigsten wirt- einigte Königreich Platz 6 der Rangliste bei den Einnahmen schaftlichen Sektoren des Vereinten Königreiches. 2007 durch internationalen Tourismus ein, hinter den Vereinigten waren etwa 1,45 Mio. Menschen bzw. 5 % aller Arbeitnehmer Staaten, Spanien, Frankreich, Italien und China. Die wich- direkt in diesem Sektor beschäftigt. Berücksichtigt man die tigsten Herkunftsländer nach Zahl der Touristen waren die indirekten Arbeitsplatzeffekte, so waren mehr als 2 Mio. Bri- USA, Frankreich, Deutschland, Irland und Spanien, nach tou- ten vom Tourismus abhängig. Die Bruttowertschöpfung be- ristischen Ausgaben die USA, Deutschland, Irland, Frank- trug in diesem Jahr etwa 86,3 Mrd. Pfund (2,7 % der Gesamt- reich und Spanien. bruttowertschöpfung), wovon 18,7 Mrd. Pfund (16,0 Mrd. Im Rahmen des Binnentourismus, dem domestic tourism, Pfund Ausgaben im Land und 2,7 Mrd. Pfund für britische unternahmen im gleichen Jahr 53,7 Millionen in Großbritan- Fluggesellschaften) auf den in-bound tourism und 67,6 Mrd. nien lebende Menschen eine Urlaubsreise im eigenen Land Pfund auf den domestic tourism entfielen. Die Verluste durch mit mindestens einer Übernachtung außerhalb von Zuhause out-bound tourism betrugen dagegen ungefähr 35,0 Mrd. und gaben dabei 11,5 Mrd. Pfund aus. Hinzu kamen Ge- Pfund. Hieran wird klar, dass die Balance zwischen interna- schäftsreisen (18,7 Mio. Reisende und 4,5 Mrd. Pfund Aus- tionalem Ein- und Ausreisetourismus mit 16,3 Mrd. Pfund gaben) sowie Übernachtungsbesuche von Freunden und Ver- deutlich negativ war. wandten (47,8 Mio. Reisende und 4,8 Mrd. Pfund Ausgaben). Doch immer mehr Briten reisen privat oder geschäftlich ins Ausland. Der sog. out-bound tourism überholte bei den Farmhaus, Bed & Breakfast), also die klassische Hotelle- Beherbergungsgewerbes durch die Einführung von rie, in Anspruch. 17 % der Reisen [25 %] entfielen auf National Quality Assurance Standards zu verbessern kommerzielle Beherbergungsstätten ohne Service (Self- und transparent zu machen, so dass potenzielle Gäste an Catering in gemieteten Appartments/Wohnungen oder der Einstufung erkennen können, was sie erwartet. In in einem Haus/Chalet/Villa/Bungalow/Cottage) und den meisten Beherbergungskategorien (z. B. Hotels, 1 % [1 %] auf Hostels (einschließlich Holiday Camps, Budget Hotels, Guest Accommodations usw.) werden Universitäten oder Schulen), die in Deutschland zur sog. ein bis fünf Sterne vergeben, außergewöhnliche Leistun- Parahotellerie zusammengefasst werden. gen werden mit Gold- und Silbermedaillen ausgezeich- Auffallend an diesen Zahlen ist die große Bedeutung net. Allerdings erfolgt die Klassifizierung nur auf Antrag des nichtkommerziellen Sektors und der Parahotellerie. und ist für die Antragssteller mit Kosten verbunden. Dies dürfte zumindest teilweise auf die gehobenen Preise bzw. das mitunter nicht zufriedenstellende Preis- Probleme und Chancen Leistungs-Niveau der kommerziellen Beherbergungsbe- triebe mit Service zurückzuführen sein. Erst in den letz- des britischen Binnentourismus ten Jahren wurden auch in Großbritannien mehrere relativ preiswerte Budget Hotels eröffnet, deren Zahl Der britische Binnentourismus kämpft seit Jahrzehnten sich im Hinblick auf den erwarteten Ansturm interna- gegen die Verluste durch den nach außen gerichteten tionaler Touristen im Zuge der Olympischen Spiele in Tourismus an. Obwohl Großbritannien beim interna- London (2012) noch stark erhöhen dürfte. tionalen in-bound tourism relativ erfolgreich ist, bevor- Aufgrund der Kritik am Beherbergungswesen und zugen viele Briten für ihre Ferien andere Länder. Das der steigenden ausländischen Konkurrenz wurden in große Manko des Binnentourismus ist, dass viele Briten den vergangenen Jahren im Tourismussektor im Ver- bei einheimischen Zielen den Reiz des Andersartigen einigten Königreich klare Anstrengungen unternom- bzw. die Exotik eines fremden Reisezieles vermissen. men, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu Andere Briten sehen allerdings gerade in der Vertraut- stärken. Dazu gehört der Versuch, die Qualität des heit einen Vorteil., 5.4 Von Thomas Cook zum Fünf-Sterne-Cottage: Der britische Binnentourismus im Wandel 155 5 Negativ wirkte es sich auch aus, dass das touristische Schwächung des britischen Pfundes zu einer Stärkung Angebot in Großbritannien in der Vergangenheit und des Binnentourismus führen könnten. zum Teil bis heute deutliche Mängel zeigte. So wurde Außerdem wird argumentiert, dass sich der Klima- immer wieder beanstandet, dass es nicht nur eine ganze wandel positiv auswirken dürfte. Die Erfahrung in der Reihe Unterkünfte zweifelhafter Qualität gibt, sondern Vergangenheit hat gezeigt, dass der Anteil der Binnen- vor allem auch, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis in touristen im Vereinigten Königreich relativ starken Großbritannien häufig schlechter ausfällt als bei inter- Schwankungen von Jahr zu Jahr unterlegen ist. Eine der nationalen Destinationen. So ist ein Binnenurlaub nicht wichtigsten Gründe hierfür ist die Witterung vor allem selten teurer als ein Aufenthalt im Ausland bei gleichzei- in den Sommermonaten. Agnew und Palutikof (2006) tig geringerer „Sonnengarantie“. fanden heraus, dass die Zahl der touristischen Auslands- Problematisch ist auch, dass der britische Binnentou- reisen von der Variabilität des vorhergegangenen Jahres rismus in der Vergangenheit immer wieder durch ein- beeinflusst wird, während die der Binnentouristen auf schneidende Ereignisse beeinflusst wurde und deutlich die Variabilität des jeweiligen Jahres reagiert. Mit ande- von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung ren Worten: Nach einem Jahr mit nassem/schlechtem abhängig ist. So erlebte der Binnentourismus 2001 Wetter entscheiden sich mehr Briten für eine Auslands- starke Einbrüche, als weite Gebiete im ländlichen Raum reise; sollte es aber eine überdurchschnittlich warme während des sechsmonatigen Auftretens der Maul- und oder trockene Wetterperiode im Frühling/Sommer Klauenseuche abgesperrt wurden und der Imagescha- geben, so optieren viele, meist Kurzentschlossene, für den aufgrund der Massenschlachtungen von 3 Mio. Tie- einen Binnenurlaub. Auf lange Sicht gehen die Forscher ren und der Ängste um die eigene Gesundheit enorm davon aus, dass sich die Zahl der warmen Sommer erhö- war. Unmittelbar darauf erfolgte der Einbruch des Tou- hen wird und somit auch die Zahl der Binnentouristen. rismus im Zuge der 9/11-Anschläge in den USA und in Doch nur wenn es gelingt, die notwendigen Anpas- geringerem Maße auch nach den Anschlägen von Lon- sungen an die – sehr heterogenen – Bedürfnisse der don vom Sommer 2005. „postmodernen“ Touristen des 21. Jahrhunderts vor- Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Juli zunehmen, kann sich der britische Binnentourismus 2007 in den USA begann und sich mit der Zeit global angesichts der globalen Konkurrenz behaupten. Eine ausbreitete, hat deutliche Spuren hinterlassen. 2008 bra- einfache Wiederbelebung der Urlaubsformen aus der chen die britischen Binnenreisen im Sommer deutlich Hochzeit in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Welt- ein, da bei vielen Haushalten der finanzielle Spielraum krieg ist keine Lösung, aber beliebte britische Touris- für touristische Ausgaben geschrumpft war. Viele poten- musformen an heutige Wertevorstellungen und Life- zielle Touristen entschieden sich für staycation(s). Dieser style-Formen anzupassen, wie es z. B. in einigen Holiday Begriff, der in den USA geprägt wurde, ist eine Kombi- Parks getan wird, dürfte einer der zukunftsweisenden nation aus den Wörtern stay and vacation(s). Bei dieser Wege sein. Urlaubsvariante machen Einzelpersonen oder Familien zu Hause Urlaub, d. h., sie übernachten in ihrem Haus oder ihrer Wohnung und unternehmen von dort Tages- Informationen im Internet ausflüge bzw. Exkursionen. Streng genommen gehören staycations also nicht zum Tourismus, sondern zum http://www.erih.net/de/willkommen.html Freizeitsektor. Dennoch gibt es deutliche Auswirkungen Unter dieser Adresse lassen sich detaillierte Informationen auf den Tourismussektor. Denn diese Art von Urlaubern zur European Route of Industrial Heritage (ERIH) abrufen. verzichtet auf ihre – bisher üblichen – längeren Erho- http://whc.unesco.org/en/statesparties/gb lungsaufenthalte im In- und Ausland. Für die touristi- http://www.ukworldheritage.org.uk/ sche Industrie in Großbritannien bedeutet das, dass der Diese beiden Webseiten enthalten genauere Informationen zu World Heritage Sites in Großbritannien. Beherbergungssektor weitere Einbußen erleben wird http://www.tourismtrade.org.uk/MarketIntelligenceRese- und allenfalls der Gaststätten- und Unterhaltungssektor arch/default.asp mit gewissen Zuwächsen rechnen kann, sollte dieser http://www.statistics.gov.uk/statbase/Product.asp?vlnk= Trend anhalten. 1905 Trotz der genannten Probleme gibt es Aspekte, die Auf diesen Seiten finden sich detaillierte Informationen zum sich positiv auf die zukünftige Entwicklung des Binnen- Tourismus im Vereinigten Königreich. tourismus in Großbritannien auswirken dürften. So wächst die Hoffnung, dass das steigende Bewusstsein der Umweltkosten von Auslandsreisen, die ökologischen und Sicherheitsbedenken gegenüber Flugreisen und die, 5 156 5 Deindustrialisierung, neue Industrien und das Erstarken des Dienstleistungssektors

Weiterführende Literatur Timothy, D. J.; Boyd, S. (2002): Heritage Tourism. Harlow,

Essex. Torkildsen, G. (2005): Leisure and Recreation Management. Agnew, M. D.; Palutikof, J. P. (2006): Impacts of Short-Term Cli- London/New York. mate Variability in the UK on Demand for Domestic and Walton, J. K. (2000). The British Seaside. Holidays and Resorts International tourism. In: Climate Research 31, S. 109–120. in the Twentieth Century. Manchester. Butler, R. W. (1980): The Concept of a Tourist Area Cycle of Evo- Williams, S. (1998): Tourism Geography. London/New York. lution: Implications for Management Resources. In: The Wehling, H.-W. (2000): Tourismus in Schottland. Historische Canadian Geographer 24, 1, S. 5–16. Entwicklungen und Images, aktuelle Strukturen und Mar- Middleton, V. T. C.; Lickorish, L. J. (2005): British Tourism. The ketingstrategien. In: Geographische Rundschau 51, 1, S. Remarkable Story of Growth. Amsterdam. 27–34.,

Kapitel 6 Neue Geographien

der Macht und Ohnmacht 6.1 Einführung wen mit welchen Deutungen und Bildern belegt bzw. „aufgeladen“? Diese Betrachtungsweise wird auch in anderen Kapiteln eingenommen, im vorliegenden Kapi- Gerald Wood tel bildet sie jedoch einen essenziellen Bestandteil der einzelnen Beiträge. In Großbritannien haben sich seit der Mitte des 20. Jahr- Beide hier angerissenen Perspektiven verweisen auf hunderts tief greifende gesellschaftliche Transforma- Fragen der Macht, also im Wesentlichen auf die unter- tionsprozesse vollzogen, von denen hier beispielhaft drei schiedliche Verteilung von Ressourcen in einer Gesell- Trends vorgestellt und analysiert werden sollen. Ab- schaft. So geht die Wiederinwertsetzung deindustriali- schnitt 6.2 beschäftigt sich mit Zuwanderung und Mul- sierter Räume häufig mit einem Austausch ihrer Nutzer tikulturalismus, Abschnitt 6.3 mit dem Thema Video- und auch ihrer Bewohner einher, da sich die ressourcen- überwachung in britischen Städten, und Abschnitt 6.4 reicheren Akteure am (Immobilien-)Markt besser durch- nimmt sich der Transformationsprozesse in britischen setzen können. In den meisten Fällen korrespondiert Hafenstädten an. Im Mittelpunkt der Betrachtung des dieser sozialräumliche Wandel mit einem veränderten gesamten Kapitels stehen zwei miteinander verbundene Blick auf die betroffenen Räume: Aus schlecht beleu- Aspekte. Zum einen wird das Verhältnis zwischen sozia- mundeten Hafenvierteln beispielsweise wurden Quar- lem Wandel und seinen räumlichen Kontexten ausgelo- tiere, die in Hochglanzbroschüren der Immobilienbran- tet, zum anderen die Frage, wer an diesem Wandel teil- che und in Lifestyle-Magazinen der „neuen urbanen haben und ihn mitgestalten kann – und wer nicht. Mittelklasse“ als neue Orte modernen Arbeitens und Eine der in diesem Kapitel eingenommenen Perspek- Wohnens sowie der Freizeitgestaltung angepriesen tiven auf das komplexe Wirkungsgefüge von Sozialem w erden (Abschnitt 6.4). Dieser Gedanke verdeutlicht, und Räumlichen ist die Fokussierung auf empirische dass es im Zusammenhang mit sozialräumlichen Struk- Phänomene, z. B. in der Betrachtung des Zusammen- turen und ihren Veränderungen neben der materiellen hangs von sozialem Wandel und den korrespondieren- Verfügungsgewalt und Gestaltungsmacht stets auch um den Mustern veränderter Raumnutzungen und -aneig- die Deutungshoheit über Räume geht. Wer verbreitet nungen. Diese Betrachtungsweise durchzieht dieses mit welchem Interesse, mit welchen Ressourcen und Buch wie ein roter Faden und wird u. a. am Beispiel des mit welchen Folgen spezifische Bilder über bestimmte Umgangs mit wirtschaftlichem Strukturwandel in Man- Räume? Zu welchem Zweck wird beispielsweise ein vor- chester eingenommen. Kennzeichnend für die Stadtent- nehmlich von Bangladeshi bewohntes Quartier im wicklung Manchesters ab den 1960er Jahren ist das Osten Londons von der Stadtverwaltung als „Bangla- Brachfallen weiter Bereiche der Innenstadt durch mas- town“ vermarktet, und welche Folgen ergeben sich hier- sive Deindustrialisierungsprozesse, die im Zuge einer aus für die mit diesem Stempel versehenen Menschen? Wiederbelebung der lokalen Ökonomie jedoch in nicht Claire Dwyer beschäftigt sich in Abschnitt 6.2, in dem unerheblichem Umfang neuen Nutzungen zugeführt diese Frage aufgeworfen wird, mit dem Thema Migra- werden konnten. tion und Multikulturalismus in der britischen Gesell- Eine zweite, symbolische Perspektive auf das Geflecht schaft und mit den „multikulturellen Geographien“, die von Sozialem und Räumlichem, die die Autoren in die- sich im Rahmen des massenhaften Zuzugs von Migran- sem Kapitel einnehmen, abstrahiert vom Empirischen ten im 20. Jahrhundert herausgebildet haben. Es wird und fokussiert auf individuelle Sichtweisen und gesell- auf der einen Seite deutlich, dass Multikulturalismus in schaftliche Deutungsmuster: Welche Räume sind durch Großbritannien weit in die Historie zurückreichende, 6 158 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht Wurzeln hat. Auf der anderen Seite wird unterstrichen, Während sich das Thema von Abschnitt 6.2 durchaus dass Migration und Multikulturalismus nicht nur empi- auch auf andere europäische Länder übertragen lässt, rische Phänomene darstellen, sondern auch einen gesell- z. B. auf Frankreich, thematisieren Gesa Helms und schaftlichen Diskurs, der zum Teil zutiefst mit Wertur- Bernd Belina in Abschnitt 6.3 einen gesellschaftlichen teilen und Konflikten geladen ist. Dies wird an mehreren Entwicklungstrend, der in Europa seinesgleichen sucht: Beispielen anschaulich dargestellt, etwa im Zusammen- die Überwachung des öffentlichen Raumes durch Video - hang mit der Errichtung von Sakralbauten für nicht- überwachungsanlagen (Closed Circuit Television, christliche Glaubensgemeinschaften der Zuwanderer. CCTV). Im Vereinigten Königreich kontrollieren gegen- Hierbei kommt es häufig zu Problemen und Konflikten wärtig über 40 000 CCTV-Anlagen öffentliche Räume, mit der lokalen Bevölkerung und der (Planungs-)Poli- während in fünf anderen europäischen Ländern (Nor- tik, die sich insbesondere an der Präsenz dieser Symbole wegen, Dänemark, Ungarn, Deutschland und Öster- der Migranten entzünden. Dieses und andere Beispiele reich) zusammengerechnet weniger als 1 000 solcher illustrieren sehr eindrücklich das Zusammenspiel von Systeme im Einsatz sind. Gerade auch in Großstädten materieller Verfügungsgewalt und symbolischer Deu- nimmt das Ausmaß der Kontrolle umfassende Dimen- tungshoheit über Räume und die Prozesse der gesell- sionen an: So werden in London ca. 40 % des öffent- schaftlichen Aushandlung von Macht im Kontext von lichen Raumes videoüberwacht, während der entspre- Zuwanderung und Multikulturalität. chende Wert für Wien bei lediglich 18 % liegt. Gesa Im Zentrum des vielschichtigen Beitrags von Claire Helms und Bernd Belina rekonstruieren die Hinter- Dwyer steht die Frage nach dem Umgang der „Zielge- gründe, die zum umfangreichen Ausbau von CCTV sellschaft“ mit dem bzw. den „Fremden“. Dieser Umgang geführt haben, und beleuchten als aktuellen Trend den reicht von einer Bejahung von Multikulturalität bis zu Versuch, im Rahmen einer nationalen CCTV-Strategie einer Favorisierung des umstrittenen Konzepts der Inte- nicht nur eine landesweite Angleichung von CCTV- gration. In den frühen 1980er Jahren und im Jahr 2001 Standards herbeizuführen, sondern auch die zuneh- kam es zu gewalttätigen innerstädtischen Unruhen mende Vernetzung der zumeist lokal arbeitenden (urban riots), an denen jugendliche Migranten maßgeb- lich beteiligt gewesen waren. Diese Unruhen haben eine Diskussion über räumlich segregierte „Parallelgesell- schaften“ aufkommen lassen, die sich durch die Bom- benanschläge im Zentrum Londons im Sommer 2005 intensiviert und zudem einen starken islamophoben Unterton angenommen hat. Auf Seiten der politischen Akteure haben die geschilderten Ereignisse und deren öffentliche Erörterung zu einer Favorisierung von Maß- nahmen zur Integration der Migranten geführt, weil man davon ausgeht, dass nur so die mit Parallelgesell- schaften assoziierten gesellschaftlichen Probleme dauer- haft zu lösen sind. Wie die Autorin zeigt, ist diese D iskussion mit schwerwiegenden Problemen behaftet. So wird die Lösung ethnischer Segregation einseitig auf die Gruppe der Migranten verlagert, z. B. durch die Integrationspolitik im Rahmen des community cohesion- Programms (mit den inhaltlichen Eckpunkten Bürger- schaftskunde und englische Sprachkurse). Demgegen- über belegen Studien, dass ethnische Segregation nicht selten eine Folge diskriminierender gesellschaftlicher Praktiken ist, die Migranten daran hindern, Altstadt- quartiere und ältere Vororte zu verlassen. Das Beispiel ethnische Segregation veranschaulicht, ähnlich wie das bereits angesprochene Beispiel der von Migranten errichteten Sakralbauten, die Funktionsweisen der Geo- graphien der Macht – und Ohnmacht –, das Zus am- Abb. 6.1 Deckblatt der vom Innenministerium herausge- men wirken von materieller Gestaltungsmacht und sym- gebenen Broschüre National CCTV Strategy 2007. Quelle: © bolischer Deutungshoheit über Räume. Home Office, www.doktorjon.co.uk., 6.2 Them and us – Migranten und Multikulturalismus in Großbritannien 159 6 CCTV-Systeme voranzutreiben. Diese Entwicklungen gen) Hafenstädte profitierten, und zum anderen die wecken Assoziationen an die klaustrophobischen Visio- politischen Weichenstellungen ab den späten 1970er nen des Romans 1984 von George Orwell („Big brother Jahren unter der damaligen Premierministerin Margaret is watching you“). Der Schritt von einer Vernetzung Thatcher. Im Rahmen einer deregulierten Stadtent- lokaler CCTV-Systeme, auch die privater Betreiber, mit wicklungspolitik (vgl. Abschnitt 7.4), zu der die Ent- polizeilichen Ermittlungsbehörden hin zu einer Über- machtung der Kommunen ebenso gehörte wie die führung der verinselten Anlagen in eine flächende- „ Freisetzung der Marktkräfte“, haben sich zum Teil ckende Überwachungsarchitektur ist möglicherweise außergewöhnliche Entwicklungen vollzogen. Ein Para- viel kleiner, als man meinen mag. In diesem Zusammen- debeispiel hierfür sind die Londoner Docklands, deren hang mutet es besonders paradox an, dass ein Land, in Entwicklung sowohl in Abschnitt 6.4 als auch in dem es keine gesetzliche Meldepflicht gibt, auf dem Abschnitt 4.4 erörtert wird. Aber auch andere Hafen- besten Weg in einen CCTV-Überwachungsstaat ist. städte haben nicht minder bemerkenswerte Entwicklun- CCTV hat nachweislich nicht zu einer Verhinderung gen hinter sich, z. B. Liverpool und Cardiff (Ab schnitt schwerer Verbrechen geführt, obschon gerade dies das 5.2) oder Newcastle/Gateshead, zu denen auch tief zentrale Argument für den umfangreichen Ausbau g reifende sozialräumliche Veränderungen zu rechnen gewesen ist. Vielmehr ist es zu einer Verlagerung solcher sind. Hafenquartiere, darunter auch ehemalige No-go- Delikte in nichtüberwachte Räume gekommen. Aus der Areas, haben sich, nicht zuletzt durch den massiven Sicht der Autoren ist CCTV daher weniger ein Mittel der E insatz von staatlichen Fördermitteln, zu Orten des Kriminalpolitik als vielmehr ein wichtiger Bestandteil Arbeitens, Wohnens und der Freizeitgestaltung von der Politik symbolischer Gesten (der Staat ist aktiv, und Mittel- und Oberschichten entwickelt. Diese Verände- zwar bereits im Vorfeld unerwünschter Vorkommnisse) rungen gingen Hand in Hand mit einer Wertsteigerung und der Ordnungspolitik. Damit verfügen die im Rah- der Immobilien. Eine Folge hiervon war die Verdrän- men von CCTV etablierten Kooperationsstrukturen gung einkommensschwacher Haushalte durch Mittel- und Netzwerke aus Polizei, Einzelhandel und Stadtver- schichthaushalte. Für viele der angestammten Bewoh- waltungen in weiten Teilen der (Innen-)Städte über um - ner der betroffenen Quartiere bedeuteten der doppelte fassende Machtinstrumente, ihre spezifischen Vorstel- ökonomische Strukturbruch – Schrumpfung und an - lungen öffentlicher Ordnung durchzusetzen, gegen die schließendes Wachstum – und die veränderten politi- sich Einzelpersonen in der Regel nicht wehren können. schen Rahmenbedingungen nicht nur den Verlust von Über lange Zeit (vor allem während des Empires) Erwerbsmöglichkeiten und des vertrauten Wohnum- waren die politische und ökonomische Geltung Groß- felds, sondern auch die Einbuße von Einfluss- und britanniens in der Welt auf das Engste mit dem Aufbau Gestaltungsmöglichkeiten. und Unterhalt einer leistungsfähigen Schifffahrt ver- knüpft, zu der auch die landseitige Infrastruktur in den Weiterführende Literatur Häfen zu rechnen ist. Die Veränderungen im Bereich des Güter- und Personenverkehrs, die Verschärfung des glo- Norris, C.; McCahill, M.; Wood, D. (2004): The Growth of CCTV: balen Wettbewerbs im Bereich der (Güter-)Logistik und A Global Perspective on the International Diffusion of Video nicht zuletzt technologische Umwälzungen (Containeri- Surveillance in Publicly Accessible Space. In: Surveillance & sierung des Güterverkehrs) im Verlauf des 20. Jahrhun- Society, 2, 2/3, S. 110–135. derts haben nicht nur die Schifffahrt nachhaltig verän- dert, sondern auch die Häfen selbst. In Abschnitt 6.4 greift Dirk Schubert diesen Umbruch auf und diskutiert vor dem Hintergrund der sich verändernden techni- 6.2 Them and us – Migranten schen, ökonomischen und politischen Rahmenbedin- und Multikulturalismus gungen sozialräumliche Veränderungstendenzen in bri- tischen Hafenstädten. Ein wesentliches Merkmal des in Großbritannien Wandels ist die Schrumpfung, die verschiedene Facetten umfasst, so den Verlust von Arbeitsplätzen, städtebau- Claire Dwyer licher Substanz und Entwicklungsperspektiven. Vor Übersetzung und Redaktion: Gerald Wood allem in London, aber auch in anderen Hafenstädten, haben sich in der Folgezeit die Vorzeichen der Entwick- Migration nach Großbritannien und Multikultura- lung jedoch umgekehrt. Wichtig hierfür waren zum lismus spielen für die britische Gesellschaft eine große einen die positive Entwicklung der gesamtwirtschaft- Rolle. Dies liegt nicht nur an dem Faktum der Zuwan- lichen Situation des Landes, von der auch die (ehemali- derung selbst, sondern gerade auch an den Debatten, die, 6 160 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht

Polizei räumt den „Dschungel“

Flüchtlingslager. Französische Behörden nen. Vor allem planten sie die Flucht nach Großbritannien, g reifen in illegalem Camp 280 Menschen wo sie auf Arbeit und Geld hofften. Als blinder Passagier auf auf einen der LKW zu gelangen, die auf den Parkplätzen der umliegenden Unternehmen standen, das war ihr Ziel. Bis die Calais. Als die Polizei im Morgengrauen anrückte, waren die Flüchtlinge aus Krisenländern wie Afghanistan, Irak, Somalia meisten Flüchtlinge schon weg aus dem so genannten und Sudan es soweit geschafft hatten, hatten sie tausende Dschungel. Rund 500 Polizisten führten 280 illegale Einwan- Dollar an Menschenhändler gezahlt. derer ab, darunter 135 Minderjährige, bevor Planierraupen Der britische Innenminister Alan Johnson hat ausge- das Lager am Ärmelkanal einebneten. Die Siedlung in den schlossen, Flüchtlinge aus dem Camp aufzunehmen. Sie Dünen müsse weg, weil sie ein Schleuserstützpunkt sei, müssten in den Ländern Asyl suchen, über die sie in die EU hatte (der französische) [Anm. d. Hrsg.] Einwanderungsmi- gekommen seien, betonte er – meist Griechenland. Zuletzt nister Eric Besson gesagt. … In dem als „Dschungel“ bekann- hielten sich bis zu 1000 Migranten rund um Calais auf. Sie ten Lager im Nordosten von Calais hatten die Menschen teils bezahlen Schlepper, um durch den Tunnel nach England zu monatelang in Zelten gehaust, die sie behelfsmäßig aus kommen. Viele wollen dorthin, weil sie Englisch sprechen Decken und Planen zwischen Bäumen und Sträuchern auf- und dort Verwandte haben. zogen. Tagsüber saßen sie vor den Unterkünften, rauchten, (Kölner Stadt-Anzeiger, Mittwoch, 23. September 2009, S. 6) tranken Tee und machten Feuer, um ihre Kleidung zu trock- sich um die gesellschaftlichen Folgen von Migration und keiten wie der Komponist und Schriftsteller Ignatius um Fragen des Zusammenlebens mit den Zugewander- Sancho, der im 18. Jahrhundert in London lebte, oder ten drehen. Diese Debatten sollen in diesem Abschnitt die Krankenschwester Mary Seacole aus Jamaika, die aufgegriffen und in einen geographischen Kontext sich während des Krimkrieges aufopferungsvoll um bri- gesetzt werden. Konkret sollen historische Eckpunkte tische Soldaten kümmerte, sind herausragende histori- der Zuwanderung und der Entstehung eines multi- sche Belege für die ethnische Vielfalt der britischen kulturellen Großbritannien aufgezeigt werden. Daran Gesellschaft. Geographen wie Caroline Bressey (2008) anschließend soll auf die räumlichen Aspekte der haben versucht, die „übersehene Verortung“ Menschen Migration näher eingegangen werden, vor allem vor dunkler Hautfarbe in der britischen Gesellschaft sicht- dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Dis- bar zu machen – und haben damit eine weitere Lesart kussionen darüber, wie mit Migration sowie sozialer von „Britishness“ den bereits bestehenden hinzugefügt. Differenz und Vielfalt umgegangen werden kann. Die Stellung Großbritanniens als Kolonialmacht stellte durch den beständigen Zufluss von Gütern, Ideen und Menschen die Vielfalt im metropolitanen Zentrum „Migrationsgeschichten“ des Empires sicher. Andererseits wurden Beziehungen zu Ländern etabliert und gefestigt, aus denen in der In öffentlichen Diskussionen über das multikulturelle postkolonialen Zeit Menschen nach Großbritannien Großbritannien wird dessen Anfang häufig mit der emigrierten. Eine historische Betrachtung des Lebens in Ankunft der Empire Windrush im Jahr 1948 gleich- kolonialen Städten, wie beispielsweise London, verdeut- gesetzt, als 417 jamaikanische Immigranten nach Groß- licht, in welch umfassendem Maße das Alltagsleben ein- britannien einreisten, um den sich ausweitenden facher Briten durch die bestehenden kolonialen Verbin- Arbeitskräftemangel der britischen Nachkriegsökono- dungen beeinflusst war, sei es durch die Nahrung, die mie eindämmen zu helfen. Dieses Datum ist bei genau- man aß, durch die (exotischen) Blumen, die man in den erer historischer Betrachtung aber hinfällig, denn bereits Gärten der Vorstädte züchtete, oder aber durch die die Soldaten-Siedler des Römischen Reiches, die im 2. V eränderungen, die sich in der englischen Sprache, in bis 4. Jahrhundert eine römische Diaspora auf briti- Straßennamen und Festivals vollzogen. Diese wenigen schem Boden bildeten, oder aber die afrikanischen See- Überlegungen verdeutlichen den hohen Stellenwert, den leute, die seit dem 17. Jahrhundert in Städten wie Liver- eine Berücksichtigung der historischen Dimension der pool oder Cardiff sesshaft wurden, sind Belege für frühe Migration für eine angemessene Betrachtung aktueller Formen der Multikulturalität, die sich in Großbritan- Fragen des Multikulturalismus in Großbritannien nien durch Zuwanderung ergeben haben. Persönlich- besitzt. Von daher soll in den folgenden Überlegungen, 6.2 Them and us – Migranten und Multikulturalismus in Großbritannien 161 6 der Blick auf zwei Prozesse im 19. und frühen 20. Jahr- Die Beispiele der irischen und jüdischen Migration hundert gelenkt werden, die kennzeichnend für die Ein- nach Großbritannien im 19. Jahrhundert unterstreicht wanderung nach Großbritannien waren. die enge Verknüpfung von Arbeitsmärkten, der politi- Der erste Strom wurde von Iren getragen, die im schen Steuerung der Zuwanderung und dem Verhältnis Wesentlichen nach Schottland und England einwander- ethnisch unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu- ten. Hierbei handelte es sich um eine Arbeitskräftewan- einander. Diese Verbindungen traten auch in der Nach- derung, die durch zwei Faktoren ausgelöst worden kriegszeit deutlich hervor. Die boomende Nachkriegs- war: zum einen durch den großen Arbeitskräftebedarf wirtschaft hatte Engpässe auf den Arbeitsmärkten zur im Rahmen der Industriellen Revolution in England Folge, die man durch Zuwanderung aus den ehemaligen und Schottland ab der Mitte des 18. Jahrhunderts und Kolonien abzustellen versuchte – ähnlich wie auch in zum anderen durch die Obdach- und Arbeitslosigkeit anderen europäischen Ländern. Migranten aus der Kari- irischer Landarbeiter, die durch Bodenreform und bik und Südasien wurden zunächst angeworben, um im K artoffelmissernten verursacht worden waren. Der öffentlichen Sektor zu arbeiten, beispielsweise im Höhepunkt dieser Zuwanderung war um 1845 erreicht. Gesundheitswesen oder bei der Eisenbahn, später wur- Gegen 1851 waren 2,9 % der Bevölkerung Englands und den sie zudem für Arbeiten in (privaten) Industrie- 7,2 % der Bevölkerung Schottlands in Irland geboren. unternehmen angeheuert, z. B. in der Textilindustrie in Trotz der zahlenmäßigen Bedeutung der irischen Nordwestengland. Außerdem emigrierten Asiaten aus Zuwanderung wurde und wird sie häufig übersehen – Uganda nach Großbritannien, nachdem sie 1968 von Idi die Iren besaßen die Staatsbürgerschaft des Vereinigten Amin ausgewiesen worden waren. Migranten aus den Königreiches (seit dem Gesetz zur staatlichen Einheit Commonwealth-Ländern besaßen anfänglich das Recht, (Act of Union) im Jahr 1800) und behielten auch nach sich in Großbritannien niederzulassen; später wurde der Unabhängigkeit der Republik Irland im Jahr 1922 dieses Recht jedoch stark eingeschränkt. Das Einwande- das Recht der freien Einreise. Dennoch waren auch die rungsgesetz (Immigration Act) aus dem Jahr 1971 Iren nicht gefeit vor Vorurteilen und rassistisch moti- unterband die weitere Zuwanderung nach Großbritan- vierten Stereotypen und Diskriminierungen. nien aus den Commonwealth-Ländern. Ausgenommen Wie bereits angedeutet wurde, vollzog sich die irische hiervon war lediglich die Einwanderung zum Zweck der Migration nach Großbritannien vor dem Hintergrund Familienzusammenführung. Der größte Teil der Migra- ökonomischer Prozesse und kolonialer sowie postkolo- tion nach Großbritannien in den 1970er und 1980er nialer Bindungen zwischen Großbritannien und Irland. Jahren ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die restrik- Im Gegensatz hierzu wurde der zweite große Migra- tiveren Einwanderungsgesetze lassen sich als politische tionsstrom nach Großbritannien im Wesentlichen Reaktion deuten, und zwar zum einen auf die Sorge über durch politische Zusammenhänge bestimmt. Hierbei die Beziehungen zwischen unterschiedlichen ethnischen handelt es sich um den Zuzug jüdischer Migranten, die Gruppen in Großbritannien und zum anderen auf die sich bereits seit dem 15. Jahrhundert in einigen briti- Wahrnehmung der gesellschaftlichen Probleme der schen Städten niedergelassen hatten, dann aber in „Integration“ der Migranten. Besondere Vorkommnisse, g roßer Zahl in der Folge politischer Unterdrückung ab wie die sog. „Rassenunruhen“ in Notting Hill im Jahr dem 19. Jahrhundert zuwanderten. Zwischen 1870 und 1958 – einer Gegend in London mit überwiegend billi- 1914 flohen etwa 120 000 jüdische Migranten, zumeist gem Mietwohnungsbestand für Immigranten –, hatten aus osteuropäischen Ländern, nach Großbritannien. zur Folge, dass sich die Debatte im öffentlichen Raum Obwohl die jüdischen Migranten in erheblich geringerer auf die Integration „sichtbarer Minderheiten“ und Zahl zuwanderten als die irischen, sorgte ihre Ankunft die Reduzierung „ethnischer Konflikte“ konzentrierte. für beträchtliche politische Unruhen, die im Jahr 1905 Gleichzeitig wurden jedoch auch Fragen zur Benachtei- zur Verabschiedung des ersten Gesetzes zur Begrenzung ligung durch das Bildungssystem thematisiert, was im der Zuwanderung führten (Aliens Act). Sowohl die Jahr 1965 zur Verabschiedung eines Gesetzes führte, das irischen als auch die jüdischen Migranten sind in den ethnische Diskriminierung für gesetzeswidrig erklärte. offiziellen Statistiken zumeist „unsichtbar“, da diese vor- Im Jahr 1975 folgte der Race Relations Act, der die Ein- wiegend auf „sichtbare“ Kriterien abheben (z. B. „nicht- richtung der Commission for Racial Equality zur Folge weiße“ Migranten). Diese Erfassungsweise änderte sich hatte (die im Jahr 2007 in der mit weiter gefassten erst im Rahmen der Volkszählung aus dem Jahr 2001, da A ufgaben betrauten Equalities Commission aufging). hier eine Frage zur ethnischen Zugehörigkeit eingeführt Öffentliche Debatten über Integration sind seitdem wurde, die den Antwortenden die Möglichkeit bot, fester Bestandteil der Diskussion über Immigration und sowohl ihre religiöse Identität als auch „weiße-irische Multikulturalismus in Großbritannien. ethnische Wurzeln“ anzugeben., 6 162 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht

Aktuelle Trends der Migration Migration, wie der tragische Tod von 18 chinesischen

Muschelsammlern in Morecambe Bay im February 2004 bezeugt (Geddes 2005). Migrationsmuster unterlagen seit der Nachkriegszeit Die Migrationsströme in das Vereinigte Königreich erheblichen Veränderungen. Zwischen 1971 und den seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges offenbaren späten 1980er Jahren spielte die Zuwanderung aufgrund sowohl Wandel als auch Kontinuitäten. Während die der wirtschaftlichen Rezession eine geringere Rolle als Zuwanderung in der Nachkriegszeit vor allem aus den zuvor. Ab den frühen 1990er Jahren hat sich dies jedoch Ländern des Commonwealth erfolgte, haben sich die erneut gewandelt, vor allem vor dem Hintergrund des Muster während der letzten Jahrzehnte erheblich verän- volkswirtschaftlichen Wachstums und der Entstehung dert. In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Zahl der neuer Arbeitsmärkte im Dienstleistungsbereich. Die Zugewanderten aus dem Mittleren Osten und Afrika wieder ansteigenden Zuwanderungsströme wurden deutlich ausgeweitet. Der Zusammenhang zwischen jedoch auch in nicht unerheblichem Maß durch das Migrationsströmen, Arbeitsmärkten und rechtlichen neoliberale Wirtschaftscredo und die Ausweitung der Rahmensetzungen spielt nach wie vor eine wichtige Globalisierung beeinflusst. Die Arbeitskräftewanderung Rolle. Die politische Steuerung der Migration hat sich ist heute stärker auf Europa und weniger auf den Com- jedoch gewandelt, da die Regierung heute versucht, jeg- monwealth hin ausgerichtet, was vor allem an der Auf- licher Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften durch enthaltsfreiheit für EU-Bürger liegt. Die Osterweiterung Zuwanderung aus der EU zu entsprechen, während der EU im Jahre 2004 war begleitet von Zuwanderungen andere Zuwanderungsströme durch strenge Asylbestim- aus den damaligen Beitrittsländern Estland, Lettland, mungen und die Beschränkung der Arbeitskräftewande- Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Ungarn und der rung auf Hochqualifizierte stark kontrolliert werden. Tschechischen Republik. Schätzungen gehen von einer Die Berichterstattung in den Medien und die politi- Zuwanderung von einer Million Menschen seit 2004 aus sche Debatte über Immigration haben den Eindruck diesen Ländern aus, von denen jedoch viele das Land entstehen lassen, dass die Zuwanderung zahlenmäßig bereits wieder verlassen haben. Nichtsdestotrotz haben erheblich größer ist als die Abwanderung. Das Gegenteil diese neuen Migranten zu einer Ausweitung der kultu- ist jedoch der Fall, denn erst in jüngster Zeit ist die Zahl rellen und sozialräumlichen Vielfalt Großbritanniens der Zugewanderten größer als die der Auswanderer. Die beigetragen und gleichzeitig die Debatte über „Integra- Veränderungen in den Formen der politischen Steue- tion“ neu entfacht. Parallel zu dieser Bewegungsfreiheit rung der Zuwanderung wurden begleitet von einer für EU-Bürger hat es eine restriktivere Politik der kon- neuen sozialpolitischen Debatte über den Einbezug trollierten Zuwanderung für andere Gruppen gegeben, sowohl der neuen Migranten als auch der etablierten beispielsweise für Hochqualifizierte oder für Menschen Gruppen „ethnischer Minderheiten“ in Großbritannien, mit nachgefragten Qualifikationen. So wurden zwischen wobei im öffentlichen Diskurs stärker die „Integration“ 2000 und 2004 20 000 philippinische Krankenschwes- betont wird als „Multikulturalität“ oder „Antiras- tern für das britische Gesundheitswesen angeworben. sismus“, den früher gebräuchlichen Sprachregelungen in Eine weitere Form der Zuwanderung ist die der Asyl- der sozialpolitischen Debatte. suchenden, deren Zahl von 32 800 im Jahr 1994 auf 80 000 im Jahr 2000 angestiegen ist. Dieser Zuwachs ver- deutlicht zweierlei: zum einen die Zunahme von gewalt- Multikulturelle Geographien tätigen Konflikten weltweit, z. B. in Jugoslawien in den 1990er Jahren sowie im Irak und Somalia und zum Vor einer eingehenderen Betrachtung dieser politischen anderen die Bedeutung der restriktiven Zuwanderungs- Debatten ist es sinnvoll, sich mit den räumlichen Aspek- regelungen, die eine legale Zuwanderung nach Großbri- ten von Zuwanderung und ethnischer Diversität ausei- tannien für viele Menschen nur durch einen Asylantrag nanderzusetzen. In der letzten Volkszählung aus dem möglich werden lässt. Allerdings sind die Ablehnungs- Jahr 2001 wurden 12,5 % der Bevölkerung einer „ethni- quoten hoch und liegen derzeit bei 80 %, so dass sich schen Minderheit“ zugerechnet. Dabei ist die räumliche viele Asylsuchende mit Festnahme und Ausweisung Verteilung der „ethnischen Minderheiten“ bzw. der durch ein System konfrontiert sehen, das sich schwer Migranten sehr uneinheitlich. So ist London die mit damit tut, mit den sich verändernden Strömen Asylsu- Abstand heterogenste britische Stadt, deren Bevölke- chender umzugehen. Hinzu kommen die Probleme, die rung zu 40,3 % ethnischen Minderheiten angehört. Die durch die Deregulierungen der Arbeitsmärkte entstan- Verschiedenheit der Orte, mit denen diese Menschen den sind, denn die Möglichkeiten zu illegaler Beschäfti- weltweit in Verbindung stehen, hat zu der Bezeichnung gung sind allgegenwärtig und verlocken zu illegaler super diversity geführt (Vertovec 2007). Im Allgemeinen, 6.2 Them and us – Migranten und Multikulturalismus in Großbritannien 163 6 sind Gruppen ethnischer Minderheiten eher in städti- gehalten. In frühen Arbeiten wurden Veranstaltungen schen als in ländlichen Räumen anzutreffen, und sie wie der Notting Hill Carnival beschrieben, der aus dem leben eher in England als in einem anderen Teil des Ver- Widerstand gegen den Rassismus der 1950er Jahre her- einigten Königreichs. In London ist eine sehr große Viel- vorging und der heute eine jährlich wiederkehrende falt unterschiedlicher Migrantengruppen beheimatet, Feier ist, die von vielen auch außerhalb der britisch- andere britische Städte hingegen sind eher geprägt karibischen Bevölkerung besucht wird. Andere haben durch die Zuwanderung spezifischer Immigrantengrup- sich mit der Ausbreitung neuer Orte der Religionsaus- pen. So haben beispielsweise britische Hafenstädte wie übung für die vielen neuen religiösen Gemeinschaften Liverpool oder Cardiff lang etablierte schwarze und eth- beschäftigt. Während sich die erste Einwandererge - nisch gemischte Communities. Leicester wiederum ist neration häufig mit Provisorien als Moscheen oder bekannt als erste britische Stadt mit einer überwiegend Tempel begnügte, konnten etablierte und wohlhabende asiatischen Bevölkerung, die zum größten Teil indische Gemeinden in der Zwischenzeit zum Teil spektakuläre Wurzeln besitzt (nämlich als Nachfahren früherer Sakralbauten errichten, z. B. den Swaminarayan-Tempel Zuwanderer aus Indien bzw. als Nachkommen sog. twice in London oder den Jain-Tempel in Potters Bar (Abb. migrants, die zunächst in Afrika lebten, ehe sie nach 6.2). Dabei müssen Gemeinden nicht selten erheblichen Großbritannien einwanderten). Dieses Erbe spiegelt Widerstand bei den Planungsbehörden und in der loka- sich auf verschiedene Weise in der Stadt wider, beispiels- len Bevölkerung überwinden. Häufig sind die religiösen weise in Form von Geschäften, die indische Lebensmittel Bauwerke Ausdruck der komplexen transnationalen oder Kleidung anbieten, oder in Form neuer religiöser Verbindungen, die die Migranten mit den Mitgliedern Bauten, beispielsweise Tempel (mandirs). Weiter nörd- ihrer verzweigten Verwandtschaft in aller Welt aufrecht- lich, in Bradford, besitzen 16 % der Bevölkerung einen zuerhalten versuchen. pakistanisch-muslimischen Hintergrund, in dem sich Der Einfluss der Migranten auf die räumliche Um - die Bedeutung der Zuwanderung aus dem ländlichen welt lässt sich aber nicht nur anhand spektakulärer Mirpur (Nordostpakistan) in den 1960er und 1970er Sakralbauten aufzeigen, sondern auch an einer Vielzahl Jahren ausdrückt, als die Textilunternehmen in Brad- anderer, zum Teil wenig aufsehenerregender Phäno- ford Arbeitskräfte suchten. Hier bilden sich neue Iden- mene. Ein Beispiel hierfür ist Brick Lane, eine Straße im titäten britischer Muslime durch Jugendgruppen oder Herzen eines von Bangladeshi bewohnten Gebiets im Moscheen, auf dem Cricket-Feld oder durch den Kon- Osten Londons. Die gesamte Gegend ist symptomatisch sum von „Bollywood“-Filmen aus. dafür, wie unterschiedliche Ströme von Migranten die Geographen haben die Ausbildung multikultureller Stadt London mitgeprägt haben. Sie liegt unmittelbar räumlicher Muster auf sehr unterschiedliche Weise fest- außerhalb der Ostseite der ursprünglichen Londoner Abb. 6.2 Jain-Tempel, Potters Bar. Quelle: Institute of Jainology (IoJ)., 6 164 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht Abb. 6.3 Londoner Moschee Jamme Masjid, Brick Lane. Quelle: Wood 2004. Stadtmauer, die die Stadt von ihrer Umgebung getrennt wird kritisiert, dass sie die Kultur der anderen damit ein- hatte. Die erste Migrantengruppe, die der Gegend ihren seitig festschreiben und außerdem an den bestehenden Stempel aufdrückte, waren Flüchtlinge aus Frankreich, drängenden Problemen der Ungleichheit, wie sie ethni- die Hugenotten, die sich hier im 17. Jahrhundert nieder- sche Minoritäten betreffen, z. B. schlechte Wohnbedin- ließen und ihren Lebensunterhalt als Seidenweber gungen und schulische Leistungen, vorbeizielen. v erdienten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Ein weiterer Aspekt der multikulturellen Geographie jüdische Migranten aus Osteuropa hinzu, die in der Tex- Großbritanniens sind die transnationalen Verbindungen tilindustrie Arbeit fanden. Ab den 1970er Jahren, als die zwischen den unterschiedlichen Migrantengemeinden jüdischen Migranten in die wohlhabenderen Vororte und deren Heimatländern. Verbesserte Telekommunika- gezogen waren, ließen sich Migranten aus Ostpakistan tionsmöglichkeiten sowie einfachere und billigere Reise- (später Bangladesh) hier nieder, die zunächst in der möglichkeiten haben dazu beigetragen, dass Migranten Bekleidungsindustrie und später auch in der Gastrono- ihr Leben zunehmend transnational, d. h. grenzüber- mie arbeiteten. Ein Gebäude, die Londoner Moschee schreitend organisieren können. Zur Illustration dieses Jamme Masjid (Abb. 6.3) an der Kreuzung Fournier Phänomens lässt sich eine Reihe von Beispielen heran- Street und Brick Lane, ist ein besonders beredtes Zeug- ziehen, z. B. britisch-asiatische Unternehmer, die trans- nis der Migrationsgeschichte der Gegend. Im Jahre 1742 nationale Mode-Industrien aufgebaut haben, deren wurde es als Kirche von der Hugenottengemeinde Wertschöpfungsketten zwischen Großbritannien und errichtet, im Jahre 1898 in eine Synagoge umgewandelt, dem indischen Subkontinent organisiert sind. Ein ande- ehe es 1976 zur Moschee wurde. Seit kurzem engagiert res Beispiel sind Migrantennetzwerke aus Kamerun und sich die lokale Politik in der Revitalisierung der Gegend Tansania in Großbritannien, die Geld sammeln, um da- um die Brick Lane, um sie für Touristen und potenzielle mit ihre Herkunftsorte zu unterstützen oder aber ande- Restaurantbesucher attraktiver zu machen. Zu diesem ren Migranten die Rückkehr in ihr Heimatland zu Zweck wird die gesamte Gegend als „Banglatown“ ver- ermöglichen (z. B. bei Hochzeiten oder nach deren Tod). marktet (Abb. 6.4). Unterstützende Elemente dieser Und als letztes Beispiel schließlich lassen sich die ver- Marketingkampagne sind ein symbolischer Eingang, schiedenen kulturellen Medien anführen, die grenzüber- Straßennamen in Bengali und ein jährlich stattfinden- schreitend funktionieren, wie beispielsweise die Filmin- des Fest. Dieser Ansatz weist Parallelen zu anderen dustrie „Bollywood“. Alle diese Beispiele deuten darauf Orten auf, an denen ebenfalls ethnisches place making hin, dass sich Großbritannien selbst zu einer Diaspora betrieben wird, darunter Soho in London. Häufig wer- gewandelt hat, in der Menschen und Orte zunehmend den solche Initiativen als positive Beispiele für die Be- durch Netzwerke transnationaler Identifikationen ge- jahung von Multikulturalität angesehen. Andererseits prägt werden., 6.2 Them and us – Migranten und Multikulturalismus in Großbritannien 165 6 Abb. 6.4 Straßenszene in der „ Banglatown“, London. Quelle: Wood 2004.

Die umstrittene Politik der Folge der Angriffe vom 11. September 2001 – umso

der Integration schwerer, als beide Ereignisse ein Klima der Angst geschaffen hatten. In Großbritannien ging die Sorge über die gesellschaftliche Integration ethnischer Min- Das Heranwachsen einer zweiten, etablierten Migran- derheiten, vor allem der muslimischen, um. tengeneration in Großbritannien hat sich nicht nur in Diese Debatte weist einige Parallelen zu den Diskus- den bereits diskutierten räumlichen Mustern von Multi- sionen der 1980er Jahre auf, die durch die Unruhen in kulturalität niedergeschlagen, sondern auch in zahlrei- den Innenstädten von Liverpool (Toxteth) und London chen Situationen des Alltagslebens, angefangen bei der (Brixton) ausgelöst worden waren, an denen sich haupt- Sicherstellung eines Angebots an nach muslimischen sächlich junge weiße und afrokaribische Männer betei- Regeln produziertem Fleisch („Halal“-Fleisch) in Schu- ligt hatten. Analysen dieser Ereignisse verdeutlichten, len und Krankenhäusern bis hin zur Rücksichtnahme wie bestimmte Gruppen und Orte mit ethnischen Stig- auf die unterschiedlichen asiatischen Bekleidungsstile mata versehen werden. In Großbritannien richten sich bei der Uniformierung der Polizei. Trotz alledem ist die die öffentlich artikulierten Ängste derzeit vor allem auf umstrittene Politik der Integration zurück auf der Muslime, und zwar in Form eines „kulturellen Ras- Tagesordnung, ähnlich wie in anderen europäischen sismus“, der behauptet, der Islam sei nicht vereinbar mit Ländern auch. Ein wichtiger Ausgangspunkt hierfür dem Mainstream britischen Lebens. Die Aufmerksam- waren die Unruhen in den nordenglischen Städten keit ist dabei vor allem auf den „muslimischen Separa- Bradford, Burnley und Oldham im Sommer des Jahres tismus“ in seinem Verhältnis zu Institutionen wie mus- 2001, als sich junge weiße und asiatische Männer Stra- limischen Schulen gerichtet. Auch umstrittene Symbole ßenschlachten lieferten, in die auch die Polizei hineinge- spielen hierbei eine wichtige Rolle, z. B. das Tragen zogen wurde. Eine Folge dieser Unruhen waren Unter- bestimmter Kleidungsstücke (Kopftuch, hijab). In dieser suchungen über das Verhältnis der verschiedenen Debatte haben u. a. Geographen versucht, die große ethnischen Bevölkerungsgruppen untereinander. Eine Spannbreite muslimischen Lebens in Großbritannien dieser Untersuchungen, der Cantle Report (Home herauszustellen, gerade auch in seinen räumlichen Office 2001), kam u. a. zu dem Schluss, dass unter- Bezügen, und hervorzuheben, welch mächtige Form des schiedliche Communities, in diesem Fall solche mit gesellschaftlichen Ausschlusses die Islamophobie dar- einem weißen britischen Erbe (heritage) und solche mit stellt. einem pakistanisch-muslimischen Erbe, „parallele und Empfehlungen des Cantle Report aus dem Jahr 2001 polarisierte Leben“ führten. Diese Erkenntnis wog ange- sind in die Entwicklung eines neuen sozialpolitischen sichts der Bombenattentate in London im Juli 2005 – in Ansatzes der Regierung eingeflossen, der die Bezeich-, 6 166 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht nung community cohesion („Zusammenhalt der Com- der in Großbritannien gebräuchlichen Formen der Defi- munity“) trägt. Der Schwerpunkt dieses Ansatzes liegt nition von Ethnizität als Konglomerat von Geburtsort, auf der Integration sowohl der „älteren“ ethnischen religiöser Überzeugungen und heritage geführt. In diese Minderheiten als auch der neuen Migranten. Inhaltliche Debatten haben sich Geographen intensiv eingemischt, Eckpunkte sind der Erwerb der englischen Sprache und ebenso in die Diskussion darüber, wie gelebte ethnische die Bürgerschaftskunde (citizenship education). Trotz Identitäten im Schnittpunkt von Klasse, Gender und Ort seiner Popularität in der Politik bleibt das Konzept der entstehen. All das unterstreicht die Vitalität und Kom- community cohesion jedoch umstritten, und zwar im plexität von Multikulturalität und ihrer räumlichen Hinblick darauf, wie der Begriff inhaltlich und empi- Bezüge, aber auch die Notwendigkeit, sich dem Thema risch zu fassen ist. Dem Konzept der community cohesion mit differenzierten theoretischen und methodischen liegen ganz bestimmte Vorstellungen von den Geogra- Konzepten zu nähern. phien des multikulturellen Großbritannien zugrunde. Eine davon ist die auf geographische Untersuchungen zurückgehende Feststellung, dass ethnische Segregation Weiterführende Literatur in britischen Städten zunehme und damit zur Entste- hung von „Parallelgesellschaften“ beitrage. Diesem Brah, A. (1996): Cartographies of Diaspora. London. Befund wurde in anderen Studien jedoch widerspro- Bressey, C. (2008): It’s Only Political Correctness – Race and chen. Zum einen wird hervorgehoben, dass die Feststel- Racism in British History. In: Dwyer, C.; Bressey, C. (Hrsg.) lung einer zunehmenden Segregation die aktuellen (2008): New Geographies of Race and Racism. Aldershot, demographischen Veränderungen nicht angemessen S. 29–39. Driver, F.; Gilbert, D. (1998): Heart of Empire? Landscape, berücksichtige. Zum anderen wird darauf hingewiesen, Space and Power in Imperial London. In: Environment and dass die beobachtete Segregation vor dem Hintergrund Planning D: Society and Space, 16, S.11–28. ethnischer Stigmatisierung bei der Wohnungssuche und Dwyer, C. (2008): Geographies of Veiling. In: Geography 93, 3, der Angst asiatischer Familien vor Diskriminierung zu S. 140–147. bewerten sei. Beides hindere asiatische Familien daran, Dwyer, C. (2004): Tracing Transnationalities Through Commo- die Altstadtquartiere und älteren Vororte zu verlassen dity Culture: A Case Study of British-South Asian Fashion. und in gemischte Quartiere in den äußeren Vororten zu In: Crang, P.; Dwyer, C. und P. Jackson (Hrsg.): Transnatio- ziehen. nal Spaces. London, New York, S. 60-77. Geographen haben auch die Diskussion über die Dwyer, C.; Bressey, C. (2008): New Geographies of Race and Ausgestaltung von community cohesion mitgeprägt, z. B. Racism. Aldershot. Geddes, A. (2005): Chronicle or a Crisis Foretold: The Politics indem sie Vorschläge zur Ausweitung des interethni- of Irregular Migration, Human Trafficking and People Smug- schen Austauschs an öffentlichen und quasiöffentlichen gling in the UK. In: British Journal of Politics and Internatio- Orten in multiethnischen Städten unterbreitet haben. nal Relations, 7, S. 324–339. Home Office (2001): Community Cohesion (= Cantle Report).

Fazit London.Hopkins, P.; Gale, P. (Hrsg.) (2009): Muslims in Britain: Race,

Place and Identities. Edinburgh Ein Verständnis der gegenwärtigen Formen von Multi- Keith, M. (2005): After the Cosmopolitan? Multicultural Cities kulturalität in Großbritannien setzt ein Verständnis and the Future of Racism. London. geographischer Zusammenhänge voraus. Dies ist an Lewis, P. (2007): Young, British and Muslim. London. Nayak, A. (2003): Race, Place and Globalization: Youth Cultu- mehreren Punkten deutlich geworden, z. B. daran, wie res in a Changing World. Oxford. bestimmte Gruppen und Orte mit ethnischen Stigmata Phillips, D. (2006): ‚Parallel Lives?‘ Challenging Discourses of versehen werden, oder daran, wie unterschiedlich das British Muslim Self-Segregation. In: Environment and Plan- Phänomen der ethnischen Segregation bewertet wird. ning D: Society and Space, 24 1, S. 25–40. Die zunehmende Bedeutung räumlicher Aspekte von Vertovec, S. (2007): Superdiversity and Its Implications. In: Ethnizität und Multikulturalität findet eine Entspre- Ethnic and Racial Studies 30, 6, S. 1024–1054. chung in der stärkeren Ausdifferenzierung und Theorie- orientierung der Debatte zentraler Begriffe und Kon- zepte (race, ethnicity). So hat die Diskussion über die Kategorien, die bei Volkszählungen herangezogen wer- den, um ethnische Unterschiede zu erfassen, deutlich gemacht, dass whiteness ein historisch und räumlich ver- ankerter Diskurs ist. Dies hat zu einer Infragestellung, 6.3 „The friendly eye in the sky“ – Neuordnungen der Städte durch Kontrollpolitik in Großbritannien 167 6 6.3 „The friendly eye in Zur Entwicklung der Video- the sky“ – Neuordnungen überwachung in Großbritannien der Städte durch Kontroll- Zu Beginn der 1990er Jahre gab es in verschiedenen politik in Großbritannien Städten und Gemeinden Großbritanniens erste lokale CCTV-Systeme. Für die anschließende, rasante Verbrei- tung, die im Rest der Welt ihresgleichen sucht, gibt es im Gesa Helms und Bernd Belina Wesentlichen zwei Gründe: eine „Moralpanik“ und „Surveillance is an inescapable part of life in the UK.“ Geldmittel seitens der Zentralregierung. Am 12. Februar 1993 wird in Bootle bei Liverpool der Mit dieser Feststellung beginnt der unlängst erschienene zweijährige James Bulger aus einem Einkaufszentrum Bericht des House of Lords (2009, S. 5), der sich unter entführt und anschließend ermordet. Kurz darauf kön- dem Titel Surveillance: Citizens and the State kritisch mit nen die beiden zehnjährigen Täter gefasst werden. Das verschiedenen Überwachungstechnologien und -politi- CCTV-System des Einkaufszentrums spielt für die Rele- ken in Großbritannien befasst. Neben der nationalen vanz dieses Verbrechens eine entscheidend Rolle – wenn DNA-Datenbank (in der über 7 % der Bevölkerung auch nicht in der vielleicht zu vermutenden und oft registriert sind, was weltweit den höchsten Wert bedeu- behaupteten Hinsicht. Denn die Aufklärung des Falles tet) und der umfangreichen Sammlung von personen- gelang nicht wegen der vorliegenden Videobilder, son- bezogenen Daten durch öffentliche Verwaltungen steht dern weil die Polizei von einem Nachbarn den Hinweis dabei die Videoüberwachung durch öffentliche und pri- auf Farbflecken an der Jacke eines der Täter erhielt, die vate Akteure im Vordergrund. In Großbritannien ist sich auch an der Leiche fanden. Auf den Aufzeichnungen hierfür der Begriff Closed Circuit Television (CCTV) der Videoüberwachungskameras, auf denen zu sehen ist, gebräuchlich, womit ein geschlossener Kreislauf von wie zwei Kinder mit einem Kleinkind das Einkaufszen- Sende- und Empfangsanlagen gemeint ist, der aus trum verlassen, konnten die beiden Entführer nicht Kameras und einer Überwachungszentrale mit Monito- identifiziert, mittels ihrer konnte lediglich der Tather- ren, Bedienungs- und Aufzeichnungstechnik besteht. gang innerhalb des Einkaufszentrums minutiös rekon- Die auf CCTV bezogene Feststellung, nach der die „bri- struiert werden. Sie wurden gleichwohl in der „Moral- tischen Bürger die meistüberwachten der Welt [sind]“ panik“, die dem Verbrechen folgte, vieltausendfach als (Norris und Armstrong 1999, S. 39), gilt auch nach zehn Foto in den Printmedien (Abb. 6.5) und als Film im Jahren nach wie vor. Inzwischen hat sich auch Grahams Fernsehen reproduziert. Mit „Moralpaniken“ werden im These bewahrheitet, nach der CCTV zum „fünften Anschluss an Arbeiten aus den 1970er Jahren öffentliche öffentlichen Versorgungsnetzwerk“ (1998, S. 107) neben Debatten bezeichnet, in denen bestimmte Personen oder Elektrizität, Gas, Wasser und Telefon avanciere, das zur Gruppen als von der Mehrheitsmoral abweichende folk Selbstverständlichkeit werde und die Gestalt der Städte devils porträtiert und über jedes Maß hinaus kriminali- maßgeblich beeinflusse. Laut David Maclean, dem briti- siert werden, weil sie als Indikator für den Zerfall der schen Innenminister von 1993 bis 1997, stellt CCTV für sozialen Ordnung angesehen werden. Eben dies geschah rechtschaffene Bürger kein Problem dar, sondern allen- nach dem Mord an James Bulger, und hierbei spielte falls für diejenigen, die Gesetze übertreten haben: CCTV eine entscheidende Rolle. Nach Hay (1995, „There is nothing sinister about it and the innocent have S. 201) wurde dieser Fall – im Gegensatz zu ähnlich nothing to fear. It will put criminals on the run and evi- schrecklichen, von Kindern begangenen Verbrechen – dence will be clear to see“ (The Times, 6.7.1994) gerade wegen der Videoaufzeichnungen zum Auslöser Gegenstand dieses Abschnitts sind die jüngere Ent- einer riesigen Moralpanik, in der es gelang, eine „verein- wicklung der Videoüberwachung – insbesondere des fachte Darstellung zu liefern, die ausreichend flexibel ist, öffentlichen Raumes – in Großbritannien, ihre Zwecke um eine Vielzahl düsterer Symptome zu ‚erzählen‘ und und (Miss-)Erfolge sowie ihr gesellschaftlicher und poli- gleichzeitig eindeutig Kausalität und Verantwortung tischer Rahmen. zuzuschreiben“ (ebd., S. 217). Inhalt der Moralpanik waren die „Jugendkriminalität“ und der „Niedergang der Familie“., 6 168 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht Abb. 6.6 Hinweis auf CCTV in einem Pendlerzug zwischen Liverpool und Manchester. Quelle: Wood 2008. wurden, kann von geschätzten 250 Mio. Pfund an öffentlichem Geld für CCTV für die zehn Jahre bis 2004 ausgegangen werden. Mitte der 1990er Jahre machte die Förderung lokaler CCTV-Systeme drei Viertel der gesamten Ausgaben der Zentralregierung im Bereich Kriminalprävention aus. Dies unterstreicht einerseits die hohe Bedeutung von Abb. 6.5 Die Entführung von James Bulger; CCTV-Aufnahme. CCTV und verweist andererseits darauf, dass sich für Städte und Gemeinden kaum andere kriminalpräven- tive Aktivitäten anboten. Ihnen, den Betreiberinnen der Bezüglich der Verbreitung von CCTV schätzen Norris, Mehrzahl der Systeme (House of Lords 2009, S. 18), McCahill und Wood (2004, S. 111) dieses Ereignis folgen- wurde CCTV von der Zentralregierung geradezu aufge- dermaßen ein: drängt. So kam es, dass nicht nur in Großstädten und im „It is possible that the diffusion of CCTV would have con- Rahmen von prestigeträchtigen Stadtentwicklungspro- tinued in this gradual manner, but in 1993, the fuzzy CCTV jekten (Abb. 6.7 und Abb. 6.8), sondern auch z. B. im images of toddler Jamie Bulger being led away from a Mer- seyside shopping mall by his two ten-year old killers placed mittelwalisischen Cardigan mit seinen stolzen 4 500 Ein- CCTV in the spotlight. These images were replayed night wohnern ein CCTV-System eingerichtet wurde, dessen after night on the national news, achieving an iconic status einzige Daseinsberechtigung dem Umstand geschuldet in the subsequent moral panic about youth crime. While zu sein scheint, dass seine Einrichtung vom Home Office CCTV had not managed to prevent the killing, the ghostly finanziert wurde. Die Hintergründe des CCTV-Systems images at least held out the prospect that the culprits der Kleinstadt Berwick-upon-Tweed (Abb. 6.9) kennen would be caught.“ wir zwar nicht, zu vermuten ist eine ähnliche Entste- hungsgeschichte. Doch wäre diese Moralpanik möglicherweise im Bezug Neben den enormen Summen, die seitens der Zen- auf CCTV folgenlos geblieben, hätte nicht das Home tralregierung für lokale CCTV-Systeme zur Verfügung Office (Innenministerium) 1994 begonnen, die Finan- gestellt wurden, hat auch die kompetitive Art und Weise zierung lokaler CCTV-Systeme zu unterstützen. Bis ihrer Verteilung den Boom weiter verstärkt. Denn um an 1999 wurden 38,5 Mio. Pfund für die Einrichtung von die zentralstaatlichen Gelder zu kommen, mussten 585 Anlagen ausgegeben, zwischen 1999 und 2003 wei- Anträge geschrieben werden, wobei sich in vielen Städ- tere 170 Mio. Pfund für 680 Anlagen. Daneben wurde ten neuartige Kooperationsstrukturen und einfluss- CCTV im Rahmen anderer Programme zur reiche Netzwerke von Polizei, Einzelhandel und Stadt- Kriminalitätsbekämpfung finanziell unterstützt. Hinzu verwaltung etablierten. Diese bestanden auch im Falle kamen Mittel seitens des lokalen Einzelhandels, von der Erfolglosigkeit des Antrags weiter, und weil sie auf Städten und Gemeinden sowie aus europäischen För- CCTV gegründet waren, blieben sie auch darauf fixiert. dertöpfen. Da zudem auch nationale Programme zur Dabei gilt es zu betonen, dass eine Zusammenarbeit der Förderung von CCTV an Schulen, Krankenhäusern und genannten Akteure in Großbritannien bis in die 1990er in öffentlichen Verkehrsmitteln (Abb. 6.6) aufgelegt Jahre hinein keine Selbstverständlichkeit war. So erfuh-, 6.3 „The friendly eye in the sky“ – Neuordnungen der Städte durch Kontrollpolitik in Großbritannien 169 6 Abb. 6.7 CCTV in Manchester. Quelle: Wood 2008. ren wir in Experteninterviews, die wir 2002 in Sheffield führten, dass die linke Labour-Stadtverwaltung bis in die 1980er Jahre hinein explizit nicht mit der Polizei zusammenarbeitete. Manche Beobachter gehen angesichts der beschriebe- nen Konstellationen so weit zu folgern, dass Kriminal- prävention bestenfalls der Anlass, nicht aber das Ziel der großflächigen Installierung von CCTV-Systemen ab 1994 gewesen sei. Städte und Gemeinden hätten es vor allem auf die zentralstaatlichen Fördermittel abgesehen gehabt und hätten ihr neu entdecktes Interesse an Kri- minalprävention nur vorgeschoben. Vor dem Hinter- grund, dass insbesondere die traditionell Labour-orien- tierten großen Städte während der konservativen Regierungen Thatcher und Major unter massiven Bud- getkürzungen sowie auch politischen Einflussverlusten zu leiden hatten, erscheint diese Einschätzung als zwar zugespitzt, jedoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Um die Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Mille- niums pegelt sich die Verbreitung seitens der öffent- lichen Hand betriebener CCVT-Systeme rein quantita- tiv betrachtet auf hohem Niveau ein. In qualitativer Hinsicht beginnt nun erstens eine Diskussion um Prob- leme mit den laufenden Kosten und der an vielen Orten anstehenden grundlegenden, kostspieligen Erneuerung der Systeme. Zweitens wird CCTV zunehmend als Bau- stein der „nationalen Sicherheitsarchitektur“ und des „Kampfes gegen den Terror“ betrachtet, insbesondere nach den Anschlägen vom 7.7.2005 in London. Wäh- rend die nationale Ebene bis dahin lokale CCTV-Sys- teme unterstützt hatte, wird mit der national CCTV stra- tegy eine landesweite Standardisierung und damit Zentralisierung angestrebt. So wird implizit die bishe- Abb. 6.8 CCTV in London, Docklands. Quelle: Wood 2006., 6 170 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht Abb. 6.9 CCTV in Berwick-upon- Tweed. Quelle: Wood 2005. rige, inkrementelle Praxis kritisiert, die zu einem Fli- untersucht. Hierbei konnte teils ein Rückgang der regis- ckenteppich lokaler CCTV-Systeme geführt hat. trierten Straftaten, teils keine Veränderung und teils deren Anstieg belegt werden. Das grundlegende Pro- blem dieser Art von Evaluierungen unter Verwendung

Zwecke und (Miss-)Erfolge von CCTV der polizeilichen Kriminalstatistik, in die alle angezeig-

ten Straftaten eingehen, liegt darin, dass Kriminalität Im Vorwort zur erwähnten national CCTV strategy (also Strafrechtsverstöße) ebenso wie jede andere Form schreibt der für Sicherheit zuständige britische Minister der Devianz (also von Normen abweichendes Verhalten) Tony McNulty: „I see CCTV as an important tool in the nicht etwas ist, das einem Akt innewohnt, sondern eine Government’s crime-fighting strategy“ (Gerrard et al. Qualität, die diesem Akt erst durch Institutionen der 2007, S. 4, [Übers. d. Hrsg.]). Hier – wie fast immer in Kontrolle zugeschrieben wird. Erst wenn ein Akt als öffentlichen Debatten – wird CCTV als Mittel der Kri- Rechtsbruch wahrgenommen und angezeigt und die minalitätsbekämpfung verstanden. Hierzu soll CCTV Anzeige auch aufgenommen wird, wird er zu polizeilich auf unterschiedliche Art und Weise beitragen, insbeson- gemessener Kriminalität. Deshalb dokumentieren Kri- dere indem es Menschen präventiv daran hindern soll, minalstatistiken nicht die Quantität von „Kriminalität“ Straftaten zu begehen, und bei begangenen Straftaten oder die „Kriminalitätsbelastung“, sondern das Anzeige- Beweismittel für Gerichtsverfahren liefern soll. Von offi- verhalten der Bevölkerung, die Kontroll- und Anzeigen- zieller Seite wird daneben häufig die Verbesserung des aufnahmepraxis der Polizei sowie – auf allgemeinerer „Sicherheitsgefühls“ der Bevölkerung genannt sowie, in Ebene – das gesellschaftliche Strafbedürfnis. Wo also jüngster Zeit, der „Kampf gegen den Terrorismus“. Selte- mittels Videoüberwachung eine intensivere Kontrolle ner genannt, in der Polizeipraxis aber von großer Bedeu- stattfindet, kann bei gleichbleibender realer Kriminali- tung, ist die Funktion der Videoaufnahmen „als Indi- tätsbelastung entweder durch die Entdeckung eines zien, als Hinweise, die auf die richtige Fährte führen g rößeren Teiles der Straftaten eine Zunahme der regis- oder Delinquenten – wenn während des Verhörs vorge- trierten Kriminalität eintreten; oder es kann zu einer legt – geständig machen“ (Töpfer 2009). Außerdem Abn ahme kommen, weil die Polizei den Ort wegen der wird CCTV bei der Einsatzleitung bei Großereignissen, Video überwachung als weniger kontrollierenswert ein - der Koordinierung der Streifentätigkeit und, von den schätzt. Polizeigewerkschaften häufig beklagt, zur Personalein- Wegen dieser Zusammenhänge wird in einer Meta- sparung eingesetzt (ebd.). Alle genannten Zwecke zielen Evaluierung vorliegender Evaluierungen der Effekte von in der einen oder anderen Weise auf die Bekämpfung CCTV auf die Kriminalitätsbelastung dafür plädiert, von Kriminalität ab. zusätzlich zu den polizeilichen Daten auch Viktimisie- Seit Beginn der Installierung von CCTV-Systemen rungssurveys heranzuziehen, also repräsentative Befra- wurden deren Effekte auf die Kriminalitätsentwicklung gungen, bei denen erhoben wird, wer wann Opfer wel-, 6.3 „The friendly eye in the sky“ – Neuordnungen der Städte durch Kontrollpolitik in Großbritannien 171 6 cher Art von Straftat wurde. Allerdings stehen auch sol- wachten Plätzen tun, aber deshalb noch lange nicht von che Studien vor demselben Grundproblem: Das, seinem Plan ablassen, sondern ihn eben anderswo in die was den Befragten widerfahren ist, werden sie nur dann Tat umsetzten. Die logische Konsequenz der Videoüber- als „Kriminalität“ zu Protokoll geben, wenn sie dem wachung ist also nicht die Verhinderung von kriminali- Geschehenen den Status „kriminell“ zuschreiben. Man- sierten Akten, sondern deren Verdrängung in andere, che Befragte mögen jeden disharmonischen Wortwech- nicht videoüberwachte Teile der Stadt. sel unter Mitmenschen als Beleidigung oder Nötigung Angesichts dieses Stands der Forschung bezeichnet wahrnehmen, sich also häufig als Kriminalitätsopfer etwa Webster (2009, S. 19) die Vorstellung, dass CCTV wähnen, andere hingegen mögen Schlägereien oder in Großbritannien ein Mittel der Kriminalpolitik sei, sexuelle Belästigung als Harmlosigkeit und nicht der dass mit ihm also Verbrechen im Sinne des Strafrechts Rede wert einschätzen und sich deshalb nie als Krimina- verhindert, verfolgt oder aufgeklärt werden sollen, als litätsopfer sehen. Mythos. Er verweist darauf, dass es sich bei CCTV um In einem ersten Versuch, neben polizeilichen Krimi- ein Mehrzweckinstrument handelt, dessen weitere Zwe- nalitätsdaten auch Viktimisierungssurveys einzubezie- cke kaum diskutiert würden, weil die Begleitforschung hen, kommen Farrington, Bennett und Welsh (2007) zu sich stets auf kriminalitätsreduzierende Effekte konzen- dem Ergebnis, dass in der videoüberwachten Gegend triere. Angesichts der wenig überzeugenden Daten nur die polizeiliche Kriminalstatistik, nicht aber die Vik- bezüglich der Kriminalitätsreduzierung werden von ihm timisierung anstieg, was sie als eine Zunahme der regis- und anderen Kommentatoren vor allem zwei Zwecke trierten bei gleichbleibender tatsächlicher Kriminalitäts- von CCTV diskutiert. belastung interpretieren. In einer größer angelegten Zum einen wird argumentiert, im Zentrum von Untersuchung von 14 unterschiedlichen CCTV-Syste- CCTV in Großbritannien stehe der „symbolic value that men, bei der ebenfalls (zumindest teilweise) mit Vikti- something was being done about the problem of crime“ misierungsdaten gearbeitet werden konnte, kommen sie (Norris, McCahill und Wood 2004, S. 123). Manche zu dem Ergebnis: „CCTV was effective in reducing cri- Kommentatoren gehen angesichts vorliegender Evaluie- mes in car parks but not in city centers or residential rungen ihrer kriminalpräventiven Erfolge (bzw. Misser- areas, seemed to be most effective in reducing vehicle folge) so weit, in der Videoüberwachung öffentlicher crimes but not other types of crimes, and may have been Räume ausschließlich Symbolpolitik zu sehen, die most effective when combined with improved lighting“ Handlungsfähigkeit demonstrieren soll und ansonsten (Farrington et al. 2007, S. 33). keine Auswirkungen hat. Die Ergebnisse dieser umfangreichen und metho- Zum anderen betonen viele Beobachter, dass der disch belastbaren Untersuchungen aus dem Home Zweck von CCTV sich im Lauf der Zeit de facto von Office, das seit Jahren Hauptgeldgeber und Befürworter Kriminalpolitik zu Ordnungspolitik verschoben hätte von CCTV ist, kommen also zu dem Schluss, dass CCTV (Webster 2009). Im Mittelpunkt stünde – auch in der nur in sehr begrenztem Ausmaß dazu beiträgt, ganz offiziellen Begründung von CCTV – nicht mehr nur bestimmte Formen von Kriminalität zu verhindern – die Bekämpfung von Strafrechtsverstößen, sondern und zwar gerade nicht die schweren Verbrechen gegen zunehmend die Durchsetzung einer Vorstellung von Leib und Leben, die beim Lob von CCTV üblicherweise öffentlicher Ordnung. Damit aber sind Bereiche ange- im Mittelpunkt stehen. sprochen, aus denen der Staat sich in westlichen Gesell- Die erwähnten und andere Studien versuchen häufig schaften zunehmend herausgezogen hatte, Fragen des auch, Verdrängungseffekte zu messen. Dies ist mit den Lebensstils nämlich, des Benehmens und Aussehens etc. vorliegenden Daten aus genannten Gründen wenig Durch den neuen Fokus auf Ordnungspolitik, die sich erfolgversprechend – Ab- oder Zunahmen der gemesse- um eben solche Themen kümmert, mischt sich der Staat nen Kriminalität in einem Raumausschnitt können alles wieder verstärkt in den Alltag seiner Bürgerinnen und Mögliche bedeuten. Ob sie dorthin verdrängt wurde Bürger ein, und zwar auch dort, wo sie sich an alle gel- oder nicht, geben sie nicht her. Der Umstand, dass tenden Gesetze halten. bestimmte innerstädtische Plätze videoüberwacht wer- den, ändert nichts an den Gründen, die Menschen haben, Straftaten zu begehen oder illegalisierte Substan- Hintergründe zen zu sich zu nehmen. Mit der Videoüberwachung wer- den lediglich die Rahmenbedingungen verändert, die es Den Hintergrund für die enormen Investitionen in beim Rechtsbruch zu berücksichtigen gilt. Wer einen CCTV in Großbritannien bilden die Folgen der Krise Mord begehen oder Heroin konsumieren will, wird das des Fordismus seit Beginn der 1970er Jahre und das dann zwar vermutlich nicht mehr an den videoüber- nach einigen Suchbewegungen vollzogene Einschwen-, 6 172 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht ken auf neoliberale Rezepte unter Thatcher. Eine wird hierbei als ein Maßnahmenbereich eingesetzt, mit Erscheinungsform der Krise war und ist der ökonomi- dessen Hilfe soziale Gerechtigkeit innerhalb der Stadt- sche Niedergang altindustrialisierter Städte und Regio- teile erreicht werden soll – insbesondere durch die nen, der ganze Stadtteile mit tendenziell überflüssig Bekämpfung von Ordnungsdelikten, die Lebensqualität gemachten (Armuts-)Bevölkerungen entstehen ließ, mindernde Straftaten sowie Gewalt- und Drogenkrimi- sowie – dort wie auch in den weniger hart getroffenen nalität. Obschon diese Politik also auf Integration Städten – der Verfall der Innenstädte als Folge der Sub- abzielt, beschränkt sie sich in der Praxis auf die Exklu- urbanisierung von Bevölkerung, Gewerbe und, etwas sion von „Störern“ der öffentlichen Ordnung und hat später, Konsum. Auf beide, teils durch die neoliberale, wenig gemein mit dem penal welfarism der 1970er Jahre, gegen sozialen und räumlichen Ausgleich gerichtete in dem nur diejenigen dem Strafsystem übertragen wur- Politik selbst hervorgebrachte Entwicklungen, wird mit den, die für eine sozialstaatliche Integration nicht Politiken reagiert, die auf Prävention und die Herstel- ansprechbar waren. lung öffentlicher Ordnung im oben genannten Sinn Da Kriminalpolitik stets nur im Zusammenhang mit abzielen. den größeren gesellschaftlichen Entwicklungen zu ver- Parallel zu Entwicklungen in anderen westlichen stehen ist (Garland 2001), sei deren unseres Erachtens Staaten lässt sich auch in Großbritannien eine Verstär- entscheidender Aspekt kurz im Bezug auf CCTV skiz- kung von Prävention und Risikominimierung feststel- ziert: die Politik der unternehmerischen Stadt. len. Situative Kriminalitätsprävention, die über die Da die Städte seitens der Zentralregierung einerseits Gestaltung von (gebauter) Umwelt und Gelegenheits- weniger finanzielle Mittel, andererseits zusätzliche Auf- strukturen Verbrechen verhindern will, hat in Großbri- gaben und Verantwortungen übertragen bekamen, tannien ihren Ursprung Anfang der 1980er Jahre in setzte sich in den 1980er Jahren ein neuer Typus städti- Thatchers Home Office und dessen Studien zur Effi- scher Politik durch, für den Harvey (1989) den Begriff zienz bestimmter Präventionsmethoden und -mittel. der unternehmerischen Stadt prägte. Ihm zufolge besitzt Anstatt als Basis von Kriminalpolitik die Ursachen von die wie ein Unternehmen geführte Stadt vier Möglich- Kriminalität zu erforschen, was regelmäßig zu dem keiten, sich zusätzliche Einkommensquellen zu erschlie- Ergebnis führt, dass diesen mit Kriminalpolitik nicht ßen: 1) Schaffung einer vorteilhaften Position in der beizukommen ist, sondern nur mit Sozialpolitik, Bil- internationalen Arbeitsteilung durch gute physische und dung, der Bekämpfung von Rassismus und Sexismus soziale Infrastruktur; 2) Anwerbung von Kontroll- und sowie mit materieller Umverteilung, beschränkte man Herrschaftsfunktionen im Finanzwesen, in der Verwal- sich nunmehr auf die Verhinderung von Tatgelegenhei- tung und im Technikbereich; 3) Anziehen hochwertiger ten. In dieser einfachen Logik wurde nur noch unter- Konsumption; 4) Erschließen von Fördermitteln. Wie sucht, was „funktioniert“. Wenn dies für die Verdrän- weiter oben betont, ist CCTV zunächst ein Fall von gung von Randgruppen oder die staatliche Herstellung Option 4. Da die Stadt im Rahmen von Option 3 „als ein von Ordnungsvorstellungen zutrifft, sind potenzielle innovativer, aufregender, kreativer und sicherer Ort negative Folgen dieser Vorgehensweisen unbedeutend. erscheinen [muss]“, fällt CCTV auch hierunter. Insbe- Gleichzeitig wurden die Strafen für überführte und ver- sondere der Aspekt des „Scheinens“ ist dabei zentral: urteilte Delinquenten verschärft. Ähnlich wie in den Während Kriminalität im engeren Sinn, wie gesehen, USA ist als Folge dessen auch das britische Justizsystem durch Videoüberwachung kaum bis gar nicht verhindert überlastet, und es werden Rufe nach neuen (und oftmals wird, kann mittels Symbolpolitik und Verdrängung privatisierten) Gefängnissen laut. Neben diesen Tenden- sichtbarer Unordnung (einschließlich unordentlich aus- zen zu Prävention und Ausschluss existiert innerhalb sehender Menschen) dieser Eindruck gleichwohl er - des Justizsystems weiterhin der emotionale Wunsch weckt werden. CCTV als Strategie zur Konsumsteige- nach Bestrafung. Letzterer wird vor allem in einem rung schlägt sich nieder in dem selektiven Blick der kommunitaristischen Kontext artikuliert, d. h., er wird Überwachungskameras, der nur bestimmte Straßen und als im Sinne der Gemeinschaft (community) dargestellt. Plätze erfasst und eine sehr ungleiche Geographie inner- Insbesondere innerhalb der sozialdemokratischen halb des öffentlichen Raumes britischer Städte hervor- Politik von New Labour werden beide Aspekte eng bringt. Mittels CCTV werden die Folgen neoliberaler m iteinander verknüpft. Soziale Gerechtigkeit und Politik in der Stadt sortiert und versteckt. Auf diese besonders soziale Integration (social inclusion) sind seit Weise können CCTV und andere lokale Maßnahmen Beginn der Labour-Regierung 1997 Leitthemen öffent- der Kriminal politik außerdem zu Option 1 und 2 bei- licher Diskussionen. Zu einem wesentlichen Teil stellt tragen, indem sie die Stadt für Investoren und Entschei- diese Politik eine Fortführung quartiersorientierter der angenehmer, einladender und sicherer erscheinen Stadterneuerungspolitik der 1960er Jahre dar. Sicherheit lassen („weiche Standortfaktoren“); dieser Punkt dürfte, 6.3 „The friendly eye in the sky“ – Neuordnungen der Städte durch Kontrollpolitik in Großbritannien 173 6 CCTV ist in dieser Hinsicht vor allem lokale Standort- politik. Dabei ist CCTV zwar die sichtbarste und teuerste, aber nicht die einzige Strategie, die störende Gestalten aus Innenstädten verdrängen soll. Hierzu gehören auch Verbote des Alkoholkonsums im öffentlichen Raum (Abb. 6.10) oder die Anti-Social Behaviour Orders (ASBOs), mittels derer Personen, die gegen die öffentli- che Ordnung verstoßen haben, Auflagen gemacht wer- den, denen etwa das Betreten bestimmter Räume verbo- ten werden kann (Abb. 6.11). Diese und weitere kriminal- bzw. ordnungspolitische Initiativen sind integraler Bestandteil der Stadtpolitik unter New Labour, die vor allem unter dem Titel der regeneration stattfinden. In groß angelegten Program- men wie dem New Deal for Communities und dem Housing Renewal Pathfinder wird der Fokus explizit auf die Umweltqualität gelegt, womit teilweise Fragen öko- logischer Nachhaltigkeit gemeint sind, großteils aber solche der environmental crime prevention, die nach Abb. 6.10 No drinking-Manchester. Quelle: Wood 2004. der Logik der oben genannten situativen Prävention funktioniert. Parallel zu diesen risikominimierenden Strategien werden solche mit Fokus auf öffentliche Ord- bei tatsächlichen Standortentscheidungen, zumal inner- nung verfolgt, in denen es um anti-social behaviour, halb eines Industriestaates wie Großbritannien, aller- Respekt und (durch Störer eingeschränkte) Lebensqua- dings bestenfalls eine marginale Rolle spielen. lität geht. Der Zusammenhang zwischen „Kriminalität“ Die Bedeutung der weiter oben diskutierten Zwecke und „Stadt“ ist damit in Großbritannien inzwischen der auf öffentliche Ordnung abzielenden Politik, die an einem Punkt angelangt, an dem der oberflächliche mittels CCTV in der Stadt ins Werk gesetzt werden, wird Fokus auf Risikominimierung und öffentliche Ordnung erst vor diesem Hintergrund deutlich. Sie werden er- zur unhinterfragten Wahrheit zentralstaatlicher und kennbar als Teil einer unternehmerischen Stadtpolitik, städtischer Politik geworden ist. Weil diese Politik an der die den lokalen Standort auf der einen Seite attraktiv Oberfläche verbleibt, so befürchten Kritiker, wird sie gestalten muss, dazu auf der anderen Seite aber nur Kriminalitätsprobleme mittelfristig eher verstärken als wenige tatsächliche Möglichkeiten in der Hand hat. tatsächlich bekämpfen. 2500 alle ASBOs 2000 ASBOs gegenüber 10- bis 17-Jährigen Abb. 6.11 Entwicklung der Anti-Social12222222Behaviour Orders (ASBOs) in England.99 00 00 00 00 00 0 09/ 1234506 07 Quelle: Home Office 2000 (http://www.crimereduction. homeoffice.gov.uk/asbos/asbos2.htm; Abruf: 27.08.2009)., 6 174 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht

Fazit Konflikten (Young 2007, S. 30–38), denen politisch mit

Kontrolle, Prävention und der Herstellung „öffentlicher CCTV ist ein wesentlicher Bestandteil der Städte in Ordnung“ begegnet wird. Großbritannien. Seine rapide Ausbreitung und heutige Auch wenn sowohl Inklusion als auch Exklusion Bedeutung haben, so lassen sich die vorliegenden For- schon immer Bestandteile staatlicher Kontrollpolitik schungen zusammenfassen, mit tatsächlicher Verhinde- waren – nichts anderes meint das bekannte Bild des rung und Aufklärung von Kriminalität nur am Rande zu i talienischen Philosophen Antonio Gramsci von der tun. Weit stärker geht es um gesellschaftliche Ängste, „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ –, so wäre das hierauf reagierende Symbolpolitik, um unternehmeri- Besondere an der aktuellen Situation die andauernde sche Stadtpolitik sowie den staatlichen und städtischen Verwischung vieler Grenzen – räumlicher, kultureller Umgang mit den Folgen des Neoliberalismus, die in den etc. – bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung und Verschär- Städten in Form einer Politik der öffentlichen Ordnung fung der Reichtumsgegensätze. In dieser Situation, so betrieben wird. Britische Städte werden u. a. mittels unser Fazit, bieten Methoden wie CCTV eine Möglich- CCTV räumlich neu geordnet, und auf diesem Wege, keit, in einer von Widersprüchen und Konflikten durch- also mittels Kontrollpolitik, geschieht dasselbe auch mit zogenen Gesellschaft flexibel Kontrolle auszuüben. gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen. Nach der revanchistischen und autoritären britischen Kriminalpolitik seit Ende der 1970er Jahre bedeutet dies Weiterführende Literatur eine Modernisierung und eine Ausweitung von Polizei- kompetenzen und Überwachungsinstrumenten unter Atkinson, R.; Helms, G. (Hrsg.) (2007): Securing an Urban der Labouradministration seit 1997. Das qualitativ Neue Renaissance. Bristol, S. 1–22. besteht in New Labours Fähigkeit, Sicherheitsempfin- Belina, B.; Helms, G. (2003): Zero Tolerance for the Industrial dungen und die Bedürfnisse von Kriminalitätsopfern Past and Other Threats: Policing and Urban Entrepreneuria- aufzugreifen und in ihre Variante einer Politik der sozi- lism in Britain and Germany. In: Urban Studies, 40, 4, alen Stadt (social inclusion, New Deal for Communities) S. 1845–1867. innerhalb umfangreicher Stadtumbauprogramme zu Töpfer, E. (2009): Videoüberwachung als Kriminalprävention? integrieren. Kernelement dieser Modernisierung ist die Plädoyer für einen Blickwechsel. In: Kriminologisches Jour- nal, 41, 4 (im Druck). Koppelung der sozialen Stadt an einen modernisierten Farrington, D. P.; Bennett, T. H.; Welsh, B. C. (2007): The Cam- underclass-Diskurs, der sich an neokommunitaristi- bridge Evaluation of the Effects of CCTV on Crime. In: Far- schen Gemeinschaftsbildern orientiert, die das (präven- rell, G.; Bowers, K.; Johnson, S.; Townsley, M. (Hrsg.): Ima- tive, exkludierende) Vorgehen gegen „antisoziale“ gination for Crime Prevention: Essays in Honor of Ken Bevölkerungsteile als Dienst an der Gemeinschaft dar- Pease. Monsey, S. 187–201. stellt. Farrington, D. P.; Gill, M.; Waples, S. J.; Argomaniz, J. (2007): Young (2007) bezeichnet diese neue Form gesell- The Effects of Closed-Circuit Television on Crime: Meta- schaftlicher Integration und gleichzeitiger selektiver Analysis of an English National Quasi-Experimental Multi- Exklusion als „bulimische Gesellschaft“, die Individuen Site Evaluation. In: Journal of Experimental Criminology, 3, in unstillbarem Hunger mittels Erziehung, Medien und 1, S. 21–38. Garland, D. (2001): The Culture of Control. New York. Marktwirtschaft in sich hineinfrisst, ihnen dabei einen Gerrard, G.; Parkins, G.; Cunningham, I.; Jones, W.; Hill, S.; „normalen Lebensstil“ suggeriert, den allermeisten aber D ouglas, S. (2007): National CCTV Strategy, London die Mittel vorenthält, diesen wirklich werden zu lassen, (http://www.crimereduction.homeoffice.gov.uk/cctv/ und sie deshalb als Störende, Antisoziale und Verbrecher National%20CCTV%20Strategy%20Oct%202007.pdf, Abruf: wieder ausscheidet, exkludiert. Dabei ist keine eindeu- 28.06.2009). tige Trennung vorzunehmen zwischen In- und Exklu- Graham, S. (1998): Towards the Fifth Utility? On the Extension dierten, keine räumliche, da die Mittel- und Ober- and Normalisation of Public CCTV. In: Norris C.; Morgan, J.; schichten von den Dienstleistungen der Unterschicht Armstrong, G. (Hrsg.): Surveillance, Closed Circuit Televi- abhängen, wegen derer diese tagtäglich aus den Ghettos sion and Social Control. Aldershot, S. 89–111. in die wohlhabenden Stadtteile kommen, und auch Hall, S.; Critcher, C.; Jefferson, T.; Clarke, J.; Roberts, B. (1978): Policing the Crisis. London. keine des kulturellen Bezugssystems, das alle gleicher- Harvey, D. (1989) From Managerialism to Entrepreneurialism: maßen aus den Massenmedien beziehen. Eben weil The Transformation in Urban Governance in Late Capita- Arme und Reiche denselben, medial verbreiteten lism. In: Geografiska Annalers, 71 B, S. 3–17. Lebensstil anstreben und weil sie also nicht in parallelen Hay, C. (1995): Mobilization Through Interpellation: James Bul- Welten nebeneinander leben, sondern sich andauernd ger, Juvenile Crime and the Construction of a Moral Panic. begegnen, kommt es in den Städten zu Ängsten und In: Social & Legal Studies, 4, S. 197–223., 6.4 Von der sailor town zu schicken Quais 175 6 Helms, G. (2008): Towards Safe City Centres? Aldershot. Körperlich anstrengende, gefährliche und schmutzige House of Lords (2009): Surveillance: Citizens and the State. Hafenarbeit und die hafennahen Wohnquartiere der Vol. I: Report. London. „Docker“ wurden durch Büroarbeitsplätze und hoch- Norris, C.; Armstrong, G. (1999): The Maximum Surveillance preisige Wohnprojekte „ersetzt“. Society. Oxford/New York. Norris, C.; McCahill, M.; Wood, D. (2004): The Growth of CCTV: A Global Perspective on the International Diffusion of Video Historische Rahmenbedingungen Surveillance in Publicly Accessible Space. In: Surveillance & Society, 2, 2/3, S. 110–135. der Hafenentwicklung Webster, W. (2009): CCTV Policy in the UK: Reconsidering the Evidence Base. Surveillance & Society, 6, 1, S. 10–22. Großbritannien weist als Insel eine relativ lange Küsten- Welsh, B. C.; Farrington, D. P. (2002): Crime Prevention Effects linie mit vielen Häfen auf. Kein Ort in England liegt of Closed Circuit Television: A Systematic Review. London. mehr als 120 km vom Meer entfernt (Abb. 6.12). Um Williams, K. S.; Johnstone, C. (2000): The Politics of the Selec - 1870 gab es in Großbritannien 110 Häfen, 1960 wurden tive Gaze: Closed Circuit Television and the Policing of für die Zollstatistik 112 gezählt, von denen aus Handel Public Space. In: Crime, Law & Social Change, 34, 1/2, S. 183–200. mit dem Ausland betrieben wurde (Bird 1963, S. 21). Young, J. (2007): The Vertigo of Late Modernity. London. Dabei sind unterschiedliche geographische Gegebenhei- ten, Spezialisierungen und Betreiberformen zu unter- scheiden. Die bedeutendsten Häfen (London, Liverpool, Newcastle, Belfast, Glasgow) liegen im Mündungsbe- 6.4 Von der sailor town zu reich größerer Flüsse, andere wiederum sind mittels schicken Quais – Trans- Kanälen mit der See verbunden (Manchester–Salford) und andere Häfen liegen direkt an Küstenbuchten (Hull, formationsprozesse in Southampton, Portsmouth, Cardiff, Dundee). Der See-,

Hafenstädten und ihre Küsten-, Fluss- und Kanalschifffahrt und den entspre-

chenden Häfen kam stets eine große Bedeutung zu.

Rahmenbedingungen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde über die Hälfte des

britischen Imports über London und Liverpool abgewi- ckelt. Andere Häfen waren auf Handel mit bestimmten Dirk Schubert Regionen (Hull: baltischer Raum), besonderen Gütern Seit den letzten Dekaden des letzten Jahrtausends zeich- (Cardiff: Kohle „Coal Metropolis“, Liverpool: Baum- net sich – nicht nur in Großbritannien – ein rascher wolle), Schiffbau (Glasgow), Fischerei (Grimsby), Passa- Wandel in innenstadtnahen älteren Hafenbereichen ab. gierschifffahrt (Southampton) oder Marine (Ports- Diese Areale, zuvor von Warenumschlag und Hafennut- mouth) spezialisiert. Während die Häfen in einigen zungen dominiert, werden neuen Nutzungen zugeführt. Orten nicht die lokale Ökonomie dominierten (Lon- Die Waterfronts sind begehrte Standorte für Büros, don), gab es in anderen starke Abhängigkeiten: In Car- Wohnungen, touristische Einrichtungen sowie für diff und Merseyside waren zwischen 30 und 50 % der „Leuchtturmprojekte“ und werden gezielt von Yuppies, Beschäftigten vom Hafenbetrieb und von Zuliefererge- Dinks und den creative classes nachgefragt. Diese Trans- werben abhängig. formationen stehen paradigmatisch für ähnliche Kon- Sehr unterschiedlich ausgeprägt waren in den See- versionen im Kontext des Übergangs von der industriel- häfen auch die Eigentumsverhältnisse und die Betrei- len (Hafen-)Stadt zur postindustriellen Stadt der berstrukturen. Neben privaten Dockgesellschaften gab Wissensgesellschaft. Die Umbauprozesse an den Hafen- es kommunale/öffentliche Eigentümer, Trusts und häu- und Uferzonen sind nur zu verstehen vor dem Hinter- fig auch Bahngesellschaften als Eigentümer und Betrei- grund globaler Restrukturierungen, die teilweise drama- ber der Kais und Hafenanlagen. Vor dem Hintergrund tische Veränderungen des stadträumlichen Kontexts von der Industrialisierung und Urbanisierung zu Beginn des Stadt und Hafen bewirkt haben. Auch in den britischen 19. Jahrhunderts sowie der raschen Zunahme und Inter- Häfen lassen sich Trends der Entkopplung von Um - nationalisierung des Handels galt es, unter erheblichem schlag und Wertschöpfung belegen. Die Arbeit im Hafen Zeitdruck kostspielige infrastrukturelle Weichenstellun- hat sich qualitativ verändert, und die Hafenstandorte gen vorzunehmen, die bis heute für Stadt- und Hafen- haben sich räumlich – in der Regel seewärts – verlagert. entwicklung nachwirken. Die Schnittstellen zwischen Hafen und Stadt weisen gra- Integraler Bestandteil des Hafengefüges waren auch vierende Veränderungen von Flächennutzungen, wirt- „besondere“ hafennahe Viertel (sailor towns). Höchst schaftlichen Aktivitäten und baulichen Strukturen auf. international orientiert bildeten sie ein Konglomerat aus, 6 176 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht Abb. 6.12 Britische Seehäfen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Quelle: Gordon Jackson, The History and Archeology of Ports, Kingswood 1983, S. 32. einer Fülle von Funktionen und Dienstleistungen, das Schlüssel zum Verständnis der britischen Wirtschaft und Geschäfte für Bekleidung, Genussmittel und Souvenirs, auch des britischen Lebens. Von den Siegen über kon- Seemannskirchen, Unterkünfte, Wirtshäuser, Tätowier- kurrierende Kolonialmächte im 18. und 19. Jahrhundert stuben, Tanzpaläste und Bordelle umfasste. Jüdische, hatte unter den englischen Häfen London den größten chinesische, schwarze und dunkelhäutige Menschen Nutzen. Sein Aufstieg ist verknüpft mit der Ausbreitung anderer Kulturen waren mit ihren Lebens-, Ess-, der britischen Weltherrschaft. London wurde Beherr- Arbeits- und Wohnweisen in Seehäfen längst präsent, scher des Welthandels und war im Jahr 1801, dem während sie im Binnenland noch als „exotisch“ bestaunt Datum des ersten Zensus, mit einer Bevölkerung von wurden. Hafenviertel galten zudem als „gefährlich“ und 1,12 Mio. Menschen die größte Stadt der Welt. Die hatten häufig den Ruf unsicher und „unmoralisch“ zu Hafenstädte wurden zu Kulminationspunkten von Neu- sein, bildeten sie doch erste „Trittsteine“ für die Neuan- erungen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Sie kömmlinge, die Optionen für die Herausbildung infor- können als Orte gelten, wo Phänomene der späteren meller und ethnischer Ökonomien eröffneten. Globalisierung vorweggenommen wurden. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurden die größeren Schiffe vorwiegend im Strom mittels Schuten Ursprünge der Häfen be- und entladen. Von den Schuten wurden die Waren dann landseits weiter verladen oder in Speicher ver- Großbritannien ist ein Inselstaat mit starker Abhängig- bracht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden die keit vom Welthandel. In den Häfen liegt daher der ersten Typen von tideabhängigen Schiffsanlegeplätzen,, 6.4 Von der sailor town zu schicken Quais 177 6 bei denen die Schiffe nicht mehr im Strom gelöscht wur- Dauerte die Entladung eines Schiffes zuvor häufig einen den. Die Uferbereiche waren mit Gebäuden, die vom Monat, war sie nun in drei bis vier Tagen zu bewerkstel- Wasser aus erreichbar waren, fast vollständig besetzt. ligen. Zudem waren die Waren gegen Witterungsein- Zur vielfachen Überlastung der Hafenbassins kamen flüsse und Diebstahl geschützt. landseitige Staus auf den Straßen hinzu. Aufgrund feh- Nicht nur in London war der Hafenbetrieb bis lender Lagerkapazitäten wurden Waren offen auf dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts privatwirtschaftlich Kai oder in Leichtern gelagert. organisiert. Verschiedene Handelsgesellschaften betrie- Mit dem Bau der Docks – künstlich angelegten ben unabhängig voneinander Dockanlagen, bauten, Hafenbecken mit Schleusen – ab 1800 wurde der erweiterten und betrieben Umschlags- und Lagerein- Grundstock für die weitere Expansion der britischen richtungen. Diese privatwirtschaftliche Organisation Häfen gelegt. Zwei Gründe führten zu Beginn des 19. führte zu erheblichen Unzulänglichkeiten. Eine überge- Jahrhunderts zu der Neuerung der Dockhäfen. Die ordnete und vorausschauende Hafenentwicklungspla- wertvollen Güter auf den Schiffen und an Land waren nung gab es nicht, sondern nur konkurrierende Unter- zuvor nur unzureichend gegen Diebstahl geschützt. Spe- nehmensstrategien. Chaotische Zustände und fehlende zialisierte Gangs, „River Pirates“, „Night Plunderers“ oder unzureichende Infrastrukturen waren die Folge. und „Mudlarks“ betrieben organisierten Diebstahl. Einst modernster Hafen der Welt, war auch der Londo- In London wurden seit 1800 hohe Mauern zum ner Hafen durch überholte Strukturen und Vernachläs- Schutz der wertvollen Güter angelegt. Mit den Docks sigung von Modernisierungen um die Wende zum 20. war es außerdem möglich, den großen Tidenhub von Jahrhundert nicht mehr auf dem neuesten Stand der über6mauszugleichen und damit das Be- und Entladen Technik und Organisation. der Schiffe zu beschleunigen und zugleich sicherer zu machen. Entsprechend dem Stand der Hafenbautechno- logie und der Schiffsgrößen entstanden zunächst klei- Unzulänglichkeiten und Veränderungen nere Docks, später wurden größere Dockkomplexe der Hafenarbeit meist flussabwärts gebaut. Hafenbetrieb, -planung und Güterumschlag wurden nicht von den Städten, sondern Mit dem Bau der Docks waren auch neue Arbeitsteilun- privatwirtschaftlich organisiert. Häfen wie Liverpool, gen und eine ausdifferenzierte Klasse von Hafenarbei- Lancester, Plymouth , Grimsby, Hull, Newhaven und tern entstanden. Die Arbeit der Docker unterschied sich Glasgow folgten dem Londoner Vorbild mit dem Bau zwar zunächst qualitativ nicht von jener Arbeit, die von Dockhäfen, wo die bedeutenden Handelsgesell- zuvor darin bestanden hatte, Schiffe zu be- und entla- schaften ihre eigenen Infrastrukturen errichteten und den. Aber Umfang und Intensität der Arbeit nahmen zu, ihre betrieblichen Abläufe optimierten. und die stadtfernere Lage der Docks brachte neue Ent- So entstand nach 1800 die Konzeption, künstliche wicklungen mit sich. Während bis zum Beginn des 19. Hafenbecken als Einheit mit Speichern und Schutzmau- Jahrhunderts die Schiffsanlegestellen innenstadtnah ern anzulegen. Die Schiffe mussten eine Schleuse passie- gelegen waren, lagen die neuen Docks weiter entfernt ren und konnten dann bei konstantem Wasserstand be- von bestehenden Wohnquartieren. Um häufiger, je nach und entladen werden. Die Dockbereiche waren nur Arbeitsanfall „vor Ort“ zu sein, war es wichtig, in der durch einen Zugang erreichbar. Unbefugten war der Nähe der Docks zu wohnen. Zugang zum Gelände verwehrt, und alle Passanten und Hafenarbeiter wurden kontrolliert. Die Zollmodalitäten Während in Deutschland Docks als Werftanlagen zur Tro- wurden an den Eingängen der Docks erledigt, und die ckenlegung von Schiffen bezeichnet werden, sind im Engli- Firmen unterhielten firmeneigene Polizei und Wach- schen die Kais zum Laden und Löschen von Schiffen damit mannschaften. Die Docks übten zugleich eine Schutz- ums chrieben. Docker und stevedores sind Bezeichnungen funktion für die Schiffe aus. Die Dockgruppen hatten für qualifizierte Hafenarbeiter an den Kais. Werftarbeiter eigene Verwaltungen, die Bau, Finanzierung, Betrieb werden als shipyard-worker bezeichnet. und Bewirtschaftung organisierten. Monopole sicherten den Gesellschaften eine Verzinsung des hohen eingesetz- Der saisonabhängige Umfang und die Art des Waren- ten Kapitals für den Bau der Dockanlagen. umschlages, bedingt durch Erntezeiten in Übersee, „Ich kenne nichts Imposanteres als den Anblick, den Winde, Gezeiten und Nebel, machten die Ankünfte der die Themse darbietet, wenn man von der See nach Schiffe bis zum Ende des Segelschiffzeitalters kaum London Bridge hinauffährt“, schrieb 1845 bewundernd planbar und für die Hafenarbeiter eine Dauerbeschäfti- Friedrich Engels (1845, S. 256). Der Bau der Docks gung unmöglich. Die Überkapazitäten im Hafen und die ermöglichte eine Beschleunigung des Güterumschlags. Konkurrenzsituation der Dockgesellschaften wurden bis, 6 178 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht ins 20. Jahrhundert als Druckmittel auf die Hafenarbei- erhofften. Da der Hafen eine Vielzahl von Beschäfti- ter benutzt, die Umschlagsarbeiten als Gelegenheitsar- gungs- und Arbeitsmöglichkeiten bot, waren hafennahe beiten für Hungerlöhne durchführen mussten. Um 1850 Wohnungen sehr begehrt. gab es hinreichend Beschäftigung im Hafen in London Die hohen Mauern um die Docks bildeten nicht nur für ca. 4 000 Personen, aber ca. 12 000 Personen waren eine physische, sondern auch eine mentale und soziale auf Arbeit im und am Hafen angewiesen. 1892 ergaben Barriere. Der Zugang zum Wasser war verstellt, kon- sich in der Untersuchung von Charles Booth folgende trolliert und nur den Hafenarbeitern gestattet. Die Relationen: 21 353 Arbeiter suchten regelmäßig Arbeit Männerwelt der Docks bildete mit ihrem Umfeld die im Hafen nach, die maximale Beschäftigung täglich lag Keimzelle von prekären Einkommensmöglichkeiten. Sie bei 17 994, die minimale bei 11 967 Personen. korrespondierte mit der weiblichen Lebenswelt der Mit dem fluktuierenden Arbeitskräftebedarf hatte Wohnungen, überbelegten Quartieren, von Nebener- sich ein entsprechendes Anstellungssystem herausgebil- werbsmöglichkeiten, von Netzwerken der Selbsthilfe det. Dies bestand darin, dass die Arbeitswilligen sich und Subkulturen. Die Gelegenheitsarbeiten am Hafen mehrmals täglich auf dem Dockgelände versammelten boten vielen Arbeitssuchenden ein spärliches Auskom- und dort gegebenenfalls von einem Vormann für eine men, einen ersten (Teil-)Einstieg in den lokalen Arbeits- Arbeit angeheuert wurden. Dieses „Call-on-System“ und Wohnungsmarkt und ließen auf eine sicherere machte es den Arbeitgebern bei der großen Zahl der Arbeit später hoffen. Arbeitssuchenden leicht, die Löhne niedrig zu halten. Die Dockgesellschaften vergaben teilweise Arbeiten an „Subunternehmer“, die wiederum die Arbeiter noch William B. Jerrold und Gustave Doré beschrieben diesen Mikrokosmos 1872 folgendermaßen: „Die Docks [...]. Hier skrupelloser behandelten. Die Docker suchten sich zeigt sich London von einer seiner großartigsten Seiten. [...] gegen die schlechte Bezahlung und das willkürliche Der Anblick des Beobachters, der gerade die langweilige Anwerbesystem zu wehren. Die Unzulänglichkeiten der äußere Mauer des großen Docks entlang gelaufen ist und Arbeitsorganisation und die niedrigen Löhne hatten sich dort den niedrigen und schäbigen Geschäften gegen- immer wieder zu Arbeitskonflikten im Hafen geführt. übersah, die den Erzfeinden des armen Matrosen gehören Der große Hafenarbeiterstreik 1889 hatte die Situation [...]. Shadwell: Straßenzüge mit Gebäuden, die von Armut eskalieren lassen. Streikbrecher wurden von den Schiff- gekennzeichnet sind; geräuschvolle Kneipen und Bierlokale fahrtslinien und Dockgesellschaften nach London [...] alles durchzogen von Trunkenheit [...] entlang der Stra- gebracht, um den Widerstand der Docker zu brechen. ßen, die Dock mit Dock verbinden, [...] wo der Reichtum des Die nach dem Streik erreichten Lohnverbesserungen Orients auf unsere Ufer geworfen wird. [...] das Geld, das auf Nachtwachen in den Nordmeeren und auf den kammlo- und die verbesserte Stellung der Gewerkschaften hielten sen, schwarzen Wogen der Ostsee verdient wurde, freigie- allerdings nicht lange an. big und unbedacht ausgegeben. [...] Ein Spaziergang im Mit dem Größenwachstum der Schiffe und der Um - Dunkeln am Fluss entlang ist ein Unterfangen, das Vorsicht stellung zur Dampfschifffahrt wurden immer größere gebietet und nur in sicherer Begleitung geschehen sollte“ Dockanlagen erforderlich. Die Umstellung auf mecha- (zit. nach Kohl, 1979, S. 260). nische Entladungssysteme erfolgte in London äußerst langsam – nicht zuletzt wegen der billigen Arbeitskräfte. Viele alte Traditionen der Hafenarbeiter, die teilweise über drei Generationen hinweg ähnlichen Arbeiten Neue Techniken im nachgegangen waren, sollten bald der Vergangenheit Güterumschlag, das Ende angehören. der Docks und einer Lebenswelt Lebens- und Wohnbedingungen Um 1914 arbeiten in London ca. 20 000 Personen täglich der Hafenarbeiter in den Docks; die Zahl der weiter mittelbar vom Hafen abhängigen Arbeitsplätze ist schwierig zu beziffern. Die Hafenviertel bildeten einen Flickenteppich und ein Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich die unzu- Nebeneinander von Hafenanlagen, Infrastrukturen, längliche und veraltete Infrastruktur vieler britischer Pubs, Jobvermittlungen, Läden und Wohnungen der Häfen herausgestellt. Die überkommenen Docksysteme „kleinen Leute“. Der Hafen war der Ankunftsort für See- wurden auch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg leute, die eine neue Heuer oder an Land bessere Lebens- kaum verändert. Die Kräne waren veraltet und genügten und Einkunftsmöglichkeiten suchten, wie für Flücht- nicht den modernen Ansprüchen des Güterumschlags. linge, die hier Schutz vor Verfolgungen und Progromen Vielfach war kein direkter Umschlag vom Schiff zum Kai, 6.4 Von der sailor town zu schicken Quais 179 6 möglich, und es mussten Leichter eingesetzt werden, die Gewerbe nach sich (Abb. 6.13). „For every docker made den Umschlag verlangsamten und verteuerten. Viele redundant by riverside revolution, three workers in the Docks hatten keinen Eisenbahnanschluss, und auch die dock-related industries lost their jobs“ (Palmer, 2000, Straßenanbindungen waren unzulänglich. S. 160). Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Perspek- Erst während des Zweiten Weltkrieges wurde die tivlosigkeit prägten die Hafengebiete, wo einst der Wohl- Anmeldepflicht für Hafenarbeiter eingeführt. 1947 stand Englands erwirtschaftet worden war. Zwischen folgte dann die Einführung des National Dock Labour 1961 und 1971 gingen über 80 000 Arbeitsplätze in den Scheme (NDLS), das in 83 größeren Häfen Großbritan- Londoner East-End-Bezirken, in den Docklands zwi- niens angewandt wurde. Es gab damit eine Eintragungs- schen 1978 und 1983 noch einmal 12 000 Arbeitsplätze pflicht für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, was eine verloren. 1981 waren 60 % der Fläche der Londoner Begrenzung der Gesamtzahl der Hafenarbeiter ermög- Docklands ungenutzt. lichte. Nur die registrierten Docker durften Hafenarbeit Die Raumanforderungen des zunehmend containeri- verrichten. Ein Mindestlohn für alle Docker, die sich sierten Güterumschlags waren in den Docks mit den regelmäßig zur Arbeit einfanden (auch wenn keine schmalen Fingerpiers nicht mehr zu gewährleisten. Arbeit vorhanden war), wurde festgelegt, medizinische T iefere Lager- und Dispositionsflächen wurden landseits Versorgung gesichert und eine zentrale Vermittlungs- für den Containerumschlag erforderlich. Die Schleusen- stelle eingerichtet. Die weitere Mechanisierung des einfahrten in die Docks waren zudem für die Container- Hafenumschlags – zunächst mit Gabelstaplern – führte schiffe zu eng, und die älteren Docks waren nur unzurei- zu einem schnellen Rückgang der Arbeitsplätze für chend in das innerstädtische Verkehrsnetz eingebunden. Docker. Viele Hafenarbeiter hatten allerdings auch Nach der Reorganisation der britischen Häfen bildet Schwierigkeiten, sich an geregelte Arbeitszeiten zu ge- wöhnen und beliebte Gewohnheiten, z. B. Lebens-, Essens- und Trinkgewohnheiten, aufzugeben. In Großbritannien wurden 1947 von der Labour- Regierung die Häfen, die sich im Eigentum von Eisen- bahngesellschaften befanden – wie auch alle privaten Eisenbahnen – verstaatlicht. 1981 wurde die privatrecht- lich organisierte Associated British Ports (ABP) geschaf- fen, die nun die zuvor verstaatlichten Häfen übernahm und sie schließlich sukzessive privatisierte. Neben der Organisation des Hafenbetriebs betrieb ABP zunächst nur die Vermarktung frei werdender Hafengrundstücke, bald aber auch anderer Grundstücke und Immobilien. Nicht die Gemeinden „vor Ort“ (local authorities), son- dern die Verwertungsinteressen von Kapitalgesellschaf- ten entschieden damit über Art und Umfang von städte- baulichen Vorhaben in den Häfen. Seit den 1970er Jahren beförderte die „Containerisie- rung“ des Güterumschlags den raschen Niedergang vie- ler britischer Häfen. Zwischen 1945 und 1955 gab es 37 Streiks der Hafenarbeiter, die sich vor allem gegen den Abbau der Arbeitsplätze richteten. Ein nationaler Streik der Dockarbeiter legte 1970 für drei Wochen alle briti- schen Häfen lahm. Die Hafenarbeiter erkämpften für die Stammarbeiterschaft feste Anstellungen und durch- gehende Bezahlung. Nach dem Streik 1989 wurde die Anzahl der Beschäftigten in britischen Seehäfen insge - samt von 9 319 auf 4 830 halbiert. 1989 wurde das NDLS wieder abgeschafft und die Deregulierung der Beschäfti- gungsverhältnisse vorangetrieben. Die Schließung vieler Hafenanlagen zog in allen See- hafenstädten den Konkurs von Industrien, Werften, Abb. 6.13 Hafenidylle, London Isle of Dogs um 1980. Quelle: Reparaturbetrieben, Schiffsausrüstern und weiterer Mike Seaborne in Bentley 1997, S. 85., 6 180 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht ABP mit einem Zusammenschluss von 21 britischen einer raschen Umstrukturierung der Docklands. Die Häfen inzwischen die größte Gruppe von Hafenbetrei- Konservativen begriffen diese radikale Modernisierung bern, davon zwölf Häfen mit Containerterminals. als nationale Aufgabe, die auf lokaler Ebene nicht mög- lich sei. Betrug der Anteil des kommunalen Wohnungs- baus in den Londoner Docklands 1981 noch über 80 %,

Von den Docks zu den Docklands

so lag der Anteil der Eigentumswohnungen damals unter 10 %. Zehn Jahre später lag ersterer Anteil bei nur Vernachlässigte Modernisierungen und dringend erfor- noch 25 %, während der Eigentumssektor bereits über derliche Infrastrukturinvestitionen setzten viele Hafen- 50 % ausmachte. Dabei stiegen die Preise für Eigen- betreiber, auch die Hafenbehörde Port of London tumswohnungen allein zwischen 1984 und 1988 um Authority (PLA) unter Druck, neue Geldquellen zu durchschnittlich 200 %. Das Angebot ging damit an der erschließen. Der Verkauf der ehemaligen Hafenareale lokalen Nachfrage vorbei. Inseln des Luxuswohnungs- erschien der PLA dabei als eine lukrative Perspektive. baus entstanden am Wasser neben alten Sozialwoh- Allerdings stieß diese Umwandlung auf heftige Proteste nungsbauten (Abb. 6.14). Die Umstrukturierung der der lokalen Bevölkerung. Die besonderen Sozialbezie- Docklands und die Politik der London Docklands Deve- hungen und Netzwerke der Hafenarbeiter wurden lopment Corporation (LDDC) lässt sich in mehrere bedeutungslos. Sozialgruppen, die einst mit der boo- Phasen einteilen, bei denen die Schwerpunkte unter- menden Weltökonomie und dem Aufstieg des Hafens schiedlich akzentuiert waren (Abschnitt 4.4). verbunden waren, fühlten sich durch die mit der raschen Die Hafengebiete östlich der Tower Bridge galten als Globalisierung verbundene Revolutionierung der Trans- schmutzige Arbeiter- und Hafengegend mit schlechten porttechnologien isoliert, vergessen, verlassen und einer Verkehrsanbindungen. Durch eine aggressive Werbe- ungewissen Zukunft ausgesetzt. Noch 1980 hatten 40 % kampagne und neue Namensgebungen für alte Einrich- der Bevölkerung im Hafenbereich der Londoner Isle of tungen suchte man das Image aufzuwerten. „Why move Dogs seit Jahrzehnten hier gelebt. Die „Insulaner“ bilde- to the middle of nowhere when you can move to the ten eine Gemeinschaft, ein „Dorf in der Stadt“, wo jeder middle of London“ hieß es in der Werbung Anfang der jeden kannte. 1980er Jahre; später wurde der Slogan „Looks like Zur zügigen und ungehinderten Durchführung von Venice. Feels like New York“ geboren. Die intendierte Entwicklungsprojekten (property-led development) wur- Renaissance des East End wurde mit kuriosen Werbe- den nach der Regierungsübernahme von Margaret kampagnen untermauert. So wurde ausgeführt, dass es Thatcher 1979 Enterprise Zones für heruntergekom- im Osten Londons mehr Golfplätze geben würde als im mene Gewerbe- und Hafenbereiche eingeführt, wo mit Westen Londons. Steuernachlässen oder Steuerfreiheit Investitionen ange- Das Konzept der Deregulierung löste in der Folge regt werden sollten. Urban Development Corporations eine rasante Entwicklung in den Docklands aus. Die sollten eine unkomplizierte und rasche Umstrukturie- physische Regeneration sollte seit Ende der 1980er Jahre rung der Vorhaben auf den Weg bringen. Räumliche – so zumindest politischen Verlautbahrungen zufolge – Planung wurde fast bedeutungslos, und mit Privatisie- durch eine soziale Regeneration ergänzt werden. Die rung, Deregulierung und Zentralisierung wurden neue Entwicklungsgesellschaften sicherten den Bezirken ver- Governance-Strukturen eingeführt (Abschnitt 7.4). traglich Arbeitsplätze und neue, preiswerte Wohnungen Die Londoner Docklands bildeten das Schlüsselexpe- für die lokale Bevölkerung zu. Planning gains wurden riment der freien Marktwirtschaft, das Juwel in der ausgehandelt. Krone, das Flaggschiff einer deregulierten, marktorien- Für die „alten“ Bewohner der Docklands und ihre tierten Transformation. Früher und radikaler als sonst tradierten Milieus entpuppten sich die Versprechungen in Europa wurde damit auf die neuartigen Macht- und einer besseren Zukunft als Alptraum. Die Vorzüge der Konkurrenzverhältnisse im Kontext der Globalisierung Lage am Wasser, die Waterfront und das „Hafenam- reagiert. Dieser Paradigmenwechsel brach mit dem bri- biente“ wurden rasch in eine Imagestrategie integriert, tischen Nachkriegskonsens, der Planung als Gesell- um die Wasserlagen zu vermarkten und um die wohlha- schaftsreform verstand. Die Konservativen begriffen benden Zielgruppen anzuziehen. So entstand ein frag- Globalisierung als Chance, London mittels des Dock- mentiertes Patchwork von Einzelbauten und Nutzungen lands-Projekts mit einem Schlag ins 21. Jahrhundert zu ohne kohärenten Zusammenhang. Die Widersprüch- versetzen, und die Docklands wurden zum Laborato- lichkeit und das direkte Nebeneinander von privatem rium deregulierter Stadtentwicklungspolitik. Reichtum und öffentlicher Armut, von Gated Commu- Die Abschaffung des Greater London Council (GLC) nities neben Armutsvierteln, Wohnungsleerstand im 1986 war ein weiterer Meilenstein auf dem Wege zu oberen Marktsegment und Obdachlosigkeit für untere, 6.4 Von der sailor town zu schicken Quais 181 6 Abb. 6.14 London: Abriss auf der Isle of Dogs Ende der 1980er Jahre. Quelle: Mike Seaborne in Bentley 1997, S. 85. Bevölkerungsschichten in den Docklands sind neue derte den Zuzug von kleinen Unternehmen der Kultur- Erscheinungen sozialer Ungleichheit. und Medienbranche sowie von „Yuppies“. Das Zentrum des Areals bildet die aufwendig umgestaltete Straße Shad Thames, die durch ihre dichte, schluchtartige

Culture-led development – Struktur und die Einbeziehung von alten Speichern in

die Umgestaltung besticht. Die konvertierten Lagerhäu- das Südufer der Themse ser wurden um einige postmoderne Interventionen ergänzt, z. B. das rot leuchtende Wohngebäude China Am Südufer der Themse entstanden zu Beginn der Wharf (1982–1988) und den mit blauen Fliesen verklei- 1980er Jahre im Kontext der boomenden Dienstleis- deten auffälligen Appartmentblock The Circle in „zwei- tungsgesellschaft in der Nähe der Tower Bridge neue ter Reihe“(1989). Bürogebäude gegenüber der City of London. Das Als Katalysator für die positive Entwicklung der Hafenbecken von Hay’s Wharf zwischen den Lagerge- Themse dienten zweifelsohne wichtige Infrastruktur- bäuden wurde zugeschüttet und überdacht, so dass eine projekte, die maßgeblich zur besseren Erschließung des großzügige Einkaufspassage nach mailändischem Vor- Standortes beitrugen. In seiner Eigenschaft als Hafen- bild entstand (1986). Erstmals wurden historische und Industriestandort hatte das Südufer über Jahr- Dockanlagen erhalten und Lagergebäude in Büros zehnte unter schlechter Erreichbarkeit auf dem Land- umgenutzt. weg gelitten, Uferbereiche waren auch für die Bewohner Im Zuge des aus den USA importierten Booms des der angrenzenden Quartiere nicht zugänglich. Die Inte- loft living wurden konvertierte historische Lagerhäuser gration wichtiger Zentrumserweiterungsgebiete, wie mit Blick auf die Themse als Wohnraum für urban Southwark, in das öffentliche Nahverkehrssystem wurde orientierte Mittelschichten attraktiv. Zu den ersten rea- durch die 1999 in Betrieb genommene U-Bahn-Linie lisierten Projekten gehörte der Umbau der New Concor- (Jubilee Line Extension) wesentlich verbessert. Für dia Wharf von 1981 bis 1984 östlich der Tower Bridge. Besucher Londons war nun das Südufer der Themse Die Gebäude waren 1982 unter Denkmalschutz gestellt schnell von etablierten Tourismusdestinationen wie worden – ein Novum in der damals noch weitgehend Bond Street oder Westminster zu erreichen. abrissorientierten Städtebaupolitik – und wurden mit Spektakuläre Leuchtturmprojekte leiteten den Struk- geringfügigen, äußerlich sichtbaren Modifikationen auf turwandel am Südufer der Themse ein. Der Big Bang für die neue Nutzung vorbereitet. Die Umnutzung von But- die Revitalisierung des südlichen Themseufers erfolgte ler’s Wharf als Design Museum mit gehobener Gastro- im Jahr 1994 mit der Ankündigung, eine Galerie für nomie fungierte als Pionier des Stadtumbaus und för- zeitgenössische Kunst in dem leer stehenden Kraftwerk, 6 182 6 Neue Geographien der Macht und Ohnmacht (Bankside Power Station) unterzubringen. 2000 wurde die unter der Leitung des schweizerischen Architektur- büros Herzog & de Meuron umgebaute Tate Modern eröffnet und entwickelte sich sofort zu einem wahren Publikumsmagneten und zum Wahrzeichen der Rege- neration von Bankside. Der Umbau des Industrieko- losses in einen Tempel der Kunst versinnbildlichte in deutlicher Form den Wandel von der industriellen zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Tagsüber ist sein markanter Backsteinturm von weitem sichtbar und weist den Weg durch die wenig einladenden Straßen Southwarks. Die umfangreiche Berichterstattung über die Neueröffnung verhalf Bankside zu weltweiter Bekanntheit und lockt Touristen in bis dahin schlecht erschlossene Gebiete. Die Tate Modern kann zweifellos als Paradebeispiel des in England beliebten Leitbildes der culture-led regeneration bezeichnet werden. Eine besondere Rolle bei der Neudefinition des süd- lichen Themseufers spielt die Fußgängerbrücke Millen- nium Bridge. Die erste nur für Fußgänger vorgesehene Brücke über die Themse überhaupt schuf eine neue Fußgängerachse zwischen der Tate Modern sowie der St Paul’s Cathedral und dem 2004 eröffneten neu gestal- teten Quartier Paternoster Square.

Von der Hafennutzung

zur „Urban Renaissance“ Abb. 6.15 Das Zentrum von Liverpool um 1990, vor dem Um - Nicht nur in London, sondern in fast allen britischen bau: Princes Dock, Pier Head Docks und Albert Docks (Blick- Häfen sind inzwischen Umstrukturierungsmaßnahmen richtung südwärts). Quelle: Merseyside Development Corpora- von Hafenbereichen erfolgt: Liverpool Waterfront (Abb. tion, Liverpool Waterfront, Area Strategy. Liverpool 1990, S. 5. 6.15), Ocean Village Southampton, Chatham Maritime, Bristol Docks, Newcastle Quayside, Bristol Harborside, Temple Quay Bristol, Exeter Riverside, Cardiff Bay und Innenentwicklung, Nachverdichtung, der Stadt der kur- Swansea Marina – um nur die bekanntesten zu benen- zen Wege und der Revitalisierung von Brachflächen vor- nen. Diese Vorhaben bilden einen Teil der nationalen sieht. Damit wurde eine Abkehr von der Laisser-faire- Nachhaltigkeitsstrategie, bis 2008 60 % des Wohnungs- Stadtentwicklung eingeleitet und ein Wandel zum baus auf innerstädtischen Brachflächen, sog. brown- plan-led system, also zur „plangesteuerten Entwicklung“, fields, zu errichten. vorgenommen. Der Status der Planung wird damit Die Stadtumbauprojekte an den Hafen- und Uferzo- deutlich aufgewertet. nen sind Ausdruck eines städtebaulichen Paradigmen- Staat und Kommune haben über die Finanzierung wechsels in Großbritannien mit dem Zauberwort Urban und Initiierung wichtiger Infrastrukturprojekte neue Renaissance. Ziel ist die Attraktivitätssteigerung der Handlungsfelder besetzt. Attraktive und belebte Innen- Innenstädte, die den Mittelschichten als Orte des Arbei- städte und vor allem Wasserlagen werden als weiche tens, der Freizeitgestaltung und des Wohnens näherge- Standortfaktoren gesehen. Die vormaligen innenstadt- bracht werden sollen. Mit der Einsetzung der Urban nahen Hafen- und Uferzonen werden nach Prinzipien Task Force (UTF) unter Leitung von Richard Rogers des nachmodernen Städtebaus wie Mischnutzung, Fuß- (1998) demonstrierte New Labour die hohe Bedeutung, gängerfreundlichkeit, Bewahrung und Umnutzung des die nun Städtebau und Architektur beigemessen wurde. historischen Bestands, Schaffung neuer Anziehungs- 1999 wurde unter dem Titel Towards an Urban Renais- punkte durch spektakuläre Neubauten, den „Wow“- sance der Bericht vorgelegt, der eine Ausrichtung auf das Städtebau, der auf architektonisch spektakuläre Einzel- Ziel nachhaltiger Stadtentwicklung mit Konzepten der gebäude abzielt, umgebaut., 6.4 Von der sailor town zu schicken Quais 183 6 Durch Gentrifizierung und Umnutzung hat es in den Informationen im Internet letzten Jahrzehnten erhebliche Verdrängungseffekte von einkommensschwächeren Haushalten aus innenstadt- http://www.abports.co.uk nahen Gebieten gegeben. Da die Funktionsfähigkeit der Auf dieser Seite werden Daten und Informationen zu briti- lokalen Ökonomie dadurch zunehmend infrage gestellt schen Häfen bereitgestellt. war, wurde das Key Worker Living Programme von der http://www.lddc-history.org.uk Regierung aufgelegt, um diese Zielgruppen bei der Woh- Diese Seite vermittelt einen Einblick in die Geschichte der London Dockland Development Corporation und in die nungssuche- und versorgung zu unterstützen. Daneben Umnutzung der Hafenareale. hat es in den letzten Jahren einen enormen Bauboom in http://www.pla.co.uk den Innenstädten gegeben, vor allem Geschosswoh- Auf dieser Seite finden sich Informationen zum Hafen von nungsbau in attraktiven (Wasser-)Lagen mit dem buy- London. to-let-Modell florierte (private Käufer vermieten Woh- http://www.thamesweb.com nungen). Es bleibt abzuwarten, wie sich die globale Diese Homepage stellt umfangreiche Informationen zur Finanzkrise auf diese Teilmärkte auswirken wird. Themse und zu Entwicklungen im Themsekorridor bis zur Flussmündung bereit. http://www.wharf.co.uk

Fazit Diese Seite informiert über aktuelle Entwicklungen in den

Docklands. Die Mittelschicht mit urban orientiertem Lifestyle gilt als Zielgruppe, die in attraktiven Eigentumswohnungen Weiterführende Literatur neben den prestigeträchtigen Kultureinrichtungen mit Blick auf Flüsse und Wasserbereiche leben möchte. Auf Bentley, J. (1997): East of the City. The London Dockland Story. dem Wasser haben inzwischen die Frachtschiffe und London. Leichter Restaurantdampfern und Ausflugsbooten Platz Bird, J. (1963): The Major Seaports of the United Kingdom. Lon- gemacht. Man „flaniert“ oder joggt entlang der Flüsse don. und vormaligen Hafenbereiche, sitzt trotz Regen, Wind Brownill, S. (1993): Developing London’s Docklands – Another und Wolken draußen, am liebsten auf einer „Piazza“ Great Planning Disaster? London. und trinkt dabei einen „Coffee to go“. Das Ideal des Engels, F. (1845): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. mediterranen Lebensstiles ist auch in Großbritannien Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. In: angekommen und fester Bestandteil der städtebaulichen Marx, K.; Engels, F. (1976): Werke, Bd. 2. Berlin. Konzeptionen geworden. Über Jahrhunderte kaum Foster, J. (1999): Docklands. Cultures in Conflict, World in Col- lision. London. zugängliche Uferbereiche sind durch Promenaden neu Hebbert, M. (1998): London. Chichester. gestaltet, die Uferzonen revitalisiert und aufgewertet Kohl, N. (1979): London. Eine europäische Metropole in Texten worden. Seemannsromantik und Hafenidylle, Rotlicht- und Bildern. Frankfurt am Main, S. 260 ff. viertel, das soziale Umfeld und Beziehungsgeflecht von Palmer, A. (2000): The East End. Four Centuries of London Life. Schifffahrt und Hafen haben sich grundlegend gewan- London. delt. Die früher gemiedenen No-go-Areas wandeln sich Palmer, S. (2000): Ports. In: Daunton, Martin (Hrsg.), The Cam- zu Flanierzonen der Mittel- und Oberschicht. Das bridge Urban History of Britain, Vol. III: 1840–1950. Cam- authentische Hafenambiente ist vielfach einer nostalgi- bridge. schen Inszenierung gewichen. Die „neuen“ Waterfronts Schubert, D. (2008): Hafen- und Uferzonen im Wandel, Analy- spiegeln in besonderem Maße Globalisierungsprozesse sen und Planungen zur Revitalisierung der Waterfront in Hafenstädten, 3. Aufl. Berlin. und sind bevorzugte Stand-, Arbeits-, Wohn- und Auf- Zehner, K. (2008): Vom maroden Hafen zur glitzernden Neben- enthaltsorte der creative classes der Wissensgesellschaft city: Die Londoner Docklands. Eine Bilanz nach drei Jahr- geworden. zehnten Strukturwandel. In: Raumforschung und Raumord- nung, 3.,

Kapitel 7 Politik und Raumplanung

7.1 Einführung schen Rahmenbedingungen. Die Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds ist eine wichtige Vor- aussetzung für ein vertieftes Verständnis der Entwick- Gerald Wood lung beider Politikfelder. Nur vor diesem Hintergrund wird beispielsweise verständlich, warum Phasen des tas- Gesellschaftlicher Wandel und seine räumlichen Folgen tenden, inkrementellen Vorgehens abgelöst wurden von sind ein zentrales Thema dieses Buches. Das gilt auch für Zeiten der „großen Entwürfe“, die auch noch heute als das vorliegende Kapitel. Großbritannien hat, ähnlich bahnbrechend angesehen werden (z. B. der Town and wie andere fortgeschrittene Volkswirtschaften, in einer Country Planning Act des Jahres 1947). relativ kurzen Zeitspanne von gut 200 Jahren mehrere Eine ähnliche – methodische – Grundhaltung neh- bemerkenswerte Transformationsprozesse durchlaufen, men auch die übrigen drei Abschnitte ein. In Abschnitt die begleitet waren von mindestens ebenso bemerkens- 7.3 untersucht Richard Stinshoff am Beispiel des Phä- werten bzw. einschneidenden räumlichen Folgen. Diese nomens des Nord-Süd-Gefälles (im Englischen bezeich- Prozesse haben staatliche Akteure und Institutionen nenderweise North-South Divide genannt) die tief immer wieder herausgefordert und ihnen ein Eingreifen greifenden jüngeren Veränderungen in den planungspo- abgenötigt. Wie kaum eine andere Phase britischer litischen Grundorientierungen in Großbritannien, die Geschichte haben das 19. Jahrhundert – im Zuge der sich seit der Regierungszeit von Margaret Thatcher (ab Industrialisierung und des Ausbaus des Empire – 1979) feststellen lassen. Die politische Programmatik und dann das späte 20. Jahrhundert – im Zuge von der konservativen Partei unter Margaret Thatcher, die Deindustrialisierung und Dienstleistungsorientierung – Richard Stinshoff als free economy and strong state weite Bereiche der britischen Gesellschaft umgestaltet. zusammenfasst, stellte eine Abkehr vom sozialstaat- Die folgenden Abschnitte setzen sich mit den Reaktions- lichen Nachkriegskonsens dar. In dieser Programmatik formen des britischen Staates auf diese Veränderungen bilden Markt und Wettbewerb die zentralen gesell- auseinander und fokussieren dabei auf die raumbezo - schaftlichen Regulative; in der Raumentwicklung vor genen Formen staatlicher Intervention. Ähnlich interes- allem in Form des sog. property-led development (Ent- sant wie der sozialräumliche Wandel selbst sind die wicklung über Grundstücks- und Immobilienmärkte). V eränderungen, die sich sowohl in den politischen Damit sich die Marktkräfte auch möglichst frei entfalten Instrumenten als auch in den ihnen zugrunde liegenden können, ist ein starker Zentralstaat nötig, der privat- Grundhaltungen staatlicher Akteure vollzogen haben. wirtschaftlichen Akteuren größere Handlungsspiel- Abschnitt 7.2 vermittelt einen Überblick über zwei räume verschafft und gleichzeitig die sozialen Folgen des zentrale staatliche raumbezogene Politikfelder, die town ökonomischen Liberalismus eindämmt. Während pri- and country planning (TCP; Raumplanung) und die vatwirtschaftlichen Akteuren seit den späten 1970er Jah- regional policy (RP; Regionalpolitik/regionale Struktur- ren ein größeres Maß an Einflussmöglichkeiten durch politik), deren Anfänge im 19. (TCP) bzw. im 20. Jahr- den Staat eingeräumt wurde, mussten andere Akteure hundert (RP) liegen. Aus heutiger Sicht erscheint man- zum Teil empfindliche Einbußen hinnehmen, insbeson- ches an der Ausgestaltung dieser beiden Politikfelder dere die Gewerkschaften und die Kommunen. Die nicht immer ganz nachvollziehbar bzw. kritikwürdig. Im Rückschau auf die Eckpfeiler der Thatcher-Programma- Mittelpunkt des Abschnitts steht daher neben einer Dar- tik dient in diesem Abschnitt vor allem dem Ziel, die stellung der Entwicklung beider Politikfelder die Frage aktuelle Forderung nach einer Verknüpfung des Markt- nach ihren gesellschaftlichen, kulturellen und politi- und Wettbewerbsregulativs (aus der Thatcher-Ära) mit, 7 186 7 Politik und Raumplanung einer Dezentralisierungsstrategie der zentralstaatlichen wertet und in ihrer Legitimation gestärkt werden. Und Mittel zur Raumentwicklung auf die kommunale Ebene schließlich gilt es, durch die politische Aufwertung der kritisch zu hinterfragen. regionalen Ebene zusätzliches Potenzial zur positiven Im Mittelpunkt des Abschnitts 7.4 von Rainer Entwicklung des gesamten Landes zu erschließen. Der Danielzyk stehen zwei Instrumente der Raumentwick- Abschnitt skizziert die Entwicklung der Diskussion über lung, die in der Amtszeit von Margaret Thatcher einge- die Devolution und bilanziert die bisherigen Erfahrun- führt worden sind: städtische Entwicklungsgesellschaf- gen in der Umsetzung. Dabei werden auch soziale und ten (Urban Development Corporations, UDCs) und politische Besonderheiten Großbritanniens themati- Sonderwirtschaftszonen (Enterprise Zones, EZ). Beide siert, beispielsweise die Tatsache, dass Schottland, Wales Instrumente waren eine Antwort auf die als wenig und Nordirland mittlerweile ein eigenes Parlament bzw. erfolgreich erachteten vorangegangenen Ansätze zur eine Nationalversammlung besitzen, England hingegen Stadterneuerung, und sie wurden gleichzeitig als Kor- weder ein eigenes Parlament noch gewählte Regional- rektiv gegen die als inkompetent erachtete Ebene der versammlungen, die nach der Labour-Programmatik Lokalpolitik implementiert. Wie in keinem anderen eigentlich hätten etabliert werden sollen. Land Europas wurde in Großbritannien die Program - matik von free economy and strong state durchgesetzt, gerade auch in der zentralstaatlichen Kommunal- und 7.2 Raumbezogene Politik Planungspolitik. Interessanterweise brach die Thatcher- Programmatik durch ihren Kampf gegen den Einfluss und Planung im Wandel der lokalen Ebene mit klassischen konservativen Vorstel- lungen, in denen die Gemeinde den bevorzugten gesell- der Zeit – von der Zwischen- schaftlichen Integrationsort darstellt. kriegszeit bis zu den In seiner Bewertung von Urban Development Cor- porations und Enterprise Zones greift Rainer Danielzyk 1970er Jahren auf die Prämissen des Thatcherismus zurück und kommt in beiden Fällen zu einer ambivalenten Ein- Gerald Wood schätzung. Zwar haben beide Instrumente in nicht uner- heblichem Maße zu einer Regenerierung der betroffe- Das Handeln staatlicher Akteure hat immer auch räum- nen Gebiete beigetragen, doch hatten sie dabei kaum liche Bezüge. Das gilt für die Ebene der Kommunalpoli- einen umfassenderen, gesamtstädtischen Entwicklungs- tik ebenso wie für die Ebene der regionalen oder zen- zusammenhang im Blick gehabt (vor allem im Falle der tralstaatlichen Politik. Und dies betrifft auch solche EZ), und sie haben beide zu einer Zentralisierung und Politikfelder, die primär bestimmten Sachthemen bzw. Ökonomisierung der Erneuerungspolitik innerstädti- -problemen zuzuordnen sind, etwa die Arbeitsmarkt- scher Problemgebiete beigetragen. oder Gesundheitspolitik. Um solche generellen bzw. Abschnitt 7.5 greift ein Thema auf, das seit dem impliziten räumlichen Bezüge von Politik geht es in die- Wahlsieg der Labour Party und dem Amtsantritt von sem Abschnitt allerdings nicht, sondern um Politikfel- Tony Blair im Jahre 1997 Gegenstand sowohl lebhafter der, die einen expliziten räumlichen Bezug aufweisen. öffentlicher Auseinandersetzungen als auch politischer Großbritannien hat sich in den letzten 200 Jahren Aktivitäten der Regierung gewesen ist: die Devolution. mehrmals tief greifend gewandelt; zunächst von einer Hierunter versteht man im Allgemeinen eine Umvertei- agrarisch-feudalen zu einer Industriegesellschaft und lung von Funktionen von der (zentral-)staatlichen auf dann, in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die regionale Ebene. Im Falle des Vereinigten Königrei- zu einer spätmodernen Dienstleistungsgesellschaft. Mit ches bezieht sich die Devolution zum einen auf Schott- diesen Veränderungen gingen folgenschwere räumliche land, Nordirland (Übertragung gesetzgeberischer Kom- Entwicklungen einher: Verstädterung, Suburbanisie- petenzen = legislative Devolution) und Wales (Transfer rung, das Anwachsen sozialräumlicher Disparitäten von Aufgaben = administrative Devolution), zum ande- sowie die Ausbreitung neuer Verkehrssysteme (Kanäle, ren auf die Schaffung von zehn Government-Office- Eisenbahn, Straßen und Flughäfen). Dieser soziale und Regionen in England. Mit dieser Strategie verfolgt die räumliche Wandel hat die politischen Akteure immer Regierung mehrere Absichten. Zum einen geht es um wieder vor neue Herausforderungen gestellt, auf die sie eine Entschärfung des politischen Druckes der „kelti- häufig nicht oder nur schlecht vorbereitet waren. Um schen Peripherie“ gegenüber der Zentralregierung in diesen Herausforderungen zu begegnen, wurden ab dem London. Zum anderen soll Politik durch eine verstärkte 19. Jahrhundert Formen und Instrumente der politi- Ausrichtung auf die Interessen vor Ort insgesamt aufge- schen Steuerung weiterentwickelt bzw. neu erdacht., 7.2 Raumbezogene Politik und Planung im Wandel der Zeit 187 7 Parallel zu den gesellschaftlichen Veränderungen vollzo- nicht (ausschließlich) als Ausdruck einer philanthropi- gen sich auch in den Handlungsorientierungen des Staa- schen Haltung der politischen Eliten interpretieren lässt. tes, die diesen Entwicklungen zugrunde liegen, mehr- Vielmehr spielte auch die Überlegung eine wichtige fache Umschwünge: von einer allmählichen Lockerung Rolle, durch den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der der ausgeprägten Laisser-faire-Haltung im 19. Jahrhun- Gesundheit und Arbeitskraft der arbeitenden Bevölke- dert über eine starke interventionistische, sozialstaatli- rung die Unternehmen zu unterstützen und gleichzeitig che Haltung in der Nachkriegszeit bis hin zu einer ener- die öffentlichen Haushalte zu entlasten. gisch betriebenen Politik des starken Staates und einer Eine der wichtigsten – und noch heute sichtbaren – free economy ab den späten 1970er Jahren, die in Ab- Veränderungen, die diese Gesetze mit sich brachten, war schnitt 7.3 und 7.4 näher in den Blick genommen wird. die Entstehung eines neuen vorherrschenden Wohn- In diesem Abschnitt sollen zwei zentrale raumbezo- haustyps, des Bye-Law-Hauses. Diese Gebäudeform gene Politikfelder von ihren Anfängen (im 19. bzw. löste die bislang vorherrschenden und ab der ersten f rühen 20. Jahrhundert) bis in die späten 1970er Jahre Hälfte des 19. Jahrhunderts errichteten Back-to-Back- vorgestellt und die ihnen zugrunde liegenden Hand- Häuser ab (Abschnitt 3.7), die mitverantwortlich für die lungsorientierungen der staatlichen Akteure analysiert problematischen Wohn- und Lebensbedingungen in werden. Hierbei handelt es sich zum einen um town and den Städten gewesen waren. Beide Hausformen wurden country planning (TCP), was dem deutschen Begriff in Reihenhausform ausgeführt, nämlich als sog. terraces, „Raumplanung“ weitgehend entspricht, und zum ande- allerdings war das terrace house keine Erfindung des 19. ren um regional policy (RP), für die in Deutschland der Jahrhunderts. Es lässt sich bereits im 17. Jahrhundert in Begriff „Regionalpolitik“ gebräuchlich ist. Im Folgenden London finden, als große Teile der Innenstadt dem Great werden die englischen Begriffe verwendet, um Verwir- Fire des Jahres 1666 zum Opfer gefallen waren und wie- rungen zu vermeiden, die sich durch andere Bedeu- der aufgebaut werden mussten. Durch die flächenhafte tungsgehalte der entsprechenden deutschen Termini Verbreitung der Bye-Law-Häuser ab der zweiten Hälfte ergeben können. des 19. Jahrhunderts entstanden die mit britischen Städ- ten oft assoziierten und kritisierten uniformen, trostlo- sen Stadtlandschaften, in denen das Leben zwar weitaus gesünder war als zuvor, deren Anmutungsqualitäten

Town and country planning

allerdings zu wünschen übrig ließen. Die oben angesprochenen gesundheitspolitischen Von der Hygienepolitik zur Stadtplanung Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Städten gingen Anfang des 20. Jahrhunderts in Die Anfänge des town and coutry planning liegen in den Stadtplanung (town planning) über. im 19. Jahrhundert erlassenen Gesetzen zur Gesund- Das erste Stadtplanungsgesetz aus dem Jahr 1909 heitsvorsorge, mit denen das britische Parlament (Housing and Town Planning Act) untersagte ausdrück- v ersuchte, die Lebensbedingungen der städtischen lich den weiteren Bau von Back-to-Back-Häusern und Bewohner zu verbessern. Infolge der rapiden Industria- ermöglichte den Gemeinden die Erstellung von Nut- lisierung, verbunden mit einem enormen Anstieg der zungsordnungen (schemes) neuer Wohngebiete. Aller- Bevölkerung und einem weitgehenden Verzicht auf eine dings war auch dieses erste Stadtplanungsgesetz stark politische Steuerung dieser Entwicklungen, war es in von hygienepolitischen Vorstellungen geprägt, denn als den Städten zu zahlreichen Missständen gekommen, zu allgemeines Ziel wurde u. a. die Sicherstellung „an- denen vor allem Wohnraummangel, Luftverschmut- gemessener sanitärer Bedingungen“ gesetzlich festge- zung, unhaltbare sanitäre Zustände und – in deren Folge schrieben. – Cholera- und Typhus-Epidemien zu rechnen sind Da das Gesetz lediglich auf neue Wohngebiete ausge- (Abschnitt 3.7). Die Public Health Acts der Jahre 1848 richtet war, stand der Umbau bestehender Siedlungsflä- und 1875 eröffneten den Kommunen die Möglichkeit, chen nicht zur Debatte, ebenso wenig die Anlage neuer die Wasserver- und -entsorgung durch den Bau entspre- Straßen durch die älteren Teile einer Stadt oder die Neu- chender kommunaler Anlagen zu regeln, Flächensanie- planung solcher Gebiete, deren bestehende Planung als rungen (slum clearances) durchzuführen sowie Bauvor- mangelhaft erachtet wurde. Außerdem war der formale schriften zu erlassen, mit denen Höhe und Ausrichtung Planungsweg langatmig und mühselig, so dass nur von Gebäuden und die Breite von Straßen festgesetzt wenige schemes tatsächlich ausgeführt worden sind. Vor werden konnten. Die Schaffung dieser Eingriffsmöglich- diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Housing and keiten war mit einer Abkehr von der bislang praktizier- Town Planning Act des Jahres 1909 weniger in der Schaf- ten Laisser-faire-Haltung verbunden, was sich jedoch fung eines effizienten Instrumentariums zur Stadtpla-, 7 188 7 Politik und Raumplanung

Reformbewegungen im britischen Städtebau

Angestoßen wurde die Entwicklung der Stadtplanung im frü- Letchworth hingegen wurde nie eine voll funktionsfähige hen 20. Jahrhundert u. a. von diversen Reformbewegungen Gartenstadt im Sinne Howards. Das lag u. a. daran, dass die im britischen Städtebau ab dem frühen 19. Jahrhundert (vgl. Wahl des Standortes sich auch an den niedrigen Bodenprei- auch Abschnitt 3.7). Hervorgebracht haben diese Reformbe- sen orientierte. In den Bodenpreisen kam wiederum eine wegungen insbesondere die model villages. Bei ihnen han- Geringschätzung der Lage durch wirtschaftliche Akteure delt es sich um den Versuch „aufgeklärter“ Industrieller, zum Ausdruck, die sich nicht dadurch änderte, dass Idealis- menschenwürdige Wohn- und Lebensbedingungen für ihre ten beschlossen hatten, genau hier eine Stadt zu gründen. Beschäftigten und deren Familien zu schaffen. Siedlungen An diesem Beispiel lässt sich der grundlegende Konflikt zwi- wie Port Sunlight in der Nähe von Liverpool, Saltaire in West- schen den hohen sozialreformerischen Zielen Howards und yorkshire oder Bournville in Birmingham waren nicht nur den ökonomischen Realitäten zu Beginn des 20. Jahrhun- beredtes Zeugnis praktizierter sozialer Verantwortung der derts ablesen. Unternehmer, sondern gleichzeitig ein Hinweis darauf, dass die sozialräumlichen Herausforderungen des Industriezeital- ters zu bewältigen waren. Einen weiteren wichtigen Hinter- grund lieferte das Buch To-morrow: A Peaceful Path to Real Reform von Ebenezer Howard aus dem Jahre 1898, das unter dem Titel Garden Cities of Tomorrow im Jahr 1902 neu auf- gelegt worden ist. Herausragend und innovativ an den Gedanken Howards waren vor allem zwei Punkte: zum einen der Versuch, moderne Stadtentwicklung in einen funktiona- len und sozialen Gesamtkontext zu stellen, und zum anderen der sozialreformerische Anspruch, Stadtentwicklung auch als Weiterentwicklung der Gesellschaft zu sehen. So schlug er vor, das Grundeigentum der Gartenstädte auf Genossen- schaften zu übertragen, um Spekulationen zu unterbinden, Kapitalerträge sozialen Zwecken zuzuführen und die Mieten niedrig zu halten. Dieser sozialreformerische Anspruch lässt sich unmittelbar aus dem Titel der Erstauflage erschließen. 1899 gründete Howard eine Gartenstadtgesellschaft (Gar- den City Association), der eine Reihe namhafter Personen angehörte, darunter Sir Frederic James Osborn, auf dessen Initiative die Gesellschaft in die noch heute bestehende Town and Country Planning Association (TCPA) überführt wurde. Auf der Basis der Ideen von Howard wurden in Groß- Abb. 7.1 Das Gartenstadtmodell von Ebenezer Howard: Um britannien zwei Gartenstädte errichtet: Letchworth (50 km die Zentralstadt sind kreisförmig Gartenstädte angeordnet nördlich von London) 1903 und Welwyn Garden City (35 km und durch Verkehrswege (Kanäle, Eisenbahnen, U-Bahnen nördlich von London) 1920. Allerdings kam lediglich Welwyn und Straßen) mit der Zentralstadt sowie untereinander ver- den Vorstellungen Howards von einer Gartenstadt nahe – bunden. Quelle: Howard 1902. nung zu sehen als vielmehr in der wachsenden Einsicht Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern, schemes in die Notwendigkeit einer angemessenen Reaktion auf (Nutzungsordnungen) zu erstellen. Das Planungsver- neuere räumliche Entwicklungen, z. B. auf das um sich fahren wurde vereinfacht, blieb aber der Philosophie greifende Siedlungswachstum im städtischen Umland treu, schemes nur bei neuen Wohngebieten vorzuschrei- (Vorstadtbildung bzw. beginnende Suburbanisierung). ben. In der Planungsliteratur werden daher auch weni- ger die stadtplanerischen Leistungen des Gesetzes her- vorgehoben als vielmehr die Bedeutung, die es für den

Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit Wohnungsbau besaß, denn es autorisierte den staatlich

geförderten Bau von (preiswerten) Wohnungen. Hier- Mit dem Housing and Town Planning Act des Jahres mit hatten einige Kommunen zwar bereits um die Jahr- 1919 wurden die bestehenden gesetzlichen Regelungen hundertwende begonnen (auf der Basis des im Jahr 1890 ausgeweitet. Hierzu gehörte die Verpflichtung für alle verabschiedeten Housing of the Working Classes Act),, 7.2 Raumbezogene Politik und Planung im Wandel der Zeit 189 7 aber es war vor allem der Erste Weltkrieg, der ein – Ein wichtiger anderer gesellschaftlicher Trend in den umfangreiches – staatliches Eingreifen in den Woh- Zwischenkriegsjahren war die extrem ungleiche Ent- nungsbau angezeigt erscheinen ließ. Auslöser war der wicklung der Wirtschaft in den unterschiedlichen Teilen schlechte Gesundheits- und Allgemeinzustand vieler des Landes. Während Altindustrieregionen wie Wales Rekruten, der bei der Musterung offenkundig – und sta- oder Nordostengland zwischen 1923 und 1934 mit der tistisch greifbar – wurde. Die landesweite Kampagne Schrumpfung ihrer ökonomischen Basis kämpften, Homes fit for heroes, die hierdurch ausgelöst wurde, hatte erzielte Südostengland mit einem Zuwachs der sozial- maßgeblich zur Verabschiedung des Housing and Town versicherungspflichtig Beschäftigten um 44 % ein phä- Planning Act beigetragen. Staatlicher Wohnungsbau nomenales Wachstum (Wales: –26 %, Nordostengland: erfolgte, ähnlich wie der privatwirtschaftliche, an den –5,5 %). Ein ähnliches Bild war auch bei den Arbeitslo- Rändern der Städte, und es entstanden die für britische senzahlen feststellbar. Es entzündete sich eine innen- Städte noch heute typischen council estates (großflächige politische Debatte über die Frage, ob eine politische Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus). Einflussnahme auf die Standortentscheidungen von Im Jahr 1932 wurde der Town and Country Planning Unternehmen zu einer gleichmäßigeren Verteilung von Act verabschiedet, der zum ersten Mal die Erstellung Beschäftigungsmöglichkeiten und zu einem Abbau der von Nutzungsordnungen für bereits bebaute Gebiete bestehenden sozialräumlichen Disparitäten führen vorsah. Neu war auch der Einschluss ländlicher Gebiete würde. Da eine solche politische Intervention beispiellos in das Planungsgesetz (Town and Country Planning und in ihren Folgen und Risiken kaum abzuschätzen Act), wodurch u. a. dem Umstand Rechnung getragen war, setzte die damalige Regierung eine Untersuchungs- werden sollte, dass Bevölkerungs- und Siedlungswachs- kommission ein (Royal Commission on the Distribu- tum längst keine primär städtischen Phänomene mehr tion of the Industrial Population), deren Aufgabe darin waren. Der Restriction of Ribbon Development Act aus bestand, die Gründe für die unterschiedliche Verteilung dem Jahr 1935 sollte zusätzlich die weitere Siedlungstä- der in der Industrie beschäftigten Bevölkerung zu ermit- tigkeit entlang von übergeordneten (Land-)Straßen teln, die weitere Entwicklung und ihre sozialen, ökono- unterbinden. Diese Gesetze erwiesen sich aber als unzu- mischen und strategischen Nachteile abzuschätzen reichend. So dauerte die Durchführung von Planungs- sowie geeignet erscheinende Abhilfemaßnahmen vorzu- verfahren gemäß des neuen Town and Country Plan- schlagen. Der im Jahr 1940 veröffentlichte Bericht der ning Act über drei Jahre, und die Planungen konnten, Kommission, der Barlow Report, erwies sich als ausge- wenn sie vom Parlament abgesegnet worden waren, sprochen einflussreiches Dokument sowohl für town nicht ohne ein nochmaliges formales Verfahren abgeän- and country planning als auch für die regional policy. dert werden. Die Kommission unterstrich die Notwendigkeit staat- Weitere Probleme waren verwaltungstechnischer und lichen Eingreifens in die Verteilung der in der Industrie -rechtlicher Natur. So gab es zu viele (mehr als 1 400) beschäftigten Bevölkerung und deklarierte dies als Auf- und zu kleine Gebietskörperschaften (district councils). gabe von nationalem Interesse. Insbesondere wurde Eine Verbesserung trat erst durch den Local Govern- angeregt, die Bevölkerung in wachstumsstarken Städten ment Act von 1929 ein, durch den auch Grafschaftsräte wie London umzuverteilen auf neu zu errichtende Gar- (county councils) befugt waren, sich an der Ortsplanung ten- bzw. Satellitenstädte. Für entwicklungsschwache zu beteiligen. Das für town and country planning zustän- Regionen wurde die Einrichtung von Gewerbeparks dige Ministry of Health (Gesundheitsministerium) war (trading estates) gefordert, durch die Anreize zur Ansied- weder ermächtigt, Planungen anzustoßen, noch konnte lung von privatwirtschaftlichen Unternehmen gegeben es die Kommunen finanziell bei den Planungen unter- werden sollten. Die Mitglieder der Kommission vertra- stützen. Hinzu kam, dass selbst fortschrittlichen Kom- ten zudem die Auffassung, dass eine zentrale staatliche munen häufig die Hände gebunden waren, da Entschä- Planungsbehörde einzurichten sei, damit den vielfälti- digungen (compensations) durch das Gesetz von 1932 gen Problemen angemessen begegnet werden könne. ausgesprochen mangelhaft geregelt waren. Allerdings unterschieden sich die Vorstellungen hin- Angesichts der sich ständig ausweitenden Siedlungs- sichtlich der Befugnisse dieser Behörde zum Teil erheb- tätigkeit (Errichtung von über 2,7 Mio. Wohneinheiten lich voneinander. in England und Wales zwischen 1930 und 1940) und eines großen Altbaubestands (ein Drittel aller Wohn- einheiten in England und Wales waren zu Beginn des Der Zweite Weltkrieg und seine Auswirkungen Zweiten Weltkrieges vor 1918 errichtet worden) erwie- sen sich die bestehenden Planungsinstrumente als un - Noch während des Zweiten Weltkrieges wurde 1943 das tauglich. Ministry of Town and Country Planning etabliert. (Seit, 7 190 7 Politik und Raumplanung 2001 liegt die Planungskompetenz beim Department for Grundstückserschließer, eine Erlaubnis für Bauvorha- Communities and Local Government.) Der Krieg verur- ben bei den örtlichen Planungsbehörden einzuholen. sachte infolge der zum Teil massiven Zerstörungen Die in dem TCPA von 1947 formulierten Regelungen durch die deutschen Luftangriffe neue Probleme, vor wurde zwar in den folgenden Jahrzehnten modifiziert, allem für Industriestädte wie London, Birmingham, ergänzt und zum Teil auch radikal neu geregelt, die Coventry oder Sheffield. Eine wichtige Planungsaufgabe ihnen zugrunde liegende Überzeugung, dass staat- bestand daher darin, die kriegszerstörten Städte wieder liche Steuerung raumwirksamer gesellschaftlicher Pro- aufzubauen. Gleichzeitig mussten die ungelösten, über- zesse notwendig und im nationalen Interesse sei, hat sich kommenen Probleme der Raumentwicklung und die jedoch nicht grundlegend gewandelt. Unverändert blieb Unzulänglichkeiten des bestehenden Planungsapparats gleichfalls die herausragende Bedeutung des Zentral- in Angriff genommen werden. staates in Planungsfragen, der mit einfacher parla- Eine für die britische Gesellschaft wichtige Kriegser- ment arischer Mehrheit tief in das Planungsrecht ein- fahrung bestand darin, dass sich ein klassenübergreifen- grei fen und z. B. die Planungskompetenzen von Kom- der Konsens über die Notwendigkeit tief greifender munen ausweiten oder einschränken kann (Abschnitt gesellschaftlicher Reformen herausbildete. 7.3 und 7.4). „At one and the same time war occasions a mass support for the way of life which is being fought for and a critical Regional policy appraisal of the inadequacies of that way of life. Modern total warfare demands the unification of national effort and a breaking down of social barriers and differences. […] A Entwicklungsunterschiede zwischen Nationen, Regio- new and better Britain was to be built. The feeling was one nen, Städten oder auch unterschiedlichen Quartieren of intense optimism and confidence. Not only would the war bzw. Vierteln innerhalb von Städten sind beständige be won; it would be followed by a similar campaign against gesellschaftliche Grunderfahrungen, ähnlich wie beste- the forces of want. […] What was new was the belief that the hende Wohlstandsunterschiede zwischen verschiedenen problems could be tackled in the same way as a military Bevölkerungsgruppen. Doch wie sind solche Ungleich- operation“ (Cullingworth und Nadin 2002, S. 20). heiten zu bewerten? Wie groß müssen beispielsweise innerhalb einer Gesellschaft die Unterschiede werden, Ein Ausdruck dieser verbreiteten optimistischen Grund- damit ein Eingreifen des Staates notwendig erscheint? Es haltung war die Einrichtung mehrerer Kommissionen ist ein herausragendes Merkmal der sich in der Nach- im Jahr 1941, denen die Aufgabe gestellt war, Lösungs- kriegszeit etablierenden Wohlfahrtsstaaten, dass das möglichkeiten für wichtige Probleme zu erarbeiten, die Handeln staatlicher Akteure und Institutionen in beson- in der Nachkriegszeit angegangen werden sollten. derer Weise darauf ausgerichtet war, Unterschiede im Hierzu gehörten das Uthwatt-Komitee zur Fragen von Einkommen, Wohlstand und in der Gesundheits- und Entschädigungen und des planungsbedingten Boden- Altersversorgung unterschiedlicher Bevölkerungsgrup- wertzuwachses (Uthwatt Committee on Compensation pen auszugleichen. Dies war auch in Großbritannien der and Betterment), das Scott-Komitee zu Fragen der Fall. Parallel hierzu hat sich ein Politikfeld (regional Landnutzung in ländlichen Regionen (Scott Committee policy) entwickelt, das auf regionale Entwicklungsunter- on Land Utilisation in Rural Areas) sowie das Beveridge- schiede fokussiert war, die in zunehmendem Maße als Komitee zu Fragen der Sozialversicherung (Beveridge gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet wurden. Committee on Social Insurance and Allied Services). Die gesellschaftliche Aufbruchstimmung und der weitverbreitete Gestaltungswille wirkten sich auch auf Ein zaghafter Anfang in den 1920er Jahren: das Planungssystem aus. Im Jahr 1947 wurde der Town Die Mobilisierung der Arbeiter and Country Planning Act (TCPA) verabschiedet, der einige einschneidende Neuerungen beinhaltete. Hierzu Der Beginn der zentralstaatlichen regional policy lässt gehörten u. a. die Verpflichtung für die Gemeinden, Ent- sich auf die späten 1920er Jahre zurückdatieren, als die wicklungspläne (development plans) mit einer 20-jähri- bereits oben angesprochenen Entwicklungsdefizite in gen Gültigkeit zu erstellen, die Übertragung der Pla- den sog. Altindustrieregionen (Wales, Cumberland, nungshoheit von der Bezirksebene (county districts) auf Nordostengland, Glasgow), gerade im Vergleich zu den die Grafschaftsebene (counties) – wodurch sich die Zahl positiven Trends in Südostengland und den West Mid- der Planungsbehörden von 1 400 auf 145 reduzierte – lands, immer schärfer hervortraten. Die Regierung sowie die zwingende Notwendigkeit für Bauträger bzw. unter dem damaligen konservativen Premierminister, 7.2 Raumbezogene Politik und Planung im Wandel der Zeit 191 7 Stanley Baldwin erkannte sowohl die Aussichtslosigkeit Überzeugung vor, dass der Staat keinesfalls direkt in die einer regionalen „Selbstheilung“ als auch die politische Wirtschaft eingreifen sollte, wie das beispielsweise bei Brisanz, die in den bestehenden Problemen lag, und ent- einer Industriestandortpolitik der Fall gewesen wäre. schloss sich daher, das überkommene wirtschaftspoliti- sche Laisser-faire-Prinzip aufzugeben. Aber auch die Kritik der politischen Opposition sowie die Belastung Der Umschwung in den staatlichen Handlungs- des Staatshaushalts durch die Zunahme der Arbeitslo- orientierungen in den 1930er Jahren sigkeit zwangen zum Handeln. So wurde die Zwischen- kriegszeit zur „Geburtsstunde“ der staatlichen regional Die starke Zunahme der Arbeitslosigkeit zu Beginn der policy, aus der heraus eine ganz neue Form der Regio- 1930er Jahre führte den politisch Verantwortlichen aber nalisierung hervorgegangen ist: die assisted areas bzw. die geringe Effektivität der Maßnahmen von 1928 vor synonym die depressed areas (Abb. 7.2). Augen und setzte die Regierung unter Handlungsdruck. Die Eingriffe des Staates in den (altindustrialisierten) So wurden im Jahre 1932 vom Handelsministerium Problemregionen begannen im Jahre 1928 mit den (Board of Trade) Untersuchungen über die problem industrial transference schemes, durch die eine Abwande- areas in Nordostengland, Schottland, Wales und Nord- rung erwerbsloser Industrie- und Bergarbeiter bewirkt westengland in Auftrag gegeben, und im Jahre 1934 und damit die regionalen Arbeitsmärkte entlastet wer- erfolgte die Ausweisung der genannten Gebiete zu spe- den sollten (Law 1981). Bis zum Jahr 1937 wurden im cial areas durch den Special Areas (Development and Rahmen dieses Programms etwa 190 000 Arbeitslose aus Improvement) Act (Law 1981, S. 45). Für die special den Problemregionen in die prosperierenden Städte areas in England/Wales sowie in Schottland wurde je ein Mittel- und Südenglands umgesiedelt. Zu diesem Zeit- Commissioner zur Planung und Koordination der ins punkt herrschte in der britischen Regierung noch die Auge gefassten wirtschafts- und sozialpolitischen Maß- Abb. 7.2 Die Entwicklung der Fördergebiete (assisted areas) im Rahmen der regional policy 1945–1984. Quelle: Hudson und Wil- liams 1986, Abb. 2.2, S. 66 f., 7 192 7 Politik und Raumplanung nahmen ernannt (Cullingworth 1988, S. 8). Die Haupt- Von herausragender Bedeutung für die regional policy aufgabe der Commissioners bestand in der Ansiedlung wurde der Barlow Report, der infolge des Krieges „auf neuer Industriebetriebe, die vor allem durch infrastruk- Eis“ gelegen hatte. Die Regierung billigte in ihrem Weiß- turelle Verbesserungen in Gang gesetzt werden sollte. buch (white paper) über employment policies des Jahres Das Budget von 21 Mio. Pfund, das den Commissioners 1944 ausdrücklich die im Barlow Report ausgesproche- bis 1938 für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt wurde, nen Empfehlungen, die dann im darauffolgenden Jahr war vergleichsweise bescheiden. Nicht zuletzt aus die- im Distribution of Industry Act ihren gesetzgeberischen sem Grund liegt die Bedeutung der im Jahre 1934 einge- Niederschlag fanden. Die in dem Weißbuch ebenfalls führten Maßnahmen weniger in dem Ausmaß der durch niedergelegte Verpflichtung des Staates zu einer Vollbe- sie erzielten wirtschaftlichen Belebung als vielmehr in schäftigungspolitik war eine wesentliche Voraussetzung der hierdurch zum Ausdruck gebrachten Wende in den für die staatliche regional policy in der Nachkriegszeit, staatlichen Handlungsorientierungen in dieser Zeit. Das und sie blieb eine handlungsleitende Maxime aller liberale wirtschaftspolitische Laisser-faire-Prinzip, zu Regierungen bis zur Mitte der 1970er Jahre (Hudson dem sich auch die Maßnahmen zur Mobilisierung der 1989, S. 21). Arbeiter von 1928 rechnen lassen, wurde zugunsten Das von der Barlow-Kommission vorgebrachte Kon- einer stärker interventionistischen politischen Linie auf- zept einer „richtigen Verteilung der Industrie“ sah eine gegeben, in deren Mittelpunkt die Mobilisierung der den Bevölkerungsverteilungsmustern angepasste Vertei- Arbeit stand. lung der Industrie vor. Konkret hieß dies vor allem eine Die Commissioners setzten sich als engagierte Für- Wiederherstellung der Beschäftigungsbasis in den Pro- sprecher für die assisted areas ein, gerade auch in Lon- blemregionen (Law 1981, S. 47) durch eine Verlagerung don. So machten sie die Regierung auf die geringe von Betrieben aus den prosperierenden Regionen. Bereitschaft der Unternehmen, in den assisted areas zu Der Distribution of Industry Act des Jahres 1945 investieren (Cullingworth 1988, S. 8), sowie auf die sowie der Town and Country Planning Act des Jahres Probleme der ungleichen Verteilung neuer Wirtschafts- 1947, die diese Empfehlungen aufnahmen, stellten tiefe zweige im Land aufmerksam und erzwangen schließlich staatliche Eingriffe in die wirtschaftlichen und räum- die Einsetzung der bereits oben erwähnten Royal Com- lichen Entwicklungsprozesse des Landes dar. Die wich- mission on the Geographical Distribution of the Indus- tigsten Steuerungsinstrumente, die eingeführt wurden, trial Population (Law 1981, S. 45). Der Bericht dieser waren zum einen die Industrial Development Certifica- Kommission, der 1940 veröffentlichte Barlow Report, tes (IDCs; Genehmigungen, die vom Board of Trade ein- konnte im Hinblick auf die regional policy allerdings erst geholt werden mussten, wenn eine Errichtung von in der Nachkriegszeit eine Wirkung entfalten, da die Industriebauten mit einer Fläche von mindestens 5 000 staatlichen Aufrüstungsprogramme und schließlich der square feet (= 465 m2) geplant war) und zum anderen Zweite Weltkrieg das Arbeitslosenproblem in den Altin- vor allem finanzielle Anreize für Unternehmen, die dustrieregionen entschärften (Law 1981, S. 221). bereit waren, sich in den Fördergebieten anzusiedeln. Durch eine strikte Handhabung der IDCs sollte ein weiteres industrielles Wachstum in den prosperierenden Der Zweite Weltkrieg und die Folgen Regionen des Landes (d. h. in den Midlands sowie im für die regional policy Südosten) verhindert bzw. in die Fördergebiete umge- lenkt werden. Ferner erhoffte man sich in den develop- Durch den Krieg war eine Übernahme der Kontrolle ment areas einen zusätzlichen Nutzen durch die Schaf- zahlreicher wirtschaftlicher Aktivitäten durch den Staat fung sog. new towns (ermöglicht durch das Gesetz zur erfolgt, vor allem auch die Aufsicht über die Produktion Errichtung neuer Städte aus dem Jahre 1946; New sowie die Standorte des verarbeitenden Gewerbes. Auf- Towns Act [Heineberg 1983, S. 175]), die die Bevöl- grund des erfolgreichen Managements der Kriegspro- kerung in den development areas um die neu zu errich- duktion war aus der Sicht der Labour Party der Beweis tenden sowie um die bestehenden Industriebetriebe dafür erbracht, dass eine staatliche Industriestandort- konzentrieren und ihr verbesserte Wohn- und Lebens- kontrolle durchführbar ist. Als die Labour Party 1945 bedingungen bieten sollten. mit einer überwältigenden Mehrheit in das Parlament Von großer Bedeutung für die Entwicklung der gewählt wurde, hatte sie sich einem starken staatlichen regionalen Wirtschaft in den Nachkriegsjahren waren Eingreifen in die Gesellschaft verpflichtet. Ihr Wahler- zudem die Verstaatlichungen zahlreicher Schlüsselin- folg kann als eindeutiges Zeichen aus der Bevölkerung dustrien. Hierzu zählten die Kohlewirtschaft (1947), die dafür gewertet werden, dass die Zeit für Reformen und Eisenbahnen (1947), die Elektrizitäts- und Gasversor- staatliche Lenkung „reif“ war. gungsunternehmen (1948 bzw. 1949) sowie die Eisen-, 7.2 Raumbezogene Politik und Planung im Wandel der Zeit 193 7 und Stahlindustrie (1949). Letztere wurde aber im Jahre wurde die Sicherung der Vollbeschäftigung deklariert. 1953 unter Churchill wieder reprivatisiert, bis Labour Daneben war das regionalpolitisch erstrangige Ziel sie im Jahre 1964 erneut verstaatlichte (Kavanagh und die Abstellung regionaler Disparitäten im Hinblick Morris 1989, S. 24 f.). auf Beschäftigungsstrukturen und Arbeitslosenquoten. Diese übergeordneten Ziele sollten durch eine Moderni- sierung der Wirtschaft, das Eingreifen des Staates in „Vergeudete Zeit“: Umstrukturierungsprozesse sowie ferner durch eine all- Entwicklungen in den 1950er Jahren gemeine Steigerung der nationalen Wirtschaftsleistung erreicht werden. Dreh- und Angelpunkt der sich heraus- Das Hauptziel der regional policy, die Reduzierung der bildenden verbindlichen Orientierung staatlichen Han- Arbeitslosigkeit in den Problemregionen bzw. ihre An - delns war die Optimierung bzw. die Steigerung der gleichung an nationale Werte, schien Anfang der 1950er nationalen Wirtschaftsleistung zum Zwecke einer Siche- Jahre erreicht. Dies war ein willkommener Anlass für die rung der Vollbeschäftigung bei einer gleichzeitigen damalige Labour-Regierung, die Erfolge der staatlichen Lösung des regional problem. regional policy zu unterstreichen und so den beabsich- Durch den im Jahre 1958 verabschiedeten Distribu- tigten Rückzug des Staates aus einem kostspieligen Poli- tion of Industry (Industry Finance) Act wurden die Aus- tikfeld einzuläuten, der durch die Zahlungsbilanzkrise gaben für die regional policy erhöht und die IDCs wieder der späten 1940er Jahre unabwendbar schien (McCord strikter angewendet. Im Rahmen des Local Employment 1979, S. 234). Die konservative Regierung, die dann 1951 Act des Jahres 1960, durch das alle Industry Acts ihre ins Amt kam, setzte die Zurücknahme der regional policy Gültigkeit verloren, wurden die development areas abge- fort, und zwar insbesondere deshalb, weil sie die positi- schafft und durch development districts ersetzt, deren ven Entwicklungstrends in anderen Landesteilen durch Zuschnitt bedeutend kleinräumiger war als der der deve- eine Standortverlagerung von Betrieben in die Entwick- lopment areas. Durch die Ausweisung von development lungsgebiete nicht in Gefahr bringen wollte. Ihre Ein- districts vollzog sich ein grundlegender Wandel in der griffe in die prosperierende Volkswirtschaft beschränk- Stoßrichtung staatlicher Regionalpolitik, da die Maxime ten sich daher auf ein sog. fine-tuning. nun nicht mehr eine „richtige“ Verteilung der Industrie Insgesamt lässt sich festhalten, dass die 1950er Jahre war, sondern die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, wo ein Jahrzehnt einer stark gelockerten regional policy immer sie auftrat (z. B. auch in ländlichen Regionen) waren. Massey (1984, S. 132) bezeichnet die 1950er Jahre (Balchin und Bull 1987, S. 44). sogar als wasted decade, weil die günstigen volkswirt- Die wirtschaftliche Situation in den entwicklungs- schaftlichen Bedingungen jener Zeit nicht genutzt wur- schwachen Regionen des Landes verschlechterte sich den, um die Ursachen regionaler Disparitäten, nämlich Anfang der 1960er Jahre trotz der eingeführten Maß- die ihnen zugrunde liegenden Wirtschaftsstrukturen, nahmen zusehends. In dieser Situation gründete die durch eine aktive regional policy anzugehen. konservative Regierung im Jahre 1961 das National E conomic Development Council und das National Eco- nomic Development Office (Nedc und NEDO). Die Die Wiederbelebung der regional policy wesentliche Aufgabe beider Einrichtungen war es, die gegen Ende der 1950er Jahre Gewerkschaften, die Arbeitgeber und die Regierung auf eine gemeinsame wirtschaftspolitische Linie zu bringen. Gegen Ende der 1950er Jahre setzte landesweit ein wirt- Vor allem sollte die nach wie vor angestrebte Vollbe- schaftlicher Abschwung ein, der zu einer Zunahme der schäftigung über eine höhere Produktivität und damit Arbeitslosigkeit führte, insbesondere in den Problem - über eine Steigerung der nationalen Wirtschaftsleistung regionen. Die damalige konservative Regierung belebte sichergestellt werden. Beide großen Parteien waren daraufhin die Instrumente der regional policy. Da aber überzeugt davon, dass ein nationales Wirtschaftswachs- zu Beginn der 1960er Jahre die Haupterwerbszweige in tum und die Verringerung regionaler Disparitäten in den Altindustrieregionen in eine neuerliche wirtschaft- einer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander stehen. liche Krise gerieten, sah sich die Regierung gezwungen, (Hudson 1989, S. 99). Der Beitrag der Tarifpartner in stärker als zuvor in die Wirtschaft und in den Regionen Form stärkerer Investitionen bzw. einkommenspoliti- einzugreifen. Es entwickelte sich in dieser Zeit zwischen scher Zurückhaltung sollte durch verbindliche Abma- der konservativen und der Labour Party ein Konsens chungen sichergestellt werden. Der Staat seinerseits ver- über die Notwendigkeit sowie über die Art staatlicher pflichtete sich, die Modernisierung der Wirtschaft und Maßnahmen zur Bekämpfung des „regionalen Pro- die Verringerung interregionaler Disparitäten durch blems“. Als vordringlichstes wirtschaftspolitisches Ziel höhere Staatsausgaben voranzutreiben., 7 194 7 Politik und Raumplanung In der „Gluthitze neuer Technologien“: Kehrtwendungen und der allmähliche Übergang Das technokratische Erneuerungsprogramm zur punktuellen Intervention in den Städten: der Labour Party unter Harold Wilson und Die 1960er und 1970er Jahre sein Scheitern Ab der Mitte der 1960er Jahre wurden zahlreiche regio- Die Labour-Regierung, die im Jahre 1964 gewählt nalpolitische Einzelmaßnahmen eingeführt, durch die wurde, trat ihr Amt mit großem Optimismus und mit in den Problemregionen die Arbeitslosigkeit bekämpft dem Ziel an, die unter den Konservativen begonnene und die wirtschaftliche Basis modernisiert werden sollte. interventionistische Politik fortzusetzen bzw. erheblich Im Jahre 1965 wurde mit dem Control of Offices and auszuweiten. Harold Wilson, der durch die „Gluthitze Industrial Development Act (COIDA) zum ersten Mal der neuen Technologie“ (white heat of new technology) der Versuch unternommen, auch den tertiären Sektor in die Wirtschaft des Landes zu beleben suchte, baute in die regional policy einzubeziehen. Durch dieses Gesetz der ersten Hälfte der 1960er Jahre zu diesem Zweck wurde die Schaffung von Büroraum ab einer Fläche von einen Planungsapparat auf, der aus dem Department 278,7 m2 in Südostengland und in den Midlands geneh- for Economic Affairs (DEA; zuständig für die nationale migungspflichtig (Office Development Permits (ODPs) Wirtschaftspolitik) sowie den Regional Economic Plan- mussten eingeholt werden). Gleichzeitig wurde der ning Boards und den Regional Economic Planning Schwellenwert für IDCs in diesen Regionen auf 93 m2 Councils (REPBs und REPCs; zuständig für die regio- gesenkt (in anderen Regionen wurde der alte Wert von nale Wirtschaftspolitik) bestand. Ein zentrales Element 464,5 m2 beibehalten). ODPs und IDCs waren die her- des neuen Planungsapparats war die regionale Wirt- ausragenden Instrumente, mit denen man in den 1960er schaftsplanung, der eine Schlüsselrolle in der Erreichung Jahren das Wachstum in den prosperierenden Regionen eines schnelleren (gesamt-)wirtschaftlichen Wachstums in die entwicklungsschwachen Gebiete des Landes im Rahmen des National Plan (aufgestellt vom DEA) umzulenken hoffte (Balchin und Bull 1987, S. 45). zugedacht war. Im Jahre 1966 jedoch führte der gestie- Das für Regionalentwicklung bedeutsamste Gesetz in gene Druck auf die Zahlungsbilanz des Landes sowie auf dieser Zeit war der im Jahre 1966 verabschiedete Indus- das britische Pfund zu einer drastischen Reduzierung trial Development Act, durch den die (165) development der Staatsausgaben. Diesen Etatkürzungen fielen im sel- districts abgeschafft und stattdessen fünf großflächige ben Jahr die hochfliegenden wirtschaftspolitischen Pla- development areas eingerichtet wurden. Diese develop- nungen zum Opfer. Damit wurde das Ziel aufgegeben, ment areas erstreckten sich fast über die Hälfte des die Modernisierung der regionalen Wirtschaft mit einer gesamten Landes, und in ihnen lebte fast ein Drittel der nationalen Wirtschaftsplanung zu verknüpfen. britischen Bevölkerung. Innerhalb der development Das Scheitern der Wirtschaftspolitik unter Wilson areas standen Investitionsbeihilfen (investment grants) verweist auf mehrere Zusammenhänge, nämlich zum zur Verfügung. Aber auch außerhalb dieser Gebiete för- einen auf die Grenzen, denen staatliches Handeln in derte der Staat industrielle Investitionen mit Zuschüs- einer marktwirtschaftlichen Ordnung gesetzt sind, und sen. Die eingeführten Maßnahmen hoben insbesondere zum anderen auf das Problem, ein derart technokrati- auf die Umsetzung folgender zwei Ziele ab: Zum einen sches Programm in der Verantwortung des Zentralstaa- sollte das wirtschaftliche Wachstum, vor allem aber die tes in einer immer komplexer und pluralistischer wer- industrielle Produktion, insgesamt erhöht werden, um denden Gesellschaft „von oben“ auf den Weg zu bringen so die negative Zahlungsbilanz des Landes dauerhaft und umzusetzen. Das Ende einer umfassenden staat- umzukehren. Und zweitens sollte in den entwicklungs- lichen Wirtschaftsplanung bedeutete aber keineswegs schwachen Regionen zum Zwecke eines Abbaus interre- das Aus für die regional policy und eine hierdurch ver- gionaler Disparitäten ein besonderer Wachstumsimpuls folgte industrielle Umstrukturierung. Auch blieben Voll- gesetzt werden. beschäftigung, der Abbau interregionaler Disparitäten Im Jahre 1967 wurden zusätzlich die special develop- und die Modernisierung der heimischen Wirtschaft ment areas (SDAs) eingerichtet. Es handelte sich hierbei weiterhin die herausragenden wirtschafts- und regional- um Gebiete, in denen die Arbeitslosigkeit besonders gra- politischen Ziele in den 1960er und frühen 1970er Jah- vierend war und die infolgedessen in den Genuss einer ren. Sie besaßen aber entgegen den Ankündigungen der höheren staatlichen Förderung kamen. Regierungen eine geringere Priorität als andere Ziele, Weitere regional- und wirtschaftspolitische Maßnah- allen voran die Erreichung einer positiven Zahlungs - men in den späten 1960er Jahren war zum einen die Ein- bilanz und die Stärkung der britischen Währung. führung von regional employment premiums (REPs), durch die eine Subventionierung der Arbeit in den För- dergebieten eingeführt wurde (Balchin und Bull 1987,, 7.2 Raumbezogene Politik und Planung im Wandel der Zeit 195 7 S. 46), und zum anderen die Gründung der Industrial messene Basis der eigenen politischen Ziele betrachtet. Reorganisation Corporation (IRC), durch die eine be- Neben einigen organisatorischen Umstrukturierungen triebliche Konzentration mittels Fusionierungen geför- im Staatsapparat war vor allem die Schaffung der Scot- dert werden sollte, um hierdurch die heimische Wirt- tish und Welsh Development Agencies (SDA und schaft auf einen ausgedehnten Exportkurs zu bringen. WDA) im Jahre 1975 bedeutsam für die Entwicklung Zwischen 1964 und 1969 war das jährliche Volumen der der regional policy in dieser Zeit. Die Einrichtung von Regionalfördermittel deutlich angestiegen, und zwar SDA und WDA war eine Antwort des Staates auf den von 30 Mio. auf 260 Mio. Pfund. Der größte Teil dieser zunehmenden nationalistischen Druck von der kelti- Summe, nämlich 254 Mio. Pfund (im Jahre 1969), schen Peripherie. Sie führte in anderen Regionen, z. B. wurde für die genannten Förderinstrumente zur Mobi- in Nordostengland, zu einem Ruf nach ähnlichen Insti- lisierung der Arbeit aufgewendet, während nur ein tutionen bzw. nach Unterstützung schon bestehender geringer Teil, nämlich 2,8 Mio. Pfund, für Maßnahmen Einrichtungen durch die britische Regierung (Hudson zur Erhöhung der räumlichen Mobilität der Arbeiter zur 1989, S. 76 f.). Verfügung stand (Balchin und Bull 1987, S. 46). Durch den Industry Act des Jahres 1975 wurde ferner Als im Jahre 1970 die Konservativen unter Edward das National Enterprise Board (NEB) geschaffen, mittels Heath die Regierung übernahmen, erfolgte in den ersten dessen die Regierung tief in die Wirtschaft des Landes beiden Jahren eine deutliche wirtschafts- und regional- eingreifen konnte. Das Budget in einer Höhe von 1 Mrd. politische Kehrtwende. Zwar blieben die Konservativen Pfund sollte den Fördergebieten des Landes zugute bestimmten politischen Zielen ihrer Vorgänger treu (der kommen (Armstrong und Taylor 1985, S. 315), wo die Beschleunigung des nationalen Wirtschaftswachstums, Regierung durch gezielte Investitionshilfen sowie durch der Modernisierung der Industrie und einer ausge- den Einkauf in (vorübergehend) geschwächte Unter- glicheneren regionalen Entwicklung), doch sollten diese nehmen des verarbeitenden Gewerbes vor allem die weniger durch staatliche Intervention als vielmehr rapide Talfahrt des Arbeitsmarktes aufzuhalten ver- durch das freie Spiel der Marktkräfte erreicht werden. So suchte (Hudson 1989, S. 79). sollten die „Nieten“ (lame ducks), wie wenig profitable Die weltweiten Wirtschaftsprobleme der Jahre 1973 bzw. krisenanfällige Unternehmen genannt wurden, bis 1975, die vor allem durch die massiven Ölpreis- nicht weiter subventioniert werden. Und auch die schübe in Gang gesetzt worden waren, zwangen die Instrumente der regional policy wurden einer Revision Regierungen aller fortgeschrittenen Volkswirtschaften unterzogen. Im Wesentlichen bestanden die Verände- zu einschneidenden wirtschafts- und finanzpolitischen rungen hier in einer (teilweisen) Umstellung von Sub- Maßnahmen. Auch die britische Regierung blieb trotz ventionen auf Steuererleichterungen, wie sie im Weiß- der heimischen Ölvorkommen hiervon nicht verschont; buch Investment Incentives des Jahres 1970 niedergelegt das Außenhandelsdefizit des Landes belief sich 1974/75 waren (Balchin und Bull 1987, S. 47). Hinter diesen Ver- auf 3 Mrd. Pfund, eine „galoppierende“ Inflation führte änderungen stand die Überlegung, dass Steuergeschenke zu exorbitanten Lohnforderungen von mitunter über die Rentabilität der Unternehmen erhöhen, Ineffizienz 30 %, und das Bruttosozialprodukt fiel um 2,5 %. Zwei hingegen bestrafen. Handlungsalternativen boten sich der Regierung in die- Als aber im Jahre 1972 die landesweite Arbeitslosig- ser Situation: der Weg in den Protektionismus oder die keit den Nachkriegshöchststand erreicht hatte, sah sich massive Reduzierung der Staatsausgaben. Die Regierung Heath gezwungen, seinen politischen Kurs zu ändern. entschied sich im Jahre 1975 für die zweite Option und Es folgte der viel zitierte U-turn, also die Kehrtwendung leitete damit das Ende einer seit Kriegsende verbind- in der konservativen Politik der frühen 1970er Jahre, lichen Vollbeschäftigungspolitik ein, aber auch das Ende die insbesondere durch den Industry Act von 1972 ver- eines 13 Jahre währenden parteiübergreifenden Konsen- sinnbildlicht wird. Die in diesem Gesetz verankerten ses über die Notwendigkeit und die Art staatlicher Inter- Maßnahmen waren, ironischerweise, deutlich interven- vention zur Lösung des regional problem. tionistischer als alle unter der vorangegangenen Labour- Von den durch die Labour-Regierung vorgenomme- Regierung eingeführten Instrumente. Auch wurden nen Ausgabenkürzungen waren auch die Instrumente lame ducks, wie beispielsweise Rolls Royce durch Ver- der regional policy betroffen. Die Etatstreichungen sind staatlichung, vor dem Ruin bewahrt. aber nicht allein durch den Wunsch der Regierung Die Labour Party, die im Jahre 1974 die Regierungs- erklärbar, den Staatshaushalt spürbar und schnell zu geschäfte wieder übernahm, setzte die wirtschafts- und entlasten, sondern sie sind auch im Zusammenhang mit regionalpolitische Linie der konservativen Regierung der immer lauter werdenden Kritik an der Effektivität unter Heath zunächst im Wesentlichen fort. Der Indus- der regional policy zu sehen (vgl. im folgenden Damesick try Act, entsprechend modifiziert, wurde als eine ange- 1987, S. 43 ff.)., 7 196 7 Politik und Raumplanung Ein weiterer Erklärungshintergrund ist in der verän- gleich mit anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten: derten Wahrnehmung räumlicher Disparitäten durch „Die Briten zogen mit dem ‚Town and Country Planning die politisch Verantwortlichen auszumachen. Das sog. Act‘ von 1947 – einem wirklichen Meilenstein in der inner city problem, das bereits in den 1960er Jahren in Planungsgeschichte – die Konsequenzen aus einem kon- Form verstärkter sozialer Problemlagen, insbesondere tinuierlichen und intensiven Nachdenken über die künf- im Zusammenhang mit ethnischen Minderheiten, in tigen Erfordernisse und schufen damit ein der Aufgabe den Innenstadtbereichen der Großstädte in das Blickfeld angemessenes Rechtswerkzeug“ (Albers 1996, S. 5). der Politik rückte, drängte das regional problem in den Ähnliches lässt sich über die regional policy konstatie- 1970er Jahren zunehmend in den Hintergrund. Diese ren. Auch hier mussten die staatlichen Akteure Erfah- Wahrnehmungsverschiebung lässt sich nicht zuletzt rungen sammeln und lernen, die traditionelle Scheu vor dadurch erklären, dass die erheblichen Schrumpfungs- Eingriffen in das Wirtschaftsleben zu überwinden. Die prozesse in der gewerblichen Wirtschaft in den 1970er Urteile über die Erfolge der regional policy – gemessen an Jahren nicht nur die „klassischen“ Problemregionen den Zielen, die die politisch Verantwortlichen hiermit betrafen, sondern in zunehmendem Maße die Städte im erreichen wollten – fallen unterschiedlich aus. Auf der gesamten Land, insbesondere aber die Innenstadtberei- einen Seite wird hervorgehoben, dass gerade das Prob- che der Agglomerationen. Besonders hart traf der lem der Arbeitslosigkeit ohne die regionalpolitischen Arbeitsplatzabbau den Londoner Großraum, der zwi- Maßnahmen sich erheblich verschärft hätte. Zwar konn- schen 1971 und 1978 26,7 % aller Arbeitsplätze im ver- ten – bis heute – die regionalen Unterschiede in den arbeitenden Gewerbe einbüßte und damit um 17 Pro- Arbeitslosenquoten nicht vollständig aufgelöst werden, zentpunkte über der landesweiten Quote lag. doch ohne ein Eingreifen des Staates zugunsten ent- Die skizzierten Entwicklungen ließen die urban eco- wicklungsschwacher Regionen wäre die Entwicklung nomic regeneration zu dem Schlagwort einer staatlichen hier mit großer Sicherheit dramatischer verlaufen. Auf raumbezogenen Politik ab den späten 1970er Jahren im der anderen Seite wird betont, dass die regional policy Vereinigten Königreich werden. wirtschaftliche Entwicklungen begünstigte, die eine nachhaltige Perspektive ausschlossen, beispielsweise die Etablierung von Zweigunternehmen multinationaler

Fazit

Konzerne („verlängerte Werkbänke“), die in wirtschaft- lich schwierigen Zeiten entweder ganz aufgaben oder Die beiden hier vorgestellten raumbezogenen Politikfel- aber erheblich schrumpften. Auf einer grundsätzlichen der haben der britischen Gesellschaft und den räum- Ebene heben Kritiker wie beispielsweise Doreen Massey lichen Strukturen des Landes nachhaltig ihren Stempel hervor, dass das Potenzial der regional policy – im Ver- aufgedrückt. bund mit anderen Interventionsformen des Zentralstaa- Durch das sukzessiv etablierte System von town and tes – nicht genutzt wurde, um ein grundlegendes Pro- country planning wurden zunächst die großen Stadtent- blem der wirtschaftsräumlichen Strukturen des Landes wicklungsprobleme des Industriezeitalters angegangen. anzugehen: die alles überragende Bedeutung Londons. Dabei hat sich gezeigt, dass bestimmte Instrumente zwar halfen, überkommene Missstände abzustellen, nun aber ihrerseits neue Probleme schufen (vgl. die Entstehung Weiterführende Literatur großflächiger uniformer und unwirtlicher Wohngebiete durch das Aufkommen der terrace houses im 19. Jahr- Albers, G. (1996): Entwicklungslinien der Raumplanung in hundert). Die Entwicklung dieser Planungsinstrumente Europa seit 1945. In: disP 127, S. 3–12. war zumeist inkrementell, tastend, auslotend. Das mag Ambrose, P. (1986): Whatever Happened to Planning? London. zwar angesichts der zum Teil gravierenden Problem - Armstrong, H.; Taylor, J. (1985): Regional Economics and lagen kritisch beurteilt werden, andererseits muss man Policy. Oxford. aber auch in Rechnung stellen, dass die Verantwort- Beevers, R. (2002): The Garden City Utopia: A Critical Biogra- lichen Erfahrungen sammeln mussten und auch, gerade phy of Ebenezer Howard. Abingdon. zu Beginn einer stärkeren staatlichen Intervention im Cullingworth, J. B.; Nadin, V. (2002): Town and Country Plan- ning in the UK. London. 19. Jahrhundert, die über Jahrhunderte praktizierte Damesick, P. J. (1987): The Evolution of Spatial Economic Zurückhaltung des Staates überwunden werden musste. Policy. In: Damesick, P. J.; Wood, P. (Hrsg.): Regional Pro- Es gab aber auch Zeiten der „großen Würfe“ bzw. „Ent- blems, Problem Regions, and Public Policy in the United würfe“. Vor allem die Gesetzgebung in der unmittelba- Kingdom. Oxford, S. 42–63. ren Nachkriegszeit wird von Planungsexperten noch Heineberg, H. (1997): Großbritannien: Raumstrukturen, Ent- heute als besonders herausragend gelobt, auch im Ver- wicklungsprozesse, Raumplanung. Gotha., 7.3 Raum als Markt – Folgen des Staatsverständnisses der Ära Thatcher 197 7 Hudson, R. (1989): Wrecking a Region. State Policies, Party Schaut man sich die Studie Cities Unlimited – Making Politics, and Regional Change in North East England (= Stu- Urban Regeneration Work genauer an, stellt man fest, dies in Society and Space). London. dass sie keineswegs derartig pauschale Empfehlungen Hudson, R.; Williams, A. (1986): The United Kingdom. London. enthält: Die Autoren stellen einleitend fest: „The gap Johnston, R. J.; Taylor, P. J. (1984): The Geography of the British State. In: Short, J. R.; Kirby, A. (Hrsg.): The Human Geogra- between successful and unsuccessful towns and cities phy of Contemporary Britain. Basingstoke, S. 22–39. has widened despite a decade of ambitious regeneration Law, C. M. (1981): British Regional Development Since World policies. ... regeneration policy over the last decade has War 1. London. failed“ (Leunig und Swaffield 2007, S. 8). Diesem Um- Massey, D. (1984): Spatial Divisions of Labour. Social Structu- stand liegen aus ihrer Sicht langfristige wirtschaft liche res and the Geography of Production (= Critical Human und regionalräumliche Wandlungsprozesse zug runde, Geography). Basingstoke. die seit dem 19. Jahrhundert gewachsene indus t rielle Office for National Statistics (Hrsg.) (2008): Regional Trends Strukturen im Nordwesten und Nordosten Englands, in 40. London. Wales und in Schottland obsolet werden ließen. Frühere Peden, G. C. (1985): British Economic and Social Policy. Lloyd Standortvorteile von Städten wie Liverpool, Manchester, George to Margaret Thatcher. Oxford. Newcastle, Cardiff oder Glasgow haben sich dadurch mittlerweile in ihr Gegenteil verkehrt. Daher raten sie zu einer in der Tat radikal dezentrali- 7.3 Raum als Markt – Folgen sierten und marktorientierten Umsteuerung der briti- schen Stadtentwicklungspolitik: Statt weitere Milliarden des Staatsverständnisses in zentralstaatliche Programme zur Revitalisierung von der Ära Thatcher Küsten- und Industriestädten im Norden, in Schottland und in Wales zu investieren, sollte die Regierung in Lon- don diese Mittel lieber den gewählten Lokalregierungen Richard Stinshoff zuweisen.

Cities Unlimited oder: „They could spend the money on traditional regeneration Soweit die Märkte tragen ideas, such as supporting local firms or attracting inward

investment. They could use the money to revitalise town centres or provide infrastructure links. Or they could pursue Ein Sturm der Entrüstung ging Mitte August 2008 durch a more people-oriented strategy and finance job clubs or den Norden des Vereinigten Königreiches, gerade als skills training courses. If a local authority believes that David Cameron, Vorsitzender der konservativen Partei attracting entrepreneurs is the right approach, then it Großbritanniens, zu einer Reise in mehrere nordengli- would be perfectly legitimate to spend money providing sche Wahlkreise aufbrechen wollte: Policy Exchange, eine facilities to do so. All local authorities would have the right der konservativen Partei nahestehende Ideenschmiede to use the money to create a unique selling point – the best (think tank), hatte wenige Tage zuvor eine Studie veröf- parks in Britain, the most trees – to get away from being an fentlicht, in der die wirtschaftliche Regenerationsfähig- identikit town. A council could decide to attract parents who care about education by spending its money on keit zahlreicher nordenglischer Städte, darunter Liver- schools. It may well be the case that doubling teachers’ pay pool und Sunderland, höchst skeptisch beurteilt wurde. and cutting class sizes substantially would transform Regionale und nationale Presse, Parlamentsabgeordnete schools and attract new people. Affluent Manchester wor- und Politiker jeder Couleur überboten sich in ihrer Ent- kers, for example, might be attracted to buy homes in the rüstung und Kritik angesichts dieses vermeintlichen catchment areas of such schools in Rochdale. Their Aufrufs der insbesondere dem Parteiführer Cameron demand for local goods and services would create jobs. nahe vermuteten Denkfabrik, den Norden ökonomisch, Finally, an area that decided that there was no realistic sozial und politisch abzuschreiben. Selbst jenseits des chance of regeneration could use the money to help local Ärmelkanals titelten Tageszeitungen wie die Süddeutsche people to find work elsewhere and to cut taxes for those Zeitung (18./19.8.08): „Schließt Liverpool! Experten who remained“ (Leunig und Swaffield 2007, S. 6 f.). empfehlen, marode nordenglische Städte aufzugeben“. Prompt beeilte sich die Labour-Abgeordnete und Minis- Ohne die analytischen Details der Studie und die Plau- terin für Kommunalangelegenheiten, Hazel Blears, die sibilität ihrer marktradikalen Folgerungen zu problema- Wogen zu glätten, und rühmte die Wiederbelebung tisieren soll im Folgenden auf zwei grundsätzlichere zahlreicher britischer Städte als eine der großen Erfolgs- Gesichtspunkte eingegangen werden, die sie jenseits der geschichten des letzten Jahrzehnts. von ihr ausgelösten tagespolitischen Wellen aufwirft., 7 198 7 Politik und Raumplanung Cities Unlimited und die von ihr ausgelösten kontro- versen Reaktionen in den Medien demonstrieren die Kontinuität sozioökonomischer Realitäten und politi- scher Empfindlichkeiten diesseits und jenseits der sog. North-South Divide. Diese zum soziokulturellen Stereo- typ geronnene Formel bezeichnet eine von der Mün- dung des Severn zur Wash-Bucht verlaufend gedachte Trennlinie der räumlichen Ungleichverteilung von Arbeits- und Lebenschancen im Vereinigten Königreich. Ungeachtet der sich im Detail differenzierter darstellen- den wirtschaftsgeographischen Sachverhalte ist sie zu einem vor allem in jüngster Vergangenheit öfter bemüh- ten kulturellen Stereotyp für die seit den 1980er Jahren wieder verstärkt hervortretenden räumlichen Muster sozioökonomischer Ungleichheit geworden. Darüber hinaus verweist Cities Unlimited auf die Aktualität eines grundlegenden Musters konservativer Abb. 7.3 Londoner’s View, Teil einer Neujahrskarte für das Jahr 1971, die der Doncaster and District Development Council oder, besser, neokonservativer Vorstellungen von Stadt- an Politiker, Verwaltungsbeamte und Firmenleitungen im Groß- erneuerung und Regionalentwicklung seit der Ära der raum London verschickte. Quelle: Gould und White 1974, S. 40. Premierministerin Thatcher: ihrer Angebotsorientie- rung, die dem Markt und seinen Steuerungsmechanis- men den Vorzug vor einer auf politisch ausgehandelte Ziele bezogenen staatlichen Planung gibt. produktiv, innovativ und egalitär gegenüber einem als Der zweite Aspekt führt zur zentralen These dieses vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialstrukturen kon- Abschnitts, nämlich dass sich Denkmuster und Realitä- servierend, gleichwohl aber auf nationaler politischer ten der Raumentwicklung im Großbritannien der letz- Vorherrschaft pochend vorgestellten Süden wahrnahm. ten 30 Jahre als Folge des neoliberal/neokonservativen Dieser diskursiven Konstruktion entsprach die wirt- Staatsverständnisses der Ära Thatcher verstehen lassen. schaftliche Realität allerdings allenfalls auf den ersten Dies soll beispielhaft an Elementen der Stadtentwick- flüchtigen Blick – ganz zu schweigen von einer Vorrang- lungspolitik unter Thatcher gezeigt werden. stellung der Industrieregionen des Nordens gegenüber dem Süden. Ab etwa 1870 trat die ökonomische und

The North-South Divide: politische Dominanz Londons und der home counties

genannten umliegenden Regionen des Südostens wieder

Eine unendliche Geschichte? deutlicher hervor. Mit der zunehmenden internationalen

Orientierung der Londoner Kapital- und Kreditmärkte Die nebenstehende Karikatur einer mentalen Landkarte und seines Finanzdienstleistungssektors erreichte dieser Großbritanniens aus Londoner Perspektive zeigt, dass Prozess bereits vor dem Ersten Weltkrieg einen Höhe- hinter dem metaphorischen Konstrukt der Trennung punkt. Der beginnende Niedergang der altindustriellen des Landes in Nord und Süd mehr steckt als ein wirt- Sektoren des Nordens nach dem Ersten Weltkrieg ver- schaftliches Gefälle – es geht auch um ein regionales stärkte dann das regionale wirtschaftliche Gefälle von Gefälle im politischen und kulturellen Raum. Die ironi- Süd nach Nord bis zur Klimax in der Weltwirtschafts- schen Anspielungen auf die sich als Gipfel der sozio- krise der 1930er Jahre. Das soziale Elend der depressed kulturellen Entwicklung imaginierende Metropole Lon- areas Nordenglands, von Zeitgenossen wie George don im Vergleich zur vermeintlichen Rückständigkeit Orwell in Road to Wigan Pier (1937) eindrucksvoll des peripheren Hinterlandes sind unverkennbar und beschrieben, ließ erstmals die Notwendigkeit raum- und haben eine lange Vorgeschichte – mit unterschiedlichen infrastrukturpolitischer Interventionen des Zentralstaa- Akzentuierungen. So thematisierte z. B. noch Elizabeth tes deutlich werden. Gaskells Roman North and South von 1855 das Span- Aus diesen knappen Andeutungen wird deutlich, dass nungsverhältnis zwischen einem seit den Anfängen der vorhandene regionale Unterschiede und Spannungen, Industrialisierung im 18. Jahrhundert entstandenen seien sie politischer, sozialer, wirtschaftlicher oder kul- Selbstbewusstsein des Nordens gegenüber dem Süden tureller Natur, spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein Englands: Gaskell zeichnete das Bild eines industriali- zentrales Thema der inneren Entwicklung Großbritan- sierten Nordens, der sich als autonom, wirtschaftlich niens waren. Die Genese dieser Spannungen lässt sich, 7.3 Raum als Markt – Folgen des Staatsverständnisses der Ära Thatcher 199 7 allerdings weit vor den Beginn der Industriellen Revolu- Dienstleistungssektoren (öffentlich und privat) geschaf- tion bis zur Entstehung des Nationalstaates unter den fen wurden. Zudem wandelte sich die Struktur von Tudors zurückverfolgen. Erwerbsarbeit erheblich: weg von lebenslanger Vollzeit- Aber erst die Erfahrungen mit einer umfassenden beschäftigung hin zu Formen von Teilzeitarbeit, kurz- staatlichen Wirtschaftsplanung während des Zweiten fristigen Arbeitsverhältnissen usw. mit entsprechend Weltkrieges führten zum keynesianischen Interventio- problematischen Folgen für die sozialstaatlichen Ele- nismus der Labour-Regierungen 1945–51 mit dem Ziel, mente der Daseinsvorsorge. Die parallel dazu in Öffent- bestehende soziale Ungleichheiten zu verringern und lichkeit und Wissenschaft wieder aufgelebte Diskussion damit auch regionale wirtschaftliche Disparitäten abzu- über die North-South Divide ist unmittelbarer Ausdruck bauen. Die Instrumente stellten eine – europaweit lange dieser Entwicklungen. als Vorbild wahrgenommene – systematische, zielorien- tierte Regionalpolitik und Regionalplanung der Lon- doner Zentralregierung zur Verfügung. Das Wichtigste The free economy and the war der in Grundzügen noch heute geltende Town and strong state – das Politikmuster Country Planning Act von 1947, der erstmals flächende- ckend verbindliche staatliche Raumplanungskompeten- des Thatcherismus zen und -verfahren gesetzlich verankerte (Abschnitt 7.2). Kaum weniger bedeutsam war der New Town Act Doch nun einen Blick auf die den wirtschaftlichen von 1946, der bis Ende der 1960 Jahre zur Gründung von Strukturwandel flankierenden politischen Rahmenbe- 28 neuen Städten zur Entlastung Londons und der alt- dingungen: Angesichts der mangelnden Erfolge der industriellen Ballungsräume des Nordwestens und Regierungen Heath (Conservative 1970–1974), Wilson Nordostens führte. (Labour 1974–1976) und Callaghan (Labour 1976– Ungeachtet vielfacher Klagen über das im europä- 1979) bei der Bewältigung der seit 1970 sich rasch ver- ischen Vergleich deutlich geringere Wirtschaftswachstum schärfenden wirtschaftlichen Krise des Landes kritisierte Großbritanniens trug der bis Anfang der 1970er Jahre Margaret Thatcher, seit sie 1975 den 1974 abgewählten anhaltende wirtschaftliche Aufschwung des gesamten Edward Heath als Parteivorsitzende der Konservati- Landes ein Übriges zum Zurücktreten des Nord-Süd- ven abgelöst hatte, den in der Formel vom postwar Gefälles bei – zumindest in der öffentlichen Wahrneh- consensus zusammengefassten keynesianisch-wohl- mung, wenn auch nicht unbedingt in den wirtschaft- fahrtsstaatlichen Grundkonsens aller bisherigen Nach- lichen Daten. Allerdings zeichnete sich dann in den kriegsregierungen. Das Ergebnis seien eine staatliche nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die Bevormundung der Gesellschaft, die Knebelung der übrigen kapitalistischen Demokratien Europas und Marktkräfte durch staatliche Interventionen und durch Nordamerikas krisenhaften 1970er Jahren immer deut- die Macht der kollektiven Großorganisationen (sprich licher ein wirtschaftlicher Paradigmenwechsel ab: Paral- der Gewerkschaften) sowie die wohlfahrtsstaatliche lel zum Niedergang klassischer, überwiegend national- Gängelung des Einzelnen (Kastendiek und Stinshoff staatlich organisierter Formen industriekapitalistischer 2006, S. 104). Waren- und Güterproduktion bildete sich auf der Die andauernde Überforderung des Staates habe Grundlage einer immer stärkeren globalen Arbeitstei- letztlich zu seinem Versagen geführt. Das britische lung ein rasch wachsender, von Dienstleistungen, Infor- Modell einer korporatistisch verfassten wohlfahrtsstaat- mationstechnologien und Wissen(schafts)produktion lichen sozialen Demokratie sei gescheitert. Daher sei es dominierter postindustrieller Kapitalismus heraus. notwendig, mithilfe einer nachhaltigen wirtschaftlichen Auch wenn Waren- und Güterproduktion in Groß- Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik wieder den britannien nach wie vor etwa 20 % zur Wertschöpfung Anschluss an den internationalen technologischen und beitragen, signalisieren Schlagworte wie e-economy, ökonomischen Entwicklungsstand zu gewinnen und knowledge society oder digital capitalism, welcher Art sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten. Darüber die New Economy ist, die heute Arbeits- und Lebensfor- hinaus gehe es darum, die gesellschaftspolitischen Blo- men der britischen Gesellschaft bestimmt. Zudem hat ckaden des kollektivistischen postwar consensus zu über- der wirtschaftliche Strukturwandel in den Jahrzehnten winden, um die Entfaltung individueller Leistungsbe- seit 1980 zu wieder anwachsender sozialer und regiona- reitschaft und Kreativität wieder zu ermöglichen. ler Ungleichheit geführt. Zwischen 1975 und 2000 gin- Rückblickend lassen sich vor allem folgende politi- gen 4 Mio. Arbeitsplätze in herkömmlichen Industrie- schen Globalziele identifizieren, die Margaret Thatcher zweigen (Waren- und Güterproduktion sowie Energie- von diesen ideologischen Grundannahmen ausgehend gew innung) verloren, während mehr als 6 Mio. in verfolgte:, 7 200 7 Politik und Raumplanung

Die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung in den 1970er Jahren

Die besondere Brisanz der britischen Entwicklung in den amerikanischen Dollar Leitwährungsfunktion, vor allem 1970er Jahren ging auf die Kombination vor allem folgender für Mitgliedsstaaten des Commonwealth, hatte), ande- Ursachen zurück: rerseits mit dem Ergebnis einer stop-go policy, d. h. bei • ein seit Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem aber nach jeder drohenden Zahlungsbilanzkrise wurde die Wachs- dem Zweiten Weltkrieg, im Vergleich zu den übrigen kapi- tumspolitik ersetzt, um die internationalen Geldmärkte talistischen Industrienationen anhaltend geringeres zu beruhigen; Wirtschaftswachstum (relative economic decline), dem • hohe Kosten der Aufrechterhaltung einer militärischen strukturelle Schwächen der britischen Industrie wie (Truppenstationierungen, Waffensysteme) und politi- geringeres Produktivitätswachstum und mangelnde Inv es- schen Weltmachtrolle im Rahmen der special relationship titionen insbesondere in innovative Sektoren zugrunde mit den USA; lagen; • trotz zügiger Dekolonisierung nach der Suezkrise (1956) • wirtschaftspolitische Zielkonflikte zwischen keynesiani- verspätete Orientierung auf den entstehenden kontinen- scher Konjunkturstützung und proaktiver Wachstumspo- taleuropäischen Wirtschaftsraum der europäischen Ge - litik einerseits sowie Beibehaltung eines überhöhten meinschaften (Beitritt zur EWG erst 1973). Wechselkurses des britischen Pfundes (das neben dem • das Aufbrechen korporatistischer Verkrustungen ins- beraler und neokonservativer Grundhaltungen und Ele- besondere durch die gesetzliche Regulierung der mente aus, die sich in der Formel the free economy and mittlerweile allgemein als übermächtig und kaum the strong state prägnant zusammenfassen lassen. Darin mehr kontrollierbar wahrgenommenen Gewerk- verbindet sich der Glaube an die gesellschaftlich läu- schaften; ternde Kraft des freien Marktes und die notwendige • umfassende wirtschaftliche Strukturreform, d. h. Beschränkung des Staates auf Kernfunktionen wie wirksame Inflationskontrolle durch gezielte Geld- innere und äußere Sicherheit, Rechtssicherheit und mengensteuerung, ein möglichst weitgehender Rück- Geldwertstabilität (rolling back the frontiers of the state) zug des Staates aus der Wirtschaft, also Privatisierung mit der Überzeugung, dass der Staat in diesen Bereichen des immerhin ein Viertel des Produktivkapitals um - nach innen und außen Führungs- und Handlungsfähig- fassenden staatlichen Sektors, weil er (aufgrund des keit zeigen müsse. sog. crowding out-Effekts) die Initiative privater Derartige neokonservative Orientierungen wurden Akteure verdränge, und Förderung der Angebotsseite nach außen im Falklandkrieg von 1982 und der damit durch Deregulierung und Steuersenkungen; einhergehenden Stärkung des britischen Patriotismus • Umbau gesellschaftlicher Wertvorstellungen weg von deutlich, nach innen in den massiven Polizeieinsätzen der lähmenden Bevormundung des Einzelnen durch im Bergarbeiterstreik von 1984/85. Zahlreiche weitere den als nanny state karikierten zentralistisch organi- Beispiele lassen sich nennen, z. B. die gesetzliche Ein- sierten Sozialstaat hin zu mehr individueller Initia- schränkung des Streikrechtes und der Organisationsau- tive, Selbstverantwortung, Unternehmensgeist und tonomie der Gewerkschaften oder die Verschärfung des Konkurrenzbereitschaft, kurzum zu einer enterprise Polizeirechtes (z. B. mit der Ausweitung der stop and culture. search powers der Polizei im Police and Criminal Evi- dence Act 1984) zur besseren Disziplinierung potenziel- Bei der Umsetzung dieser Ziele in ihren drei Amtszeiten ler (meist jugendlicher) Rechtsbrecher. als Premierministerin (1979–1990) handhabte Marga- Wie Frau Thatcher in Reden gern betonte, ging es ret Thatcher ihre politischen Instrumente durchaus nach den vermeintlich permissiven und disziplinlosen pragmatisch und flexibel. Daher ist der nach ihr be - 1960er und 1970er Jahren gesellschaftspolitisch um die nannte Thatcherismus eher als ein lockeres Bündel von Rehabilitierung von traditionellen Werten wie Fleiß, Merkmalen denn als ein geschlossenes Politikmodell zu Anstand, Ehrlichkeit, Respekt, Selbstvertrauen und Leis- sehen. Gleichwohl zeichnet sich der Thatcherismus im tungsbereitschaft. Vergleich zu anderen zeitgenössischen neoliberalen Poli- Was die neoliberalen Elemente angeht, so erhielten tikmustern durch eine spezifische Kombination neoli- Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität unbe-, 7.3 Raum als Markt – Folgen des Staatsverständnisses der Ära Thatcher 201 7

Die Folgen des Thatcherismus

Die ökonomische Bilanz des Thatcherismus ist eher durch- spürbar von 31,1 auf 37,2% des Jahreseinkommens. Insbe- wachsen, die sozialen Folgen katastrophal: Zwar stiegen Pro- sondere wuchs die Polarisierung der Gesellschaft in Arm und duktivität (BIP pro Kopf der Erwerbstätigen) und Wirt- Reich: Der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, schaftswachstum und die Inflationsrate sank deutlich, lag d. h. mit weniger als 50% des Durchschnittseinkommens, aber 1997 immer noch über der der europäischen G8-Staa- verdreifachte sich von 1979 bis 1992 von 7 auf 21%; und ten. Auch die direkten Steuern sanken, doch insgesamt stie- während das durchschnittliche Familieneinkommen im glei- gen die Staatsausgaben und damit die Steuerlast der Bürger chen Zeitraum um 37 % stieg, nahm das der ärmsten 10% um ungeachtet der beträchtlichen Einnahmen des Staates aus 18% ab. Privatisierungserlösen und Schürfrechten für Nordseeöl dingten Vorrang, d. h., es wurde sofort nach dem ersten fing an sich zu beschleunigen. Parallel dazu begann die Amtsantritt versucht, ausgeglichene Haushalte durch (bis 1987 abgeschlossene) Privatisierung staatlicher restriktive Ausgabenpolitik, Einsparungen und Rück- Betriebe; für den Erwerb der ausgegebenen Aktien führung der staatlichen Nettokreditaufnahme zu errei- wurde u. a. bei Kleinanlegern intensiv geworben; ferner chen. Auf kreditfinanzierte Konjunkturprogramme wurde der Wohnungsbestand der öffentlichen Hand (deficit spending) wurde von nun an verzichtet. Zudem (meist der Kommunen) in großem Stil privatisiert, wurden Haushaltsprioritäten neu gewichtet: Durch meist durch Verkauf an die ehemaligen Mieter. Der frü- Wiedereinführung der Bedürfnisprüfung bei der Ge - here konservative Premierminister Macmillan geißelte währung von Sozialleistungen sowie Deckelung bzw. diese Politik in einer Rede im Oberhaus als „selling the Reduktion von Leistungen wurde versucht, die Sozial- family silver“. ausgaben zu reduzieren. Dagegen stiegen die Etats für Flankiert wurden diese Maßnahmen – ideologisch als Verteidigung und Inneres (u. a. Ausbau der Polizei) Mittel zur Erreichung einer property owning democracy deutlich. Gleichzeitig zog sich der Staat aus der tripartis- gerechtfertigt – durch Deregulierungsmaßnahmen des tischen Aushandlung von Lohn- und Preisrichtlinien Unternehmensrechtes, des grenzüberschreitenden Kapi- zurück und gab diesbezügliche Festlegungen und Kon- talverkehrs und des Arbeits- und Sozialrechtes (u. a. trollen auf. Enttariflichung, Abschaffung von Mindestlöhnen und Diese den Lehrbüchern monetaristischer Ökonomen Kündigungsschutz). Der Staat wollte und sollte nicht der neoliberalen Chicagoer Schule entstammenden länger Garant von Arbeitnehmerrechten und sozialen Maßnahmen führten in den Jahren bis 1983 zu einem Mindeststandards sein. Als Folge schoss die Zahl der beispiellosen Rückgang der industriellen Produktion in Teilzeit- und Kurzzeitarbeitsverhältnisse in die Höhe; Großbritannien. Die Arbeitslosigkeit stieg offiziell auf nur noch etwa 40 % der Erwerbsbevölkerung verfügten über 3 Mio. (de facto etwa auf 4 Mio.), und es kam über einen sicheren Vollzeitarbeitsplatz, der Rest hatte zu einer seit den 1930er Jahren nicht mehr gesehenen mehr oder weniger unsichere Teilzeitarbeitsplätze, ging Zahl von Firmenzusammenbrüchen. Insbesondere die Gelegenheitsarbeit nach oder war arbeitslos. Am Ende „alten“ Industrien (Textil, Stahl, Schiffbau und Kohle) der Ära Thatcher war die Zahl der Familien ohne jede im Nordwesten und Nordosten, in Schottland und in Vollzeitarbeitskraft von 29 auf 37 % gestiegen. Wales erfuhren eine irreversible Kontraktion. Angesichts Wie sieht die Bilanz der konservativen Regierungs- inflexibler Qualifikationsstrukturen und fehlender Be- jahre von 1979 bis 1997 aus? schäftigungsalternativen hatte diese Entwicklung lokal und regional erheblich über dem Durchschnitt liegende „Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das von Margaret Arbeitslosigkeit, großflächige Industriebrachen, Ver- Thatcher eingeleitete Modernisierungsprogramm auf dem ödung der Innenstädte und Verarmung großer Teile der Rücken großer und vor allem der schwächeren Teile der Bevölkerung zur Folge. Bevölkerung ausgetragen wurde. ... [Es] dürfte kaum ein Dagegen verzeichneten London und die umliegen- Zweifel bestehen, dass sich in Großbritannien seit dem den Regionen ab Mitte der 1980er Jahre ein deutliches Ende der siebziger Jahre ein Typ kapitalistischer Entwick- Wachstum des tertiären Sektors, insbesondere im lung herausgebildet hatte, der eher dem amerikanischen als dem damals noch vorherrschenden europäischen Modell Bereich der Finanzdienstleistungen. Der Wandel zu folgte“ (Kastendiek und Stinshoff 2006, S. 107 f.). p ostindustriellen Formen von Arbeit und Wirtschaft, 7 202 7 Politik und Raumplanung

Zentralstaat und Peripherie: Lösungen. Natürlich waren die Probleme der Stadtzen- Die alte und neue politische tren in den altindustriellen Ballungsgebieten – wie

und sozioökonomische Topographie Industriebrachen, fehlende Arbeitsplätze, verwahrloste Großwohnsiedlungen (council estates) mit hoher Kon- zentration von sozial deprivierten Bewohnern – nicht Neben der sich drastisch verstärkenden wirtschaftlichen neu. So hatte bereits ein White Paper von 1977 „new und sozialen Ungleichheit ließ sich ein weiteres Charak- town style development corporations to tackle inner teristikum der Ära Thatcher beobachten: die Stärkung areas“ vorgeschlagen. Aber die damalige Labour-Regie- des Zentralstaates. Das wohl bekannteste Beispiel neben rung war hinsichtlich der lokalen Akzeptanz solcher der Abschaffung der Metropolitan Counties (Gebiets- Stadtentwicklungsgesellschaften skeptisch geblieben: körperschaften für Greater London und sechs weiterer Ballungsgebiete) war die schrittweise Einschränkung der Finanzautonomie der gewählten Kommunalregie- „The task in inner areas is quite different to green field development where there is only a small existing popula- rungen bis hin zur Einführung einer personenbezoge- tion. Development will be needed, but it will also be a mat- nen Kommunalsteuer, der community charge, besser ter of modifying the provision of local authority services and bekannt als poll tax, deren Höhe zentral durch das of working with residents to secure the improvement of zuständige Ministerium in London festgesetzt wurde. housing, the environment, and community facilities. In Die Verärgerung über diese neue Besteuerung, die das these circumstances it is important to preserve accounta- alte System der lokal festgesetzten Grundsteuern ablöste, bility to the local electorate“ (zitiert nach Cullingworth und war denn auch eine der wesentlichen Ursachen des Stur- Nadin 1994, S. 205). zes von Margaret Thatcher. Daneben nährte die stetige Zunahme von sog. Quan- Aber die Deindustrialisierungswelle ab 1979 hatte auch gos (quasi autonomous non-governmental organizations) die sozioökonomischen Probleme der inner cities ver- wie OFGAS (Office of Gas Supply = Regulierungsbe- schärft, bis sich die aufgestauten Spannungen 1980/81 hörde für die Gasindustrie) oder OFWAT (Office of und 1985 in den inner city riots entluden. In Bristol, Bir- Water Services = Regulierungsbehörde für die Wasser- mingham, Manchester, Liverpool und natürlich London wirtschaft) nunmehr privatisierten Monopolbetrieben kam es in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil ethni- zur Gas- bzw. Wasserversorgung, die der Aufsicht durch scher Minderheiten zu wochenlangen gewalttätigen Ministerien der Zentralregierung, aber nicht durch ge- wählte Gremien unterliegen, die Kritik an ständig wach- senden Kompetenzen des Zentralstaates. Diese Kritik wurde in den Teilen des Landes am lautesten artikuliert, in denen die Bürger sich durch die Regierung in London am w enigsten repräsentiert fühlten. Denn das Nord- Süd-Gefälle schlug sich nicht nur in zunehmend unter- schiedlicher Einkommenshöhe, Beschäftigungsquote und Wirtschaftskraft nieder, sondern auch in der Wahl- geographie des Landes. So hatte sich die Zahl der kon- servativen Parlamentsabgeordneten in Nordengland, Schottland und Wales von 1979 bis 1992 dramatisch ver- ringert, die der Labour Party kontinuierlich erhöht. Nicht zuletzt marginalisierte der Zentralstaat die kommunale Ebene zunehmend in der Stadt- und Regio- nalplanung, insbesondere in den Gebieten der aufgelös- Abb. 7.4 Margaret Thatcher auf ihrem berühmten walk in the ten Metropolitan Counties: Hinsichtlich der Sanierung wilderness (kurz nach ihrem Wahlsieg 1987), bei dem sie das und Revitalisierung heruntergekommener Innenstadt- größte altindustrielle Sanierungsprojekt Europas ankündigte. bereiche entwickelten die Regierungen Thatcher vorbei Im Hintergrund ein aufgelassenes Fabrikgebäude der dem an den planungsrechtlich zuständigen gewählten Kom- industriellen Niedergang der 1980er zum Opfer gefallenen munalregierungen neue Strategien. Dabei ging es nicht Schwermaschinenbaufirma Head Wrightson (British Steel) am Ufer des Tees nahe der nordostenglischen Küste. Nach Ab - mehr um die Realisierung längerfristiger, zwischen schluss der Arbeit der Teeside Development Corporation ste- Lokal- und Zentralregierungen abgestimmter Zielvor- hen hier heute ein Campus der Universität Durham, Büroge- stellungen und Konzepte, sondern eher um kurzfristig bäude und ein Wohnviertel. Quelle: Peter Reimann, http:// auf akuten politischen Problemdruck reagierende www.gazettelive.co.uk., 7.3 Raum als Markt – Folgen des Staatsverständnisses der Ära Thatcher 203 7 Unruhen zwischen vorwiegend jugendlichen Demons - tung der Gebiete der UDCs wurden jeglicher Kontrolle tranten und der Polizei. durch die lokal gewählten Stadtregierungen (local Nach einem Besuch des damaligen Secretary of State authorities) entzogen. Die Stadtentwicklungsgesellschaf- for the Environment Michael Heseltine im Liverpooler ten wurden von Vorständen (Board of Directors) Stadtteil Toxteth unmittelbar nach den dortigen Unru- geführt, die vom Secretary of State for the Environment hen 1981 wurde von der Zentralregierung im Gebiet eingesetzt auch nur diesem für ihr Geschäftsgebaren Merseyside die erste von (bis 1993 insgesamt 14) sanie- verantwortlich waren. Eine Kontrolle war nur mittelbar rungsbedürftigen urban development areas ausgewiesen. über die Verantwortlichkeit des Ministers gegenüber Zu deren Sanierung und Revitalisierung wurden – eben- dem Parlament möglich. Jegliche Zusammenarbeit mit falls von der Zentralregierung – für einen Zeitraum von den lokalen Behörden beruhte ausschließlich auf frei- bis zu zehn Jahren jeweils eine Urban Development Cor- williger Grundlage. Angesichts der Erfahrungen mit den poration (UDC) gegründet, deren Funktionen der Local Ergebnissen der Arbeit der beiden UDCs der sog. ersten Government, Planning and Land Act von 1980 wie folgt Generation (Merseyside und London Docklands Deve- beschreibt: lopment Corporation) kam es allerdings bei den nach- folgenden UDCs mehr und mehr zu einer (freiwilligen) „To secure the regeneration of its area ... by bringing land Kooperation mit den jeweiligen local authorities. and buildings into effective use, encouraging the develop- Neben der Ausschaltung des Einflusses der local autho- ment of existing and new industry and commerce, creating rities war grundsätzlich neu an diesem von Michael an attractive environment and ensuring that housing and Heseltine inaugurierten Ansatz der Gedanke einer social facilities are available to encourage people to live and „‚enterprise solution‘ to social problems“. Dabei ging work in the area“ (zitiert nach Cullingworth und Nadin 1994, man davon aus, dass „private sector investment in the S. 205). inner cities will do more than simply relocate economic activity; it will have far more penetrative effects into the Zur Erfüllung dieser Aufgaben konnten die Stadtent- social and economic life of inner urban areas“ (Deakin wicklungsgesellschaften in dem ihnen zugewiesenen und Edwards 1993, 14). Gebiet nach Gutdünken Grundstücke durch compulsory Gleichwohl bedurfte es schon wenig später, 1985 – die purchasing orders (Zwangsenteignungen) aufkaufen und zweite Generation der UDCs war noch nicht eingerich- sich dort gelegene Grundstücke, die im Besitz der Lokal- tet –, der Einführung eines Koordinierungsinstruments, verwaltung waren, übertragen lassen. Zudem übten sie city action team genannt, um aus einer breiteren regio- in ihrem Gebiet sämtliche planungsrechtlichen Befug- nalen Perspektive die Fülle der sich zum Teil überlap- nisse, z. B. für Baugenehmigungen und Ansiedlung penden öffentlichen und privaten Programme, Initiati- neuer Betriebe, aus. Kurzum, Sanierung und Neugestal- ven und task forces zur innerstädtischen Revitalisierung Abb. 7.5 Blick von dem Restaurant Plaza der Einkaufsmeile Liverpool One auf die in den 1980er Jahren mithilfe der Merseyside Development Corpora- tion restaurierten Lagerhäuser des Albert Dock im Hafen von Liverpool am Fluss Mersey. Heute befinden sich dort Läden, Cafés, und Museen. Quelle: Stinshoff 2009., 7 204 7 Politik und Raumplanung Abb. 7.6 Wohnen im Zentrum von Birmingham am Oozells Street Loop des Birmingham Canal Network. Seit Beginn der 1980er Jahre ist die Innen- stadt von Birmingham unter Einbezug der umfangreichen Infrastruktur der früheren Industriekanäle großflächig umgestaltet und revitalisiert worden. Quelle: Stinshoff 2009. zusammenzuführen. In den Jahren darauf folgten etli- ehemaliger Industriegebäude und -flächen verursachte che weitere zentralstaatliche Programme wie z. B. City Lähmung des örtlichen Immobilien- und Grundstücks- Challenge (1991), die Flächensanierung und -entwick- marktes sei. Angesichts mangelnder Marktorientierung lung mit den Zielen der „provision of opportunities der (ideologisch voreingenommenen) Lokalregierungen for disadvantaged residents“ (Cullingworth und Nadin und -verwaltungen sollten die Sanierung und Vermark- 1994, S. 211) und einer „self-sustaining economic rege- tung derartiger Flächen und Gebäude mittels zentral- neration“ (Department of the Environment Annual staatlich initiierter und kontrollierter Maßnahmen Report 1993, S. 55; zitiert nach Cullingworth und Nadin erfolgen. So wurde relativ kurzfristig attraktives Bauland 1994, S. 211) verbanden. Diese Programme führten bereitgestellt, um private Investoren anzuziehen, deren allerdings zur Reduktion der den local authorities für Aktivitäten – cranes on the horizon – für jedermann Stadtsanierung und -entwicklung in eigener Verantwor- sichtbar demonstrierten, dass sich die maroden Städte tung zugewiesenen Mittel. und Ballungskerne veränderten. Zur beschäftigungspolitischen Unterstützung dieser Inwieweit sie die mit der Formel von der North-South Ziele wurde die seit 1973 für Arbeitsbeschaffungs- Divide bezeichnete Ungleichheit der Lebensbedingun- maßnahmen und berufliche Bildung zuständige Man- gen und soziale Polarisierung in den altindustriellen power Services Commission der Zentralregierung ab Gebieten Großbritanniens abgebaut hat, ist allerdings 1991 durch lokale, aber zentral finanzierte Training and eine andere Frage: 1998 bracht es Merseyside (Liver- Enterprise Councils ersetzt. Sie sollten unter maßgeb- pool) im Vergleich zu London auf weniger als die Hälfte licher Beteiligung der lokalen Wirtschaft die Requalifi- des BIP pro Kopf, Tyneside und Greater Manchester zierung bzw. berufliche Ausbildung vor allem von lagen nur unwesentlich darüber (Wood 2006, S. 216). jugendlichen Arbeitslosen und Schulabgängern fördern Die sich in diesen Proportionen andeutende Situation sowie durch die Finanzierung lokal relevanter Arbeits- wird von den Ergebnissen der bislang neuesten Studie beschaffungsmaßnahmen Investitionen anregen. über die Entwicklung von Armut und Reichtum in Insgesamt erhoffte man sich von den Ergebnissen Großbritannien zwischen 1968 und 2005 bestätigt: dieser Sanierungs- und Revitalisierungspolitik einen nachhaltigen trickle down-Effekt. „… these poverty and wealth datasets indicate that wealth Die durch Erneuerung der physischen Infrastruktur and poverty each demonstrate similar geographical pat- und Ansiedlung neuer Betriebe erhoffte wirtschaftliche terns at every time period. The highest wealth and lowest Belebung sollte nicht zuletzt den ökonomisch und sozial poverty rates tend to be clustered in the South East of benachteiligten Einwohnern in Form von mehr Arbeits- England (with the exception of most of Inner London), con- plätzen und mehr Lebensqualität zugute kommen. Die- versely the lowest wealth and highest poverty rates are ser angebotsorientierten Politik lag die Überzeugung c oncentrated in large cities and the industrialised/de- industrialising areas of Britain. Analyses of the degree of zugrunde, dass ein zentraler Faktor der innerstädtischen polarisation and spatial concentration suggest that Britain’s Misere die von mangelnder Attraktivität ungenutzter, 7.3 Raum als Markt – Folgen des Staatsverständnisses der Ära Thatcher 205 7 Abb. 7.7 Stadtsanierung in der Ära Tony Blair und seiner New-Labour- Regierungen: Blick über Wapping Dock und Salthouse Dock auf die mehr als 10 ha umfassende Einkaufsmeile Liver- pool One, die in den letzten fünf Jahren auf einer hafennahen innerstädtischen Brache mit einem Aufwand von 1 Mrd. Pfund durch einen multinationalen pri- vaten Investor (Grosvenor Property Group, mit Sitz in Dubai, Chairman of Trustees: the Duke of Westminster) errichtet wurde. Die Fläche befindet sich vollständig im privaten Besitz des Investors. Quelle: Stinshoff 2009. population became less polarised with regard to breadline streams and allocate the money to local authorities accor- poverty rates during the 1970s. However, polarisation incre- ding to a simple formula based on the inverse of their ave- ased through the 1980s and the 1990s. Asset wealth rage income levels. … It would be for local authorities to became more polarised during the 1980s, but this trend assess the opportunities, devise a plan for their area and reversed in the first half of the 1990s, before polarisation implement it. They would be answerable not to central could be seen to be increasing again at the end of that government, but to local people“ (Leunig und Swaffield decade“ (Dorling et al. 2007, S. XIII). 2007, S. 6). Das mag auf den ersten Blick verlockend und im Hin-

Ein Fazit: Alter Wein blick auf mehr Kontrolle durch die Betroffenen auch

überzeugend klingen. Aber die vielen bunten Blumen, in neuen Schläuchen? die mittels der Stadtentwicklungs- oder -schrumpfungs- fantasie der local authorities blühen sollen, werden die Zurück zu Cities Unlimited: Sind die Empfehlungen nur strukturellen Probleme der Wirtschaftsräume des Lan- ein Neuaufguss bekannter Strategien der Angebots- des nur dann lösen helfen, wenn sie sich im Rahmen von orientierung von Stadt- und Raumentwicklung? Ange- intra- und interregional abgestimmten strukturpoliti- sichts der hartnäckigen Fortdauer des Nord-Süd- schen Konzepten koordiniert entfalten können. Gefälles schlagen die Verfasser eine Strategie vor, die wie Andernfalls bleibt es beim Vertrauen auf die Selbst- die innerstädtische Revitalisierungspolitik der Thatcher- heilungskräfte der Grundstücks- und Immobilien- Ära auf das Regulativ von Markt und Wettbewerb ver- märkte und des strukturpolitischen Ideenwettbewerbs. traut. Allerdings sind die letzten zehn Jahre nicht spur- Dabei könnte sich diese im modischen Gewand der los an ihnen vorübergegangen: Angesichts der als Devolution daherkommende Abwälzung der Entwick- Devolution bezeichneten politischen Dezentralisierung lung, Realisierung und Kontrolle von Revitalisierungs- des Vereinigten Königreiches seit 1998 unter den von konzepten letztlich als ein weiterer Fall von des Kaisers Tony Blair geführten New-Labour-Regierungen kombi- neuen Kleidern herausstellen. nieren sie die supply side-Strategie der Thatcher-Jahre mit der Empfehlung zur ökonomisch-politischen Devo- Weiterführende Literatur lution der Stadtentwicklung: Baker, A. R. H.; Billinge, M. (Hrsg.): Geographies of England. „Devolution has many advantages. It leads to diversity, and The North-South Divide, Material and Imagined. Cambridge. diversity creates evidence as to what works and what does Cullingworth, J. B.; Nadin, V. (Hrsg.) (1994): Town and Country not. Anyone who believes in evidence-based policymaking Planning in Britain, 11. Aufl. London. should support large-scale devolution. We propose that the Deakin, N.; Edwards, J. (1993): The Enterprise Culture and the Government should roll up current regeneration funding Inner City. London., 7 206 7 Politik und Raumplanung Dorling, D. et al. (2007): Poverty, Wealth and Place in Britain, Entwicklungsgesellschaften (Urban Development Cor- 1968 to 2005. York. porations, UDCs) und Sonderwirtschaftszonen (Enter- Evans, E. J. (2005): Thatcher and Thatcherism, 2. Aufl. London. prise Zones, EZ) sind in den letzten beiden Jahrzehnten Gamble, A. (1988): The Free Economy and the Strong State. des vergangenen Jahrhunderts wichtige Instrumente in The Politics of Thatcherism. Basingstoke. Gould, P.; White, R. (1974): Mental Maps. Harmondsworth. der Stadt- und Regionalentwicklungspolitik Großbri- Kastendiek, H.; Stinshoff, R. (2006): Kontinuität und Umbruch. tanniens gewesen. Sie sind Ausdruck einer spezifischen Zur Entwicklung Großbritanniens seit 1945. In: Kastendiek, Epoche britischer Planungs- und Strukturpolitik, deren H.; Sturm, R. (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien. Vor- und Nachteile, Erfolge und Misserfolge bis heute Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, 3. akt. durchaus umstritten sind. Bemerkenswert an ihnen war und neu bearb. Aufl. Bonn, S. 118–134. vor allem, dass sie radikal – in einer etwa in Mitteleuropa Kastendiek, H.; Rohe, K.; Volle, A. (Hrsg.) (1998): Länderbericht kaum möglichen Weise – mit überkommenen Traditio- Großbritannien. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur., 2. nen und „Philosophien“ des gut entwickelten Systems Aufl. Bonn. der britischen Planungs- und Strukturpolitik gebrochen Leunig, T.; Swaffield, J. (2007): Cities Unlimited – Making haben. Grund hierfür war im Wesentlichen dessen an - Urban Regeneration Work. London. Lewis, J.; Townsend, A. (Hrsg.) (1989): The North-South Divide. gebl icher Misserfolg in den 1970er Jahren. Angesichts Regional Change in Britain in the 1980s. London. dieses radikalen Umbruchs, insbesondere während der Martin, R. L. (2004): The Contemporary Debate over the North- 1980er Jahre, kann es kaum verwundern, dass die Aus- South Divide: Images and Realities of Regional Inequality in einandersetzungen über Sinn und Unsinn dieses Vorge- Late-Twentieth-Century Britain. In: Baker, A. R. H.; Billinge, hens entsprechend scharf waren. M. (Hrsg.): Geographies of England.The North-South Divide, Aus heutiger Sicht muss es darum gehen, die Gründe Material and Imagined. Cambridge, S. 15–43. für diesen radikalen Wandel in der Politik für die Erneu- Massey, D.; Allen. J. (Hrsg.) (1988): Uneven Re-Development. erung von Städten und Regionen zu verstehen, die Cities and Regions in Transition. London. Funktionsweise der Instrumente nachzuvollziehen und Minton, A. (2009): Ground Control. Fear and Happiness in the deren Wirkungen im Hinblick auf die selbst gesteckten Twenty-First-Century City. London. Smith, D. (1989): North and South. Britain’s Economic, Social Ziele, aber auch auf weitere gesellschaftliche Zielsetzun- and Political Divide. London. gen abzuschätzen. Im Folgenden wird daher zunächst Wood, G. (2006): Räumliche Disparitäten und gesellschaftliche auf den Wandel des Staats- und Planungsverständnisses, Entwicklung. In: Kastendiek, H.; Sturm, R. (Hrsg.): Länder- der diese Instrumente hervorgebracht hat, eingegangen, bericht Großbritannien. Geschichte, Politik, Wirtschaft, ehe dann die EZ und UDC genauer vorgestellt werden. Gesellschaft, Kultur, 3. akt. und neu bearb. Aufl. Bonn, Abschließend sollen einige zusammenfassende Überle- S. 206–225. gungen angestellt werden.

Wandel des Staats- und

7.4 Entwicklungsgesell- Planungsverständnisses schaften und Sonderwirt- Jede Untersuchung der Politik zur Erneuerung der schaftszonen: Neoliberale Städte und zur Förderung der Regionalentwicklung in den 1980er Jahren muss – zum besseren Verständnis des

Ansätze der Wirtschafts- Kontextes – die spezifische Geschichte des englischen

förderung und Politik- und Planungssystems sowie die Realisierung eines veränderten Politikverständnisses im Rahmen

Raumentwicklung des Thatcherismus seit dem Jahr 1979 berücksichtigen

(vgl. auch Abschnitt 7.3). Die Zeit nach dem Zweiten Rainer Danielzyk Weltkrieg war in Großbritannien von einem postwar consensus geprägt, der relativ unabhängig von Regie- „There was an increase in central government control in order rungswechseln Bestand hatte und zwei innenpolitische to set up frameworks within which market forces and devel- Schwerpunkte aufwies: zum einen die Akzeptanz einer opers could exert greater freedom. This often involved the mixed economy, in der der Staat direkt Einfluss auf wirt- removal of local democratic procedures. The key features of the schaftliche Kernsektoren haben sollte, zum anderen Thatcher approach to urban policy can be summarized as a gre- die Anerkennung der zentralen politischen Funktion atly enhanced role for the private sector and a property-led von Aushandlungsprozessen zwischen organisierten In - approach to urban regeneration“ (Thornley 1999, S. 185). teressen., 7.4 Entwicklungsgesellschaften und Sonderwirtschaftszonen 207 7 Mit Hinweisen auf die relative Verschlechterung der geführte Kommunen der Verwirklichung eines „lokalen Wettbewerbsposition Großbritanniens auf den Welt- Sozialismus“ – als Gegenpol zum Thatcherismus auf märkten und die Misserfolge von Labour-Regierungen nationaler Ebene – verschrieben hatten. Allerdings bei der Modernisierung des Landes wurde dieses Politik- waren die Ausgangspositionen für diese Auseinanderset- modell in den 1960er und vor allem in den 1970er Jah- zungen von vornherein ungleich, da die britische Verfas- ren zunehmend kritisiert. Die weitverbreitete Unzufrie- sung keine lokale oder regionale Autonomie kennt. So denheit mit den Unzulänglichkeiten des britischen wurden etwa 1986 die Metropolitan County Councils Politik- und Verwaltungssystems wurde dabei von der als übergemeindliche Planungsebene in Verdichtungs- „neuen Rechten“ für einen Angriff auf das gesamte räumen beseitigt. „Nachkriegsarrangement“ in Großbritannien genutzt, Beim Versuch, den planungspolitischen Wandel in das nicht nur von der Labour Party und den Gewerk- Großbritannien zu verstehen, ist auch zu berücksichti- schaften, sondern auch von Teilen der konservativen gen, dass es – unabhängig vom Thatcherismus – deutli- Partei und des Industriekapitals getragen worden war. che Kritik an der mangelnden Wirksamkeit der Regio- Dazu gehörte nicht zuletzt eine bedeutende Stellung der nalpolitik sowie ein wachsendes Bewusstsein für die Stadtentwicklungs- und Regionalpolitik. „Krise der Innenstädte“ gab. Das führte insgesamt zu Im Zentrum der in den 1970er Jahren erarbeiteten einer stärker kleinräumigen Orientierung der Planungs- und seit dem Jahr 1979 durch die Regierungspolitik rea- und Entwicklungspolitik. Dieser allgemeine Trend lisierten Programmatik des Thatcherismus steht das wurde durch den Thatcherismus radikalisiert und neu Verhältnis von Markt und Staat. Der Thatcherismus bestimmt (Danielzyk und Wood 1993): lässt sich dabei durch drei wesentliche Merkmale cha- • Während vorher die Verhaltensweisen des Privatka- rakterisieren (Thornley 1991): pitals für die Probleme in den Innenstädten verant- • Im Mittelpunkt des ökonomischen Liberalismus wortlich gemacht und eine Bewältigung durch Pla- steht neben der Übernahme wirtschaftspolitischer nungspolitik angestrebt worden war, lagen für den Konzepte des Monetarismus vor allem die Vorstel- Thatcherismus die Ursachen im Versagen der lokalen lung, durch eine möglichst weitgehende Aufgabe Politik und Planung. Für erfolgversprechend wurde politischer und staatlicher Regulierungen, ein „unter- vielmehr eine Attraktivitätssteigerung der Innen- nehmerisches Klima“ zu schaffen, um die Dynamik städte für private Investoren gehalten. der Marktkräfte freizusetzen. • Gemäß dem skizzierten Staatsverständnis wurde eine • Neben dieser liberalistischen Konzeption steht starke Rolle des Zentralstaates im Rahmen der neuen gleichwertig ein staatlicher Autoritarismus. Aus der Planungspolitik als unverzichtbar angesehen. Sicht des Thatcherismus ist ein starker Staat für die Realisierung des ökonomischen Programms notwen- Veränderungen fanden vor allem in folgenden Bereichen dig, um die sozialen Folgen der aus dem ökonomi- statt (Thornley 1991): schen Liberalismus resultierenden Freisetzungspro- • Reduktion der Aussagen – bis zur tendenziellen Auf- zesse zu begrenzen. gabe – der lokalen Entwicklungs- und Bebauungspla- • Um die Veränderungen der Ökonomie und den nung; Machtzuwachs für den Zentralstaat zu legitimieren, • Rücknahme von Kontrollen der baulichen Entwick- hat sich der Thatcherismus im Sinne des politischen lung; Populismus die Unzufriedenheit mit den Defiziten • Umgehung des Planungssystems durch die Initiie- der sozialstaatlichen Instanzen in Großbritannien rung einer Vielzahl neuer planungspolitischer und die vorhandenen Krisenängste zunutze gemacht. Ansätze und Instrumente. Zur politischen Legitimation gehörten etwa die Wiederbelebung traditioneller Werte, die Herstellung Die Verknüpfung der Ideologie des ökonomischen Libe- von Einigkeit gegen innere und äußere „Feinde“ und ralismus und eines „autoritär-dezentralen Ansatzes“ eine „starke Führung“. realisierte sich in einem Grundmuster, das sich bei vie- len dieser neuen Instrumente beobachten ließ: eine Ein spezifischer Akzent des Thatcherismus war der Reduzierung der Bedeutung lokaler Planungs- und Ent- Kampf gegen den Einfluss der lokalen Ebene. Dieser scheidungsprozesse bei gleichzeitiger zentralstaatlicher bricht mit der aus dem Subsidiaritätsprinzip abgeleite- Rahmensetzung zugunsten eines stärkeren Wirkens der ten Präferenz klassischer konservativer Programme für Marktkräfte. Wegen der zentralen Rolle der Immobi- die Gemeinde als gesellschaftlichen Integrationsort. Ein lienwirtschaft in diesem Ansatz wird auch von einem Motiv für diese Entwicklung lag auch darin, dass sich „property-led approach to urban regeneration“ gespro- Anfang der 1980er Jahre viele von der Labour Party chen. Zu der Vielzahl von Initiativen, Ansätzen und, 7 208 7 Politik und Raumplanung Instrumenten gehörten z. B.: city action teams, task for- durch Investoren erfahren. In der Tat ging es dabei aber ces, free ports, urban regeneration and city grants, Enter- keineswegs um völlig „staatsfreie Räume“, sondern es prise Zones, Urban Development Corporations. Gerade sollten gewisse infrastrukturelle Rahmenbedingungen den beiden letztgenannten Ansätzen kam als „struktu- (Verkehr, Bildung, Forschung usw.) durch die öffentli- rellen Eckpfeilern“ dieser neuen Stadtentwicklungspoli- che Hand in oder in der Nähe dieser Experimentierzo- tik eine „maßgebliche Bedeutung“ zu (Zehner 1999). nen geschaffen werden. Hall war dabei durchaus be- Daher sollen diese hier auch genauer betrachtet werden. wusst, dass für komplexe Problemlagen, wie etwa in der Londoner City, dieser Ansatz nicht angemessen wäre. In der planungsgeschichtlichen Literatur wird

Enterprise Zones (EZ)

besonders betont, dass diese Ideen von Peter Hall Ende der 1970er Jahre erstmals ernsthaft von den Konservati- Das Konzept der EZ hat seine Ursprünge in Freihandels- ven aufgenommen wurden. Dabei wurde von diesen zonen (erstmals 1959 am Shannon Airport in der Repu- selbst, insbesondere vertreten durch Sir Geoffrey Howe, blik Irland errichtet) bzw. in Freihäfen (die zum Teil die zentrale konzeptionell-ideologische Funktion der EZ schon in den 1960er Jahren in Taiwan, Südkorea und hervorgehoben. In Gegenüberstellung zu den Misserfol- Hongkong und später dann auch in China eingerichtet gen der überkommenen Stadterneuerungs- und Pla- wurden). Diese Freihandelszonen und Freihäfen sollten nungspolitik sollten EZ den Investoren mehr Freiheiten durch Vergünstigungen wie Befreiung von Steuern und geben, „to make profits and create jobs in the worst Zöllen, Erlass von Sozialabgaben usw. insbesondere die afflicted urban areas“ (Thornley 1999, S. 188). Es wurde Exportwirtschaft fördern. angestrebt, bald nach dem Regierungswechsel 1979 EZ In die planungspolitische Debatte wurde die Idee von gesetzlich zu ermöglichen, da ihre Einrichtung als Bruch deregulierten Experimentierzonen bereits Ende der mit überkommenen „Mentalitäten“ verstanden wurde. 1960er Jahre durch den renommierten Stadtforscher Damit sollte – pointiert ausgedrückt – eine größere und Planungswissenschaftler Peter Hall eingebracht: Als Akzeptanz des privaten Unternehmertums in politisch- Antwort auf offenkundige Misserfolge bisheriger Stadt - kulturell eher sozialistisch orientierten Kommunen und erneuerungsansätze und starker Regulierungen im briti- Lokalgesellschaften erreicht werden. Als erster Finanz- schen Planungssystem sollten experimentell areas of minister in der neuen Thatcher-Regierung konnte Howe non-planning eingerichtet werden. Diese Ideen sind dann die Umsetzung seines Konzepts fördern. zweifellos eine Antwort auf die bisweilen negativen Trotz der heftigen politischen Kritik am Konzept der Erfahrungen mit den überkommenen Planungsprozes- EZ stellten in einer ersten Runde 24 Kommunen Anträge sen und ihrer Unfähigkeit, innovative städtische Milieus auf deren Einrichtung. Schließlich wurden zunächst elf zu fördern. Durch den Abbau „bürokratischer Hürden“ EZ für die Dauer von zehn Jahren eingerichtet. In einer sollten spezifische, kleinräumig ausgewählte, aufgelas- zweiten Runde kamen Anfang der 1980er weitere EZ sene Industrie- und Hafenbrachen eine neue Bewertung hinzu. Zudem wurden Ende der 1980er und in den

Die Regelungen für die Enterprise Zones

Im Local Government Planning and Land Act sowie im eine „Überhitzung“ städtischer Immobilienmärkte zu ver- Finance Act des Jahres 1980 wurden die EZ gesetzlich ver- hindern und periphere bzw. strukturschwache Standorte ankert. Es galten vor allem folgende Regeln (Zehner 1999): zu fördern), • Befreiung von der Landerschließungssteuer, • Planungsvereinfachungen, • Befreiung von Kommunalsteuern für Industrie- und • schnellere Bearbeitung von Anträgen. Gewerbebetriebe, • Abschreibungserleichterungen, Allerdings konnten – und hier ist eine bemerkenswerte Dif- • Befreiung von Berufsbildungsabgaben, ferenz zu einem radikal liberalen Ansatz festzustellen – • Befreiung von statistischen Informationspflichten, Unternehmen Fördermittel im Rahmen der regionalen Wirt- • Zollerleichterungen, schaftsförderung und Stadterneuerung erhalten. Dadurch • Befreiung von (seinerzeit noch üblichen) Genehmigungen und etwa durch die öffentliche Förderung von Infrastruktur für Industrieneubauten bzw. Betriebserweiterungen war der Staat in EZ doch weiterhin präsent. (diese Genehmigungen waren eingeführt worden, um, 7.4 Entwicklungsgesellschaften und Sonderwirtschaftszonen 209 7 1990er Jahren ad hoc weitere zehn EZ als Antwort auf tems möglich sein. Unabhängig von konkreten Fallstu- lokale Restrukturierungskrisen geschaffen (Abb. 7.8). dien sollen einige bedeutsame Einschätzungen des „EZ- EZ wurden insbesondere in den altindustrialisierten Experiments“ wiedergegeben werden. Problemregionen Nordwest- und Nordostenglands, So wird einerseits darauf hingewiesen, dass „ein- Mittelenglands und Schottlands eingerichtet. Bekannte drucksvolle Ergebnisse an Revitalisierung und Stadtum- Beispiele sind etwa Tyneside, Salford/Manchester, Cly- bau erzielt“ werden konnten, allerdings außerhalb der debank (in Schottland), Milford Haven (in Wales). Ein auf diese Weise revitalisierten Gebiete komplexe bauli- häufig angesprochener Sonderfall sind die London che und soziale Probleme erhalten blieben oder sich gar Docklands (Abschnitt 4.4). verstärkten (Wehling 2007, S. 112). Hervorgehoben Da im Jahr 2006 endgültig die Phase der EZ als wird, dass sich durch die EZ „in der Regel un- bzw. min- Instrument der Regenerierung städtischer, vielfach von dergenutzte Brachflächen zu attraktiven Wirtschafts- altindustriellem Niedergang geprägter Problemgebiete standorten entwickelt“ hätten, allerdings der ökonomi- zu Ende gegangen ist, sollten – trotz bislang begrenzter sche Erfolg sehr unterschiedlich gewesen sei: Viel sei empirischer Forschung – Einschätzungen ihrer Wirk- davon abhängig gewesen, ob die Träger der EZ Einfluss samkeit im Hinblick auf die selbst gesteckten Ziele, aber auf die Branchenzusammensetzung genommen hätten. auch auf die Veränderungen des britischen Planungssys- Darüber hinaus seien die Wirkungen vielfach doch eher Abb. 7.8 Enterprise Zones (EZ) und Urban Development Corporations (UDCs) in Großbritannien. Quelle: Hei- neberg 1997, S. 320; W ehling 2007, S. 112; Zehner 1999, S. 83., 7 210 7 Politik und Raumplanung kleinräumig gewesen (Zehner 1999, S. 238). Unter der Urban Development Überschrift „Verdict on the British Enterprise Zone Corporations (UDCs) Experiment“ kommt Jones (2006) zu dem Ergebnis, dass die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der EZ groß gewesen sei. In vielen Fällen seien sie auf die Neben den EZ waren die UDCs das zweite wichtige Ele- Rolle eines „Inkubators“ für industrielle Entwicklung ment der neuen Strategien des Thatcherismus für die reduziert worden. Die damit verbundene Rhetorik sei Erneuerung der innerstädtischen Problemgebiete. Im inzwischen überholt, da heute öffentlich-private Part- Hinblick auf die Absicht eines by-passing des überkom- nerschaften im Mittelpunkt von Erneuerungsstrategien menen Planungssystems gelten die UDCs sogar als der stünden, nicht mehr aber die Propagierung des freien wichtigste Beitrag, „the jewel in the crown of Mrs That- Marktes in Reinform. Eine Evaluierung der Auswirkun- cher’s urban strategy“ (Parkinson und Evans 1990; gen der EZ auf die Attraktivität für inward investments Thornley 1991). Konzeptionell angelehnt an das Kon- kommt zu einem differenzierten Ergebnis (Potter und zept der New Town Development Corporations wurde Moore 2000). Demnach seien immerhin ein Fünftel der die Bedeutung dieses Typs von Stadtentwicklungsgesell- Unternehmungen und ein Drittel der geschaffenen schaften schon zu Beginn der Amtszeit der neuen That- Arbeitsplätze in den untersuchten EZ zum Zeitpunkt cher-Regierung ausdrücklich betont. Sie wurden dann ihrer Auflösung in der Tat inward investments gewesen. ab 1981 auf der Grundlage des Local Government Plan- Allerdings seien auch ein Drittel der Unternehmen und ning and Land Act eingerichtet. Ideologisch-konzeptio- ein Viertel der Arbeitsplätze in den EZ nur auf kleinräu- nell war, ähnlich wie bei den EZ, eine zentrale Aufgabe mige Verlagerungen zurückzuführen. Im Ergebnis wird der UDCs, die Politik und Planung der von der Labour festgehalten, dass die Wirksamkeit von EZ davon Party dominierten Industriestädte zu umgehen. Ent- abhänge, dass sie in eine umfassende und langfristige scheidende Aufsichtsinstanz über die UDCs war das Standortstrategie eingebunden seien und nicht nur als zuständige Ministerium der nationalen Regierung. isolierte Inseln entwickelt werden sollten. Ähnlich UDCs konnten für eng umgrenzte innerstädtische betont Heineberg (1997, S. 159), dass „ein nicht unbe- Gebiete eingerichtet werden. Für diese hatten sie erheb- trächtlicher Teil der neuen Betriebsansiedlungen und liche Rechte, konnten so u. a. Grundstücke und Gebäude Arbeitsplatzgewinne in den EZ durch kleinräumige oder erwerben, enteignen, aufbereiten und veräußern sowie regionale Umverlagerung, und zwar häufig zu Lasten Gebäude abreißen. Darüber hinaus sollten sie die allge- alter Standorte, zustande gekommen ist“. Ein Vergleich meine Ver- und Entsorgungsinfrastruktur in den Gebie- der EZ Manchester/Salford mit dem komplexeren Re- ten sicherstellen und jedwede Maßnahme in die Wege strukturierungsprozess des Hafengebiets in der Stadt leiten, die der Restrukturierung des Gebiets diente. Hull zeigt, dass letzterer hinsichtlich verschiedener Kri- Ziel war es vor allem, privates Kapital für die Restruktu- terien offenkundig erfolgreicher war. Dies führt zu dem rierung der hauptsächlich altindustriell geprägten Ergebnis, „dass es bei Stadterneuerungsprozessen einer Problemgebiete zu gewinnen. Dafür standen den UDC gezielten strategischen Verknüpfung unterschiedlicher umfangreiche staatliche Finanzmittel und ein flexibel Handlungsfelder bedarf, um arbeitsmarktrelevante handhabbares Instrumentarium zur Verfügung. Sie Wechselwirkungen zu erzielen“ (Neumann 2000, S. 18). wurden von einem Vorstand geleitet, dem hauptsächlich Wie kaum anders zu erwarten, sind die Einschätzun- Vertreter des Industrie- und Immobilienkapitals, zum gen komplex und zum Teil widersprüchlich: EZ haben Teil auch lokale Politiker – als persönliche Mitglieder, offenkundig in bedeutsamem Umfang zur physischen nicht als delegierte Kommunalvertreter – angehörten. Regenerierung von problematischen Standorten im Die Mitglieder des Vorstands wurden vom zuständigen Strukturwandel und auch in mehr oder weniger großem Ministerium ernannt. Komplex und zum Teil etwas Umfang zur Schaffung von Unternehmungen und unübersichtlich war die planungsrechtliche Stellung der Arbeitsplätzen beigetragen. Erfolgreicher sind aber prinzipiell von den Kommunen unabhängigen UDCs: offenkundig komplexere Erneuerungsstrategien, die den Formal blieben die Lokalverwaltungen die zuständigen gesamtstädtischen Entwicklungskontext berücksichti- Planungsbehörden, allerdings war unklar, inwieweit die gen und auf das Zusammenspiel von privaten und staat- UDC aufgrund ihrer sehr eigenständigen und letztlich lichen Akteuren setzen. nur dem zuständigen Ministerium verantwortlichen Stellung an die Planaussagen wirklich gebunden waren. Die UDC hatten die Aufgabe, verschiedene Arten von Planungen für ihr Gebiet voranzutreiben, wobei sich auch die Lokalverwaltungen an deren Kernaussagen orientieren sollten. So ist es also zwar formal nicht kor-, 7.4 Entwicklungsgesellschaften und Sonderwirtschaftszonen 211 7 Abb. 7.9 Neue Entwicklungsimpulse im Bereich der Cardiff Bay Development Corporation: Hotel-, Büro- und Wohn- nutzungen in Cardiff. Quelle: Wood 2004. rekt zu sagen, dass die UDCs die jeweilige Kommune im Flächen zuständig waren, war es für die Lokalverwaltung ausgewiesenen UDC-Gebiet „ersetzen“ würden, faktisch viel schwieriger, umfassende und integrierte Stadtent- lag allerdings die Macht, die Entwicklungsrichtung zu wicklungskonzepte aufzustellen, zumal diese in langjäh- bestimmen, bei ihnen. Ihr Ansatz war dabei eindeutig, rigen Verfahren erarbeitet wurden, die UDCs hingegen durch ein dem Privatsektor nachempfundenes Manage- kurzfristig und flexibel handeln konnten. ment die Regenerierung zu gestalten. Allerdings sind auch Differenzierungen zu beachten: Folgende UDCs wurden – von vornherein für einen So achteten die UDCs im politisch-kulturell korporatis- befristeten Zeitraum – in mehreren „Wellen“ eingerich- tisch orientierten Nordosten viel stärker auf ihre städti- tet (Heineberg 1997): sche Integration, als ursprünglich gefordert und ange- • zunächst 1981 die besonders heftig diskutierten dacht war. So wurde der Entwicklung der benachbarten UDCs in den London Docklands und in Mersey- Quartiere mehr Aufmerksamkeit geschenkt, indem es side/Liverpool; Anhörungen für einzelne Projekte gab, Arbeitsplätze an • 1987 in Teesside, Tyne and Wear, Trafford Park, Black Bewohner benachbarter Quartiere vermittelt wurden Country und Cardiff Bay; und die Erneuerung von Infrastrukturen in benachbar- • 1988/89 in Bristol, Central Manchester, Leeds und ten Quartieren unterstützt wurde. Es ist allerdings her- Sheffield; vorzuheben, dass diese Aktivitäten freiwillig waren und • 1992/93 in Birmingham und Plymouth. Grundsatzentscheidungen in keinem Falle öffentlich zur Diskussion gestellt wurden. Für die Kommunen bestand Besonders intensiv diskutiert und untersucht wurden ein Interesse an der Kooperation mit den UDCs u. a. vor allem die London Docklands (Abschnitt 4.4). darin, an den erheblichen finanziellen Ressourcen zu Generell lässt sich sagen, dass die UDCs, trotz des partizipieren, zumal die Mittel für Stadterneuerung Fortbestehens lokaler Planungen, ihr eigenes Planungs- generell zurückgenommen worden waren. system mit eigenen klaren Zielen hatten. Besonders Unabhängig von diesen sicher positiven Tendenzen wichtig war dabei die Absicht, das Vertrauen der Unter- im Einzelfall kann aber insgesamt festgehalten werden, nehmen in diese innerstädtischen Problemgebiete zu - dass UDCs ein wesentlicher Beitrag zu einer Zentralisie- rückzugewinnen und für deren Agieren „gute“ Rahmen- rung und Ökonomisierung der Politik zur Erneuerung bedingungen zu schaffen. Dabei konzentrierte man sich innerstädtischer Problemgebiete waren. Auch hier ging auf das verhältnismäßig kleine UDC-Gebiet, die Verbin- es letztlich um einen property-led-Ansatz, der vor allem dung zu und die Probleme von benachbarten Quartie- auf den Beitrag des privaten Immobilienkapitals zur ren spielten kaum eine Rolle. Im Gegenteil: Indem die Stadterneuerung setzte. UDC unabhängig von den Kommunalverwaltungen für in der Regel im „Herzen“ der Stadtregionen gelegene, 7 212 7 Politik und Raumplanung Abb. 7.10 Wohnbebauung in Newcastle im Bereich der Tyne and Wear Development Corporation. Quelle: Wood 2004.

Fazit nicht in Reinform durchzuhalten war. Vielmehr trat um

1990 wieder stärker der Gedanke hervor, dass Planung Ohne jeden Zweifel war die Stadterneuerungs- und zum Ausgleich von Interessen beitragen müsste. Das Stadtentwicklungspolitik in der Ära Thatcher in gewis- äußerte sich u. a. in einer gewissen Reformulierung der ser Weise ein frontaler Angriff auf das überkommene Politik für die Städte in der Zeit der konservativen britische Planungssystem. Im Mittelpunkt stand ganz Regierung unter dem Nachfolger von Thatcher, John eindeutig die Absicht, durch Deregulierung den Kräften Major. Insbesondere war ein Wandel in der planungspo- des Marktes eine möglichst ungehinderte Entfaltung zu litischen Rhetorik festzustellen, wobei allerdings ermöglichen. Stadterneuerung und -entwicklung wur- zunächst auch eine Kontinuität wesentlicher Instru- den vor allem als Aufgaben des privaten Immobilienka- mente zu beobachten war (Thornley 1999). Wichtige pitals angesehen, für das möglichst günstige Rahmenbe- Aspekte in diesem Zusammenhang waren: dingungen geschaffen werden sollten. Dieser Ansatz In der marktorientierten Deregulierungspolitik der sollte allerdings nicht nur dem Immobilienkapital und Thatcher-Zeit spielte im Bereich der Planung der den Grundstücksentwicklern (Developern) zu mög- Umweltschutz eine vergleichsweise nachrangige Rolle. lichst großem Profit verhelfen, sondern setzte außerdem Dies war allerdings nicht auf Dauer durchzuhalten, da darauf, dass durch entsprechende Prozesse des filtering zum einen Großbritannien als Mitglied der EU immer down auch andere soziale Gruppen und Schichten, d. h. stärker von den anspruchsvollen umweltpolitischen auch die sozial Schwächeren, letztlich davon profitieren Zielsetzungen und Maßnahmenkatalogen der EU beein- würden. Diese Stärkung der marktorientierten Entwick- flusst wurde. Zum anderen gab es erhebliche Konflikte lungen ging einher mit, wie oben beschrieben, einer mit Teilen des konservativen Klientels dadurch, dass wachsenden und durchaus hierarchisch organisierten Landentwicklung durch das Immobilienkapital in land- Zentralisierung von Entscheidungsprozessen und einer schaftlich und ökologisch wertvollen Gebieten auf mas- „Entmachtung“ der lokalen Ebene wie einem Abbau von sive Proteste konservativer Natur- und Landschafts- partizipativen Elementen. schützer traf. Deren Zielen stehen in Großbritannien Die Planungs- und Strukturpolitik in der Ära That- traditionell große Gruppen nahe, so dass sie unter cher hat durchaus zu einem „Mentalitätswandel“ beige- machtpolitischen Gesichtspunkten keinesfalls ignoriert tragen, insbesondere zu einer Abkehr von der konsens- werden können. So entstand, tendenziell eher am Rande orientierten Politik der britischen Nachkriegszeit hin zu und außerhalb der Städte, verstärkt der Druck, durch einem Vorgehen, das auch (massive) Konflikte in Kauf Planung zum Landschafts- und Naturschutz beizutra- nahm, um den für richtig gehaltenen Weg durchzuset- gen und entsprechende Aspekte in Planungsverfahren zen. Allerdings hat diese Verknüpfung von ökonomi- zu berücksichtigen. schem Liberalismus und autoritärer Zentralisierung Für die Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen durchaus innere Widersprüche aufzuweisen, die dazu wurde in diesem Zusammenhang auch die lokale Ebene führten, dass schon nach wenigen Jahren dieser Ansatz wieder bedeutender, da sich im Sinne der „legitimatori-, 7.5 Devolution – ein brauchbares Konzept zur Stärkung der Regionen? 213 7 schen Entlastung“ die nationale Regierung bis zu einem Wehling, H.-W. (2007): Großbritannien. Darmstadt (WBG Län- bestimmten Punkt „heraushalten“ wollte, wenn es um derkunden). die Entscheidung lokaler Konflikte zwischen Land- Zehner, K. (1999): „Enterprise Zones“ in Großbritannien. Eine geographische Untersuchung zu Raumstruktur und Raum- schaftsschützern und Immobilienentwicklern ging. In wirksamkeit eines innovativen Instruments der Wirtschafts- dem Zusammenhang gewann dann die lokale Entwick- förderungs- und Stadtentwicklungspolitik in der Thatcher- lungsplanung wieder eine stärkere Bedeutung, wenn Ära. Stuttgart (Erdkundliches Wissen 128). auch die Rahmenbedingungen nach wie vor sehr stark von der Zentralregierung bestimmt wurden. Vor dem Hintergrund deutlicher Kritik an mangeln- den Erfolgen der neuen planungspolitischen Ansätze, 7.5 Devolution – ein wie z. B. der UDCs, wurden um 1990 und danach eine Reihe neuer Initiativen zur Stadtentwicklung und brauchbares Konzept -erneuerung ins Leben gerufen (z. B. City Challenge, zur Stärkung der Regionen? Single Regeneration Budget (SRB)). Hier gewannen vor allem Wettbewerbsverfahren bei der Bewerbung um Fördermittel erheblich an Bedeutung. Eine gewisse Gerald Wood Wettbewerbsorientierung der Verfahren und die Aus- richtung auf ökonomische Wettbewerbsfähigkeit lassen Großbritannien ist Teil eines der am stärksten zentrali- sich sogar als wesentlicher Grundzug – bei allen Verän- sierten Staaten Europas. Dabei haben sich im Vereinig- derungen – der Stadtentwicklungspolitik unter New ten Königreich von Großbritannien und Nordirland, Labour beschreiben. Insoweit kann man festhalten, dass wie die konstitutionelle Monarchie am nordwestlichen die inneren Spannungen zwischen wesentlichen Ele- Rand Europas offiziell heißt, in den letzten Jahren zahl- menten der Strategie von Thatcher (z. B. zwischen Neo- reiche und auch tief greifende Veränderungen in der liberalismus und autoritärem Zentralismus) letztlich Politik und der Verwaltung des Landes vollzogen. Zu dazu führen mussten, dass trotz aller scheinbaren ideo- diesen Veränderungen gehört insbesondere die Devolu- logischen Klarheit der Politik innere Widersprüche ent- tion, eine Umverteilung von Funktionen von der zen- standen, die spätestens unter der Regierung Major zu tralstaatlichen auf die regionale Ebene. Kompromissen und zur Reduzierung der Erwartungen Wenn im Zusammenhang mit dem Vereinigten an die neuen Ansätze zwangen. Königreich von Regionen oder von der regionalen Ebene die Rede ist, dann geschieht dies nicht ohne eine gewisse Unschärfe, denn die räumlichen Ebenen, die

Weiterführende Literatur zwischen Zentralstaat und den Kommunen angesiedelt

sind, lassen sich nicht umstandslos als Regionen Danielzyk, R.; Wood, G. (1993): Restructuring Old Industrial bezeichnen. So ist die Frage, ob es sich im Falle der vier and Inner Urban Areas: A Contrastive Analysis of State Poli- konstituierenden Teile des Vereinigten Königreiches – cies in Great Britain and Germany. In: European Planning England, Schottland, Wales und Nordirland – um Studies 1, S. 123–147. Regionen oder eher um Nationen handelt, keineswegs Heineberg, H. (1997): Großbritannien – Raumstrukturen, Ent- einfach zu beantworten. Schottische und walisische wicklungsprozesse, Raumplanung. Gotha. Jones, C. (2006): Verdict on the British Enterprise Zone Experi- Nationalisten würden sich gegen den Begriff „Region“ ment. In: International Planning Studies 11, S. 109–123. vermutlich verwahren und darauf hinweisen, dass Neumann, U. (2000): Revitalisierung von Hafenstandorten in Schottland und Wales nicht nur über Hunderte von Jah- Großbritannien – Eine Bilanz. In: Geographische Rundschau ren politisch unabhängige Einheiten waren, sondern 1/2000, S. 14–19. auch nach der Union of the Crowns („Vereinigung der Parkinson, M.; Evans, R. (1990): Urban Development Corpora- Kronen“) ihre kulturelle Eigenständigkeit erhalten tions. In: Campbell, M. (1990) (Hrsg.): Local Economic haben. Tatsächlich ist im allgemeinen Sprachgebrauch Policy. London, S. 65–84. gerade bei Schottland und Wales neben der Bezeichnung Potter, J.; Moore, D. (2006): UK Enterprise Zone and the Attrac- region auch der Begriff nation geläufig, häufig versehen tion of Inward Investment. In: Urban Studies 37, S. 1279– mit dem Vorsatz celtic. 1312. Thornley, A. (1991): Urban Planning under Thatcherism – The Noch komplexer wird es, wenn man sich Regionali- Challenge of the Market. London/New York. sierungen unterhalb dieser „nationalen“ Ebene an- Thornley, A. (1999): Is Thatcherism Dead? The Impact of Politi- schaut. Zu den administrativen Einheiten unterhalb der cal Ideology on British Planning. In: Journal of Planning Edu- nations gehören u. a. die Grafschaften (counties), die von cation and Research 19, S. 183–191. der britischen Regierung allerdings der kommunalen, 7 214 7 Politik und Raumplanung Verwaltungsebene zugerechnet werden. Hinzu kommt ßigkeit wieder rückgängig zu machen. Zum anderen eine Fülle weiterer Regionalisierungen, die teils vom dürfte die alte Sorge der Konservativen und der Labour Zentralstaat vorgenommen worden sind, teils von ande- Party lebendig sein, dass sich die Wählerschaft in Schott- ren Einrichtungen, beispielsweise dem Verband der bri- land, Wales und Nordirland verstärkt nationalistischen tischen Industrie (Confederation of British Industry) Parteien zuwenden könnte, sollte das Parlament in Lon- oder gemeinnützigen Einrichtungen, wie dem National don vollzogene Kompetenzverlagerung zurücknehmen. Trust. In vielen Fällen sind die Gebietszuschnitte nicht Paradoxerweise ist die Gewährung von Sonderrechten kompatibel, und die Steuerung, die durch die verschie- an Schottland, Wales und Nordirland bislang ein Garant denen Einrichtungen erfolgt, ist häufig nicht oder für die Einheit des Vereinigten Königreiches. schlecht koordiniert. Aus der Sicht der Vertreter des Zentralstaates stehen Die Umverteilung von Funktionen auf die regionale neben dieser Überlegung im Mittelpunkt der Debatte Ebene, wie sie im Rahmen der Devolution seit einigen um die Devolution zwei weitere Grundgedanken: Zum Jahren vollzogen worden ist, bezieht sich zum einen auf einen soll durch die Reorganisation der politischen Schottland, Wales und Nordirland, zum anderen auf die Ebenen unterhalb des Zentralstaates zusätzliches Poten- zehn Government-Office-Regionen in England. Diese zial zur positiven Entwicklung des gesamten Landes sind 1994 eingerichtet worden, um einen gemeinsamen erschlossen werden, insbesondere im Hinblick auf die Verwaltungsraum für die verschiedenen regionalen wirtschaftlichen und die sozioökonomischen Verhält- Dependancen der Ministerien zu schaffen und um die nisse. Es gilt, entwicklungsschwachen Regionen zusätz- Effektivität des Regierungshandelns in den englischen liche Wachstumsimpulse zu verleihen und damit beste- Regionen zu erhöhen. henden ungleichen Lebensbedingungen im Lande Bei der Devolution kann man vereinfachend zwi- e ntgegenzuwirken. schen zwei Formen unterscheiden: Bei der legislativen Zum anderen soll die Politik durch eine verstärkte Devolution werden regionalen Einrichtungen gesetzge- Ausrichtung auf die Interessen vor Ort insgesamt aufge- berische Kompetenzen eingeräumt; im Falle Schottlands wertet und in ihrer Legitimation gestärkt werden. Viele beispielsweise wurde dem 1999 eingerichteten schotti- politische Entscheidungen sind in der Vergangenheit in schen Parlament die weitgehende Handlungsautonomie London getroffen, dann aber auf einer anderen räum- im Bereich der (schottischen) Innenpolitik übertragen. lichen Maßstabsebene umgesetzt worden, z. B. im Be reich Bei der administrativen Devolution hingegen handelt es der Wirtschaftspolitik. Die von den britischen Regierun- sich um den Transfer von Aufgaben auf regionale Ein- gen eingeleiteten Dezentralisierungsmaßnahmen be - richtungen, ohne dass diese über gesetzgeberische Kom- deut en daher auch eine stärkere Abkehr der Regierung petenzen verfügen (Wales). in Whitehall von dem Gedanken, auf allen Ebenen mit- Obwohl es im Vereinigten Königreich durch die entscheiden zu wollen. Den stärksten Niederschlag hat Devolution zu beträchtlichen Kompetenzverlagerungen dieser partielle Steuerungsverzicht in dem Verhältnis zu gekommen ist, ruht die politische Macht weiterhin im den Kommunen und den „Regionen“ gefunden. Zentrum, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass Diese wenigen einführenden Gedanken deuten an, getroffene Regelungen jederzeit wieder zurückgenom- dass es sich bei der Dezentralisierung im Allgemeinen men werden können. So können neu geschaffene Ein- und der Devolution im Besonderen um vielschichtige richtungen wie beispielsweise das schottische Parlament und selbst für Briten nicht immer leicht zu verstehende durch einfache Mehrheit des britischen Parlaments wie- Veränderungen in den Formen der Steuerung gesell- der aufgelöst werden. Trotz der langen Bestrebungen zu schaftlicher Prozesse handelt. Aktiv daran beteiligt sind stärkerer Autonomie in Schottland, Wales und (Nord-) zum einen staatliche Akteure in unterschiedlichen Res- Irland besteht das Vereinigte Königreich bis heute als sorts und auf verschiedenen Maßstabsebenen und zum Einheitsstaat fort, in dem die Regierungsmacht vom anderen bürgerschaftliche und privatwirtschaftliche Premierminister und die ihn tragende Mehrheit im Akteure, denen in den letzten Jahrzehnten zum Teil Unterhaus in London ausgeübt wird. Auch wenn die erhebliche Gestaltungsspielräume durch den britischen Devolution deswegen auf keinen Fall als tief greifender Staat eröffnet worden sind. Systemwechsel gedeutet werden darf, wäre es auf der Die Umverteilung von Funktionen vom Zentralstaat anderen Seite ebenso unangemessen, ihre Bedeutung zu auf die regionale Ebene (Devolution) sowie die anderen unterschätzen oder gar zu negieren. Denn zum einen Formen der Verlagerung von Zuständigkeiten und Ent- festigen sich durch die vollzogenen Veränderungen die scheidungsbefugnissen von oben nach unten (z. B. auf neu geschaffenen Strukturen, so dass es für die politisch die kommunale Ebene) werfen zahlreiche Fragen auf. Verantwortlichen schwer sein dürfte, einmal getroffene Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob die Dezentrali- Kompetenzverlagerungen je nach politischer Zweckmä- sierung bzw. Regionalisierung der Politik zu einer Stär-, 7.5 Devolution – ein brauchbares Konzept zur Stärkung der Regionen? 215 7 kung der anderen Ebenen führt, wie das von den Befür- wäre entstanden. Die dann vollzogene Einstaatenrege- wortern als Argument ins Feld geführt worden ist, oder lung führte zu einer Auflösung sowohl des schottischen aber ob sich der Zentralstaat durch diese Umverteilung als auch des englischen Parlaments und zur Etablierung geschickt aus der Verantwortung stiehlt, wie Kritiker eines gemeinsamen Abgeordnetenhauses, des Parlia- argwöhnen. In diesem Zusammenhang wird auch dis- ment of Great Britain, das de facto zwar eine Fortset- kutiert, wie weitgehend der Steuerungsverzicht des Zen- zung des englischen Parlaments, de jure aber eine neue tralstaates tatsächlich ist bzw. wie weitreichend er sein Einrichtung war. Anders als im Falle von Wales machten sollte. Denn weitreichende Formen der Kompetenzver- die Engländer gegenüber den Schotten zahlreiche Kon- lagerung, wie sie in Nordirland, Schottland – und zessionen. So blieben das Hochschul- und Rechtswesen bedingt in Wales – vollzogen worden sind, können ja das erhalten, ebenso religiöse Strukturen und Institutionen Ziel konterkarieren, die Einheit des Vereinigten König- und auch die royal burghs, also die mit Sonderrechten reiches zu sichern, indem sie Appetit auf größere Eigen- ausgestatteten schottischen Städte. Auf diese Weise ent- ständigkeit bis hin zur (staatlichen) Autonomie machen. standen quasiföderale Strukturen, die zu einem großen Gegen eine zu starke Kompetenzverlagerung auf andere Teil bis heute fortbestehen. Es ist vermutlich auch auf Maßstabsebenen spricht aus der Sicht einzelner Beob- diese Sonderrechte zurückzuführen, dass die Eingliede- achter auch das noch immer für wichtig erachtete staat- rung Schottlands in das Vereinigte Königreich von der liche Ausgleichsziel. Angeführt wird, dass der Staat schottischen Bevölkerungsmehrheit lange Zeit ohne immer noch die Aufgabe habe, gesellschaftliche und nennenswerten Widerstand akzeptiert worden ist. sozialräumliche Unterschiede auszugleichen. Verließe Unter dem Schlagwort der „Home Rule All Around“ sich der Zentralstaat hingegen zu sehr auf die Potenziale entstanden im 19. Jahrhundert in allen keltischen Natio- vor Ort, die durch die Devolution freigesetzt bzw. ange- nen (Irland, Schottland, Wales) politische Bewegungen, regt werden sollen, dann bestünde die reale Gefahr einer deren wesentliches Ziel es war, ein höheres Maß an poli- Abkopplung ganzer Landstriche von den positiven Ent- tischer Unabhängigkeit zu erreichen. Treibende Kraft wicklungstrends in anderen Landesteilen, da die Leis- waren irische Eliten, aus deren Sicht die Zukunft Irlands tungsfähigkeit entwicklungsschwacher Regionen nicht außerhalb des Vereinigten Königreiches lag. Auf einer ausreiche, gegenüber den leistungsstärkeren Regionen – tiefer liegenden Ebene waren es sicherlich die Verände- gerade im Südosten des Landes – aus eigener Kraft rungen in den Vorstellungen von Staatlichkeit im 19. h eraus aufzuschließen. Jahrhundert, die dem Reformdrängen maßgebliche Dass die Devolution und andere Formen der Dezen- Schubkraft verliehen. In ganz Europa geriet die enge tralisierung trotz der vielfach geäußerten Kritik in den gedankliche Verbindung zwischen „Staat“ und Herr- letzten beiden Jahrzehnten weit oben auf der politischen schergeschlechtern (Dynastien) durch die zunehmende Tagesordnung stehen, hat hingegen handfeste Gründe, Bedeutung des Nationalstaatsgedanken unter Druck. In denen in den folgenden Überlegungen nachgegangen der keltischen Peripherie nährte die europäische Kon- werden soll. Hierzu gehört auch die historische Dimen- junktur des Nationalstaatsgedankens den Wunsch nach sion der Devolution, die seit der Zusammenlegung des stärkerer politischer Unabhängigkeit. Zum Teil im schottischen und des englischen Parlaments im Jahre Windschatten der starken Reformwünsche aus Irland 1707 immer wieder eine tagespolitische Aktualität formierte sich auch in Wales und Schottland nationalis- erlangt hat. tischer Druck gegenüber dem englischen Zentrum. In London reagierte man auf die Emanzipationsge- lüste an der Peripherie durch Gesetzesvorlagen, die

Die historische Dimension Reformen mit föderalen Elementen vorsahen (z. B. in

der Devolution im Vereinigten Form der Einrichtung eines Parlaments für Nordirland im Jahre 1921). Dies führte jedoch zu einer Spaltung in

Königreich der Führung der damals regierenden liberalen Partei, da

diese nicht geschlossen so tief greifenden Reformen Als nach der Vereinigung der schottischen und engli- zustimmen wollte. In der Zwischenkriegszeit etablierten schen Kronen (Union of the Crowns, 1603) zu Beginn sich in Schottland und Wales nationalistische Parteien, des 18. Jahrhunderts eine umfassende Eingliederung die auf eine stärkere Eigenständigkeit bestanden und Schottlands in das Vereinigte Königreich erfolgte, wurde dem Parlament in London Zugeständnisse in Form neben der Möglichkeit, einen Einheitsstaat zu bilden, einer administrativen Devolution abringen konnten. auch die Option diskutiert, eine „konföderative“ Rege- Auch in der Nachkriegszeit, bis in die 1960er Jahre lung zu treffen. Hierdurch hätten die Parlamente beider hinein, versuchten die Regierungen in London, das Staaten ihre Souveränität behalten und ein Staatenbund Verlangen nach größerer Eigenständigkeit bzw. Unab-, 7 216 7 Politik und Raumplanung hängigkeit durch administrative Devolution zu neutra- Amt des Premierministers Neil Kinnock im Jahre 1991 lisieren. Mit dieser Strategie waren die Regierungen versprochen, im Falle seines Wahlsieges eine legislative auch lange Zeit erfolgreich, denn sie konnten den zen- Devolution für Schottland auf den Weg zu bringen. Zum trifugalen Kräften an der keltischen Peripherie wir- anderen war die Devolution aus der Sicht englischer kungsvoll begegnen und damit den Einheitsstaat vor Abgeordneter als Mittel zur Eindämmung zentrifugaler einem von vielen Politikern in Westminster befürchteten Kräfte immer noch ausreichend attraktiv, um nicht voll- Auseinanderdriften schützen. ständig aufgegeben zu werden. Die Diskussion um weitergehende politische Selbst- Für die Konservativen stellte sich die Situation inso- bestimmung belebte sich in den 1960er und 1970er Jah- fern anders dar, als sie in Schottland und Wales keine ren. Die Wahlerfolge der nationalistischen Parteien in nennenswerten Wahlerfolge verbuchen konnten und Schottland und Wales stellten das bis dahin funktionie- daher auch kaum innerparteilicher und innerparlamen- rende Prinzip der administrativen Devolution infrage, tarischer Druck von schottischen oder walisischen Par- und die offenen, gewalttätig ausgetragenen Konflikte in lamentsangehörigen aufgebaut werden konnte, um die Nordirland führten de facto zu einem Ende der legislati- Interessen dieser Nationen stärker zur Geltung zu brin- ven Devolution. gen. In der Wahl zum Unterhaus des Jahres 1974 bei- In dieser Situation griffen die Konservativen unter spielsweise konnten die Konservativen in England ca. dem damaligen Premierminister Edward Heath die De - 49 % aller Parlamentssitze erringen (Labour ca. 50 %), in vo lutionsdebatte auf und schlugen 1970 vor, in Schott- Schottland hingegen nur 23 % (Labour 58 %), in Wales land ein eigenes Parlament einzurichten, das Teil des 22 % (Labour 64 %), und in Nordirland erhielten sie Parlaments in Westminster sein sollte. Die wesentliche überhaupt kein Mandat (Labour ebenfalls ohne Man- Aufgabe dieses Parlaments sollte darin bestehen, die dat) (http://www.psr.keele. ac.uk/area/uk/ge74b/seats erste Lesung schottischer Gesetzesvorlagen durchzufüh- 74b. htm, Abruf: 10.11.2009). ren. Das latente Konfliktpotenzial eines solchen institu- Angesichts dieser Sachlage ist nachvollziehbar, dass tionellen Arrangements führte jedoch dazu, dass diese einer der früheren Führer der Labour Party, John Smith, Pläne fallen gelassen wurden. In den späten 1970er Jah- die Devolution als unerledigte Aufgabe der Labour- ren unternahm die Labour-Nachfolgeregierung auf- Regierung der 1970er Jahre deklarierte. grund des zunehmenden Einflusses der nationalisti- schen Parteien in Schottland und Wales einen erneuten Vorstoß, der Schottland legislative und Wales adminis- Devolution als Projekt trative Devolution bringen sollte. Die 1978 verabschie- deten Gesetze Scotland Act und Wales Act bildeten hier- von New Labour für die gesetzliche Grundlage, ihr Inkrafttreten war jedoch gebunden an den positiven Ausgang einer vorge- Nach einem überwältigenden Wahlsieg der Labour schalteten Volksbefragung in beiden Ländern. Beide Party im Jahre 1997 (63 % aller Parlamentssitze, 85 % Referenden scheiterten, obwohl die Wahlerfolge der aller walisischen, 78 % aller schottischen und 62 % aller nationalistischen Parteien mit ihrem auf Selbstbestim- englischen Mandate) leitete die neue Regierung unter mung und Souveränität abzielenden Programmen Tony Blair ein umfassendes Erneuerungsprogramm eigentlich eine Annahme hätten erwarten lassen. Eine politischer Strukturen und Institutionen ein, das in mögliche Erklärung dieses scheinbar widersprüchlichen besonderer Weise auch neue Regelungen für Schottland, Referendum-Ausgangs liegt in der starken Verankerung Wales und Nordirland vorsah. der in London regierenden Labour Party in der schotti- Es würde der historischen Entwicklung allerdings schen und walisischen Wählerschaft, die als Garant für nicht ganz gerecht werden, die Zeit seit der „konser - sozialstaatlichen Ausgleich gesehen wurde. Ein zu star- vativen Wende“ im Jahre 1979 bis zum Amtsantritt kes Abrücken vom Zentrum hätte zu einem Aufweichen von Tony Blair im Hinblick auf die Devolution bzw. oder gar zum Verlust von Ausgleichsansprüchen gegen- Dezentralisierungsmaßnahmen generell als kompletten über London geführt und stellte daher ein wenig rosiges Stillstand zu deklarieren. Zwar wurde die Bedeutung Szenario für schlechte Zeiten dar. anderer politischer Ebenen von den konservativen Für die Labour Party war die Devolutionsdebatte Regierungen unter Margaret Thatcher infrage gestellt damit allerdings nicht ein für allemal erledigt. Zum bzw. heruntergespielt, was sich beispielsweise in den einen haben gerade Labour-Abgeordnete aus Schottland starken Einschnitten in die Kompetenzen der Kommu- und Wales den Gedanken an ein höheres Maß an Mit- nen zeigte (Abschnitt 7.3). Der Nachfolger John Major bestimmung bzw. Autonomie nie ganz aufgegeben. So verfolgte jedoch eine deutlich pragmatischere Politik hatte der aus Wales stammende Spitzenkandidat für das und leitete eine Reihe von Reformen ein, die die Bedeu-, 7.5 Devolution – ein brauchbares Konzept zur Stärkung der Regionen? 217 7 tung anderer politischer Ebenen unterstrich. Hierzu Zynismus in der Bevölkerung gegenüber der Politik und gehörte u. a. der allerdings nicht geglückte Versuch, den der politischen Klasse entgegenzutreten. Zu den weitrei- Friedensprozess in Nordirland durch die Schaffung chenden Zielen dieser „Säuberungsaktion“ gehörte eine neuer Strukturen für eine nordirische Selbstverwaltung Verfassungsreform, die auch eine Devolution für Schott- voranzutreiben. Ein wichtiger anderer Schritt war die land, Wales und Nordirland vorsah. Einrichtung von zehn Government Offices for the Die Devolution, die laut Labour-Manifest die Einheit Regions (GORs) in England im Jahre 1994, die die Auf- des Vereinigten Königreiches stärken und gleichzeitig gaben der für die Regionalentwicklung strategisch wich- den Besonderheiten Schottlands, Wales und Nord- tigen zentralstaatlichen Ressorts auf regionaler Ebene irlands stärker Rechnung tragen sollte, wurde bereits im koordinieren sollten. Diese pragmatischen und funktio- Jahre 1997 auf den Weg gebracht. In einem ersten Schritt nalen Überlegungen entspringende Initiative beendete wurden Volksbefragungen vorbereitet, von deren Aus- das bislang weitgehend unkoordinierte Handeln der gang das weitere Vorgehen abhing. Denn die neue Regie- regionalen Dependancen einzelner Ministerien und rung wollte die Devolutionspläne nur dort umsetzen, schuf zugleich einen gemeinsamen und verbindlichen wo sich eine Mehrheit dafür aussprechen würde. Bereits regionalen Bezugsrahmen. Abgesehen von ihrer un - im selben Jahr wurden die Referenden in Schottland mittelbaren Bedeutung durch die spürbare Verbesse- und Wales durchgeführt, Nordirland folgte ein Jahr spä- rung der Koordination des Staatshandelns auf der regio- ter. Bei einer Wahlbeteiligung von 60 % stimmten in nalen Ebene lag die mittelbare Relevanz der GORs darin, Schottland 74 % (der Abstimmenden) für die Einrich- durch die Schaffung von regionalem Wissen und koor- tung eines eigenen Parlaments, 63 % votierten für ein diniertem Handeln spätere Reformen ermöglicht bzw. gewisses Maß an Steuerhoheit. In Wales beteiligten sich ihnen eine größere Akzeptanz verschafft zu haben. 50,1 % der Stimmberechtigten am Referendum, von Gemäß der Losung „We will clean up politics“ des denen sich eine hauchdünne Mehrheit von 50,3 % für Wahlkampfmanifests der Labour Party aus dem Jahre die Einrichtung der National Assembly for Wales ent- 1997 trat die neue Regierung unter Tony Blair mit dem schied, die mit exekutiven Befugnissen ausgestattet wer- Anspruch an, die Politik im Vereinigten Königreich tief den sollte. In Nordirland war die Wahlbeteiligung mit greifend zu reformieren und dem weitverbreiteten 81,1 % ausgesprochen hoch. 71,1 % der Abstimmenden

Devolution: strengthening the Union

The United Kingdom is a partnership enriched by distinct defined and limited financial powers to vary revenue and national identities and traditions. Scotland has its own sys- elected by an additional member system. In the Scottish tems of education, law and local government. Wales has its referendum we will seek separate endorsement of the pro- language and cultural traditions. We will meet the demand posal to create a parliament, and of the proposal to give it for decentralisation of power to Scotland and Wales, once defined and limited financial powers to vary revenue. The established in referendums. Scottish parliament will extend democratic control over the Subsidiarity is as sound a principle in Britain as it is in responsibilities currently exercised administratively by the Europe. Our proposal is for devolution not federation. A Scottish Office. The responsibilities of the UK Parliament will sovereign Westminster Parliament will devolve power to remain unchanged over UK policy, for example economic, Scotland and Wales. The Union will be strengthened and the defence and foreign policy. threat of separatism removed. The Welsh assembly will provide democratic control of As soon as possible after the election, we will enact legis- the existing Welsh Office functions. It will have secondary lation to allow the people of Scotland and Wales to vote in legislative powers and will be specifically empowered to separate referendums on our proposals, which will be set reform and democratise the quango state. It will be elected out in white papers. These referendums will take place not by an additional member system. later than the autumn of 1997. A simple majority of those Following majorities in the referendums, we will intro- voting in each referendum will be the majority required. duce in the first year of the Parliament legislation on the sub- Popular endorsement will strengthen the legitimacy of our stantive devolution proposals outlined in our white papers. proposals and speed their passage through Parliament. For Scotland we propose the creation of a parliament (Labour Party Manifesto, http://labour-party.org.uk/ with law-making powers, firmly based on the agreement manifestos/1997/1997-labour-manifesto.shtml, Abruf: r eached in the Scottish Constitutional Convention, including 10.02.2009), 7 218 7 Politik und Raumplanung votierten für die Einrichtung eines eigenen Parlaments und die weitere Entwicklung der Devolution jedoch tat- mit legislativen Befugnissen. Mit Ausnahme der Demo- sächlich aussehen werden, ist nicht vorhersehbar. cratic Unionist Party und der UK Unionist Party hatten Durch die Devolution wurde die Forderung nach sich im Vorfeld des Referendums alle britischen und „Home Rule All Around“ in Schottland, Wales und nordirischen Parteien für die vorgesehene legislative Nordirland weitgehend umgesetzt. Damit wurde nun Devolution in Nordirland ausgesprochen. auch formal dem Umstand Rechnung getragen, dass das Im nächsten Schritt ging die Regierung daran, die Vereinigte Königreich im Bewusstsein seiner Einwohner Devolution umzusetzen und Parlamente bzw. National- ein Mehr-Nationen-Staat ist. Interessanterweise erhielt versammlungen einzurichten. Schottland besitzt seither lediglich England im Rahmen der Devolution kein eige- ein eigenes Parlament, das in schottischen Angelegen- nes Parlament. Das hat zu dem als West Lothian Ques- heiten die ausschließliche gesetzgeberische Kompetenz tion genannten Dilemma geführt, das bereits im Jahre innehat (Bildung, Gesundheit, Justiz, Inneres, Kommu- 1977 von Tam Dalyell thematisiert worden ist, als das nalpolitik, Wirtschaft, Umwelt, Verkehr, Kultur und Parlament in Westminster eine mögliche Devolution für Landwirtschaft) und über ein gewisses Maß an Steuer- Schottland und Wales diskutierte. Dalyell hob damals hoheit verfügt. Die Waliser Nationalversammlung ver- hervor, dass die Einrichtung eines eigenen Parlaments fügt demgegenüber nur über eine „sekundäre“ Gesetz- für Schottland und Wales zu einer staatsrechtlich pro- gebungskompetenz, d. h., sie ist autorisiert, Gesetze des blematischen Situation führen werde, da die schotti- Parlaments in Westminster im Hinblick auf die spezi- schen und walisischen Vertreter im Londoner Abgeord- fische Situation in Wales zu präzisieren bzw. zu er- netenhaus über die Geschicke des gesamten Landes gänzen. mitentscheiden könnten – also auch über Fragen, die In Nordirland wurde die Nordirische Versammlung primär England oder Engländer betreffen –, umgekehrt (Northern Ireland Assembly) eingerichtet, die mit ähn- jedoch Engländer keinerlei Mitsprachemöglichkeiten im lichen Kompetenzen wie das schottische Parlament aus- Bereich der Zuständigkeiten der anderen Parlamente gestattet ist. Allerdings ist die Situation in Nordirland besäßen. Die gegenwärtige Sachlage ist hingegen deut- ungleich komplexer als in Schottland und Wales, da die lich komplexer, als die in der Vergangenheit oftmals über lange Zeit von Gewalt und Gewaltexzessen gepräg- emotional geführte Debatte suggeriert; so besitzt das ten innenpolitischen Auseinandersetzungen bis in die schottische Parlament für bestimmte Bereiche über- Gegenwart fortwirken bzw. fortgesetzt werden. So ist im haupt keine gesetzgeberische Kompetenz (Verteidigung, Streit um die Entwaffnung der Irisch Republikanischen nationale Sicherheit, Außenpolitik, Wirtschafts- und Armee (IRA), die über Jahre gewaltsam für eine Abspal- Finanzpolitik), während das Londoner Parlament bei tung Nordirlands vom Vereinigten Königreich kämpfte, Entscheidungen des schottischen Parlaments ein Veto das nordirische Parlament von der Londoner Regierung einlegen bzw. das gesamte schottische Parlament – im Jahre 2002 suspendiert und erst im Jahre 2007 wieder zumindest theoretisch – wieder auflösen kann. Einzig eingesetzt worden, nachdem die IRA im Jahre 2005 der Gewalt abgeschworen und sich das unionistische und das nationalistische politische Lager auf einen Modus der parlamentarischen Zusammenarbeit geeinigt hatten. 70 Die beiden Anschläge auf Sicherheitskräfte im März 60 2009 (Anschlag auf eine britische Kaserne mit zwei 50 Toten und Attentat auf einen Polizisten mit tödlichem 40 ja Ausgang) durch eine Splittergruppe der IRA („Real IRA“) verdeutlichen aber, wie langwierig und zäh der 30 nein Prozess der Aussöhnung zwischen den unterschied- 20 unentschieden/ neutral lichen politischen Lagern tatsächlich ist. In einer sym- 10 bolträchtigen Geste traten der protestantische Regie- rungschef Peter Robinson, sein katholischer Vize Martin England Schottland McGuinness und der britische Polizeichef der Provinz, Wales Sir Hugh Orde, nach den Anschlägen vor die Kameras vor Stormont Castle, dem Regierungs- und Parlaments- Abb. 7.11 Ergebnis einer BBC-Umfrage zum Thema „Ein eigenes Parlament für England?“. Quelle: Newsnight Act of Union Poll sitz in Belfast. Zwar bekundete der Regierungschef, dass 2007, Frage 5: „Sind Sie der Meinung, dass ein englisches „die politische Klasse geeint sei im Kampf des Willens Parlament eingerichtet werden sollte?“ (http://news.bbc.co. gegenüber bösartigen Schützen“ und dass die politische uk/2/shared/bsp/hi/pdfs/16_01_07_union.pdf, Abruf: Klasse gewinnen werde; wie der Ausgang dieser Krise 12.01.2009)., 7.5 Devolution – ein brauchbares Konzept zur Stärkung der Regionen? 219 7 die politische Situation in Nordirland in den Jahren zwi- England. Über 60 % der Engländer, 51 % der Schotten schen 1921 und 1972 ist annähernd vergleichbar mit und 48 % der Waliser sprachen sich dafür aus, auch in dem in der West Lothian Question aufgeworfenen England ein Parlament einzurichten (Abb. 7.11). Gleich- Dilemma, da zu dieser Zeit das Parlament Nordirlands zeitig votierten die Befragten mehrheitlich für den Fort- gesetzgeberische Kompetenzen innehatte und gleichzei- bestand des Vereinigten Königreiches (73 % aller Eng- tig irische MPs in London die Gesetzgebung für das Ver- länder, 56 % aller Schotten und 69 % aller Waliser) (Abb. einigte Königreich mitgestalteten. 7.12). Hieraus lassen sich, mit der gebotenen Vorsicht, mehrere Dinge ablesen. Zum einen wird deutlich, dass die Devolution dem Fortbestand des Vereinigten König- The West Lothian Question reiches nicht geschadet hat. Auch wenn frühere Ver- „For how long will English constituencies and English gleichszahlen nicht vorliegen und keine Aussagen zur Honourable members tolerate … at least 119 Honourable Members from Scotland, Wales and Northern Ireland exer- Repräsentativität der hier angeführten Befragung ge - cising an important, and probably often decisive, effect on macht werden können, gibt die große Zustimmung zum British politics while they themselves have no say in the Fortbestand des Vereinigten Königreiches doch Anhalts- same matters in Scotland, Wales and Northern Ireland?“ punkte für ein hohes Maß an Identifikation auch mit (Tam Dalyell, Parlamentsmitglied für die Labour Party für dem Vereinigten Königreich. Insofern können sich die den schottischen Wahlkreis West Lothian, in einer Debatte Parteistrategen von New Labour in ihrer Überzeugung des Unterhauses über Devolution in Schottland und Wales bestätigt sehen, dass die Devolution eher ein stabilisie- am 14 November 1977, http://www.undiscoveredscotland. rendes und weniger ein destabilisierendes Element ihrer co.uk/usscotfax/pol/index.html, Abruf: 02.03.2009). politischen Reformen ist. Es muss jedoch angemerkt werden, dass diese Interpretation keineswegs zwingend Vor dem Hintergrund solcher Diskussionen und ange- ist. Je nach Standpunkt lassen sich die Ergebnisse der sichts der vollzogenen Devolution in Schottland, Wales Umfrage auch anders auslegen. Der Vorsitzende der und Nordirland zeichnet sich in der öffentlichen Mei- Scottish National Party, Alex Salmond, beispielsweise nung eine durchaus positive Stimmung zur Schaffung deutet die Umfragewerte als Beleg für den wachsenden eines englischen Parlaments ab. In einer Umfrage aus Wunsch der Schotten nach nationaler Souveränität. dem Jahre 2007 befragte die BBC anlässlich der 200- Zum anderen kann man aus der Befürwortung eines Jahr-Feier der Union of the Crowns 1 953 Personen aus englischen Parlaments durch Schotten und Waliser auch England, Schottland und Wales zur Zukunft des Verein- die hohe Bedeutung von Fair Play innerhalb der briti- igten Königreiches, zur vollzogenen Devolution und zur schen Gesellschaft herauslesen. Was Schotten und Wali- möglichen Einrichtung eines eigenen Parlaments für ser 1998 erlangt haben, soll den Engländern nicht vor- enthalten bleiben. Auch wenn diese Interpretation der Alltagssicht vie- ler Bürger entsprechen mag, sie spiegelt nicht notwendi- 80 gerweise die Sichtweise der Parteien wider. Vor allem 70 Labour und Konservative lehnen die Einrichtung eines 60 englischen Parlaments ab, so auch der derzeitige – schot- tische – Premierminister Gordon Brown sowie der Kon- servative Think-Tank Conservative Democracy Task 40 Fortbestand Force. Bei einer anderen Variante größerer englischer Ende 30 Selbstbestimmung, nämlich der Einschränkung der unentschieden/ neutral Rechte schottischer, walisischer und nordirischer Abge-20 ordneter bei der Lesung und Verabschiedung englischer 10 Gesetzesvorlagen („English votes for English laws“), 0 sind die Positionen differenzierter. Während Labour sie England Schottland Wales strikt ablehnt (zuletzt vor allem Tony Blair), liegt durch die Conservative Democracy Task Force ein Vorschlag Abb. 7.12 Ergebnis einer BBC-Umfrage zur Zukunft des Ver- vor, in welcher Weise eine stärkere „Machtsymmetrie“ einigten Königreiches. Quelle: Newsnight Act of Union Poll im britischen Parlament hergestellt werden kann. Trotz 2007, Frage 3: „Sollte das Vereinigte Königreich in seiner jetzi- gen Form fortbestehen oder aufgelöst werden (bei gleichzeiti- dieser punktuellen Unterschiede sind sich Labour und ger Souveränität von Schottland und Wales)?“ (http:// Konservative aber darin einig, dass dem Erhalt des news.bbc.co.uk/2/shared/bsp/hi/pdfs/16_01_07_union.pdf, V ereinigten Königreiches oberste politische Priorität Abruf: 12.01.2009). zukommt., 7 220 7 Politik und Raumplanung Abb. 7.13 Das Parlament des Vereinig- ten Königreiches: Die Houses of Parlia- ment (auch Palace of Westminster genannt), die im neugotischen Stil erbaut worden sind, beherbergen das britische Unterhaus (House of Com- mons, zwischen den beiden markanten Türmen in der rechten Bildhälfte) und dem Oberhaus (House of Lords, eben- falls zwischen den beiden Türmen, aller- dings in der linken Bildhälfte). Am rech- ten Rand der Anlage befindet sich das „Markenzeichen“ des Parlaments, der Glockenturm St Steven’s Tower mit der Glocke Big Ben. 1987 sind die Houses of Parliament von der UNESCO in die Liste der Weltkulturdenkmäler aufge- nommen worden. Quelle: Wood 2004. Obwohl England bei der Umsetzung der Devolu- kampfmanifest der Labour Party aus dem Jahre 2001 tionspolitik ein eigenes Parlament versagt blieb und auf angekündigt und im Weißbuch Your Region, Your Choice absehbare Zeit wohl auch bleiben wird, hat sich der – Revitalising the English Regions festgeschrieben. gesamte Devolutionsprozess keineswegs ausschließlich Die Regierung verfolgte dabei eine „Devolution auf An - auf Schottland, Wales und Nordirland beschränkt. frage“: Keine Region sollte gezwungen werden, gewählte So sind im Jahre 1999 in den englischen Regionen Regionalparlamente einzuführen, aber für alle Regio- Regional Development Agencies (RDAs) eingerichtet nen, die dies per Volksentscheid wünschten, sollte hierzu worden (London Development Agency ab 2000), die vor die rechtliche Basis geschaffen werden. Um auszutesten, allem für die Vorbereitung regionaler Entwicklungsstra- wie stark dieser Wunsch tatsächlich war, entschied sich tegien (regional economic development strategies, RES) die Regierung zu einem „Testlauf“ in Form einer Volks- zuständig sind. Außerdem haben die RDAs die Verwal- befragung in Nordostengland im November 2004. Hin- tung eines nicht unerheblichen Teiles zentralstaatlicher ter dieser Entscheidung stand die Überlegung, dass sich Mittel von den Government Offices (GORs) übernom- die Bevölkerung Nordostenglands wie in kaum einem men. Im Schnitt verfügt eine RDA über ein jährliches anderen Teil des Landes mit „ihrer“ Region identifiziere Budget in Höhe von 200 Mio. Pfund. Die Aufsichtsfunk- und daher nirgends sonst vergleichbar hohe Zustim- tion über die RDAs übernehmen die ebenfalls neu ge - mungswerte zu einer gewählten Regionalversammlung schaffenen Regionalversammlungen (Regional Assem- zu erwarten seien wie hier. Sollte also das Referendum blies, RAs), deren Mitglieder – mit Ausnahme Londons positiv ausgehen, dann hätte das für andere Regionen – nicht gewählt, sondern paritätisch von den Kommu- eine Signal- und vielleicht auch eine Sogwirkung gehabt. nen, den Grafschaftsräten und anderen – bürgerschaft- Es kam aber anders. Das Referendum endete für die lichen – Interessengruppen gestellt werden. Allerdings Regierung und vor allem für den stärksten Befürworter hat die Einrichtung von RDAs keine nennenswerten englischer Regionalversammlungen, den damaligen Machtverschiebungen in den Regionen zur Folge stellv ertretenden Premierminister John P rescott, in gehabt, da die Entscheidungskompetenzen trotz der einem Fiasko, da sich 78 % der Abstimmenden gegen die immer wieder von der Regierung hervorgehobenen Einrichtung eines Regionalparlaments aussprachen. Bedeutung einer breiten bürgerschaftlichen Beteiligung Damit erhielt die Debatte um Dezentralisierung in nach wie vor weitgehend in den Händen bestehender England einen erheblichen Dämpfer, der die Regierung Interessengruppen und -allianzen aus der kommunalen zwang, ihre Strategie zu ändern. Im Jahre 2007 veröf- Politik und Verwaltung sowie der Privatwirtschaft liegt. fentlichte sie den Bericht Review of Sub-National Econo- Um die bestehenden politischen Einrichtungen auf mic Development and Regeneration, in dem zum Teil der regionalen Ebene stärker demokratisch zu legitimie- erhebliche Veränderungen in den Formen der politi- ren, war geplant, gewählte Regionalversammlungen schen Steuerung auf der regionalen Ebene angekündigt e inzurichten. Dieser Schritt wurde bereits im Wahl- wurden. Danach sollen bis zum Jahr 2010 alle acht nicht, 7.5 Devolution – ein brauchbares Konzept zur Stärkung der Regionen? 221 7 gewählten RAs abgeschafft und deren Kompetenzen auf In Schottland, Wales und Nordirland hat die Devolu- die Entwicklungsgesellschaften (RDAs) übertragen wer- tion vor allem zu einer Stärkung und zu einer größeren den. Deren wichtigste Aufgabe soll darin bestehen, sog. demokratischen Legitimierung der Steuerung gesell- single regional strategies zu konzipieren, in denen die schaftlicher Prozesse auf der regionalen Ebene geführt. wirtschaftliche Entwicklung der betreffenden Region Auch wenn es sich bei den eingerichteten Nationalver- formuliert werden. Gleichzeitig soll die Rolle der Kom- sammlungen bzw. Parlamenten nicht um Elemente munen gestärkt werden, denen die Regierung eine Kon- eines föderalen Staates handelt, hat ihre Einrichtung trollfunktion von RDAs und single regional strategies ganz maßgeblich dafür gesorgt, dass nationale Interes- zugedacht hat. Um dies auch praktisch umsetzen zu sen der Schotten, Waliser und Nordiren einen weiteren können, sollen in den Regionen sog. Local Authority Ort der Artikulation gefunden haben. Sicherlich stellen Leaders’ Boards (LALBs) eingerichtet werden. Die erste diese Entwicklungen keinen Wert an sich dar, zumal in Einrichtung dieser Art besteht seit Juli 2008 in Form des der Möglichkeit der Rücknahme der gewonnenen poli- 4NW, das die North West Regional Assembly ersetzt und tischen Spielräume durch das britische Parlament ja seinen Sitz in Wigan, Greater Manchester, hat. Im Rah- latent ein Damoklesschwert über der Devolution hängt. men der single regional strategies sollen laut 4NW wirt- Sie erscheinen aber einleuchtend, wenn man bedenkt, schaftliche Entwicklung und räumliche Planung in dass moderne, komplexe Gesellschaften auf Dauer kaum Nordwestengland eng miteinander verzahnt werden. ausschließlich durch einen Zentralstaat erfolgreich zu Weitere LALBs haben sich in Südwestengland (South steuern sein dürften. Mit der Stärkung Schottlands, West Strategic Leaders’ Board, Herbst 2008), in Süd- Wales und Nordirlands dürfte daher in ähnlich hohem ostengland (South East England Partnership Board, Maße eine Stärkung des Vereinigten Königreiches ein- März 2009), in Yorkshire and The Humber (Local hergegangen sein. Government Yorkshire and Humber, November 2008) Ob die Devolution zu einer Stärkung der nationalen und in Nordostengland (Association of North East Identitäten von Schotten, Walisern und Nordiren ge - Councils, April 2009) gebildet. Zwei weitere LALBs führt hat, ist hingegen weitgehend offen. Ebenso schwer befinden sich zum Zeitpunkt der Erstellung des Manu- lassen sich die ökonomischen Folgen der Devolution skripts (Dezember 2009) in der Phase der Entstehung: ausloten. Von den Befürwortern war ja wiederholt argu- die East Midlands Local Authorities Leaders Board und mentiert worden, die Devolution führe zu einer Verbes- die East of England Regional Strategy Board, die ab serung der ökonomischen Leistungsfähigkeit, da sie die März 2010 die Funktionen der East of England Regional endogenen Kräfte der Regionen stärke und so zusätzli- Assembly übernehmen soll. ches Entwicklungs- bzw. Wachstumspotenzial freisetze. Mit diesen vorsichtigen Reformschritten versucht die Eine Überprüfung solcher Begründungsmuster ist Regierung, den offenkundigen Reformbedarf politischer jedoch kaum möglich, da es keine volkswirtschaftlich Steuerung in England unterhalb der zentralstaatlichen seriöse Methode gibt, „devolutionsbedingte“ bzw. Ebene voranzutreiben. Das von der Regierung derzeit „devolutionsbereinigte“ Entwicklungspfade zu identifi- verfolgte Modell der Schaffung von Local Authority zieren. Leaders’ Boards in allen acht englischen Regionen Bei der Diskussion Englands ist deutlich geworden, außerhalb von London stellt allerdings nur eine mögli- dass es ein eigenes englisches Parlament auf absehbare che Variante dar. Andere Arrangements sind bestehende Zeit ebenso wenig geben wird wie die Einschränkung Initiativen wie core cities und city regions, denen es des Mandats der Abgeordneten aus Schottland, Wales darum geht, die englischen Stadtregionen außerhalb und Nordirland im Parlament in Westminster. Auch Londons strukturell zu stärken. wenn weite Teile der Öffentlichkeit im gesamten Ver- einigten Königreich die Schaffung eines englischen Par- laments durchaus begrüßen würden, bleibt eine solche

Fazit

Option angesichts der Position der beiden größten Par- teien des Landes ein reines Wunschbild. Das Thema Devolution im Vereinigten Königreich ist so Die unter der letzten konservativen Regierung einge- vielschichtig und gerade auch in seiner historischen leitete und von der Labour-Regierung dann zunächst Dimension so komplex, dass an dieser Stelle weder ein- sehr intensiv betriebene Stärkung der regionalen Ebene fache noch allumfassende Schlussfolgerungen zu erwar- in England hat zu einer deutlichen Umverteilung von ten sind. Von daher soll die abschließende Bewertung in Kompetenzen und Aufgaben von oben nach unten bewusst zugespitzter Form erfolgen: Hat sich die Devo- geführt. Trotz dieser tendenziellen Stärkung wichtiger lution als brauchbares Konzept zur Stärkung der Regio- Handlungsfelder (Wirtschaftsförderung, regionale nen herausgestellt? Strukturpolitik, Tourismus und etc.) sind die Verhält-, 7 222 7 Politik und Raumplanung

The regions of England

The Conservatives have created a tier of regional govern- whether they want directly elected regional government. ment in England through quangos and government regional Only where clear popular consent is established will arrange- offices. Meanwhile local authorities have come together to ments be made for elected regional assemblies. This would create a more co-ordinated regional voice. Labour will build require a predominantly unitary system of local government, on these developments through the establishment of regio- as presently exists in Scotland and Wales, and confirmation nal chambers to co-ordinate transport, planning, economic by independent auditors that no additional public expendi- development, bids for European funding and land use plan- ture overall would be involved. Our plans will not mean ning. adding a new tier of government to the existing English sys- Demand for directly elected regional government so tem. varies across England that it would be wrong to impose a (Labour Party Manifesto, http://labour-party.org.uk/mani- uniform system. In time we will introduce legislation to allow festos/1997/1997-labour-manifesto.shtml, Abruf: the people, region by region, to decide in a referendum 10.02.2009) nisse in den englischen Regionen nicht selten durch einer möglichen Lösung aus der Sicht der konservativen Unübersichtlichkeit und mangelnde Koordination des Partei. Handelns geprägt, was vor allem in der Schaffung http://www.4nw.org.uk/ immer neuer Initiativen und Einrichtungen begründet Detaillierte Informationen zu Aufgaben, Befugnissen und liegt. rechtlichem Status des LALB 4NW sind auf dieser Home- page abrufbar. Die vielleicht wichtigste Veränderung in England im Zusammenhang mit dem Devolutionsprozess mag daher die verstärkte Auseinandersetzung mit dem sein, was „Englishness“ und „Britishness“ heute (noch) bedeuten Weiterführende Literatur können. Natürlich ist dieser Prozess nicht alleine durch die Devolution zu erklären, sondern muss die starke Burgess, M. (1989): The Roots of British Federalism. In: Gar- Zuwanderung von Menschen aus Commonwealth-Län- side, P. L.; Hebbert, M. (Hrsg.): British Regionalism 1900– dern ebenso in Betracht ziehen wie die zunehmende 2000. London, S. 20–39. Burrows, B.; Denton, G. (1980): Devolution or Federalism? europäische Integration (Stichwort: Arbeitsmigration Options for a United Kingdom. Basingstoke. aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU). Dennoch hat Cabinet Office/DTLR (2002): Your Region, Your Choice – Revi- der seit nunmehr vielen Jahren andauernde Devolu- talising the English Regions. London. tionsprozess einen nicht zu unterschätzenden Anteil an Danielzyk, R.; Wood, G. (2006): Regional Governance in Eng- dieser Auseinandersetzung mit Fragen der (nationalen) land. In: Geographische Rundschau, Heft Mai, S. 12–20. Identität gehabt, gerade auch in England. Elcock, H. (2003): Regionalism and Regionalisation in Britain and North America. In: British Journal of Politics and Inter- national Relations, 5, 1, S. 74–101. Jeffery, C. (2003): Durch Devolution zur Föderalstruktur?

Informationen im Internet Aktuelle Entwicklungen in Großbritannien. In: Europäisches

Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.): Europäischer http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/6903108.stm Föderalismus im 21. Jahrhundert (Schriftenreihe des Euro- Der Beitrag auf dieser Seite beschäftigt sich mit dem ein- päischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, Bd. 24). schneidenden Wechsel von den bisherigen Regional Assem- Baden-Baden, S. 109-117. blies zu den Local Authority Leaders’ Boards in England. Keating, M. (1989): Regionalism, Devolution and the State, http://www.conservatives.com/~/media/Files/Download 1969–1989. In: Garside, P. L.; Hebbert, M. (Hrsg.): British able%20Files/Answering%20the%20West%20Lothian%20 Regionalism, 1920–2000. London, S. 158–172. Question.ashx?dl=true Scottish Constitutional Committee (Chairman: Sir Alec Dou- Auf dieser Seite findet sich eine weiterführende Diskussion glas Home) (1970): Scotland’s Government. The Report of der Devolution, ihrer verfassungsrechtlichen Probleme und the Scottish Constitutional Committee. Edinburgh.,

Kapitel 8 Gesellschaft, Handel

und Kultur 8.1 Einführung Bevölkerung auf, die mobil und in der Lage ist, sich dem flexibler gewordenen Arbeitsmarkt anzupassen. Flexibilität ist ein herausragendes Merkmal der spät- Klaus Zehner fordistischen Dienstleistungswirtschaft, in der gut aus- gebildete Arbeitskräfte benötigt werden. Die Einkom- Wie die meisten Industrienationen weist auch Groß- men dieser Arbeitskräfte sind überdurchschnittlich britannien typische Merkmale einer spätfordistischen hoch, so dass die Preise für Immobilien sich auf einem Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur auf. Während ebenfalls hohen Niveau bewegen. Jedenfalls war dieser die Wirtschaftsleistung überwiegend durch Dienstleis- tungen und nur noch in geringem Maße durch indus- t rielle Produktion erbracht wird, sind wesentliche Kenn- zeichen der britischen Gesellschaft Alterung und eine hohe Affinität zu materiellem Konsum. Der demographische Wandel ist sowohl Zustand als auch ein Prozess, der an Bedeutung zunimmt. So ist alleine in den zurückliegenden 25 Jahren die Zahl der über 65-jährigen Einwohner um 1,5 Mio. angewachsen. Abschnitt 8.2 von Doris Schmied greift das Thema Alte- rung auf und geht der Frage nach, welche soziodemo- graphischen Ursachen ihr zugrunde liegen und wie sie sich räumlich auswirkt. Zu beobachten ist, dass vor allem vermögende Senioren den Großstädten den Rücken kehren und sich in attraktiveren Regionen niederlassen. Ein beliebtes Zielgebiet ist der südeuropä- ische Sun Belt, ein anderes ist die klimatisch begünstigte Südküste Englands. Dort prägen Senioren unübersehbar das Bild der Städte, weshalb die gelegentlich für die eng- lische Südküste gebrauchte Bezeichnung „Costa geria- trica“ nicht ganz unangebracht ist. Die Infrastruktur der dortigen Seebäder, sei es die Straßenmöblierung, die Beschilderung oder die medizinische Versorgung ist unübersehbar auf die Zielgruppe der älteren Generatio- nen ausgerichtet (Abb. 8.1). In anderen, landschaftlich weniger attraktiven sowie klimatisch und wirtschaftlich benachteiligten Gebieten dagegen ist der Anteil älterer Menschen hoch, weil vor allem jüngere, im Erwerbsleben stehende Personen Abb. 8.1 Straßenschilder, die Autofahrer auf die große Zahl abwandern. Ihre bevorzugten Zielgebiete sind die älterer Verkehrsteilnehmer aufmerksam machen sollen, sind Metropolen, allen voran London. Die britische Haupt- vor allem in den Küstenorten und Seebädern Südenglands an - stadt weist eine vergleichsweise junge und dynamische zutreffen. Quelle: www.freefoto.com., 8 224 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Zusammenhang bis zum Beginn der Wirtschaftskrise in breitung in Großbritannien ist vor allem dem Laisser- der zweiten Hälfte des Jahres 2008 deutlich zu beobach- faire der Raumplanung während der Thatcher-Ära in ten. Viele ältere Londoner nutzten die hohen Immo- den 1980er Jahren zuzuschreiben. Damals waren groß- bilienpreise und verkauften, nachdem sie aus dem flächige Handelsimmobilien bevorzugte Anlageobjekte, Erwerbsleben ausgeschieden waren, ihre Immobilie. Sie die in einem Wirtschaftsklima des Aufschwungs hohe verließen die Hauptstadt, da sie in der Lage waren, aus Renditen versprachen. Wenig beachtet wurden in dieser dem Erlös des Hausverkaufs eine neue Altersresidenz an Zeit die Auswirkungen, die von der Förderung des Ein- der Küste oder in einem attraktiven ländlichen Gebiet, zelhandels an den Rändern der Städte auf die Innen- wie etwa den Cotswolds oder Cornwall, zu finanzieren. städte ausgingen. Diese büßten nicht nur an Attrakti- Mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 geriet dieses vität ein, manche Stadtzentren verödeten regelrecht zu System allerdings ins Stocken, als ausgehend vom Ban - unwirtlichen „Betonwüsten“, aus denen sich der Einzel- kensektor die städtische Wirtschaft Londons in einen handel immer stärker zurückzog. Gegner der neolibera- kräftigen Strudel geriet, der die Immobilienpreise im len Stadtentwicklungspolitik bezeichneten die britische ganzen Land im Durchschnitt um ca. 15 % sinken ließ. Stadtlandschaft während dieser Zeit sogar mit dem Von Bedeutung ist auch die strukturelle Zusammen- wenig schmeichelhaften Etikett „Ghost Town Britain“. setzung der Bevölkerung. In der sozialwissenschaft- Auch wenn diese Bezeichnung sicherlich übertrieben lichen Forschung wird intensiv über eine zunehmende war, so war ein pessimistischer Ausblick auf die Zukunft gesellschaftliche Ausdifferenzierung in eine größere der britischen Städte nicht ganz von der Hand zu weisen, Zahl sog. Lebensstilgruppen diskutiert. Diese Vorstel- sahen sich doch spätestens seit Mitte der 1970er Jahre lung tritt neben bekannte Sozialstrukturmodelle, die auf viele Großstädte, vor allem in Mittel- und Nordengland, den Konzepten von Schichten und Klassen basieren. Ein mit den Folgen der Deindustrialisierung konfrontiert. genauer Betrachter der gesellschaftlichen Verhältnisse Der industrielle Abschwung erfasste nicht nur die Textil- wird feststellen, dass die Vorstellung, in einer Klassenge- und Montanindustrie, sondern auch die Automobilin- sellschaft zu leben, in der Alltagswelt immer noch weit dustrie sowie weitere neuere Industriezweige. Vom verbreitet ist und beispielsweise auch in den Medien Niedergang der Industrie wurden Glasgow, Newcastle, häufig thematisiert wird. Parallel hierzu haben sich auf- Liverpool und Manchester besonders hart getroffen. Der grund geänderter gesellschaftlicher Rahmenbedingun- massive Verlust von Unternehmen und Arbeitsplätzen gen Lebensstilgruppen herausgebildet, die sich im hatte zudem erhebliche soziale und städtebauliche Aus- Wesentlichen durch spezifische Werthaltungen, Prinzi- wirkungen, so dass die Stadtverwaltungen unter Druck pien der Lebensgestaltung und Mentalitäten beschrei- gerieten und begannen, neue Konzepte und Strategien ben lassen. für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung zu entwickeln. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dabei von Bedeutung, Ein Schlüssel zur Überwindung der Krise bot der kultu- dass sich Lebensstilgruppen durch spezifische Konsum- relle Sektor und hier insbesondere das historische Erbe wünsche und -gewohnheiten definieren lassen. Investo- der einstigen Welt- und Industriemacht „Großbritan- ren und Handelsunternehmen haben diesen Trend nien“. Durch neue Formen der Inwertsetzung des indus- erkannt und sich mit neuen Betriebsformaten und trial heritage sollte der Städtetourismus beflügelt werden Standortagglomerationen auf die Wünsche der Kunden und die städtische Wirtschaft ein neues Fundament eingestellt. Stärker ausdifferenzierte Konsumgewohn- erhalten. Abschnitt 8.5 greift am Beispiel Manchesters heiten haben neue Orte der Konsumtion und Freizeit- die Frage auf, wie die Transformation von einer Stadt, gestaltung, wie Malls, Urban Entertainment Center und die mit der Baumwollindustrie ihre industrielle Basis Factory Outlet Center, entstehen lassen. Sie sind nicht weitgehend eingebüßt hatte, zu einer Kulturmetropole nur attraktive Handelsstandorte, sondern auch wichtige in Nordwestengland vonstatten gegangen ist. Kritisch Erlebnisorte und Orte der Freizeitgestaltung. diskutiert werden dabei die städtebaulichen, wirtschaft- Die Abschnitte 8.3 und 8.4 widmen sich ausführ- lichen und sozialen Folgen, die durch eine Politik des licher den modernen Formen des britischen Einzelhan- municipal entrepreneurialism ausgelöst wurden, aber dels. Dargestellt wird zum einen der Lebensmitteleinzel- letztlich (noch) nicht überwunden sind. handel, der überwiegend von britischen Unternehmen beherrscht und dessen Struktur durch großflächige Super- und Hypermarkets geprägt wird, während Dis- counter eine nur marginale Rolle spielen. Zum anderen wird die Ausbreitung großflächiger, vor allem außerhalb der Städte errichteter Regional Shopping Center und Factory Outlet Center diskutiert. Ihre flächenhafte Ver-, 8.2 Zwischen Alicante, Alnwick und Altersheim 225 8 8.2 Zwischen Alicante, benutzte. Aber de facto gingen in der Vergangenheit, vor allem in den 1990er Jahren, viele Männer und Frauen

Alnwick und Altersheim: schon vor Erreichen der jeweiligen Altersgrenze in Geographische Aspekte des Ruhestand. Allerdings hat sich in den letzten Jahren das

tatsächliche Renteneintrittsalter immer mehr dem

Alterns im Vereinigten gesetzlich vorgesehenen angenähert. Umgekehrt gibt es Königreich aber auch viele Personen – 10,7 % der Männer, 12,3 %

der Frauen in Mai/Juni 2008 (Zahlen aus Pension Trends, National Statistics) –, die im Rentenalter, häufig als Teil- Doris Schmied zeitkräfte, weiterhin berufstätig sind. „König George V. begann 1917, jedem, der in diesem Jahr sei- nen 100. Geburtstag feierte, ein Telegramm zu senden. Es waren Heterogenität statt Stereotypen 24 – 7 an Männer und 17 an Frauen. Die Tradition ist seitdem von jedem regierenden Monarchen fortgeführt worden. 1952, im ersten Jahr ihrer Regentschaft, versendete die Queen 200 Die Diskussion über ältere Menschen erfolgt häufig in Telegramme. Im letzten Jahr waren es 4 623 königliche Stereotypen. Auf der einen Seite gibt es das Bild der akti- Geburtstagskarten (die seit 1982 die Telegramme ersetzen). ven Senioren, die sich den Traum vom angenehmen Nach der Bevölkerungsprognose des Amtes für Nationale Sta- Lebensabend erfüllen und eine attraktive Konsumen- tistik dürften im Jahr 2031 fast 40 000 Menschen in Großbri- tengruppe darstellen, für die deutsche – nicht britische – tannien leben, die über 100 Jahre alt sind“ (http://wales.gov.uk/ Werbefachleute und in ihrem Gefolge Soziologen die topics/statistics/publications/focusoldpeople08/?lang=en+, Bezeichnung „Best Agers“ geprägt haben. Im Vereinigten Übersetzung D. Schmied). Königreich werden in diesem Zusammenhang eher die Begriffe successful ageing, active ageing oder healthy Wie in anderen europäischen Ländern altert die Bevölke- ageing verwendet. Auf der anderen Seite gibt es aber rung des Vereinigten Königreiches infolge des zweiten weiterhin das Stereotyp des senilen, gebrechlichen Grei- demographischen Übergangs, der häufig nur demogra- ses, der von anderen abhängig ist und der Gesellschaft phischer Wandel genannt wird, wenn auch aufgrund der zur Last fällt. Eine genauere Untersuchung der älteren relativ starken internationalen Zuwanderung vergleichs- Menschen in der britischen Gesellschaft muss sich von weise langsam. Während die Bevölkerung insgesamt zwi- diesen Stereotypen lösen und die unterschiedlichen schen 1971 und 2006 von 55,9 Mio. auf 60,6 Mio. Men- Lebensumstände älterer Menschen herausarbeiten. schen stieg (Zuwachs von 8,4 %), nahm der Anteil der Denn Altern ist sehr individuell, und Lebensumstände Über-65-Jährigen von 7,4 auf 9,7 Mio. zu (Zuwachs von und Verhalten im Alter sind von vielen verschiedenen 31,1 %). Besonders deutlich ist derzeit die Zunahme der Faktoren abhängig. Personen über 85 Jahre, da die nach dem Ersten Welt- Aufgrund des biologischen Alters ist es sinnvoll, eine krieg geborenen baby boomers nun dieses Alter erreichen. gewisse Gruppierung vorzunehmen. In der anglopho- 2008 gab es zum ersten Mal in der Geschichte mehr nen geriatrischen Forschung wird meist zwischen den Rentner als Kinder und Jugendliche unter 16 Jahre. young old (65–74 Jahre), old old (75–84 Jahre) und den Aufgrund des demographischen Wandels ist auch im oldest old (85+ Jahre) unterschieden. Aber das biologi- Vereinigten Königreich das Interesse an Altern und alten sche Alter ist nur ein Gesichtspunkt, andere sind sozio- Menschen stark gewachsen. Aber die Diskussion leidet ökonomischer Hintergrund, Lebensstil, Familiensitua- häufig daran, dass es keine einheitliche Definition für tion, physischer oder psychischer Gesundheitszustand, „alt“ gibt: Manchmal liegen die Grenzen für Männer Wohnsituation usw. Hinzu kommen noch geschlechts- und Frauen bei 65 Jahren, manchmal bereits bei 60, 55 spezifische und ethnische Unterschiede. Mit anderen oder sogar 50 Jahren, in wieder anderen Fällen wird auf Worten: Altern ist sehr heterogen. das staatliche Pensionsalter (state pension age) Bezug genommen. Dieses liegt gegenwärtig – wie bisher auch

Die familiäre Situation

bei anderen europäischen Ländern – noch bei 60+ für Frauen und bei 65+ Jahren bei Männern. Es soll aber von 2010 bis 2020 zunächst für Frauen auf 65 Jahre und Viele Studien haben gezeigt, dass familiäre, insbesondere dann von 2024 bis 2046 für Männer und Frauen bis auf partnerschaftliche, Bindungen ein stabilisierender Fak- 68 Jahre angehoben werden. tor sind und die Lebenszufriedenheit und Lebensum- Zwar ist das staatliche Pensionsalter ein angemesse- stände im Alter positiv beeinflussen. Grundsätzlich ist nes Abgrenzungskriterium und auch das am häufigsten die Zahl der Verheirateten bei älteren Männern im Ver-, 8 226 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Tabelle 8.1 Lebensformen älterer Menschen in Privathaushalten (Großbritannien 2002) Lebensformen Männer im Alter von Frauen im Alter von (Anteile in %) 50–59 Jahren 60–74 Jahren 75+ Jahren 50–59 Jahren 60–74 Jahren 75+ Jahren allein lebend 15 16 29 15 29 60 mit Ehepartner 73 76 64 71 62 31 mit Partner531411mit Kind(ern) ohne422645(Ehe-)Partner mit anderen333333insgesamt 100 100 100 100 100 100 Quellen: General Household Survey, Office for National Statistics (zit. nach Soule, A. et al. (Hrsg.) (2005). Focus on Older P eople 2005, S. 14, leicht verändert) www.statistics.gov.uk/downloads/theme_compendia/foop05/Olderpeople2005.pdf (Abruf: 29.01.2010) einigten Königreich höher als bei älteren Frauen. So hat- der Anteil der in Altersheimen lebenden Frauen ab 65 ten 2001, zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung, etwa Jahren auch größer als der der Männer (5,9 % im Ver- vier von fünf Männern im Alter von 60 bis 74, aber nur gleich zu 2,7 %). Insgesamt ist allerdings die Prozentzahl drei von fünf Frauen (noch) einen Ehepartner. Im Alter in den 1990er Jahren gesunken, ab 85 Jahren lagen die Zahlen bei den Männern bei Nach einem Bericht der Kommission für kommunale 45 %, bei Frauen aber nur noch bei 9 %. Das hat mehrere Finanzrevision in England, der Audit Commission, von Gründe: Zum einen haben viele Frauen, die in den 2008 erhalten 15 % der Über-65-Jährigen, die in Privat- ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geboren wur- haushalten leben, Unterstützung durch einen sozialen den, aufgrund von Männermangel (Kriege, Auswande- Dienst (social care). 3 % der Personen benötigen eine rung) nie geheiratet. Dann heiraten Frauen in der Regel Form der persönlichen Betreuung (residential care) und ältere Männer, die noch dazu früher sterben. So sind leben daher in institutioneller Betreuung in einem viele Seniorinnen verwitwet und auf sich selbst oder Altersheim (care home) mit oder ohne Pflege. Bei den außerfamiliäre Hilfe angewiesen, während die noch Personen über 80 Jahren liegt der Prozentanteil aller- lebenden Senioren aus der gleichen Altersgruppe in dings bereits bei 18 % und bei denen über 90 Jahren ihrer Ehefrau meist eine betreuende/pflegende Partne- sogar bei 28 %. Allerdings hat die Zahl der Personen, die rin haben. in Heimen leben, seit den 1990er Jahren abgenommen, Dies bestätigen die Zahlen für die verschiedenen For- da sich das Netz aus Tageseinrichtungen und ambulan- men privater Haushalte (d. h. ohne die Berücksichti- ten Diensten deutlich verbessert hat. gung der Senioren in institutionellen Einrichtungen; Tab. 8.1). Während bei den Männern nur 16 % der jün-

Die finanzielle Situation

geren Alten und 29 % der noch Älteren alleine leben, tun dies 29 % bzw. 60 % bei den Frauen. Die meisten Senio- ren leben in diesen Altersgruppen mit Ehepartner/Part- Die sozioökonomischen Unterschiede der britischen ner, bei Männern fast 76 % bzw. 64 %, bei Frauen dage- Klassengesellschaft zeigen sich auch im Alter, selbst gen nur 62 % und 31 %. Das Zusammenleben mit wenn der Staat durch finanzielle Unterstützung extreme Partner und Kindern sowie andere Haushaltskonstella- Altersarmut einzudämmen versucht. tionen sind relativ selten. Grundsätzlich sinken mit Renteneintritt die Ein- Aufgrund der höheren Lebenserwartung und des künfte. Wie tief sie sinken, hängt davon ab, auf welche häufigeren Alleinlebens durch Verlust des Partners ist finanziellen Quellen ältere Menschen zurückgreifen, 8.2 Zwischen Alicante, Alnwick und Altersheim 227 8 können. Im Maximalfall sind dies staatliche Rente, in den West Midlands betroffen. Der Index für Einkom- Berufsrenten, private Altersversorgung, Einkünfte aus mensarmut kann nun dazu verwendet werden, um Investitionen, Lohn und sonstiges. Basierend auf kleinräumig die Problemgebiete von Altersarmut aufzu- Berechnungen des Department for Work and Pensions zeigen. Dazu erhalten die LSOAs Rangzahlen (höchster betrug 2006/07 das durchschnittliche Wocheneinkom- Anteil an Älteren mit staatlicher Unterstützung = Rang men bei Rentnerpaaren 508 Pfund, bei allein lebenden 1, geringster Anteil = Rang 32 482) und – bei diesem Männern 267 Pfund und bei allein lebenden Frauen Index möglich – Rangwerte (0,5 = 50 % der Personen ab 240 Pfund. Betrachtet man die Renten nach Quintilen, 60 Jahren beziehen staatliche Hilfe). Gemeinden können also eingeteilt in fünf gleich große Gruppen, lag bei so – wie das Beispiel Bournemouth zeigt (Abb. 8.2) – Rentnerpaaren das durchschnittliche Gesamteinkom- feststellen, wo die kritischen Gebiete liegen, und durch men der obersten Quintile 3,8-mal über dem der un - Vergleich mit früheren Erhebungen auch, wie sie sich tersten 20-%-Gruppe, bei einzelnen Rentnern 3,1-mal. zeitlich entwickeln. Während die Angehörigen des untersten Fünftels ihre Einkünfte fast nur aus der staatlichen Rente und Unter- stützung bezogen, konnten einkommensstarke Rent-

Die gesundheitliche Situation

ner/Rentnerpaare auf viele verschiedene Einkommens- quellen zurückgreifen. Zudem gibt es auch Unterschiede hinsichtlich des Der Gesundheitszustand hat im Alter einen hohen Stel- Alters: Älteren Rentnern stehen weniger finanzielle lenwert; von ihm hängt ab, wie Senioren ihr Leben Mittel zur Verfügung als jüngeren, da sie kaum noch gestalten können und natürlich auch wie lange sie leben. berufliche Nebeneinkünfte haben und keine Nutznießer Dabei zeigen sich erneut deutliche Unterschiede zwi- der erst vergleichsweise spät eingeführten Berufsrenten schen Männern und Frauen. Die Lebenserwartung von und privaten Vorsorge sind. Frauen ist höher als die von Männern. 2001 konnte ein So kommt es, dass ein großer Teil der Bevölkerung im 60-jähriger Mann noch mit einer durchschnittlichen Rentenalter, insbesondere der alten und ältesten Alten, Lebenserwartung von 19,8 Jahren rechnen, eine 60-jäh- nicht von den im Berufsleben erarbeiteten Rentenan- rige Frau dagegen mit weiteren 23,2 Jahren. Allerdings sprüchen oder sonstigem akkumulierten Kapital leben bedeutet die höhere Lebenserwartung für Frauen auch, kann. Dies kann mit Hilfe des (Sub-)Index für Einkom- dass sie mehr Jahre in einem schlechten Gesundheits- mensarmut von älteren Menschen (Income Deprivation zustand verbringen als Männer. Affecting Older People Index, IDAOPI) verdeutlicht Aber nicht nur das Geschlecht, auch die sozioökono- werden. In England sind bereits mehrfach auf der Basis mische Zugehörigkeit bzw. frühere berufliche Tätigkeit von 32 482 LSOAs (Lower Super Output Areas = statis- haben einen direkten Einfluss auf den Gesundheitszu - tische Einheiten mit durchschnittlich 1 500 Einwoh- stand von älteren Menschen. Da dies sehr schwer an - nern) insgesamt sieben Indices of Deprivation erhoben hand von Zahlen nachzuweisen ist, wird hier die durch- worden. Eine Variante des Index für Einkommensarmut schnittliche Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren als zeigt an, wie hoch der Anteil der Personen ab 60 Jahren Ersatzindikator genommen (Abb. 8.3). ist, die bestimmte Formen staatlicher Hilfe in Anspruch Dabei gilt vor allem bei Männern: je höher die soziale nehmen (müssen). 2007 schwankten die Werte zwischen Klasse, desto höher die Lebenserwartung. Angehörige weniger als 1 % (Mole Valley, South East) bis 97 % (ein der sozialen Klasse I, die sog. professionals oder Fach- Gebiet in Tower Hamlets, London). In 168 Gebietsein- leute/Berufstätige mit qualifizierter Ausbildung wie heiten waren mehr als zwei Drittel der älteren Men- Ärzte sowie Wirtschafts- und Steuerprüfer, können mit schen, in 850 mehr als die Hälfte und in 4 940 mehr als mehr Lebensjahren rechnen als die leitenden Angestell- ein Drittel auf der Liste für staatliche Unterstützung. Da ten und Personen mit technischen Berufen (managerial nicht alle älteren Menschen die ihnen zustehenden Bei- and technical occupations wie Journalisten oder Lehrer, hilfen beanspruchen, ist davon auszugehen, dass der soziale Klasse II), diese wiederum mit mehr Jahren als IDOAPI ein eher zu positives Bild wiedergibt. AGE Personen mit gelernten nichtmanuellen Berufen (non- Concern, der größte britische Wohlfahrtsverband, der manual skilled wie Büroangestellte oder Einzelhandels- sich für ältere Menschen einsetzt, ging 2006 davon aus, kaufleute, Klasse III/N). Und bei den manuellen Berufen dass bis zu 4,1 Mrd. Pfund finanzieller Unterstützung geht die Hierarchie von Klasse III/M (skilled manual/ nicht bei den eigentlich dazu berechtigten Rentnern gelernte manuelle Berufe wie Installateure oder Elektri- ankommen. ker) über IV (partly skilled/angelernte Berufe wie Sicher- Großräumig sind von Altersarmut vor allem Gebiete heitsmänner oder Kellner) zu V (unskilled/ungelernte in London, im Nordosten, Nordwesten Englands und Berufe wie Arbeiter oder Putzpersonal) weiter. Angehö-, 8 228 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Abb. 8.2 Einkommensarmut älterer Menschen, Bournemouth 2007. Abb. 8.3 Durchschnittliche Lebenserwartung von Angehörigen der verschiedenen sozialen Klassen im Alter von 65 Jahren im Zeit- raum 1972–76 bis 2002–05., 8.2 Zwischen Alicante, Alnwick und Altersheim 229 8 rige nichtklassifizierter Tätigkeiten rangieren meist am und soziale Klasse die Art des Altwerdens entscheidend unteren Ende der Lebenserwartungshierarchie. prägen. Obwohl die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren für alle Männer zwischen 1972–76 und 2002-05 im

Die Wohnungssituation

Durchschnitt um 4,4 Jahre gestiegen ist, haben die Angehörigen der sozialen Klasse V erst im Zeitraum 2002–05 den Wert von Klasse I im Zeitraum von 1972– Nach dem English Housing Survey (EHS), einer amt- 76 erreicht. Allerdings hat sich die Kluft zwischen den lichen Erfassung des Bestands an Wohnhäusern und Klassen etwas verkleinert, da sich der Zuwachs an Wohnungen, von 2006/07 lebten 76 % der privaten Lebensjahren bei den Männern mit nichtmanuellen Haushalte mit einem Haushaltsvorstand im Alter von 65 Berufen deutlicher verlangsamt hat als bei den Männern bis 74 Jahren in Wohneigentum, bei den älteren waren es mit manuellen Berufen. noch 70 %, was dem englischen Durchschnittswert ent- Die Situation bei Frauen ist noch komplexer. Die spricht (Tab. 8.2). Allerdings mussten noch 8 % bzw. 2 % Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren liegt zwar deut- weiterhin Hypotheken abzahlen. Interessant ist auch, lich über der der Männer, hat aber im Durchschnitt zwi- dass die Zahl der Mieter in Sozialwohnungen mit 19 % schen 1972–76 und 2002–05 nur um 3,1 Jahre zuge- bei den jüngeren und 25 % bei den älteren Alten ver- nommen (auch hier mehr bei manuellen als bei gleichsweise hoch ist (und hierin den Werten bei jungen nichtmanuellen Berufen). Damit ist der Abstand zwi- Erwachsenen gleicht). Die übrigen Senioren, 5 % in bei- schen den Geschlechtern geschrumpft, und mittlerweile den Altersgruppen, lebten in privaten Mietwohnungen. liegt der Wert für Männer der sozialen Klasse I sogar Wie die älteren Menschen wohnen, steht ganz deut- über dem von Frauen der Klasse V und dem der nicht- lich in Zusammenhang mit ihrem Einkommen. Der klassifizierten Tätigkeiten. Dass die Kurven nicht so Medianwert des Jahreseinkommens für Personen in linear verlaufen wie bei den Männern, kann auf Daten- Wohnungen des sozialen Sektors betrug 10 400 Pfund, probleme zurückzuführen sein, aber auch darauf, dass für Personen in Eigentum dagegen 35 500 Pfund, also die Doppelbelastung bei Frauen besonders in Karriere- mehr als das Dreifache. berufen ihre Lebenserwartung beeinträchtigt. Doch besitzen in Großbritannien häufig selbst Rent- Auch wenn diese Werte aufgrund der zum Teil erheb- ner mit einem niedrigen Einkommen Immobilien. Zum lichen Konfidenzintervalle mit gewissen Vorbehalten Teil ist dies auf die Wohnungspolitik der vergangenen interpretiert werden müssen, ist klar, dass Geschlecht Regierungen zurückzuführen. Premierministerin Mar- Tabelle 8.2 Wohnbesitzformen nach Alter von Haushaltsreferenzpersonen (England 2007) Wohnbesitzform (Anteile in %) 16–24 25–34 35–44 45–64 65–74 75+ Jahre insgesamt Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Wohneigentum ohne Hypothek23633 68 68 31 Wohneigentum mit Hypothek 16 52 64 468239 Wohneigentum insgesamt 19 55 70 78 76 70 70 Mietwohnungen des sozialen Sektors 25 17 17 15 19 25 18 Mietwohnungen des privaten Sektors 56 28 1375512 Mietwohnungen insgesamt 81 45 30 22 24 30 30 alle Wohnbesitzformen 100 100 100 100 100 100 100 Quellen: ONS Labour Force Survey (zit. nach Department for Communities and Local Government 2008): Housing in England 2006/07. A report based on the 2006/07 Survey of English Housing, carried out by the National Centre for Social Research. London, S. 18, leicht verändert) www.communities.gov.uk/documents/corporate/pdf/971061.pdf (Abruf: 10.03.2009), 8 230 8 Gesellschaft, Handel und Kultur garet Thatcher führte mit dem Housing Act 1980 das hohen Prozentsatz an Wohneigentum die Gewohnheit sog. right to buy ein, wonach langjährige Sozialmieter und die Verbundenheit mit dem Zuhause und seiner ihre Wohnung zu äußerst günstigen Preisen erwerben Umgebung. konnten. Zwischen 1980 und 1998 wurden auf diese Natürlich migrieren auch ältere Menschen, aber ihre Weise annähernd 2 Mio. Wohnungseinheiten privati- Migrationshäufigkeit ist die niedrigste aller Gruppen. siert; viele der damaligen Käufer sind jetzt im Rentenal- Im Jahr vor dem letzten Zensus betrug sie nur 3,8 % im ter. Andere marginale Hauseigentümer leben vor allem Vergleich zu 11,4 % für alle Altersgruppen. Die Migra- in ländlichen Gebieten; sie haben häufig ihr Haus/ihre tionswahrscheinlichkeit ist am höchsten beim Eintritt in Wohnung geerbt oder erwarben es/sie, als die Kaufpreise die Rente und dann um das 75. Lebensjahr. Einkom- noch relativ niedrig waren. mensstärkere Haushalte, meist Ehepaare, legen größere Doch Wohnungseigentum kann für einkommens- Wanderungsdistanzen zurück als einkommensschwä- schwache ältere Menschen zur Belastung werden, wenn chere. Gleiches gilt beim Vergleich von Männern und die Wohnung oder das Haus nicht mehr dem modernen Frauen. Standard entspricht, wichtige Reparaturen durchgeführt Die Gründe für einen Wohnungswechsel sind viel- werden müssten, die Heizsituation ungenügend ist (auf- fältig. Hier sollen nur drei Haupttypen unterschieden grund von mangelhaften/gefährlichen Heizvorrichtun- werden: gen oder aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln • Amenity migration: Damit sind Wanderungen meist für Heizmittel [fuel poverty]), Feuchtigkeit oder Schim- junger, relativ gut situierter älterer Menschen auf der mel auftritt und infolgedessen die Wohnung/das Haus Suche nach Annehmlichkeiten des Klimas, der Woh- als non-decent (problematisch) klassifiziert wird. nung und Umgebung, der Freizeitgestaltung usw. Diese Probleme betreffen keineswegs nur Wohn- gemeint. Der Logik der push-pull-Migrationsmo delle eigentümer, sondern auch Mieter von Privat- oder Sozi- folgend überwiegen hier pull-Faktoren, die Wande- alwohnungen, besonders auf dem Lande und im Falle rungsdistanz kann – insbesondere bei internationaler älterer Gebäude. Wie der English Housing Condition Migration – sehr groß sein. Survey, eine amtliche Erfassung der Qualität und des • Assistance migration: Diese Migration wird notwen- Zustands von Wohnungen und Häusern, 2006 zeigte, dig, wenn ältere Personen aufgrund von finanziellen mussten 35,4 % der Wohnungen von Haushalten mit oder gesundheitlichen Problemen eine vorher beste- einer Person ab 60 Jahren und 36,7 % mit einer Person hende Lebenssituation nicht mehr beibehalten kön- ab 75 Jahren als nicht akzeptabel eingestuft werden. Bei nen und Hilfe suchen müssen und daher zu Kindern, Beziehern von Sozialhilfe waren die Werte noch höher. anderen Verwandten oder Freunden ziehen. Eine In allen Fällen lagen sie über dem englischen Durch- häufige Ursache ist der Tod des Partners oder eines schnitt von 34,5 %. Zwar hat die Regierung in den letz- anderen im Haushalt lebenden Familienmitglieds. ten Jahren verstärkt Anstrengungen unternommen, die Bei dieser Wanderung überwiegen die push-Faktoren, Situation zu verbessern, aber immer noch leben viele die Wanderungsdistanz ist sehr variabel. ältere Menschen in unbefriedigenden Verhältnissen. • Migration in response to severe disability and spouse Hinzu kommt, dass das Haus oder die Wohnung häufig absence: Diese Migration ist ebenfalls die Antwort auf nicht altersgerecht sind und erst an veränderte Bedürf- einen negativen Antrieb. Personen sind oder sehen nisse angepasst werden müsste. sich aufgrund von schweren körperlichen/geistigen Einschränkungen und/oder dem Fehlen eines Part- ners gezwungen, in ein Betreuungsheim umzuziehen.

Vor-Ort-Altern oder umziehen

Die Wanderungsdistanz ist meist relativ gering. Trotz manchmal unpassender Wohnverhältnisse bleiben Allerdings lässt sich in der Realität keine klare Trennlinie die meisten älteren Briten so lange wie möglich in den zwischen den genannten Wanderungstypen ziehen. Es „eigenen vier Wänden“. Tatsächlich ist das „an seinem gibt zahlreiche Fälle, in denen ältere, nicht mehr ganz angestammten Platz Altern“, auf Englisch meist als aging gesunde Menschen mit beschränkten finanziellen Mög- in place oder staying put bezeichnet, die Regel. Ein Bei- lichkeiten auf der Suche nach Annehmlichkeiten ihren spiel sind Frank and Anita Milford, die – wie der Tele- Wohnsitz wechseln. Auch müssen der Umzug zu Kin- graph vom 25 Mai 2008 berichtete – zu diesem Zeit- dern/Verwandten nicht erst bei leichter Krankheit oder punkt 80 Jahre verheiratet waren und 70 Jahre im selben der Einzug in spezielle betreute Wohnformen nicht erst Haus gelebt hatten, bevor sie 2005 in ein Altersheim bei schwerer Krankheit oder dem Verlust eines Partners wechselten. Gründe für diese geringe Mobilität von älte- erfolgen, sondern können bewusst „vor dem Ernstfall“ ren Menschen sind neben dem oben geschilderten geplant und durchgeführt werden., 8.2 Zwischen Alicante, Alnwick und Altersheim 231 8 Wichtig ist, dass es in der Mehrheit der Fälle be- überraschen – Australien (23,6 %), Kanada (15,2 %), USA stimmte Ereignisse sind, die als Trigger wirken und zu (12,7 %) und Irland (10,1 %). Erst dann folgen Spanien Migration führen. Bei älteren Menschen können dies die (7,2 %), Neuseeland, Südafrika, Italien, Frankreich und Pensionierung, das Auftreten einer leichten Behinde- Deutschland. Das zeigt, dass die permanente Auswande- rung, der Verlust eines Partners und das Auftreten einer rung stark innerhalb der anglophonen Welt und be son - schweren Behinderung sein. Besonders viele Studien ders innerhalb des Commonwealth verankert ist; sie haben sich mit der Übergangsphase von der Berufstätig- schließt viele (Familien-)Rückwanderer bzw. Partner von keit zur Rente, der sog. retirement transition, beschäftigt, Rückwanderern ein, aber auch Sun-Belt-Ziele wie Flo- in der bereits 50- bis 64-Jährige einen freizeitorientier- rida, Kalifornien, Südafrika und karibische Inseln. ten Lebensabend planen und oft schon in Vorbereitung Doch diese Statistik erfasst nicht britische Senioren, darauf ein Haus kaufen oder sogar bereits den Wohnsitz die keine staatliche Rente beziehen, und vor allem nicht wechseln. die kurzfristige Migration von britischen Rentenbezie- hern, die nur einen Teil des Jahres im Ausland verbrin- gen. Hauptziel dürfte hier eindeutig der südeuropäische

Altersmigration ins Ausland

Sun Belt sein, denn Senioren bevorzugen warme, mög- lichst am Meer gelegene Gegenden, die sie meist im Dieses Phänomen findet sich besonders häufig bei Per- Urlaub kennen gelernt haben und schnell und preis- sonen, die sich im Alter fest oder teilweise im Ausland günstig – am besten mit Billigfluglinien – erreichen kön- niederlassen wollen. Die internationale Altenmigration nen. Beliebte Ziele sind Spanien (z. B. Costa Blanca, der Briten basiert auf dem Vorbild der Elitewanderung Costa del Sol, Costa de la Luz) und Frankreich (z. B. des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und wurde in Folge Normandie, Bretagne, Provence, Dordogne), gefolgt des internationalen Massentourismus – insbesondere von an anderen südeuropäischen Ländern wie Italien seit den 1980er Jahren – selbst zum Massenphänomen. (Toskana), Portugal (Algarve), Malta und Zypern. Im So lebten bereits Anfang der 1990er Jahre ca. 100 000 bis Kommen sind aber auch exotischere Ziele wie Bulgarien, 300 000 britische Rentner in Spanien, vor allem an der die Golfstaaten oder Gambia. Costa del Sol, der Costa Blanca und auf den Balearen. In der Mehrheit der Fälle gehören die Rentner, die Die Zahl der Auslandsrentner stieg seit Mitte der 1990er ihren Lebensabend im Ausland verbringen, zu den obe- Jahre aber noch weiter an. Zu diesem Zeitpunkt ging fast ren Einkommensquintilen, den sog. cash rich and time die Hälfte der 60- bis 64-Jährigen keinem Beruf mehr rich. Doch es gibt auch zahlreiche dokumentierte Fälle nach, und viele dieser Frührentner entschieden sich für von weniger einkommensstarken Personen/Haushalten, eine Migration ins Ausland. die aufgrund einer Fehleinschätzung ihrer finanziellen Der Traum von einem eigenen Place in the Sun (Titel Möglichkeiten im gewählten Gastland scheitern bzw. einer populären Fernsehsendung, die von einem großen dort in bescheidenen bis ärmlichen Verhältnissen leben Bauträger gesponsert wird) ist weit verbreitet und wird müssen. von den Medien stark gefördert. So erscheinen regelmä- Allerdings können alle internationalen Migranten ßig Zeitschriften und Magazine mit Hinweisen zum mit schwierigen Situationen konfrontiert werden, wenn gewählten Zielland und Immobilienteil, z. B. Living z. B. mit fortschreitendem Alter schwere Krankheiten Spain – The UK’s best selling guide to Spain and Spanish auftreten, die Mobilität nachlässt und soziale Netzwerke property oder Living France; es gibt zahlreiche gedruckte – zum Teil aufgrund von Sprachproblemen – fehlen. Ratgeber und – mehr oder weniger seriöse – property Hinzu kommen finanzielle Probleme, wenn die Lebens- guides im Internet. haltungskosten im gewählten Gastland steigen oder Wie viele Briten im Rentenalter heute außerhalb des durch Wechselkursänderungen die Vorteile des briti- Vereinigten Königreiches leben, ist nicht eindeutig. Nach schen Pfundes zunichte gemacht werden. Nicht selten Angaben des Department for Works and Pensions wur- kehren ältere Migranten aus dem Ausland ins Vereinigte den 2004 ca. 975 000 bzw. 8,5 % der staatlichen Renten ins Königreich zurück, insbesondere dann, wenn, wie Ausland bezahlt. 380 400 bzw. 8,8 % wurden von männ- bereits erwähnt, ein Triggerereignis – Erkrankung, lichen overseas pensioners bezogen, 593 700 bzw. 8,3 % Erkrankung oder Tod eines Partners – hinzukommt. von weiblichen. Das würde bedeuten, dass mindestens einer von zwölf britischen Rentenbeziehern ständig im Ausland lebt. Zum Vergleich: Bei Personen aller Alters- Altersmigration im eigenen Land gruppen geht man von einem Wert von ca. 6 Mio. – oder einem von zehn Briten – aus. Die wichtigsten Zielländer Die auf „Annehmlichkeiten“ ausgerichtete Migration dieser permanenten Migranten sind – und das mag viele älterer Menschen gibt es auch in Großbritannien selbst, 8 232 8 Gesellschaft, Handel und Kultur und hat hier eine noch längere Tradition. Bereits im 19. Geographische Verteilung Jahrhundert ließen sich vermögende Personen im Alter älterer Menschen gerne in bestimmten Küstenorten und daran anschlie- ßenden ländlichen Gegenden sowie in Heilbädern nie- der. Im 20. Jahrhundert kam es zu einer Welle dieser Art Die Binnenmigration hat zu einer ungleichen Verteilung von Binnenmigration in den 1920er und 1930er Jahren älterer Menschen beigetragen. Allerdings wird die geo- und dann erneut ab den 1950er Jahren. graphische Verteilung nicht nur von der Altenwande- Der Hang zur See führte zu einer außergewöhnlich rung beeinflusst, sondern ist die Folge mehrerer Ein- hohen Konzentration von Senioren in Seebädern; die flüsse, von Fertilitäts- und Mortalitätsmustern ebenso Südküste Englands erhielt sogar – in Anklang an die spa- wie von Wanderungen von Personen aller Altersgrup- nischen Küstenbezeichnungen – den Spitznamen „Costa pen. So altert ein Gebiet nicht nur durch die Zuwande- geriatrica“. Wo genau die „Rentnerküste“ liegt, ist aller- rung älterer Menschen, sondern auch durch die Abwan- dings nicht definiert, aber meist wird die Gegend um derung jüngerer Menschen oder die Zuwanderung von Eastbourne mit diesem Namen bedacht. Personen jüngeren/mittleren Alters, die dann in situ alt Doch in den letzten Jahrzehnten weitete sich das werden. Wales hat mit 21 % beispielsweise den höchsten Spektrum der Zielgebiete der Binnenwanderung älterer Anteil von Personen im Rentenalter. Die Fertilitäts- und Menschen ringartig um London immer mehr aus, z. B. Mortalitätsmuster unterscheiden sich kaum von denen auf die Täler von Dorset, Wiltshire, das Grenzgebiet zu Englands, so dass sich der hohe Anteil der alten Bevöl- Wales, Zentralwales oder Dyfed, westlich nach Somerset kerung hier vor allem durch die Abwanderung der jün- und nordöstlich nach Lincolnshire und Norfolk. Andere geren Bevölkerung, zum geringeren Anteil auch durch bei Umfragen häufig genannte beliebte Ruhesitzziele die Zuwanderung von älteren Menschen vor allem in die sind ländliche Gebiete in Schottland, Cornwall und die ländlichen Gebiete erklärt. Schottland dagegen hat zwar Cotswolds. Oder allgemeiner formuliert: Besonders auch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Rent- beliebt sind landschaftlich schöne ländliche Gegenden, nern, aber dieser ist auf die unterdurchschnittliche die in oder zumindest der Nähe von Nationalparks oder Fruchtbarkeit seit den 1980er Jahren zurückzuführen. Areas of Outstanding Natural Beauty (AONBs) liegen. England liegt auch beim Anteil der Älteren fast im natio- nalen Durchschnitt, während Nordirland aufgrund einer höheren Fertilität noch deutlich jünger ist. Ein Immobilienhändler argumentiert wie folgt: „To find a Auf einer kleineren Maßstabsebene wird deutlich, town dominated by elderly people, it used to be necessary dass sich die stärksten Konzentrationen älterer Men- to head for Bournemouth, Bognor Regis or one of the other towns on what was cruelly known as the Costa Geriatrica of schen in Gebietskörperschaften – mit der Ausnahme southern England. Not any more. The British population is von South Shropshire – an der Küste finden (Abb. 8.4). greying at such a rate that some of the unlikeliest places are Die Distrikte mit dem höchsten prozentualen Anteil rapidly acquiring the age profile of retirement resorts“ waren 2007 East Dorset, North Norfolk, Rother, West (Ross Clark, 25. 2. 2007, http://www.property.timeson- Somerset und Christchurch, die mit dem geringsten line.co.uk/tol/life_and_style/property/article1424114. waren Städte, vor allem London. ece). Wie unterschiedlich die Altersstruktur sein kann, zei- gen die – bewusst relativ extrem gewählten – Alterspyra- Tatsächlich haben einige bekannte seaside resorts wie miden in Abb. 8.5. Camden in Inner London ist ein Brighton, Worthing, Hastings oder Eastbourne in den Beispiel für ein Gebiet, in dem weniger als 75 % Weiße 1990er Jahren einen Rückgang an Personen im Renten- und – im Vergleich zum nationalen Durchschnitt – alter erlebt, während in anderen Seebädern und in ande- wenige alte Menschen leben. Das an der Südküste neben ren Teilen Großbritanniens der Anteil an Senioren Bournem outh gelegene Christchurch zeigt eine deutli- wuchs. che Überrepräsentanz von Senioren ebenso wie South Gerade in den beliebten Gegenden ist auch die Kon- Lakeland, der bei Touristen und Altenmigranten zentration von verschiedenen spezifischen Wohnange- beliebte südliche Teil des Lake District mit Kendal und boten für ältere Menschen, die von wenig betreuten Windermere. Wohnkomplexen bis Pflegeheimen reichen, besonders Die unterschiedliche geographische Verteilung der hoch. So sind sie nicht nur Ziel einer amenity migration, Älteren hat sehr konkrete Folgen für die wirtschaftliche vielmehr existieren die oben beschriebenen Wande- Ausrichtung und räumliche Entwicklung der Gebiete. In rungstypen nebeneinander bzw. vermischen sich. den Gebieten mit einer hohen Konzentration an wohl- habenden älteren Menschen siedeln sich verstärkt auf die Bedürfnisse von Senioren ausgerichtete Geschäfte,, 8.2 Zwischen Alicante, Alnwick und Altersheim 233 8 Abb. 8.4 Anteil von Personen im Rentenalter nach administrativen Gebietseinheiten (in Prozent) (2007). Quelle: http://www. statistics.gov.uk., 8 234 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Dienstleistungen, medizinische und soziale Einrichtun- metropolitanen Gebieten in der Lage sind, (nun meist gen (Apotheken, Ärzte, Gesundheitspraxen, Tagesbe- kleinere) Häuser in der für sie attraktiven Umgebung als treuungsstätten usw.) an. Oftmals steigen in den belieb- Altersruhesitz zu erwerben. Dagegen häufen sich in den ten ländlichen oder am Meer gelegenen Gegenden die städtischen Alten-Residualgebieten wirtschaftliche und Hauspreise, da Zuziehende die Nachfrage erhöhen und soziale Probleme. Dazu gehören eine oft mangelhafte meist durch den Verkauf von größeren Häusern in Versorgung aufgrund der geringen Kaufkraft der dort lebenden Älteren und der bereits erwähnte Verfall von Häusern, da ältere gebrechliche und/oder einkommens- schwache Personen nicht zu notwendigen Renovierun- gen in der Lage sind. Die steigenden Prozentanteile der Älteren an der Bevölkerung stellen auf jeden Fall große Herausforde- rungen an Politik, Planung und Verwaltung (z. B. Pro- bleme der geringeren Mobilität, der Erreichbarkeit öffentlicher Gebäude, der Gestaltung des öffentlichen Raumes), die erst allmählich Antworten auf den gesell- schaftlichen Wandel finden.

Die Zukunft

Die Alterung der britischen Gesellschaft wird sich in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts fortsetzen, da die nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen sowie die Baby Boomers der 1960er Jahre in diesem Zeitraum das Ren- tenalter erreichen werden. Dabei wird dieser Prozess das ganze Land erfassen. Nordirland wird am schnellsten altern, der Anteil der Über-65-Jährigen wird sich dort zwischen 2004 und 2050 von 13,6 % auf 26,3 % fast ver- doppeln. Der Wert für Schottland wird allerdings Mitte dieses Jahrhunderts mit 28,6 % noch höher sein, da bereits der Ausgangswert von 2004 16,3 % betrug. In Wales soll der Seniorenanteil von 17,5 % auf 27,5 % wachsen, in England von 16,0 % auf 24,8 %. Die am schnellsten alternden Gebiete werden die halbländlichen Distrikte um die großen Städte sein, vor allem in den West Midlands. Die am Meer gelegenen Orte werden nicht grundsätzlich ihre Anzugskraft für ältere Menschen verlieren, aber sie werden sich laut Pro- gnosen unterschiedlich entwickeln. So wird z. B. für Aln- wick in Northumberland ein deutliches Wachstum an Älteren durch die Zuwanderung Älterer vorausgesagt, für Eastbourne an der Südküste dagegen die Verjüngung durch die Zuwanderung Jüngerer. Das ohnehin heterogene Bild des Alterns wird noch bunter werden, denn bisher ist es noch stark von der weißen Bevölkerungsmehrheit geprägt. Aber bisher sind die Alter(n)smuster und die spezifischen Probleme der ethnischen Minderheiten wenig erforscht. Zum Teil ist dies auf Schwierigkeiten mit Stichproben zurückzufüh- ren, denn zur Zeit der letzten Volkszählung von 2001 machten die nichtweißen Minderheiten nur 4 % der Abb. 8.5 Alterspyramiden. älteren Menschen in Großbritannien aus. Doch in, 8.3 Tesco, Aldi und die neuen „Cornershops“ 235 8 Zukunft werden die Alterskohorten unter den schwar- Uren, Z.; Goldring, S. (2007). Migration Trends at Older Ages in zen, asiatischen und sonstigen Minderheiten numerisch England and Wales. Population Trends, 130, 31–40 (http:// deutlich ansteigen und die Geographie des Alterns im www.statistics.gov.uk/downloads/theme_population/Popu Vereinigten Königreich sehr viel stärker mitbestimmen. lation_Trends_130_web.pdf).

Informationen im Internet 8.3 Tesco, Aldi und die

Focus on Older People in Wales. 2008 edition. Ystadegau ar neuen „Cornershops“ – gyfer cymru/Statistics for Wales and National Statistics http://wales.gov.uk/topics/statistics/publications/focus Merkmale und Besonder- oldpeople08/?lang=en+ heiten des britischen Dieser Bericht, herausgegeben von der Waliser Nationalver- sammlung (National Welsh Assembly), greift soziodemogra- Lebensmitteleinzelhandels phische und ökonomische Themen des Alterns, bezogen auf Wales, auf. Neben allgemeinen statistischen Informationen werden die Aspekte Gesundheit, Wohnen und die wirt- Klaus Zehner schaftliche Situation älterer Menschen diskutiert. http://www.communities.gov.uk/communities/neighbour- Jedem Gast in Großbritannien dürfte schon nach kurzer hoodrenewal/deprivation/ Aufenthaltsdauer auffallen, dass auf der britischen Insel Auf dieser Seite finden sich u. a. ausführlichere Informatio- der Einzelhandel ganz andere Eigenschaften als in der nen zu den Indices of Deprivation in England. Insbesondere Heimat aufweist und manches hier anders organisiert stehen zum Download entsprechende Daten für verschie- ist, als man es von zu Hause kennt. Besonders auffällig dene Raumkategorien und Jahrgänge zur Verfügung. sind die Unterschiede im Bereich des Lebensmittelein- zelhandels (grocery retail, food retail). Kaum zu überse- hen ist, dass britische Supermärkte in der Regel deutlich

Weiterführende Literatur

größer als entsprechende Märkte in Deutschland sind. Somit ist auch das Angebot an Lebensmitteln in einer Audit Commission (2008): Don’t Stop Me Now. Preparing for an Ageing Population. Local Government National Report Tesco- oder Sainsbury’s-Filiale in der Regel breiter und (http://www.audit-commission.gov.uk/Products/NATIO- tiefer als in den heimischen Edeka- oder Rewe-Läden. NAL-REPORT/D1391254-78F6-42b8-92A1-53004A972E Als angenehm wird man auch empfinden, nur selten 34/DontStopMeNow17July08REP.pdf). lange an der Kasse anstehen zu müssen, denn die Zahl Chappell, R. (Hrsg.): Focus on People and Migration. 2005 edi- der Kassen (checkouts) ist in britischen Supermärkten tion. Basingstoke (http://www.statistics.gov.uk/Stat- erstaunlich hoch (Abb. 8.6) Base/Product.asp?vlnk=12899). Des Weiteren liegen die großen Märkte nur selten in Dunnell, K. (2008): Ageing and Mortality in the UK. National Stadt- oder Stadtteilzentren; vielmehr findet man sie, Statistician’s Annual Article on the Population. Population ähnlich wie in den USA, zumeist am Rande der Städte, Trends, 134, 6–23 (http://www.statistics.gov.uk/down an Ausfallstraßen oder in Gewerbegebieten. Diese peri- loads/theme_population/Population-Trends-134.pdf). King, R.; Warnes, T.; Williams, A. (2000): Sunset Lives: British pheren Standorte garantieren den Unternehmen höhere Retirement Migration to the Mediterranean. New York. Umsätze und Gewinne als Filialen in zentralen Lagen. In Office for National Statistics (2007): Trends in Life Expectancy hochmobilen Gesellschaften, wie in Nordamerika und by Social Class 1972–2005. London (http://www.statistics. Großbritannien, stellen eben die gute Erreichbarkeit mit gov.uk/downloads/theme_population/Life_Expect_Social dem PKW und ein hinreichendes Angebot an Parkplät- _class_1972-05/life_expect_social_class.pdf). zen vor Ort zentrale Erfolgsfaktoren dar. Einzelhandel- Office for National Statistics (2009): Pension Trends. Chapter sparks, Verbraucher- und Supermärkte an Stadträndern 4: Pensioner Income & Expenditure (http://www.statistics. spiegeln zugleich eine ausgesprochen liberale Raumord- gov.uk/downloads/theme_compendia/pensiontrends/ nungspolitik wider, wie sie vor allem in den 1980er Jah- Pension_Trends_ch04.pdf). ren praktiziert wurde. So kommt es nicht von ungefähr, Soule, A. et al. (Hrsg.) (2005): Focus on Older People. Ba- singstoke (http://www.communities.gov.uk/documents/ dass die meisten Supermärkte in nichtintegrierten statistics/pdf/1072658). Lagen in der sog. Thatcher-Ära gebaut wurden, als Pla- Sriskandarajah, D.; Drew, C. (2006). Brits Abroad. Mapping the nungsgesetze und -erlasse sehr flexibel interpretiert Scale and Nature of British Emigration. Institute for Public wurden. In der Praxis bedeutete dies nichts anderes, als Policy Research (http://www.ippr.org/publicationsand dass Unternehmen ihre Standortansprüche durchweg reports/publication.asp?id=509). geltend machen konnten., 8 236 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Abb. 8.6 Kassenzone in einem t ypischen Sainsbury’s-Supermarkt. Quelle: Wikimedia Commons, Velela 2005. Auch im Hinblick auf ihre Öffnungszeiten erinnern einzelhandel generieren. Bemerkenswert ist a llerdings, die britischen Supermärkte stark an ihre nordamerika- dass das Geschäft mit den preiswerten Lebensmitteln in nischen Vorbilder. So haben auch in Großbritannien Großbritannien von den deutschen Unternehmen Aldi viele Märkte bis spät in den Abend geöffnet, manche Süd und Lidl beherrscht wird. Britische Unternehmen sogar rund um die Uhr. Die meisten Filialen ermög- sind in dieser Sparte nicht mehr vertreten. Sie konnten lichen es ihren Kunden sogar sonntags, in der Regel zwi- gegen die Konkurrenz aus Deutschland nicht bestehen. schen 10 und 16 Uhr, einzukaufen. Die Deregulierung Neben den großflächigen Supermärkten hat in Groß- der Öffnungszeiten wurde 1994 durch eine Gesetzesän- britannien seit etwa zehn Jahren der „Cornershop“ oder derung ermöglicht. Zunächst testeten die marktführen- „Tante-Emma-Laden“ wieder Konjunktur. Allerdings den Unternehmen in London, ob die verlängerten Ein- kommt er in einem neuen Gewand daher, moderner, kaufszeiten überhaupt von den Kunden angenommen besser sortiert und in besten Lagen positioniert. Außer- wurden. Bereits nach kurzer Zeit war jedoch klar, dass dem nennt er sich heute Convenience Store, was attrak- sowohl Unternehmen als auch Kunden von den tiver klingt und stärker dem Zeitgeist der neuen erweiterten Öffnungszeiten profitieren würden, so dass Z ielgruppe, jungen und gut verdienenden Kunden, ent- sich der Einkauf am Abend und Wochenende schon bald spricht. Denn während Discounter und Supermärkte im ganzen Land durchsetzte. ganz auf den wöchentlichen Großeinkauf von Familien Den meisten Gästen auf der Insel dürften im Übrigen in nur einem Geschäft, das sog. One-Stop-Shopping, die Namen der großen Filialisten, Tesco, Sainsbury’s, ausgerichtet sind, sprechen die Convenience Stores eher Asda/Wal-Mart und Morrisons, kaum geläufig sein, da Kunden an, die ihren Einkauf weniger sorgfältig planen. diese Unternehmen auf dem deutschen Markt nicht Sie koppeln ihn gerne mit dem Nachhauseweg von der tätig sind. Tesco ist ohnehin das einzige britische Han- Arbeit und sind generell bereit und in der Lage, mehr delsunternehmen, das auf fremden Märkten Fuß gefasst Geld für Lebensmittel auszugeben. Auch die Ausbrei- und Handelsnetze im Ausland aufgebaut hat. Zu den tung der Convenience Stores nahm ihren Anfang in Regionen, in denen Tesco aktiv geworden ist, zählen vor London (Abb. 8.7). allem Südostasien, Ostasien und Osteuropa (Tab. 8.3). Schließlich fällt auf, dass das Format des Lebens- Die wirtschaftliche Bedeutung und mittel-Discounters in Großbritannien unterrepräsen- tiert ist. Diesen Eindruck untermauert die Statistik nach- Raumwirksamkeit des Einzelhandels haltig: Der Marktanteil der Discounter liegt hier deutlich unter der 5 % -Marke, während in Deutschland Dis- Der Einzelhandel ist heute in Großbritannien wie auch counter mehr als 40 % des Umsatzes im Lebensmittel- in allen anderen Industrieländern zu einem zentralen, 8.3 Tesco, Aldi und die neuen „Cornershops“ 237 8 Tabelle 8.3 Tesco-Filialen im Ausland Land Markteintritt Zahl der Filialen Verkaufsfläche geplante Neueröffnungen (Ende 2006) (in Mio. sq ft) 2007/08 Ungarn 1994 101 4,8 14 Polen 1995 280 6,5 45 Tschechien 1996 84 4,1 24 Slowakei 1996 48 2,5 17 Republik Irland 1997 95 2,3 9 Thailand 1998 370 7,5 162 Südkorea 1999 91 5,1 51 Malaysia 2001 19 1,9 7 Türkei 2003 30 1,1 49 Japan 2003 109 0,3 35 China 2004 47 4,2 10 Quelle: http://www.tescocorporate.com (Abruf: 29.01.2010) Wirtschaftsbereich, gewissermaßen zu einer Schlüssel- erzeugte Bruttoinlandsprodukt überragt mittlerweile branche, herangereift. Gemessen am Indikator Wert- sogar das der britischen Industrie. schöpfung rangiert er hinter den Finanzdienstleistungen Die entsprechenden Arbeitsmarktkennziffern unter- und dem Gesundheitswesen bereits auf einem beacht- streichen die herausragende Bedeutung des britischen lichen dritten Rang. Das durch den Einzelhandel Einzelhandels, der aktuell insgesamt 3,2 Mio. Menschen Abb. 8.7 Sainsbury’s Local-Filiale in London. Quelle: Korch 2009., 8 238 8 Gesellschaft, Handel und Kultur einen Arbeitsplatz bietet. Auch wenn knapp 55 % nur als ca. 120 Mrd. Pfund nahezu die Hälfte aller Einzelhan- Teilzeitkräfte tätig sind, so bedeutet diese Zahl doch, delsumsätze (Gesamtwert für alle Einzelhandelsbran- dass jeder zehnte Erwerbstätige mittlerweile direkt in chen: ca. 246 Mrd. Pfund). der Einzelhandelsbranche beschäftigt ist. Damals gab es im Vereinigten Königreich ca. 55 900 Außerdem ist der Einzelhandel in hohem Maße Einzelhandelsunternehmen und ca. 102 500 Betriebe. raumwirksam. Jeder Standort einer Filiale ist zugleich Allerdings wurden drei Viertel des gesamten Umsatzes Endpunkt einer mitunter tief gegliederten und weit- von nur 6 578 Super- und Verbrauchermärkten erwirt- reichenden Lieferkette, an der unterschiedliche Ver- schaftet. Somit ist die Konzentration des Einzelhandels kehrsträger beteiligt sein können. Obwohl britische auf vergleichsweise wenige Standorte und Unternehmen Unternehmen in jüngerer Zeit vor allem aus werbestra- ein wesentliches Merkmal des britischen Lebensmittel- tegischen Gründen verstärkt auf die Vermarktung regio- einzelhandels (Abb. 8.8). naler Produkte hinweisen, steht vor allem hinter dem Außerdem ist der grocery sector trotz mittlerweile Warenangebot des sog. Non-Food-Sektors, der im Sorti- strafferer gesetzlicher Standortregulierungen noch mentangebot eines großen Supermarktes durchaus 50 % immer ein Wachstumssektor. Alleine von 2004 auf 2005 ausmachen kann, ein länderübergreifendes und hoch- konnte die Lebensmittelbranche eine Umsatzsteigerung gradig ausdifferenziertes Logistiksystem. von 4,2 % vorweisen. Zudem bestimmt die räumliche Lage einer Filiale in Ihre bemerkenswerte Wachstumsdynamik spiegeln erheblicher Weise die Versorgungsbeziehungen und Ein- zahlreiche Fusionen und Übernahmen, aber auch kaufswege von Haushalten. Diese sind in Großbritan- Marktaustritte wider. Das prominenteste Beispiel einer nien deutlich länger als in Kontinentaleuropa, was sich Fusion aus jüngerer Zeit ist die Übernahme der Safe- jedoch nicht negativ auf den Umsatz der Unternehmen ways-Kette durch das in Yorkshire beheimatete Unter- auswirkt. Denn britische Kunden sind generell mobiler nehmen Morrisons (2004), während als Beispiel für und bereit, längere Einkaufswege hinzunehmen. Ob ein einen Marktaustritt der Rückzug des französischen weiterer Anstieg des Ölpreises diesbezüglich ein Um - Unternehmens Carrefour, das seinen unrentablen Hard- denken der Kunden bewirkt, wird die Zukunft zeigen. discounter Ed verkaufte, zu nennen ist. Somit führen die dezentralen Einzelhandelsstandorte Mehr als 95 % des auf Super- und Verbraucher- in Großbritannien auch zu deutlich längeren Zuliefer- märkte entfallenden Umsatzes wird in Filialen erzielt, und Kundenverkehren, als dies in Kontinentaleuropa die zu einer großen Handelskette zählen. Durch eine der Fall ist. In vielen Fällen verknüpften sich damit in deutlich geringere Produktivität sind dagegen die genos- der Vergangenheit der Neu- oder Ausbau von Straßen senschaftlich organisierten Coop-Läden gekennzeich- sowie die Anlage großflächiger Parkplätze vor den net. In ihren 969 Filialen (14,7 % aller Supermärkte) Geschäften. werden nur noch 3,2 % des auf Super- und Verbrau- Aus ökologischer Sicht ist diese Entwicklung bedenk- chermärkte entfallenden Umsatzes erwirtschaftet. lich, bedeuten neue Straßen und Parkplätze stets auch Nach den Supermärkten folgen mit bereits deutli- eine Versiegelung von Oberflächen. Diese führt zu chem Abstand die Convenience Stores. Auf sie entfällt einem unerwünscht schnellen Abfluss von Nieder- zwar nur ein Fünftel des gesamten Branchenumsatzes; schlagswasser und in der Folge zu einem raschen Anstieg dennoch weist der Convenience-Sektor die größten der von den Vorflutern aufzunehmenden Wassermassen Wachstumsraten auf. Das renommierte britische Markt- mit der Gefahr von Hochwässern. Des Weiteren verän- forschungsinstitut Institute of Grocery Distribution dert sich auch das Mikroklima über den asphaltierten (IGD) hält sogar zwischen 2006 und 2010 einen Markt- Flächen. Schließlich wird die natürliche Umwelt auch zuwachs um 4 % für möglich. durch die Verkehre selbst belastet; man denke nur an Von untergeordneter Bedeutung sind mittlerweile die den Verbrauch von Energie, an den Ausstoß von Schad- traditionellen Einzelhandelsgeschäfte, die zumeist noch stoffen und den Lärm, der durch Liefer- und Kunden- von Familien, unterstützt von wenigen Teilzeitkräften, verkehre produziert wird. betrieben werden. Obwohl die Kunden nur 7 % ihrer Ausgaben in Geschäften dieses Typs tätigen, spielen die

Grundzüge des knapp 44 000 kleinen Lebensmittelgeschäfte für die

Grundversorgung der Bevölkerung, vor allem in abgele-

Lebensmitteleinzelhandels genen ländlichen Gebieten, eine tragende Rolle.

Der bedeutendste Zweig innerhalb des gesamten Einzel- handels in Großbritannien und Nordirland ist der Han- del mit Lebensmitteln. Auf ihn entfiel im Jahre 2005 mit, 8.3 Tesco, Aldi und die neuen „Cornershops“ 239 8 Abb. 8.8 Strukturelle Aufteilung des britischen Lebensmitteleinzelhandels. Quelle: Defra 2006, S. 3.

Supermärkte und Supermarktketten „Metro“-Filialen sind kleine Supermärkte, in denen

überwiegend Frischeartikel, verzehrfertige Gerichte und andere Convenience-Produkte angeboten werden. Mit Seit etwa drei Jahrzehnten zeichnet sich immer klarer ab, diesem Format versuchte Tesco an geeigneten Standor- dass der britische Lebensmitteleinzelhandel von nur vier ten Kunden mit geringem Preisbewusstsein und wenig großen Handelsketten, Tesco, Asda/Wal-Mart, Sains- Zeit zu locken. Im Branchenjargon werden solche Käufer bury’s und Morrisons, dominiert wird. Diese „Big 4“ auch als „cash rich – time poor“-Kunden bezeichnet. sicherten sich 2006 knapp drei Viertel des gesamten Zwar wurde dieses Konzept vom Rivalen Sainsbury’s mit Umsatzes. Unbestrittener Marktführer ist das 1929 in seiner Vertriebslinie „Local“ kopiert; allerdings erfolgte London gegründete Unternehmen Tesco, das mittler- der Markteintritt erst sieben Jahre später, als die besten weile 30,6 % aller Umsätze auf sich vereinigt (Tab. 8.4). Standorte schon besetzt waren und es schwierig gewor- Tesco ist seit Mitte der 1990er Jahre Marktführer im bri- den war, bereits vergebene Marktanteile zurückzugewin- tischen Lebensmitteleinzelhandel. In den letzten Jahren nen. Eine noch klarere Akzentuierung auf Kernsorti- hat der Branchenprimus seine marktbeherrschende mente realisierte Tesco mit seinen „Express“-Läden. Die Position weiter ausbauen können. Knapp ein Drittel der Standorte dieser Ladenlokale sind noch deutlicher auf im britischen Lebensmitteleinzelhandel generierten Um- Laufkundschaft ausgerichtet. Sie sind durch eine geringe sätze landen zurzeit in den Kassen von Tesco-Filialen. Verkaufsfläche, in der Regel unter 250 m2, ge kennzeich- Für den wirtschaftlichen Erfolg gibt es verschiedene net. Eine überraschend hohe Zahl an Kassen garantiert Gründe. vor allem zu Stoßzeiten, d. h. um die Mittagszeit und Erstens reagierte das Unternehmen früher und konse- nach Büroschluss, einen hohen Kundendurchsatz. quenter als seine Konkurrenten auf veränderte pla- Zweitens diversifizierte Tesco sein Angebot, in dem nungsrechtliche Rahmenbedingungen und gesellschaft- vor allem in den Super- und Verbrauchermärkten ver- liche Trends. Schon frühzeitig begegnete Tesco der stärkt auch Dienstleistungen angeboten wurden. Heute seit Anfang der 1990er Jahre zunehmend restriktiver bietet Tesco neben dem klassischen Food- und Non- werdenden Genehmigungspraxis für Filialen in städti- Food-Angebot auch Finanzdienstleistungen, Versiche- schen Randlagen mit der Einführung neuer Betriebsfor- rungen und Angebote aus dem Telekommunikations- mate. Diese entstanden fortan wieder überwiegend in sektor, z. B. Mobiltelefone und Breitbandanschlüsse, an. zentralen Lagen. Seine erste „Metro“-Filiale eröffnete das Drittens hat das Unternehmen früher als seine Kon- Unternehmen 1992 im Londoner Covent Garden. kurrenten begonnen, fremde, noch nicht saturierte, 8 240 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Tabelle 8.4 Filialnetz der Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels (Stand 2007) Unternehmen Vertriebslinie Typ Zahl der Filialen Marktanteil (%) Tesco 1 779 31,3 Extra Verbrauchermarkt 100 Tesco Supermarkt 446 Express Convenience 546 Metro Convenience 160 One Stop Convenience 527 Asda 340 16,8 Supercenter Verbrauchermarkt 22 Asda Supermarkt 318 Sainsbury’s 788 16,5 J Sainsbury’s Supermarkt 490 Sainsbury’s Convenience 298 Stores Morrisons Supermarkt 373 11,1 Waitrose Supermarkt 183 4,0 Somerfield Supermarkt 955 3,8 Aldi Discounter 328 2,4 Coop genossenschaftlicher 2488 2,7 Supermarkt Iceland Supermarkt mit 675 1,8 Beschränkung auf Tiefkühlprodukte Lidl Discounter 380 2,1 Netto Discounter 179 0,6 Quelle: Eigene Angaben nach Homepages der Unternehmen Märkte zu erschließen. Tesco plant, auch in Indien und blematisch eingestuft würden, Abkommen geschlossen, die USA zu expandieren. die vorsähen, dass nach kurzer Nutzungsdauer das Allerdings werfen Kritiker dem Unternehmen vor, bei Grundstück Tesco „überlassen“ würde. der Akquisition neuer Standorte nicht gerade zimper- lich vorzugehen und sich mit juristisch zwar legalen, „Unter die Lupe nehmen die Kartellwächter den Aufkauf von moralisch hingegen bedenklichen Mitteln herausra- Gewerbegrundstücken. Allein Tesco soll ein Immobilien- gende Standorte zu sichern. So würden mit Unterneh- Portfolio im Wert von umgerechnet etwa 20 Milliarden Euro men, die aus planungsrechtlicher Perspektive als unpro-, 8.3 Tesco, Aldi und die neuen „Cornershops“ 241 8 luste auf dem britischen Markt von Beginn an schwarze haben – darunter genügend Flächen, um 175 neue Märkte Zahlen schreiben. Eine unternehmerisch geschickte zu öffnen. E ntscheidung war dabei, das Traditionsunternehmen ‚Tesco hortet lukrative Standorte. Damit soll unliebsame ASDA, dessen Wurzeln in Nordengland liegen, auch Konkurrenz abgehalten werden‘, sagt Lady Caroline Cran- weiter unter seinem alten Namen auftreten zu lassen. So brook. Die Gräfin aus dem kleinen ostenglischen Ort Sax- mundham ist so etwas wie die Mutter Courage der Anti- blieben dem Unternehmen Kunden erhalten, die mögli- Tesco-Bewegung. cherweise durch die Änderung von Namen, Logo und Als der Supermarktkonzern Ende der neunziger Jahre ver- Ausstattung der Filialen irritiert worden und zur Kon- suchte, sich in Saxmundham niederzulassen, organisierte kurrenz abgewandert wären. sie ein Bündnis von lokalen Farmern und Lebensmittel- Deutlich ins Hintertreffen ist in den vergangenen händlern gegen den Konzern. Mit Erfolg: Tesco zog sich zehn Jahren das Unternehmen Sainsbury’s geraten, das zurück. sich noch in den frühen 1990er Jahren die Spitzenposi- Cranbrook residiert in einem viktorianischen Herren- tion mit Tesco geteilt hatte. Seitdem musste es jedoch haus. Ihr Arbeitszimmer ist vollgestopft mit Expertisen über stetig Marktanteile abgeben (Abb. 8.9). Tesco. Sie habe nachweisen können, dass Tesco das Aus für Auf den vierten Platz konnte das in Yorkshire behei- die lokale Wirtschaftsstruktur bedeutet hätte, meint Cran- brook. matete Unternehmen Morrisons vorstoßen, das 2004 die Lob für ihre Kampagne erhielt die 68-Jährige sogar von in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Safeways- höchster Stelle: Cranbrook sei die ‚hartnäckigste Kämpfe- Kette übernommen hatte. Zwar schmälerten Moderni- rin‘ für die Sache einer gesunden Ernährung und umwelt- sierung und Umbau der einstigen Safeways-Filialen die freundlichen Agrarwirtschaft, meinte Natur- und Ökofreund Unternehmensgewinne, allerdings konnte Morrisons Prince Charles. sein Absatzgebiet so auf ganz Großbritannien ausdeh- ‚Wir haben alle an dem Erfolg gearbeitet‘, gibt sich Cran- nen. brook bescheiden. Saxmundham sei deshalb bis heute ein Während drei Viertel der Einzelhandelsumsätze von ‚schwarzes Loch‘ für Tesco geblieben. Und nicht nur Sax- den oben genannten vier großen Unternehmen abge- mundham: Im Umkreis von 75 Kilometern gibt es keinen schöpft werden, müssen sich die übrigen Anbieter den Tesco-Supermarkt“ (SZ, 14./15.4.2007). verbleibenden Marktanteil von ca. 25 % teilen. Somer- field, das bis zum Jahre 2007 fünftgrößte Unternehmen, Mittlerweile hat Tesco einen beachtlichen Vorsprung vor hat aus den Marktentwicklungen Konsequenzen gezo- seinen Konkurrenten erreicht. Sein nächster Rivale, gen und seine Läden im Einzugsbereich der großen ASDA, kommt auf einen Marktanteil von nur 16,3 % F ilialisten geschlossen. Somerfield versteht sich heute und ist somit weit abgeschlagen. ASDA wurde 1999 vom als kleinformatiger Vollsortimenter (smallformat food- US-amerikanischen Weltmarktführer Wal-Mart über- retailer), der vor allem in Wohngebieten und Innen- nommen, der mit dem britischen Unternehmen ein stadtlagen präsent ist. Mit einem breit angelegten Joint Venture einging. Auf diese Weise konnte Wal-Mart Modernisierungsprogramm möchte das Unternehmen ein etabliertes Standort- und Logistiknetz übernehmen neue Kunden gewinnen und verloren gegangene Markt- und ohne die für Markteintritte typischen Anfangsver- anteile zurückerobern. Abb. 8.9 Marktanteile und Umsatzren- dite der großen Filialisten im britischen Lebensmitteleinzelhandel. Quelle: Zeh- ner, leicht verändert nach IGD 2008., 8 242 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Während Gestaltung und Ausstattung der Morri- wandelt. Dieses Angebot traf aber nicht den Nerv der sons- und Somerfield-Filialen etwas einfacher gehalten britischen Kunden, und so war Rewe gezwungen, seine sind, verkörpert das südenglische Unternehmen Wait - Filialen nach nur zwei Jahren Betriebsdauer wieder rose (John Lewis) die Premierklasse des britischen abzustoßen. Käufer war der Konkurrent Lidl, der ein Lebensmitteleinzelhandels. Obwohl Waitrose-Filialen Jahr zuvor sein erstes Ladenlokal in Großbritannien mittlerweile auch in den mittleren und nördlichen Lan- eröffnet hatte. Von kurzer Dauer war auch der Auftritt desteilen Englands, in Wales und Schottland eröffnet der französischen Carrefour-Kette, die mit 18 Filialen wurden, liegt doch der Schwerpunkt ihres Verbreitungs- ihres Harddiscounters Ed 1993 versucht hatten, im Ver- gebiets in den Speckgürteln der südenglischen Städte. einigten Königreich Fuß zu fassen. Nur zwei Jahre später jedoch zog sich Carrefour aus ähnlichen Gründen wie Rewe wieder aus dem britischen Markt zurück und ver-

Discounter

kaufte die Ed-Filialen an Netto. Der entscheidende Faktor für den Markteintritt Die Entwicklung des britischen Lebensmittelmarktes a usländischer Discounter in Großbritannien waren die hatte in den 1980er Jahren zwei Lücken entstehen lassen. zu Beginn der 1990er Jahren vergleichsweise hohen Die erste Lücke klaffte in Bezug auf das Preisniveau Gewinnspannen. Während dort Renditen in Höhe von (value platform gap), gab es doch nur wenige Anbieter, 6 % erzielt werden konnten, waren auf den ausgereiften die preiswerte Lebensmittel offerierten. Die zweite Märkten Kontinentaleuropas nur noch Margen von 2 % Lücke war dagegen räumlicher Art. In den Innenstädten realistisch. Die Konzentration der Discounter auf kauf- und kaufkraftschwächeren Wohngebieten waren durch kraftschwächere Gebiete kam Aldi, Netto und Lidl die zwischenzeitliche Favorisierung der städtischen mittelfristig jedoch teuer zu stehen. Ihren wirtschaft- Randlagen seitens der „Big 4“ unterversorgte Gebiete lichen Erfolg erkauften sie sich mit einem ausgespro- (locational gaps) entstanden chen negativen Image, das eine weitere Expansion Diese Lücken versuchten in den 1980er Jahren zu- zunächst wenig erfolgversprechend erscheinen ließ. Erst nächst britische Unternehmen zu füllen. Sie konnten in jüngerer Zeit gelang es Aldi im Rahmen einer Moder- sich jedoch nicht dauerhaft am Markt behaupten. Dies nisierungskampagne seiner Filialen das zweifelhafte Eti- lag auch am Markteintritt ausländischer Unternehmen kett einer Billigmarke abzustreifen. Obwohl aus Konsu- aus der Discountbranche. Ab 1990 betraten mit Aldi Süd mentensicht von den Discountern insbesondere das und der dänischen Netto zwei Akteure aus Kontinental- Preisgefüge des Lebensmittelmarktes positiv beeinflusst europa den britischen Markt, und zwar mit Erfolg. Die- wurde, blieb ihr Einfluss dennoch gering. Aldi vereinigte ser basierte zunächst auf der Strategie, britische Kon- 2006 einen Marktanteil von 2,6 %, Lidl konnte 2,1 % kurrenten aus dem Markt zu drängen. Um dieses Ziel zu verbuchen, während die Bedeutung von Netto mit 0,6 % erreichen, eröffneten Aldi und Netto vor allem in sol- deutlich geringer ausfiel. Somit entfällt auf die Discoun- chen Gebieten neue Ladenlokale, wo britische Discoun- ter insgesamt ein Marktanteil von nur ca. 5 %. ter bereits präsent waren. Diese setzte man durch Niedrigpreisangebote dann so lange unter Druck, bis sie aufgeben mussten. Aldi beispielsweise konzentrierte Veränderte Ziele seine Filialgründungen im Wesentlichen auf Birming- ham, Manchester und Liverpool. der Stadtentwicklungsplanung Diese Strategie war durchaus erfolgreich. So geriet der ernsthafteste britische Konkurrent Shoprite 1994 in Entwicklung und gegenwärtige Struktur des britischen wirtschaftliche Schwierigkeiten und wurde ein Jahr spä- Einzelhandels sind jedoch nur zum Teil das Ergebnis ter an Kwik Save verkauft. Aber auch Kwik Save hielt der individueller unternehmerischer Entscheidungen. In Konkurrenz nicht lange stand, geriet 1998 selbst in mindestens ebenso starkem Maße haben vorhandene Schwierigkeiten und wurde schließlich von Somerfield wie auch fehlende politische und planerische Rahmen- übernommen. 2007 verkaufte Somerfield die unrenta- bedingungen den Einzelhandel beeinflusst. blen Kwik-Save-Filialen an verschiedene Konkurrenten. Grundsätzlich liefert in Großbritannien der 1948 Nicht alle Markteintritte der ausländischen Konkur- erstmals verabschiedete Town and Country Planning renz waren von Erfolg gekrönt. So dauerte das Engage- Act die rechtliche Grundlage für die Genehmigung von ment der deutschen Rewe in Großbritannien nur ganze Standorten des Lebensmitteleinzelhandels. Bis in die zwei Jahre. 1993 hatte Rewe 21 Filialen der kleinen Bud- 1960er Jahre hatte er den Einzelhandel generell auf die gens-Kette gekauft und diese nach dem Vorbild der Innenstädte und die Nebenzentren beschränkt. Zwar deutschen Penny-Märkte in Discounterfilialen umge- waren erste Vorstöße in Richtung einer Öffnung dezen-, 8.3 Tesco, Aldi und die neuen „Cornershops“ 243 8 traler Standorte für Einzelhandelsbetriebe bereits Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre erfolgt. Es soll- „Policies for retail and leisure should seek to promote the ten jedoch noch weitere sieben Jahre verstreichen, bis die vitality and viability of existing town centres, which should Regierung mit verbindlichen Erlassen in Form sog. be the preferred locations for new retail and leisure deve- lopments. At the regional and strategic level, local authori- Development Control Policy Notes (DCNP) die bis ties should establish a hierarchy of town centres, taking dahin straff hierarchisch strukturierten Einzelhandels- account of accessibility by public transport, to identify pre- erlasse lockern würde. ferred locations for major retail and leisure investment. At Erst mit dem Regierungswechsel 1979 und der neuen the local level, preference should be given to town centre Premierministerin Margret Thatcher änderte sich die sites, followed by edge of centre and, only then, out of cen- Ausrichtung der Raumordnungspolitik nachhaltig. Die tre sites in locations which are (or will be) well served by unternehmerfreundliche Laisser-faire-Politik löste in public transport“ (Department for Communities and Local den 1980er Jahren einen regelrechten Boom neuer Government (Hrsg.) (2006): Planning Policy Guidance 13: Super- und Verbrauchermärkte in kaufkraftstarken sub- Transport, London, S. 45). urbanen Räumen aus. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass in kaufkraftschwächeren Stadtgebieten eine Ausdünnung des Einzelhandelsbesatzes beobachtet wer- Fazit den konnte. Kritiker der neuen Supermarktkultur glaubten, sogar ganze food deserts in britischen Städten Der britische Lebensmitteleinzelhandel wird von ausmachen zu können. Diese Einschätzung mochte umsatzstarken einheimischen Unternehmen dominiert. sicherlich etwas übertrieben sein; fest stand jedoch, dass Diese zeigen aber ihrerseits, mit Ausnahme von Tesco, den Innenstädten nun wichtige Ankerbetriebe fehlten. nur geringes Interesse an einer Internationalisierung Denn vor allem die neuen, großen Supermärkte hatten ihres Marktauftritts. Discounter spielen eine unterge- sich zunehmend zu Verbrauchermärkten entwickelt, in ordnete Rolle, während in jüngerer Zeit nach dem Con- denen auch Bekleidung, Haushaltswaren und Elektro- venience-Prinzip organisierte Cornershops eine Renais- nikgeräte angeboten wurden. Allerdings machten auch sance erfahren haben. die zahlreichen Factory Outlet Center, Einzelhandels- Aus räumlicher Perspektive zeigt sich der Lebens- parks und Regional Shopping Center den Stadtzentren mitteleinzelhandel zweigeteilt. In städtischen Randlagen zunehmend zu schaffen. findet man flächengroße Super- und Verbraucher- Schon unter Premierminister Major (1990–1997) märkte, von denen der überwiegende Teil in den 1980er kam es aus diesen Gründen zu einer Neuorientierung Jahren errichtet wurde. In den Stadtzentren, die lange der Stadtentwicklungspolitik, die mit härteren Richtli- Zeit als vernachlässigt galten und aus denen der Einzel- nien den Bau neuer Supermärkte an den Stadträndern handel praktisch verschwunden war, sind in jüngerer zu verhindern und Unternehmen wieder in die Innen- Zeit wieder kleine Supermärkte entstanden. Dies ist städte zu locken versuchte. Diese Politik wurde unter auch das Verdienst einer nachholenden Stadtentwick- New Labour konsequent fortgesetzt. lungspolitik, die mit geeigneten Planungsrichtlinien Als besonders wirkungsmächtige Instrumente erwie- eine gleichmäßigere Verteilung der Filialen erreichen sen sich vor allem spezielle Einzelhandelserlasse, die und somit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Policy Planning Guides (PPGs) Nr. 6 und Nr. 13. Die Versorgung mobilitätsschwächerer Haushalte leisten PPG 6 wurde 1988 erlassen und 1993 sowie 1996 noch- konnte. mals überarbeitet. Sie verpflichtet Unternehmen bei der Wahl neuer Standorte, innerstädtische Lagen den Außenbereichen vorzuziehen. Bei der Suche nach geeig- Informationen im Internet neten Standorten soll die jeweilige Kommune behilflich sein und infrastrukturelle Rahmenbedingungen schaf- http://www.tescocorporate.com Auf der Website des Marktführers im britischen Lebens- fen, die dem innerstädtischen Einzelhandel entgegen- mitteleinzelhandel findet man u. a. interessante Hinter- kommen. Diesen Aspekt thematisiert nochmals aus- grundinformationen über das Unternehmen sowie differen- drücklich die 2006 verabschiedete PPG 13, in der die zierte statistische Angaben zum Handelsnetz. Bevorzugung von Stadtzentren betont und eine verbes- serte Anbindung an den öffentlichen Personennahver- kehr (ÖPNV) gefordert wird. Auf diese Weise sollte vor Weiterführende Literatur allem in ihrer Mobilität eingeschränkten Personen der Zugang zu Dienstleistungseinrichtungen und zum Han- Birkin, M.; Clarke, G.; Clarke, M. (2005): Retail Geography and del erleichtert werden. Intelligent Network Planning. Chichester., 8 244 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Defra (Department for Environment, Food and Rural Affairs) Vereinfachend lässt sich die Ausbreitung des Einzel- (Hrsg.) (2006): Economic Note on UK Grocery Retailing handels am Rande von Städten vier verschiedenen Pha- (http://statistics.defra.gov.uk) sen bzw. Wellen zuordnen. Die ersten neuen Geschäfte, Freathy, P. (Hrsg.) (2003): The Retailing Book. Principles and die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Randlagen Applications. Harlow u. a. IGD (The Institute of Grocery Distribution) (Hrsg.) (2005): Gro- entstanden, waren freistehende Supermärkte. Die Sorti- cery Retailing, Watford. mente dieser Supermärkte bestanden damals noch über- IGD (The Institute of Grocery Distribution) (Hrsg.) (2008): Gro- wiegend aus Lebensmitteln, Haushaltswaren, Tabak- cery Retailing, Watford. waren und Zeitungen/Zeitschriften. Non-Food-Artikel Potz, P. (2003): Die Regulierung des Einzelhandels im Groß- bzw. sog. Aktionsware wurden nur vereinzelt und in sehr raum London. Berlin (WBZ Discussion Paper SP III 2003– beschränktem Umfang angeboten. Bemerkenswert war 203, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung). die für die damalige Zeit sehr beachtliche Größe der Rudolph, H.; Potz, P.; Bahn, B. (2005): Metropolen handeln. Ein- Ladenlokale, deren Verkaufsfläche bis zu 3 600 m2 um - zelhandel zwischen Internationalisierung und lokaler Regu- fassen konnte. Zum Vergleich: Eine typische Aldi-Filiale lierung. Wiesbaden (Stadtforschung aktuell 101). in Deutschland verfügt über 700 bis 800 m2 Verkaufsflä- Rushton, P. (1999): Out of Town Shopping. The Future of Retai- ling. London. che. Neben den Supermärkten entstanden gegen Ende Seth, A.; Randall, G. (2001): The Grocers. The Rise and Rise of der 1960er Jahre die ersten Verbrauchermärkte. Die Ver- the Supermarket Chains. London/Dover. kaufsfläche dieser französischen Vorbildern nachemp- Sparks (1990): Spatial-Structural Relationships in Retail Cor- fundenen Märkte kann bis zu 9 000 m2 betragen. Aller- porate Growth: A Case Study of Kwik Save Group PLC. In: dings setzt sich das Angebot dieser Märkte zur Hälfte Service Industries Journal 10, S. 25–84. aus Non-Food-Artikeln, u. a. Bekleidung, Schuhe und Sparks (1996): Challenge and Change: Shoprite and the Re- Elektroartikel, zusammen. structuring of Grocery Retailing in Scotland. In: Environ- Die zweite Phase der Einzelhandelsentwicklung im ment and Planning A 28, S. 261–284. Außenbereich britischer Städte fiel in die 1970er Jahre. Zehner, K. (2006): Einzelhandel in Großbritannien. Jüngere Ent- Sie war durch die Gründung sog. Retail Parks geprägt. wicklungen unter dem Einfluss von Internationalisierung, Planungsrecht und Kultur. In: Geographische Rundschau Unter Retail Parks sind Fachmarktzentren zu verstehen, 58, 5, S. 29–35. d. h. auf PKW-Kunden zugeschnittene großflächige Fach- und Verbrauchermärkte mit gemeinsamen Infra- struktureinrichtungen, z. B. kostenlosen Parkplätzen und Fast-Food-Restaurants. Die städtebauliche Qualität 8.4 Regional Shopping dieser neuen Einzelhandelsstandorte blieb zumeist

Center und Factory Outlet beklagenswert: Isoliert stehende flache, zumeist einstö-

ckige und von außen trist wirkende Hallen prägten das

Center – neue „Kathedralen“ äußere Erscheinungsbild der Retail Parks. Hier wurden

der britischen Konsum- in der Regel Teppiche, Möbel, Heimwerkerbedarf, Auto- mobilzubehör, Gartenartikel bzw. Inneneinrichtungen gesellschaft angeboten. Da sich die Sortimente überwiegend auf nichtinnenstadtrelevante Artikel beschränkten, gab es seitens der Stadtplanung auch keine Bedenken gegen Klaus Zehner derartige Formate. Vielmehr wurden, vor allem während der Regierungszeit Margret Thatchers, entsprechende

Die Entwicklung des Bauanträge in der Regel großzügig genehmigt. Dies

hatte zur Folge, dass bis zum Beginn der 1990er Jahre in großflächigen Einzelhandels Großbritannien bereits 200 Retail Parks entstanden in nichtintegrierten Lagen waren. Die dritte Phase der randstädtischen Einzelhandels- entwicklung nahm ihren Anfang in der zweiten Hälfte Seit Mitte der 1960er Jahre hat sich die Einzelhandels- der 1970er Jahre, als in Großbritannien nach US-ameri- landschaft in Großbritannien nachhaltig und – wie es kanischem Vorbild konzipierte und gestaltete Malls scheint – auf lange Sicht unumkehrbar verändert. Am gebaut wurden. Für diese Einkaufszentren setzte sich in deutlichsten kommt diese Veränderung in der seit etwa Anlehnung an ihre potenziellen Einzugsgebiete schon vier Jahrzehnten beobachtbaren Zunahme von neuen bald die Bezeichnung Regional Shopping Center durch. Einzelhandelsstandorten in nichtintegrierten Lagen Trotz zunehmend strengerer Auflagen entwickelte zum Ausdruck. sich ab 1992 eine vierte Generation von dezentralen Ein-, 8.4 Regional Shopping Center und Factory Outlet Center 245 8 kaufsstandorten. Zu ihr zählen sog. Airport Malls, Ware- 1976 eröffnet und blieb für ein Jahrzehnt die einzige house Clubs und Factory Outlet Center. In der einschlä- Mall Großbritanniens im suburbanen Raum. Zum Zeit- gigen Fachliteratur wird als Factory Outlet Center eine punkt ihrer Eröffnung konnten die Kunden in Brent größere Agglomeration, in der Regel kleiner Ladenein- Cross unter 82 Geschäften wählen. Die gesamte Mietflä- heiten innerhalb eines gemeinsam geplanten Gebäude- che betrug nahezu 80 000 m2. komplexes oder in einer baulich zusammenhängenden In den 1980er Jahren wurden in Großbritannien Anlage verstanden. Dort bieten Hersteller und vertikal zwei weitere Einkaufszentren von regionaler Bedeutung integrierte Einzelhändler Endverbrauchern Auslaufmo- eröffnet: Merry Hill in Dudley (West Midlands) und delle, Zweite-Wahl-Produkte, Überschussproduktionen das MetroCenter in Gateshead (Tyneside). Beide lagen und gelegentlich auch Waren, die ausschließlich zu in sog. Enterprise Zones. Als Enterprise Zones wurden Markttestzwecken hergestellt wurden, an. in den 1980er Jahren kleinräumige Sonderwirtschafts- Die gegenwärtige Konsumkultur in Großbritannien zonen bezeichnet, in denen Bauherren und ansied- spiegelt sich am eindrucksvollsten in den Regional lungswillige Betriebe von einer Reihe finanzieller Shopping und Factory Outlet Centern wider. Aus die- Zuwendungen des Staates und einer Reduzierung von sem Grund wird auf sie im Folgenden ausführlicher ein- bürokratischen Auflagen profitieren konnten. Konkret gegangen. bedeutete die Wahl einer Enterprise Zone als Standort für ein Großprojekt des Einzelhandels, dass die Inves- toren keine Planungsgenehmigung benötigten. Denn es war gerade ein Merkmal der Sonderwirtschaftszonen,

Regional Shopping Center dass hier ansiedlungswillige Betriebe innerhalb von nur

zwei Wochen und somit ohne Prüfung ihrer Raum- Regional Shopping Center oder Malls sind im randstäd- wirksamkeit eine Baugenehmigung erhielten. tischen bzw. suburbanen Raum gelegene, großflächige Die Akzeptanz der drei, Mitte der 1980er Jahre beste- und freistehende Einkaufszentren, deren Mindestgröße henden Regional Shopping Center seitens der britischen 30 000 m2 Verkaufsfläche beträgt. Die meisten Malls sind Bevölkerung war so groß, dass zwei weitere Center aber deutlich größer; manche erreichen gar 80 000 bis gebaut und 1990 eröffnet wurden, nämlich die Meadow- 100 000 m2 Verkaufsfläche. Die besonders großen Malls hall bei Sheffield und Lakeside am östlichen Stadtrand erstrecken sich über mindestens zwei Vollgeschosse. von London. Insgesamt wurden jedoch deutlich mehr Diese vertikale Ausweitung ist durchaus sinnvoll, da Bauanträge abgelehnt als genehmigt. Ende der 1990er ansonsten die Wege, die Kunden innerhalb des Zen- Jahre beschloss die britische Regierung sogar, vorerst trums zurücklegen müssten, zu lang würden. Ein weite- überhaupt keine weiteren Regional Shopping Center res Merkmal ist das Vorhandensein mehrerer Ankerbe- mehr zu genehmigen. Die vorläufig letzten Einkaufszen- triebe, die zumeist an den Enden oder Rändern der tren in suburbanen Lagen, die in Großbritannien gebaut Center platziert wurden. Solche Magnete sind in den wurden, waren Cribbs Causeway in Bristol, Braehead in meisten Fällen Filialen renommierter (britischer) Kauf- Glasgow, das Trafford Center im Westen Manchesters oder Warenhausketten wie John Lewis, Selfridges, und Bluewater in der Grafschaft Kent, unweit der süd- Debenhams oder Marks & Spencer. Aus Sicht der Shop- östlichen Stadtgrenze Londons. Angesichts der Größe ping-Center-Betreiber kommt den Ankerbetrieben die ihrer Einzugsgebiete hätten weitere Malls dieser Dimen- Funktion zu, Kundenströme innerhalb des Einkaufszen- sion aus wirtschaftlicher Sicht auch gar keinen Sinn trums gleichmäßig zu verteilen, so dass auch die Schau- gemacht. Zu groß wäre zum einen die Gefahr einer fenster der kleineren Händler bei den Kunden Beach- gegenseitigen Kannibalisierung gewesen. Zum anderen tung finden. Regional Shopping Center sind maßgeblich wären negative Einflüsse auf die ohnehin schon von auf Kunden angewiesen, die mit dem PKW kommen. Umsatzeinbußen betroffenen Innenstädte zu erwarten Somit ist ein großzügiges Angebot an kostenlosen Park- gewesen. Dennoch wurde 2008 im Westen Londons, im plätzen ein wichtiger Standortfaktor. Stadtbezirk Hammersmith und Fulham, eine neue Mall, das Westfield Shopping Center, auch bekannt unter dem Namen White City, eröffnet. Angesichts seiner Lage ist Entwicklung der Regional Shopping Center jedoch strittig, ob man diese Mall als Regional Shopping Center bezeichnen sollte oder ob es eher eine Ergänzung Das erste aus einem Guss entstandene Einkaufszentrum, des innerstädtischen Zentrensystems von London dar- das in Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder als stellt. Lässt man White City außer Acht, so existieren Regional Shopping Center oder Mall bezeichnet werden heute in Großbritannien zehn Regional Shopping Cen- kann, ist Brent Cross im Norden von London. Es wurde ter (Abb. 8.10)., 8 246 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Factory Outlet Center Regional Shopping Center Abb. 8.10 Regional Shopping Center und Factory Outlet Center in Großbritannien. Quelle: http://www.ecostra.com (für Factory Outlet Center) und eigene Recherchen (für Regional Shopping Center)., 8.4 Regional Shopping Center und Factory Outlet Center 247 8

Bluewater – die Perle unter den britischen Malls

Von den zehn Regional Shopping Center Großbritanniens ist Wasser träfe. Es würde die Landschaft in ein bläuliches, auf Bluewater das mit Abstand spektakulärste. Zu dieser Ein- die menschliche Psyche sehr angenehm wirkendes Licht tau- schätzung trägt ganz wesentlich seine Lage bei. Bluewater chen und die Kunden in eine positive Stimmung versetzen. wurde an einem Ort errichtet, der normalerweise als Stand- Und eine solche Stimmung würde, das war Kuehne klar, eine ort für Mülldeponien gewählt wird, nämlich auf dem Grund ideale Voraussetzung dafür sein, die Kunden vielleicht etwas eines ehemaligen Steinbruchs, im Gebiet der North Downs länger als üblich an den Einkaufsstandort zu binden. Eine (Abb. 8.11). Der amerikanische Architekt Erik Kuehne hatte lange Verweildauer würde zur Folge haben, dass die Wahr- diesen Standort allerdings mit Bedacht und Weitsicht aus- scheinlichkeit von Impulskäufen steigen würde, was unter gewählt. Ihm war klar gewesen, welch faszinierende Wirkung dem Strich dem Einzelhandel höhere Umsätze und Gewinne das von den Kalksteinwänden, die Bluewater an drei Seiten bescheren würde. einfassen, reflektierende Licht entfalten würde, wenn es auf Abb. 8.11 Das Regional Shopping Center Bluewater in Kent. Quelle: Heineberg 2000. Dieser brillante Grundgedanke wurde perfekt umge- ren, teure Alkoholika und wertvoller Schmuck präsen- setzt. Inmitten dieses Steinbruchs, unweit der Londoner tiert. Das Angebot der Rose Gallery spricht dagegen eher Ringautobahn und der von London zur Kanalküste füh- Familien an. Kosmetikgeschäfte, Boutiquen und Kör- renden Autobahn M2 ließ die australische Lend Lease perpflege bilden hier das Kernsegment, während die Corporation in dreijähriger Bauzeit eine architektonisch Läden auf dem Thames Walk mit einer starken Fokus- außergewöhnliche Mall errichten. Das Besondere an ihr sierung auf Sport- und Elektronikartikel wohl eher den ist, dass sie keinen Haupteingang, keinen Anfang und Geschmack junger Kunden und Singles treffen dürften. kein Ende hat. Denn ihr Grundriss entspricht einem Auch hinsichtlich seiner Architektur ist Bluewater gleichseitigen Dreieck, wobei eine Seite zu einem Bogen einzigartig. Während vom Trafford Center in Manches- aufgeweitet wurde. Auf jeder der drei Ecken wurde ein ter einmal abgesehen die Gestalt anderer Malls als eher Ankerbetrieb platziert. Hierbei handelt es sich um Filia- konventionell zu bezeichnen ist, hat Kuehne versucht, len von Marks & Spencer, John Lewis und House of architektonische Bezüge zwischen den für Kent so typi- F razer. Diese drei Häuser wirken gewissermaßen als schen Hopfenfarmen (oast houses) und seiner Mall her- Magnete, die die Kundenströme zirkulieren lassen. Die zustellen. Das äußere Merkmal der oast houses sind die Ladenlokale sind im Übrigen so zusammengefasst, dass weithin sichtbaren, weißen, konischen Windhauben sie verschiedene Lebensstilgruppen ansprechen. So ist über den Kamingebäuden der Farmen. Die Holzhauben der Geschäftsbesatz der Guildhall dem vornehmen, werden durch den Wind so gedreht, dass ihre Öffnung gediegenen Einzelhandel aus Londons Westend nach- stets zu der windabgewandten Seite weist. Somit kann empfunden. Hier werden hochwertige Kleidung, Zigar- die beim Trocknen des Hopfens entstehende heiße Luft, 8 248 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Abb. 8.12 Die stilisierten Windhauben auf dem Dach von Bluewater nehmen Bezug auf die Dachaufsätze der Hopfen- farmen, die in Kent weit verbreitet sind und das Landschaftsbild mitprägen. Quelle: Wikimedia, David Iliff. stets gefahrlos abziehen, während der Wind nie in das Den Auftakt machten in den Jahren 1992 und 1993 Innere des Kamins blasen kann. Dieses architektonische die Standorte Hornsea (Yorkshire) und Street (Somer- Motiv der weißen Windhauben, das der Kulturland- set). Beide waren an Produktionsbetriebe gekoppelt; in schaft Kents seit dem 13. Jahrhundert seinen Stempel Hornsea war dies eine Keramikfabrik und in Street die aufgedrückt hat, spiegelt sich auf den Dächern der Mall Schuhfabrik Clarks, die dort bereits seit 1825 Schuhe wider. Sie werden geziert von den in stilisierter Form herstellte. Die Fabrikverkaufsstellen beider Hersteller reproduzierten und aus anderen Materialien gefertigten bilden noch heute die Ankerbetriebe der jeweiligen Out- Dachaufsätzen der oast houses (Abb. 8.12). Zudem let Center. kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. In den Hauben Fabrikabverkäufe waren im Grunde nichts Neues. versteckte Ventilatoren pumpen frische Außenluft in die Viele solcher Geschäfte hatten bereits seit Jahrzehnten Mall, was die Aufenthaltsqualität des Ortes positiv neben oder sogar auf dem Gelände von Produktions- beeinflussen soll. stätten existiert. Derartige Mill Stores waren vor allem in Des Weiteren ist ein zweiter architektonischer Schach- den Textilindustriegebieten der Midlands, Yorkshires zug bemerkenswert. Unmittelbar an die Mall grenzen und Lancashires verbreitet gewesen. Neu war hingegen zweistöckige Parkhäuser. Von der oberen Ebene werden der Gedanke, durch das räumliche Zusammenfassen die Kunden direkt in das Obergeschoss der Mall geleitet. von Outlet Stores Synergieeffekte zu schaffen. Das Diese Maßnahme trägt wesentlich dazu bei, dass das K onzept ging auf. Sowohl Projektentwickler als auch obere Stockwerk von Bluewater besser besucht wird, als Kunden sahen plötzlich die Vorteile solcher Standortge- das ohne diese Maßnahme zu erwarten gewesen wäre. meinschaften. Ein regelrechter Boom von Neugründun- gen war die Folge. Bereits ein Jahr später waren 18 Factory Outlet Center in Betrieb. Fortan nahm ihre Zahl

Factory Outlet Center

kontinuierlich zu. Ende 2008 existierten bereits 37 Factory Outlet Center in Großbritannien. Seit den 1990er Jahren bilden Factory Outlet Center Damit entfällt mehr als die Hälfte der Mietfläche in das am schnellsten wachsende Einzelhandelsformat in europäischen Factory Outlet Centern auf Großbritan- Europa, obwohl in einigen Ländern – dazu zählt auch nien. Dass so viele Center überhaupt genehmigt wur- Deutschland – die meisten Bauvoranfragen schon in den, lag zum einen an ihrer vergleichsweise großen Ent- einem frühen Planungsstadium an politischen Wider- fernung zu Innenstädten. Zum anderen mussten ihre ständen scheitern. Obwohl seit den frühen 1990er Jah- Betreiber strikte Auflagen im Hinblick auf die dort vor- ren auch in Großbritannien der Einzelhandel stärker gehaltenen Sortimentstrukturen einhalten. Ganz kon- reguliert wird, entstanden dort zwischen 1992 und 2008 kret musste der Geschäftsbesatz mindestens zur Hälfte fast 40 Factory Outlet Center und ein halbes Dutzend aus reinen Fabrikverkaufsgeschäften bestehen. Damit weiterer Standorte ist aktuell noch in Planung. sollte sichergestellt werden, dass Factory Outlet Center, 8.4 Regional Shopping Center und Factory Outlet Center 249 8 Abb. 8.13 Das Factory Outlet Center Cheshire Oaks. Quelle: Cheshire Oaks Designer Outlet. eindeutig als Sonderstandorte und nicht als alterna- shire Oaks in Nordwestengland (Abb. 8.13). Den Rest tive „normale“ Einzelhandelsstandorte wahrgenommen teilen sich 16 weitere Unternehmen auf. würden. Gerade den Factory Outlet Centern in Großbritan- Obwohl im Vergleich zur Thatcher-Ära ab ca. 1990 nien ist neben ihrer primären Funktion als Versorgungs- vor der Genehmigung neuer Einzelhandelsprojekte standort ein hoher Freizeit- und Erlebniswert zuzu- seitens der Planer genauer hingeschaut wurde, blieb schreiben. Die attraktive Gestaltung der Anlagen, ihr Großbritannien ein Land, dessen Planungsbehörden im vielfältiges gastronomisches Angebot, aber auch die europäischen Vergleich eine eher liberale Genehmi- räumliche Nachbarschaft zu Retail Parks, Multiplex- gungspolitik pflegten. Diese liberale Haltung kam insbe- Kinos und großen Supermärkten binden Kunden oft- sondere US-amerikanischen Projektentwicklern entge- mals für einen ganzen Tag an den Standort und seine gen, die versuchten, nachdem der heimische Markt Umgebung. Zudem sollen Abenteuerspielplätze für gesättigt war, das in den USA überaus erfolgreiche ältere und Horte für jüngere Kinder sicherstellen, dass Factory-Outlet-Format auf Europa zu übertragen. Auf- die Eltern ungestört einkaufen können. grund niedriger Eintrittsbarrieren und gemeinsamer Factory Outlet Center befinden sich meist in un- historischer Wurzeln und kultureller Werte bot sich für mittelbarer Nähe von Autobahnabfahrten. Bevorzugt sie Großbritannien als Testmarkt und Sprungbrett zur werden häufig Standorte zwischen zwei größeren Ver- Eroberung des gesamteuropäischen Marktes geradezu dichtungsräumen. Aus Sicht der Betreiber ist entschei- an. Dass die Akzeptanz der Factory Outlet Center in dend, dass möglichst viele Kunden das Center in einer Großbritannien selbst hoch sein würde, durfte dabei zu Stunde mit dem PKW erreichen können. Als geradezu Recht erwartet werden, denn das ebenfalls aus den USA klassisches Beispiel hierfür ist das bereits erwähnte stammende Konzept der Regional Shopping Center Cheshire Oaks zu nennen. Es liegt unweit der Kreuzung hatte sich ja bereits ausgesprochen gut bewährt. Zudem der beiden Autobahnen M53 und M56, die nach Liver- entsprach das in den Factory Outlet Centern vorgehal- pool bzw. Manchester führen. Beide Verdichtungsräume tene Angebot durchaus den Bedürfnissen und Wün- mit Bevölkerungszahlen von 2,4 Mio. (Groß-Manches- schen vieler Kunden, deren Budgets zu Beginn der ter) und 1,4 Mio. Einwohnern (Merseyside) sind in einer 1990er Jahre wegen einer Rezession stark angespannt Stunde Fahrtzeit bequem zu erreichen. waren. Ein zweiter beliebter Standorttyp ist die kleinere Küs- Marktführer in Großbritannien ist allerdings ein tenstadt, die aus touristischer Sicht von Bedeutung ist. b ritisches Unternehmen, Realm Outlet Center Manage- Bideford in Norddevon, Clacton-on-Sea in Essex und ment, das aktuell 13 Center betreibt. Der Branchen- Brighton in East Sussex liefern hierfür die Paradebei- zweite, das amerikanische Unternehmen McArthur- spiele. Glen, betreut sieben Standorte. Unter ihnen ist auch das Hinsichtlich ihrer Gestalt lassen sich die Factory größte Factory Outlet Center Großbritanniens, Che - O utlet Center drei verschiedenen Grundtypen zuord-, 8 250 8 Gesellschaft, Handel und Kultur nen. Typ 1 ist das sog. Stripcenter US-amerikanischen 8.5 Industrielles Erbe – Zuschnitts. Hier liegen die Geschäfte ebenerdig neben- einander. Die gesamte Anlage ist entweder zeilenförmig, neuer Motor für Stadt- S-förmig oder hufeisenförmig angelegt. Ziegel, Glas entwicklung in der und Stahl sind die dominierenden Baumaterialien. Das Designer Outlet Wales in Bridgend repräsentiert diesen Spätmoderne? Das Typ recht gut. Typ 2 dagegen verkörpert das geschlos- Beispiel Manchester sene Einkaufszentrum, in dem die Läden über mehrere Geschosse verteilt sein können. Als Gebäude dienen häufig ehemalige Fabrikhallen. Ein sehr anschauliches Gerald Wood Beispiel liefert das Loch Lomond Factory Outlet in „In Manchester, wo wir gestern waren, sind seit dem Kriege A lexandria, nördlich von Glasgow. Untergebracht sind vierhundert neue große Fabriken für Baumwollspinnerei ent- die 24 Geschäfte in den historischen Fabrikationshallen standen, unter denen mehrere Gebäudeanlagen von der Größe des einst größten europäischen Automobilwerks, der des Königlichen Schlosses zu Berlin stehen, und ringsum ragen Argyll Motor Company. Typ 3 schließlich ist die „eng- Tausende von rauchenden Obelisken der Dampfmaschinen lischste“ Variante eines Factory Outlet Centers. Die empor, deren Höhe von achtzig bis hundertachtzig Fuß allen M arketingabteilungen der Center preisen ihn mit dem Eindruck der Kirchtürme zerstört“ (Karl Friedrich Schinkel Etikett Village Style an. Gemeint ist damit, dass die 1826). gesamte Anlage physiognomisch einem englischen Dorf nachempfunden ist. Cottages, ein Marktplatz und eine Als Karl Friedrich Schinkel, der große Impulsgeber des üppige Bepflanzung der Anlage vermitteln eine ländli- Klassizismus in Preußen, diese Zeilen an seine Frau che Atmosphäre. Obwohl Großbritannien zu den mitt- schrieb, befand er sich auf einer mehrmonatigen Reise lerweile am stärksten verstädterten Ländern der Welt durch Frankreich und Großbritannien, um im Auftrag zählt, besitzt das Landleben in der englischen Kultur der Gewerbeverwaltung Preußens die industrielle Ent- einen hohen Wert. Orte, die dieses Landleben verkör- wicklung dieser Länder zu studieren. Vor allem Groß- pern oder in denen es zumindest überzeugend insze- britannien interessierte Schinkel, denn das Land galt, niert wird, sind daher bei den Briten äußerst beliebt und gerade auch gegenüber Preußen, als technisch und öko- werden besonders gerne aufgesucht. Clarks Village in nomisch überlegen. In der Tat befand sich Großbritan- Street und Bicester Village unweit von Oxford sind die nien bereits im 18. Jahrhundert in einem tief greifenden gelungensten Beispiele für diesen Typ. Wandel, der weite Teile der Gesellschaft erfasst hatte. Auf der Basis technologischer Neuerungen und unter Mobi- lisierung großer Mengen an Kapital, Menschen und

Weiterführende Literatur

auch Land (durch die sog. Einhegungen, bei denen land- wirtschaftlicher Allgemeinbesitz umgewandelt und EHI (Hrsg.) (1999): Factory-Outlet-Center in Großbritannien einer speziellen, z. B. industriellen, Nutzung zugeführt und anderen europäischen Ländern. Köln. Fernie, S. (1996): The Future for Factory Outlet Centers in the wurde) vollzog sich die Umgestaltung Großbritanniens UK: The Impact of Changes in Planning Policy Guidance on von einer agrarischen zu einer Industriegesellschaft. the Growth of a New Retail Format. In: International Journal Dieser epochale Wandel wird häufig mit dem Begriff der of Retail & Distribution Management, 24, 6, S. 11–21. Industriellen Revolution belegt, die in Großbritannien Hallsworth, A. G. (1994): Decentralization of Retailing in Bri- weit in das 18. Jahrhundert zurückreicht (Abschnitt 3.7). tain: The Breaking of the Third Wave. In: Professional Geo- Von der Umgestaltung waren nicht nur die wirtschaft- grapher, 46, 3, S. 296–307. lichen und sozialen Verhältnisse tangiert, sondern auch Lowe, M. (2000): Britain’s Regional Shopping Centers: New die Verkehrssysteme (Kanalbau, Eisenbahn; Abschnitt Urban Forms. In: Urban Studies, 37, 2, S. 261–274. 3.5) und das Siedlungssystem. Am Beispiel einer Reihe Ruston, P. (1999): Out of Town Shopping. The Future of Retai- britischer Städte beschrieb Friedrich Engels im Jahr ling. London. Whyatt, G. (2007): Which Factory Outlet Centre? The UK Con- 1845 sehr anschaulich und eindrücklich, wie sich dieser sumer’s Selection Criteria. In: Journal of Retailing and Con- Prozess vollzog und welche Auswirkungen er auf die sumer Services, 15, S. 315–323. Arbeitsbedingungen und die allgemeinen Lebensver- Zehner, K. (2006): Einzelhandel in Großbritannien. Jüngere Ent- hältnisse der Menschen hatte. wicklungen unter dem Einfluss von Internationalisierung, Von diesen frühen Tagen der Industrialisierung ist Planungsrecht und Kultur. In: Geographische Rundschau, nicht viel übrig geblieben. Sowohl die Wirtschaft des 58, 1, S. 29–35. Landes – und damit die Arbeitsmärkte – als auch die sozialen Verhältnisse haben sich zum Teil erneut radikal, 8.5 Industrielles Erbe – neuer Motor für Stadtentwicklung in der Spätmoderne? 251 8 gewandelt. Das „Mutterland“ der Industriellen Revolu- sowie die herrschende Perspektivlosigkeit innerhalb der tion ist heute in hohem Maße von Dienstleistungen Bevölkerung, aber auch der Akteure aus Wirtschaft, geprägt. Auch an den Städten und den Verkehrssystemen Politik und öffentlichen Verwaltungen. In anderen Städ- ist der Wandel nicht spurlos vorbeigegangen. Viele Fak- ten war die Situation nicht viel anders; in Leeds (dem toren waren hierfür verantwortlich: der Umbau der Zentrum der Wollproduktion und des Wollhandels des wirtschaftlichen Grundlagen seit den frühen Tagen der Landes), Glasgow und Swansea (Wales) ließ sich der Industrialisierung, die Luftangriffe im Zweiten Welt- Niedergang der ehemaligen Leitindustrien ebenfalls krieg, die (Stadt-)Planung in der Nachkriegszeit sowie noch bis in die 1980er und 1990er Jahre unmittelbar in deutlich gestiegene Haushaltseinkommen und die Augenschein nehmen, und an manchen Orten findet erheblich ausgeweitete Freizeit als wohlfahrtsstaatliche man noch heute unübersehbare Spuren dieser Phase. Errungenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- Heute ist die Situation insofern grundlegend anders, derts, um nur einige zu nennen. als der Erhalt der baulichen Strukturen des Industrie- In ihrem Zusammenwirken haben diese und andere zeitalters weniger das Produkt von Zufällen als vielmehr Einflussfaktoren einen nachhaltigen Umbau der Städte das Ergebnis zielgerichteten Handelns ist. Auf verschie- Großbritanniens bewirkt. Vielfach wurden räumliche denen Ebenen der britischen Gesellschaft, gerade auch Strukturen an veränderte bzw. neue Nutzungen ange- in der Politik, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass passt, häufig verschwanden sie ganz, da man sie neuen das sog. industrielle Erbe (industrial heritage) mehr ist Nutzungen nicht zuführen konnte oder wollte. Über den als eine notwendige Funktionsvoraussetzung des In- Gebrauchswert im engeren Sinne spielt dabei auch die dustriezeitalters und dass man sich hierfür auch nicht symbolische Bedeutung eine große Rolle. Stillgelegte schämen muss – obwohl es ja noch immer als Zeichen Fabriken beispielsweise sind nicht nur funktionslos des Niedergangs gesehen werden kann. Heute erfreuen gewordene Orte des Industriezeitalters, sie galten lange sich viele Einzelgebäude, Ensembles und Verkehrsanla- Zeit auch als sichtbares Zeichen eines verpassten gen (z. B. die Kanäle oder bestimmte Bahnstrecken) des Anschlusses an neue Trends. Von daher ist nachvollzieh- Industriezeitalters großer Wertschätzung nicht zuletzt bar, warum der Umbau der Städte in zum Teil großer deswegen, weil sie neue Nutzungsmöglichkeiten eröff- Radikalität vollzogen wurde, warum in den 1970er nen, ein spezifisches Flair vermitteln und aufgrund ihrer und 1980er Jahren Wohnhäuser und Fabriken aus dem historischen Einmaligkeit ein Mittel zur Abgrenzung Industriezeitalter abgerissen wurden, obwohl es häufig gegenüber konkurrierenden Städten bzw. Regionen dar- keine Folgenutzung für die frei geräumte Fläche gab und stellen. Dem Besucher von Orten mit einer (längeren) jahre- und jahrzehntelange (innerstädtische) Brachflä- Industriegeschichte fällt auf, dass die baulichen Relikte chen die Folge waren. Noch heute kann man dieser Poli- des Industriezeitalters, die Verfall und Abriss überstan- tik des Kahlschlages nachspüren, vor allem in nordengli- den haben, heute wichtige Elemente der ökonomischen schen Industriestädten wie Middlesbrough, Sheffield und städtebaulichen Revitalisierung geworden sind. Aus oder Sunderland. verwahrlosten Docks wurden vornehme Quartiere mit Allerdings haben einige Einzelgebäude sowie Gebäu- feinen Uferpromenaden, aus abgewirtschafteten Lager- deensembles des Industriezeitalters die Luftangriffe des gebäuden exklusive Lofts und Museen, aus wirtschaft- Zweiten Weltkrieges, Deindustrialisierung und diverse lich funktionslos gewordenen Kanälen Reviere von Planungswellen der Nachkriegszeit relativ unbeschadet F reizeitkapitänen. Das neu in Wert gesetzte industrielle überstanden. Die Geschichten, die sich hinter dieser Per- Erbe verschafft „Distinktionsgewinne“, mit denen sistenz verbergen, sind jedoch sehr unterschiedlich und Unternehmen, aber auch Städte oder Regionen im Kon- sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden. Nicht selten kurrenzkampf punkten wollen. Gerade weil dies zu war es einfach die Dimension des industriellen Nieder- einem wichtigen Thema in der öffentlichen Debatte um gangs, verbunden mit fehlender Entwicklungsperspek- die Perspektiven städtischer und regionaler Entwicklung tive und mangelnden (öffentlichen) Umstrukturie- geworden ist, soll die Bedeutung des industriellen Erbes rungsmitteln, die Stillstand mit sich brachte. Noch zu für die Stadtentwicklung anhand eines herausragenden Beginn der 1980er Jahre beispielsweise bot die Innen- Beispiels, nämlich Manchester, in diesem Abschnitt stadt von Manchester ein trostloses Bild: Nach Jahren näher in Augenschein genommen werden. des Niedergangs der für die Stadt einst existenziell wich- Die Bedeutung des industriegeschichtlichen Erbes tigen Baumwollindustrie standen viele Gebäude, die in für die Stadtentwicklung lässt sich u. a. daran ablesen, zum Teil aufwendiger architektonischer und technischer dass in vielen Staaten mit einer frühen industriellen Ent- Gestaltung errichtetet worden waren, leer. Ihr Leerstand wicklung hieraus ein etabliertes gesellschaftliches Hand- und baulicher Zustand versinnbildlichten den industri- lungsfeld erwachsen ist, für das eine Reihe öffentlicher ellen Niedergang der Stadt und der gesamten Region Fördergelder bereitgestellt werden. Neben der planungs-, 8 252 8 Gesellschaft, Handel und Kultur politischen Konjunktur hat sich parallel eine Kultur der schaftlicher, demographischer und sozialer Wandel, der kritischen Diskussion über das Verständnis und die auch die räumlichen Strukturen nachhaltig veränderte. Inwertsetzung von industrial heritage etabliert. Kritiker Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich Wirtschaft und machen beispielsweise geltend, dass industrial heritage Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg wenig gewan- häufig auf bauliche Hinterlassenschaften bzw. auf Fra- delt. Die handwerklichen Produktionsweisen der seit gen der (architektonischen) Gestaltung reduziert werde. dem 14. Jahrhundert dokumentierten Tuchherstellung Hierdurch werde heritage auf den Rang einer sekundä- waren über Jahrhunderte beibehalten worden, die ren, dienenden Bedeutung zur Verfolgung anderer Ziele, Bevölkerungszahlen blieben weitgehend stabil, die Sied- z. B. als Impulsgeber für die Innenstadtrevitalisierung, lungsstrukturen ebenfalls. Zu Beginn des 17. Jahrhun- degradiert und weniger als Reflexionsinstanz für histori- derts lag die Bevölkerungszahl Manchesters bei 2 000, sche Prozesse wertgeschätzt. Hinzu kommt, dass der und noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Begriff industrial heritage von Unschärfen bzw. einer waren Manchester und das auf dem anderen Ufer des gewissen Bandbreite unterschiedlicher Bedeutungen Flusses Irwell gelegene Salford eindeutig als mittelalter- geprägt ist. Zumeist werden hiermit die bereits ange- liche Orte zu erkennen. All dies änderte sich ab den sprochenen materiellen Hinterlassenschaften des In- 1770er Jahren im Verlauf der nächsten 100 Jahre grund- dustriezeitalters thematisiert. In einem erweiterten legend. Ein tief greifender Umbau der ökonomischen Verständnis werden hingegen auch gesellschaftliche Grundlagen setzte in dieser Zeit ein und erfasste weite Praktiken im Alltag und in der Politik sowie deren Ein- Bereiche des Lebens in der Region. Angestoßen wurde flüsse auf die politische Kultur und die Soziokultur erör- die wirtschaftliche Umgestaltung durch technologische tert. Solche Aspekte wurden und werden etwa in den Entwicklungen, die eine radikale Umstellung des Her- Geschichtswissenschaften diskutiert, in der aktuellen stellungsprozesses von Textilien zur Folge hatten. Paral- Stadtentwicklungspolitik Großbritanniens spielen sie lel hierzu vollzog sich in der Region eine Umstellung von hingegen allenfalls eine Nebenrolle. Hinzu kommt, dass der Woll- zur Baumwollverarbeitung. Dies ist vor allem bestimmte Aspekte des industriegeschichtlichen Erbes insofern von Bedeutung, als sich die Mechanisierung der im Rahmen der Debatte über den wirtschaftlichen Textilherstellung und die Einführung des Fabriksystems Umbau von Altindustrieregionen einen marginalisier- beim Rohstoff Baumwolle wesentlich leichter realisieren ten Status besitzen, vor allem weil sie als hemmend für ließen, da die Baumwolle erst im Kolonialzeitalter nach die weitere Entwicklung angesehen werden. Hierzu wird Großbritannien eingeführt worden ist. z. B. ein unterdurchschnittliches Bildungsstreben ge - Rasch etablierte sich die mechanisierte, industrielle rechnet, das sich in einer zu geringen Anzahl höherer Produktionsweise in Spinnereien und Webereien (mills), Bildungsabschlüsse und beruflicher Qualifikationen die zunächst in der Nähe von Fließgewässern errichtet niederschlage. Auf der anderen Seite erfreuen sich wurden, da sie auf die Wasserkraft als Antriebsquelle „Erfinder- und Unternehmergeist“, die zu gesellschaft- angewiesen waren. Diese Entwicklung vollzog sich lichen Tugenden des Industriezeitalters deklariert wer- schwerpunktmäßig im ländlichen Raum des südlichen den, ausgesprochener Beliebtheit in der öffentlichen Lancashire und nördlichen Cheshire. Industrialisierung Debatte über strukturellen ökonomischen Wandel. und ein massives Bevölkerungswachstum führten zu einer schnellen Verstädterung dieser Gebiete. Die so ent- standenen Milltowns waren aufgrund ihrer ökonomi-

Manchester – „Cottonopolis“ schen Monostruktur sehr empfindlich gegenüber kon-

junkturellen oder strukturellen Veränderungen in der und first industrial city Baumwollindustrie. Von daher ist verständlich, warum der Zusammenbruch der britischen Baumwollindustrie „A Lancashire village has expanded into a mighty region of in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg außerordent- factories and warehouses. It is the philosopher alone who can lich schwierige ökonomische, soziale und städtebauliche conceive the grandeur of Manchester, and the immensity of its Probleme in diesen Orten nach sich zog, die bis heute future“ (Benjamin Disraeli 1844, Schriftsteller und konservati- nicht gelöst sind. ver Premierminister in den Jahren 1868 und 1874–1880). Manchester entwickelte sich zu diesem Zeitpunkt zur Drehscheibe einer sich ausweitenden und festigenden Die Geschichte der Stadt Manchester ist auf das Engste textilen Wertschöpfungskette in der Region. Hierzu trug mit der Textilindustrie verknüpft, die jüngere vor allem die Verbesserung der verkehrlichen Erschließung des mit der Baumwollindustrie. Ab dem späten 18. Jahrhun- Raumes zunächst durch Fluss- und Kanalbau und ab dert vollzog sich im Rahmen der Industriellen Revolu- den 1830er Jahren durch die Eisenbahnen erheblich bei. tion im Großraum Manchester ein tief greifender wirt- Durch die Schiffbarmachung des Flusses Irwell im Jahr, 8.5 Industrielles Erbe – neuer Motor für Stadtentwicklung in der Spätmoderne? 253 8 1736 beispielsweise erlangte Manchester Zugang zum Jahrhunderts), dessen Bedeutung auch nach dem Bau Mersey, wodurch sich der Transport der in Liverpool der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert lange erhalten blieb angelandeten Baumwolle aus den Vereinigten Staaten (vor allem Manchester-Ship-Kanal). erheblich verbilligte. Nach der Eröffnung des Bridgewa- Zwischen Manchester und den häufig als Satelliten- ter-Kanals im Jahr 1761, des ersten (komplett) künstlich städten bezeichneten Milltowns entwickelte sich eine angelegten Schifffahrtsweges in Großbritannien, konnte räumliche Arbeitsteilung. Zu diesen Satellitenstädten die in Worsley – in der Nähe von Manchester – abge- gehörten u. a. Bolton, Preston, Bury, Rochdale, Oldham, baute Kohle günstig bis unmittelbar in die Innenstadt Blackburn, Stockport und Altrincham (Abb. 8.15). von Manchester transportiert werden (Abb. 8.14). Die Manchester versorgte die Milltowns mit Baumwolle zur Verlängerung des Bridgewater-Kanals im Jahr 1776 bis Herstellung von Garnen und Textilien, und die Mill- nach Runcorn (Mersey) führte zu einer weiteren Ver- towns lieferten Garne und fertige Tuche, die dann von günstigung der Transportkosten im Transatlantikhan- Manchester in alle Welt verschickt wurden. Die Grün- del. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein entwickelte dung der ersten Warenbörse im Jahr 1729, die Etablie- sich ein verzweigtes Fluss- und Kanalnetz in der Region rung wichtiger Regionalbanken in Manchester – den (Rochdale-Kanal: Eröffnung ab Ende des 18. Jahrhun- Anfang machte die Bank of Manchester im Jahr 1829 – derts; Manchester-Ship-Kanal: Eröffnung Ende des 19. und die Errichtung einer Vielzahl von Warehouses für Abb. 8.14 Manchester, Innenstadt, aktuelle Situation., 8 254 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Abb. 8.15 Manchester und Umgebung 1937. Die Karte vermittelt einen Über- blick über das südliche Lancashire und nördliche Cheshire zu einem Zeitpunkt, als Manchester und die umliegenden Gemeinden noch nicht in dem heutigen Maß zusammengewachsen waren. den Handel mit Garnen, Tuchen und Maschinen zur 1840er Jahren in Mode kamen (Abb. 8.17), wie dem Textilherstellung unterstreichen die Bedeutung, die die Watts Warehouse in der Portland Street. Stadt im Zuge der Industrialisierung in der Region Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die erste erlangte. Die Warehouses waren in der gesamten Innen- Baumwollspinnerei in Manchester selbst errichtet. stadt Manchesters präsent, und ihre große Anzahl (ca. Ermöglicht wurde dies durch die Weiterentwicklung 1 000 um 1830) hatte u. a. zur Folge, dass ein immer grö- der Dampfmaschine durch James Watt, die zu einer ßerer Teil der Wohnbevölkerung verdrängt wurde. In erheblichen Flexibilisierung in der Standortwahl der den 1880er Jahren etwa kommentierte der Literaturkri- Textilunternehmen führte. Im Jahr 1821 gab es bereits tiker und Historiker George Saintsbury die Entwicklung 66 Textilfabriken in der Stadt – der Höhepunkt war folgendermaßen: „Hardly in London itself is there a 1853 mit 108 Fabriken erreicht –, und in den 1820er more utter absence of residential life than on Sunday Jahren verfügte Manchester gemeinsam mit Stockport exists for a mile or so around the Exchange at Manches- über die Hälfte aller dampfgetriebenen Webstühle in ter“ (Goodman, 1999, S. 42). Großbritannien. An der räumlichen Arbeitsteilung zwi- Die Architektur der Warehouses reichte von einfa- schen Manchester und seinen Satellitenstädten änderte chen, schmucklosen Gebäuden, wie dem von 1828 bis sich hierdurch aber nichts Grundlegendes, denn auf- 1831 errichteten Middle Warehouse in Castlefield (Abb. grund der billigeren Produktionsfaktoren Boden und 8.16), bis hin zu palastähnlichen Gebäuden, die ab den Arbeit in den umliegenden Milltowns blieben wichtige, 8.5 Industrielles Erbe – neuer Motor für Stadtentwicklung in der Spätmoderne? 255 8 Abb. 8.16 Middle Warehouse, Castle- field, erbaut 1828–1831, an der Süd- seite des Castlefield Basin des Bridge- water-Kanals gelegen. Boote konnten durch die großen Öffnungen in das Gebäude einfahren und dort be- und entladen werden. In den späten 1980er Jahren wurde das Gebäude restauriert und in Luxuswohnungen umgewandelt. Quelle: Wood 2004. Standortvorteile erhalten, und die Märkte für Baum- entwickelt. Aufgrund der überragenden Bedeutung der wollprodukte aus der Region Manchester befanden sich Baumwolle an dieser Entwicklung wurde der Begriff zudem weiterhin auf einem Expansionskurs. Baum- Cottonopolis für Manchester gebräuchlich. Diese Be- wollprodukte aus der Region dominierten die Welt- zeichnung ist allerdings insofern missverständlich, als märkte bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Noch sich auch andere Wirtschaftszweige in der Region etablier- im Jahr 1913 wurden 65 % der weltweit produzierten ten, z. B. der Maschinenbau. Zwar waren einige Maschi- Baumwolle hier verarbeitet und anschließend in weite nenbauunternehmen Teil der textilen Wertschöpfungs- Teile der Welt exportiert. kette (Spinnmaschinen, Webstühle etc.), doch gab es Das von Benjamin Disraeli im obigen Zitat als „Lan- auch andere Unternehmen, die nicht in die Verarbeitung cashire village“ bezeichnete Manchester hatte sich in der von Baumwolle eingebunden waren. Hier wurden An - ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest als Mittelpunkt triebseinheiten für Lokomotiven, Werkzeugmaschinen einer der ersten industriell geprägten Regionen der Welt oder Rüstungsgüter hergestellt. Abb. 8.17 Watts Warehouse, Portland Street (nahe Piccadilly Gardens), erbaut 1851–1856, beherbergte das größte Tuch-Großhandelsunternehmen Man- chesters. Jede Etagenfassade ist in einem anderen Architekturstil gestaltet. Heute ist in dem Gebäude das Britan- nia-Hotel untergebracht. Quelle: Wood 2004., 8 256 8 Gesellschaft, Handel und Kultur Abb. 8.18 Liverpool Road Station (LRS), Passagiergebäude. Der Bahnhof war eine der beiden Endhaltestellen der im Jahr 1830 errichteten Liverpool and Manchester Railway. Im Jahr 1844 wurde die Bahnstrecke zur heutigen Victoria Station verlängert. Der Bahnhof und die dazugehörenden Warehouses wurden bis 1975 für den Güterum- schlag genutzt. Danach standen Bahn- hof und Warehouses über Jahre leer, bis der TV-Sender Granada einen Teil der Liegenschaften übernahm und der Rest in den 1980er Jahren dem Museum of Science and Industry zugeschlagen wurde. Die historische Eisenbahnverbin- dung nach Liverpool spielte, ähnlich wie das Kanalsystem, eine zentrale Rolle im Industrialisierungsprozess der Stadt. Quelle: Wood 2004. Der rapiden und umfassenden Industrialisierung Innenstadt. Gleisanlagen, Bahnhöfe, Depots und andere entsprach ein dynamisches und starkes Bevölkerungs- Einrichtungen der Eisenbahnen prägten das Stadtbild und Siedlungswachstum. Bis zur Mitte des 19. Jahrhun- Manchesters und das Leben der Einwohner der Stadt im derts war die Bevölkerung bereits auf über 303 000 Ein- Industriezeitalter ganz maßgeblich, und auch die erheb- wohner angewachsen. Dieses Wachstum lässt sich zum lichen Umstrukturierungen, die vor allem im 20. Jahr- einen auf hohe Geburtenüberschüsse, zum anderen auf hundert vollzogen wurden, haben diese Strukturen Zuwanderung zurückführen, die sich im Wesentlichen nicht vollständig verschwinden lassen. aus umliegenden ländlichen Regionen, aber auch aus Die große Siedlungsausdehnung in der gesamten Irland speiste. Bis 1770 war Manchester eine kompakte Region war auch dem Umstand geschuldet, dass die Siedlung, deren Größe weniger als 800 m im Durchmes- Wohnbebauung in der für das 19. Jahrhundert typi- ser betrug. Um 1820 hatte sich der Durchmesser bereits schen Form von frühviktorianischen Back-to-Back- auf 1,5 km erweitert. 1850 verband ein über 11 km lan- (Abb. 8.19) und spätviktorianischen Bye-Law-Häusern ges Siedlungsband Manchester mit Oldham. Die sich (in Manchester bereits ab 1844) erfolgte (Abschnitt 3.7). vollziehende Verstädterung des Raumes wurde maßgeb- Diese ringförmig um den Kern der Stadt herum ange- lich durch den Bau der Eisenbahnen vorangetrieben. legten ausgedehnten Quartiere der Arbeiterhaushalte Die erste Eisenbahnlinie war die zwischen Liverpool brachten die für englische und walisische Industrie- und Manchester eingerichtete Verbindung, die im Jahr städte typische monotone Stadtgestalt hervor. 1830 ihren Betrieb aufnahm. Endbahnhof in Manches- Da sich die städtische Entwicklung im 19. Jahrhun- ter war die Liverpool Road Station (Abb. 8.18) am west- dert weitgehend unter Marktbedingungen vollzog und lichen Rand der heutigen Innenstadt. Dieses Gebäude es keinen zwischen Kapital und Arbeit ausgleichenden existiert immer noch, wurde aber bereits im 19. Jahr- Staat gab, herrschten in Manchester und den anderen hundert nicht mehr als Bahnhof für den Personenver- Industriestädten der Region für einen Großteil der kehr genutzt. Heute ist es Teil des Museum of Science Bevölkerung prekäre bis menschenunwürdige Arbeits-, and Industry der Stadt Manchester. Insgesamt neun Wohn- und Lebensbedingungen. Diese wurden häufig konkurrierende Eisenbahnunternehmen errichteten aus Schärfste angeprangert, beispielsweise von Friedrich ihre Linien im Stadtgebiet, wobei die (End-)Bahnhöfe Engels, der ab 1842 mehrfach über längere Zeit in Man- zunächst unverbunden an verschiedenen Stellen in der chester lebte und arbeitete. Innenstadt lagen. Erst die im Jahr 1849 eröffnete Man- chester South Junction and Altrincham Railway verband die südlichen Bahnhöfe miteinander, allerdings um den „Das sind die verschiedenen Arbeiterbezirke von Manches- ter, wie ich sie selbst während zwanzig Monaten zu beob- Preis einer durch ein Eisenbahnviadukt zerschnittenen, 8.5 Industrielles Erbe – neuer Motor für Stadtentwicklung in der Spätmoderne? 257 8 Abb. 8.19 Modernisierte Back-to-Back- Häuser in Ancoats, unmittelbar an den nordöstlichen Rand der Innenstadt angrenzend. Quelle: Wood 2008. hierfür sind die Getreideschutzzölle (corn laws), die ab achten Gelegenheit hatte. Fassen wir das Resultat unsrer 1815 eingeführt worden waren und die man mitverant- Wanderung durch diese Gegenden zusammen, so müssen wortlich für den Hungertod von über 250 000 Menschen wir sagen, daß dreihundertfünfzigtausend Arbeiter von in England im Winter des Jahres 1847 machte. Viele Manchester und seinen Vorstädten fast alle in schlechten, feuchten und schmutzigen Cottages wohnen, daß die Stra- Unternehmer Manchesters bekannten sich zu der als ßen, die sie einnehmen, meist in dem schlechtesten und Manchesterliberalismus bekannt gewordenen politischen unreinsten Zustande sich befinden und ohne alle Rücksicht Strömung, in der der Freihandel eine zentrale Rolle auf Ventilation, bloß mit Rücksicht auf den dem Erbauer spielte. Aber auch Antimilitarismus, Antikolonialismus zufließenden Gewinn angelegt worden sind – mit einem und die Befürwortung tief greifender Wahlrechtsrefor- Wort, daß in den Arbeiterwohnungen von Manchester keine men waren Teil des politischen Programms. Gleichzeitig Reinlichkeit, keine Bequemlichkeit, also auch keine Häus- spielte Manchester für die sich herausbildende Arbeiter- lichkeit möglich ist; daß in diesen Wohnungen nur eine ent- bewegung in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle: menschte, degradierte, intellektuell und moralisch zur Engels lebte und arbeitete lange Zeit hier (auch trafen Bestialität herabgewürdigte, körperlich kränkliche Rasse sich Engels und Marx mehrmals in Manchester), das sich behaglich und heimisch fühlen kann“ (Engels 1845, S. 294 f.). erste Treffen des Trades Union Congress fand 1868 im Mechanics’ Institute statt, und sowohl die Labour Party als auch die Frauenwahlrechtsbewegung (Gründung des Das Industriezeitalter hatte nicht nur technische, wirt- Manchester Suffrage Committee im Jahr 1867) sind his- schaftliche, demographische und städtebauliche Um - torisch eng mit der Stadt verbunden. brüche mit sich gebracht, es repräsentierte auch tief greifende gesellschaftliche Veränderungen. Auf der einen Seite etablierte sich eine selbstbewusste bürgerli- Manchesters Weg in die che Schicht von Industriellen, die das überkommene Spätmoderne – von Cottonopolis feudal-merkantilistische Gesellschaftssystem infrage zu Madchester, Gaychester stellte, auf der anderen Seite formierten sich in der und Glamchester Arbeiterschicht nicht zuletzt aufgrund der bedrücken- den Arbeits- und Lebensbedingungen radikale gesell- schaftliche Bewegungen. Beide Lager spielten eine Die Entwicklungen im Industriezeitalter in der Region zunehmende gesellschaftliche Rolle und vertraten in um Manchester und mehr noch in Manchester selbst manchen Fragen durchaus ähnliche Ansichten, wenn- sind ein frühes Beispiel für die sich zunehmend global gleich auch aus unterschiedlichen Gründen. Ein Beispiel orientierende Wirtschaft des Landes und für einen epo-, 8 258 8 Gesellschaft, Handel und Kultur chalen Wandel, durch den eine agrarische, feudale Sheffield und repräsentiert den zweithöchsten Wert des Gesellschaft zu einer Industriegesellschaft transformiert Landes (nach London). Auch die Arbeitslosigkeit ist wurde. deutlich zurückgegangen: von 18,9 % im Jahr 1995 auf Lange Zeit blieb die Region eine der führenden 9,5 % im Jahr 2001. Industriegebiete Großbritanniens und Europas. Anzei- Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen Manchesters chen von erneuter Veränderung waren bereits im späten zählen Finanzdienstleistungen (ca. 68 000 Beschäftigte 19. Jahrhundert erkennbar; allerdings werten Historiker im Jahr 2007), Handel (ca. 38 000 Beschäftigte) und die ökonomischen Probleme und die damit verbunde- Gesundheitswesen (ca. 37 000 Beschäftigte), wobei sich nen sozialen Konflikte dieser Zeit eher als Ausdruck gerade die Finanzdienstleistungen mit einem Wachstum einer konjunkturellen Flaute. Ein struktureller Um - von 22 000 Beschäftigten zwischen 1998 und 2007 als bruch setzte in der Zeit des Ersten Weltkrieges ein. besonders dynamisch erwiesen haben. In ihrem State of Durch die nachfolgende Auflösung des Empire verlor the City Report 2009 verweist die Stadtverwaltung auf Großbritannien wichtige Absatzmärkte in Übersee, die Bedeutung wissensbasierter Wirtschaftszweige für zudem erwuchsen dem Land durch Industrialisierungs- die weitere Entwicklung der Stadt, wie den Biowissen- prozesse in anderen Ländern zahlreiche Konkurrenten. schaften, den Kreativbranchen (einschließlich Medien Manchester war hiervon in besonderer Weise betroffen. und Kultur), aber auch auf die weiterhin wichtige In- Der wirtschaftliche Strukturwandel in der Baumwollin- dustrie und Luftfahrt. In Manchester haben sich zahlrei- dustrie manifestierte sich in einer spürbaren Abnahme che unternehmensorientierte Dienstleistungen etabliert, der Beschäftigtenzahlen, in Betriebsschließungen und darunter auch solche, die man den Kreativbranchen -verkleinerungen, in einer deutlich steigenden Arbeits- zurechnet. Ferner spielt der (Städte-)Tourismus eine losigkeit sowie in einem relativen wie absoluten Bedeu- immer wichtigere Rolle. So stiegen die Übernachtungs- tungsverlust der Baumwollindustrie. Zwischen 1961 zahlen im Jahr 2001/02 von 4,68 Mio. auf 6,55 Mio. im und 1983 verlor allein die Stadt Manchester 150 000 Jahr 2007/08, und die Wirtschaftsleistung wuchs von industrielle Arbeitsplätze. Dieser Prozess setzte sich bis 569 Mio. Pfund auf 952 Mio. Pfund im selben Zeitraum in die jüngere Vergangenheit fort. So schrumpfte die (Beschäftigte im Hotel- und Gaststättengewerbe im Jahr Beschäftigtenzahl in der Industrie in der gesamten sta- 2007: ca. 23 000). Manchester ist zu einem beliebten Rei- tistischen Region North West von 622 000 im Jahr 1998 seziel aufgestiegen, das wegen seiner lebendigen Musik- auf eine – konsolidierte – Größe von 452 000 im Jahr szene genauso besucht wird wie wegen seiner mindes- 2008 (–27,3 %). Der Anteil der Industriebeschäftigten tens ebenso lebendigen Schwulenszene. „Kreative“, vor an den Gesamtbeschäftigten ist im gleichen Zeitraum allem die aktive kulturelle Szene (zu der auch eine von 20,4 % auf 14,3 % gesunken (Vergleichszahlen für bedeutende „E“-Unterhaltungsszene zu rechnen ist), Großbritannien: 18,2 % und 12,4 %; alle Zahlen sind haben nicht nur maßgeblich zur ökonomischen Umge- Tabelle 5.1 und 5.2 entnommen). Damit besitzt die staltung der einstigen Industriestadt beigetragen, son- Industrie Nordwestenglands gegenüber Großbritannien dern darüber hinaus auch zu einer Metamorphose in noch immer eine tendenziell höhere Bedeutung, doch der Binnen- und Außenwahrnehmung. Schlagworte wie weisen diese wenigen Zahlen auch auf den Übergang „Madchester“ (ein Verweis auf den Manchester Rave der von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft späten 1980er und frühen 1990er Jahre und die vielen hin. Von großer Bedeutung sind dabei die durch die independent labels, die sich in der Stadt etabliert hatten), verschiedenen staatlichen Ebenen geschaffenen Beschäf- „Gaychester“ (als Reverenz an das schwule „Mekka des tigungsmöglichkeiten. Im gesamten Bildungs- und Nordens“) oder „Glamchester“ (als Hinweis auf die Gesundheitswesen und der öffentlichen Verwaltung neuen, konsumorientierten Lebensstile, die sich im (public administration) stiegen die Beschäftigtenzahlen Stadtzentrum etabliert hatten; vgl. Vogue, November von 756 000 (24,8 % Beschäftigtenanteil) im Jahr 1998 1997) machten die Runde. Nicht zuletzt durch geschickte auf 918 000 (29 % Beschäftigtenanteil) im Jahr 2008 Branding-Kampagnen sind diese Namen einer breiten (+21,4 %) in der Region Nordwest. Die Beschäftigtenan- Öffentlichkeit nähergebracht worden. Sie sind der Aus- teile lagen fast exakt im Bereich der britischen Durch- druck stark gewandelter Vorstellungsbilder über die schnittswerte (1998: 24,1 %; 2008: 28,2 %). Stadt, was nicht zuletzt durch die dynamische Entwick- Vom industriellen Niedergang hat sich Manchester lung des Städtetourismus unterstrichen wird. Aus der nach langen Jahren der Perspektivlosigkeit und großer Sicht der Stadtentwicklungspolitik wurde es zunehmend ökonomischer Probleme mittlerweile deutlich erholt. So wichtig, auf den Wandel Manchesters zu einer soziokul- betrug die Bruttowertschöpfung der Stadt im Jahr 2006 turell vielgestaltigen, lebendigen Stadt der Spätmoderne 29,25 Mrd. Pfund. Diese Zahl entspricht der addierten hinzuweisen, denn man erhoffte sich hierdurch nicht Bruttowertschöpfung der Städte Leeds, Liverpool und nur die Erschließung neuer wirtschaftlicher Potenziale, 8.5 Industrielles Erbe – neuer Motor für Stadtentwicklung in der Spätmoderne? 259 8 im Tourismus, sondern eine generelle ökonomische gesamte Innenstadt ausbreitete, u. a. auch in den leer ste- Belebung der Stadt. henden ehemaligen Warehouses (z. B. das im Jahr 1982 Zu Beginn dieser Metarmorphose in den Vorstel- eröffnete und 1997 geschlossene legendäre Haçienda an lungsbildern über Manchester stand jedoch eine massive der Ecke Whitworth St. West/Albion St.). In diese Zeit Deindustrialisierung des gesamten Großraumes, der fiel eine deutliche Zunahme der Studentenzahl an den für viele Menschen schmerzhafte Verlust von Arbeit, Universitäten Manchesters. Manche Beobachter erken- Erwerbseinkommen und vertrauten Alltagsroutinen nen einen engen, wechselseitigen Zusammenhang zwi- sowie eine lange Phase des städtebaulichen Niedergangs, schen diesem Trend und den kulturellen Aktivitäten in vor allem in der Innenstadt von Manchester. Vieles von der Stadt: Einerseits führten die sich herausbildenden dem, was die Industriemoderne mit sich gebracht hatte, und festigenden kulturellen Milieus zu einem enormen war innerhalb weniger Jahrzehnte infrage gestellt oder Attraktivitätszuwachs für diese Klientel, andererseits verschwunden. Die Situation wurde noch dadurch ver- trugen Studierende maßgeblich zu einer weiteren Bele- schärft, dass nicht nur die Textilindustrie Großbritan- bung der diversen Szenen bei. Neben den bereits ange- niens vom Niedergang betroffen war, sondern auch sprochenen (sub-)kulturellen Gruppierungen haben andere Industrien, allen voran die Montanindustrien auch Schwule und Lesben die Wiederbelebung der und später auch der Maschinen- und Automobilbau Innenstadt Manchesters maßgeblich mitgetragen und sowie weitere Konsumgüterindustrien. Dieser zweite mit wachsender Akzeptanz durch die Politik für eine große wirtschaftliche Strukturbruch in der Region zunehmende Sichtbarkeit dieses Teiles der städtischen konnte teilweise durch den Staat oder durch die Ansied- Soziokultur gesorgt. Auch die Schwulen- und Lesben- lung neuer Wirtschaftszweige kompensiert werden szene etablierte sich u. a. in Gebäuden, die das Industrie- (siehe das Beispiel Südwales in Abschnitt 5.2). Allerdings zeitalter hinterlassen hatte, und zwar in unmittelbarer dauerte es in Manchester noch eine geraume Zeit, bis Nachbarschaft zum Rochdale-Kanal in der Canal Street sich die ökonomische Lage besserte. (Abb. 8.20). Diese Standortwahl ist sicherlich nicht ganz Die fehlenden Entwicklungsoptionen konnten bis zufällig erfolgt, denn in dieser Gegend, die als „Rotlicht- weit in die 1980er unmittelbar vor Ort studiert werden, gerade auch in der Innenstadt von Manchester, wo zahl- lose Warehouses und Fabriken, aber auch Bahnanlagen sowie die Anlagen von Bridgewater- und Rochdale- Kanal leer standen bzw. funktionslos geworden waren und eine weitgehend unbestim