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RÄCHER VON DEN STERNEN Er ist einer von vielen Wächtern, die seit Jahrhun- derten nach Invasoren aus den Tiefen des Welt- raums Ausschau halten. Dann, eines Tages, kommt seine große Stunde, und sein Daseinszweck ist er- füllt – er entdeckt die Angreifer und schlägt Alarm. Aber er kann nicht verhindern, daß die Fremden die Erde besetzen. Während die Eroberer aus dem All ihre Herrschaft auf der Erde errichten, beginnt der Wächter, der keine Aufgabe mehr hat, die Welt zu durchwandern. Er beschäftigt sich mit den Rätseln der Vergangen- heit und erkennt die Schuld, die die Menschheit auf sich gelad...
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RÄCHER VON DEN STERNEN Er ist einer von vielen Wächtern, die seit Jahrhun- derten nach Invasoren aus den Tiefen des Welt- raums Ausschau halten. Dann, eines Tages, kommt seine große Stunde, und sein Daseinszweck ist er- füllt – er entdeckt die Angreifer und schlägt Alarm. Aber er kann nicht verhindern, daß die Fremden die Erde besetzen. Während die Eroberer aus dem All ihre Herrschaft auf der Erde errichten, beginnt der Wächter, der keine Aufgabe mehr hat, die Welt zu durchwandern. Er beschäftigt sich mit den Rätseln der Vergangen- heit und erkennt die Schuld, die die Menschheit auf sich geladen und die die Rächer von den Sternen auf den Plan gerufen hat. Er pilgert nach Jorslem, der heiligen Stadt, um zu sühnen und neue Jugend zu finden. Doch der Wächter findet mehr als das – er entdeckt den Weg zu einer neuen Zukunft für die Menschheit …, ROBERT SILVERBERG

Schwingen

der Nacht Science-fiction-Roman h WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

, HEYNE-BUCH Nr. 06/3929 im Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Titel der amerikanischen Originalausgabe

NIGHTWINGS

Deutsche Übersetzung von Birgit Reß-Bohusch Das Titelbild schuf Michael Whelan Sonderausgabe des HEYNE-BUCHS Nr. 06/3274 Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1968, 1969 by Galaxy Publishing Corp. Copyright © 1971 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1983 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Druck: Presse-Druck Augsburg Bindung: Grimm + Bleicher, München ISBN 3-453-30901-4, ERSTER TEIL Roum ist auf sieben Hügeln erbaut. Es heißt, daß die Stadt in einem der früheren Zyklen große Bedeu- tung für die Menschheit hatte. Ich wußte nichts Nä- heres darüber, denn ich gehöre der Wächter-Gilde an, nicht den Historikern. Und doch, als ich, aus dem Süden kommend, Roum zum erstenmal in der Abenddämmerung erblickte, konnte ich erkennen, daß es in alten Tagen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Selbst jetzt war es eine mächtige Stadt mit vielen tausend Seelen. Ihre Türme hoben sich skeletthaft gegen das Zwie- licht ab. Lichter schimmerten einladend. Zu meiner Linken brannte der Himmel in voller Pracht, als die Sonne ihre Herrschaft abgab; zartblaue, violette und purpurne Bänder verschlangen und krümmten sich im allnächtlichen Tanz, der die Dunkelheit einlei- tet. Zu meiner Rechten bedeckte bereits Schwärze das Land. Ich versuchte die sieben Hügel zu finden, doch es gelang mir nicht. Dennoch wußte ich, daß dies Roum sein mußte, die majestätische Stadt, zu der alle Wege führten. Und ich empfand Ehrfurcht und tiefe Bewunderung für die Werke unserer Vor- fahren. Wir rasteten an der langen geraden Straße und betrachteten Roum. Ich sagte: »Es ist eine schöne, Stadt. Wir werden Beschäftigung finden.« Avluela neben mir öffnete die zarten Flügel. »Und etwas zu essen?« fragte sie mit ihrer hellen, flöten- klaren Stimme. »Und Unterkunft? Und Wein?« »Auch das«, versicherte ich ihr. »All das.« »Wie lange waren wir unterwegs, Wächter?« woll- te sie wissen. »Zwei Tage. Drei Nächte.« »Wenn ich geflogen wäre, hätte ich mein Ziel schneller erreicht.« »Gewiß«, sagte ich. »Du hättest uns weit zurückge- lassen, und wir wären einander nie mehr begegnet. Ist das dein Wunsch?« Sie rieb über den rauhen Stoff meines Ärmels, und dann schmiegte sie sich an mich wie eine schnur- rende Katze. Ihre Flügel entfalteten sich spinnweb- fein, und ich konnte dahinter immer noch den Son- nenuntergang und die Lichter sehen, verwischt, verschwommen, zauberhaft. Ich spürte den Duft ih- res Mitternachtshaares. Ich legte meine Arme um den schlanken, knabenhaften Körper. »Du weißt, daß es mein Wunsch ist, immer bei dir zu bleiben, Wächter. Immer!« »Ja, Avluela.« »Werden wir in Roum glücklich sein?« »Wir werden glücklich sein«, erwiderte ich und ließ sie los. »Sollen wir jetzt nach Roum gehen?« »Es ist wohl besser, wenn wir auf Gormon war-, ten«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Er wird bald von seinen Nachforschungen zurückkehren.« Ich wollte ihr nichts von meiner Müdigkeit verraten. Sie war noch ein Kind, siebzehn Sommer jung. Was wußte sie von der Müdigkeit des Alters? Und ich war alt. Nicht so alt wie Roum, aber sehr, sehr alt. »Darf ich fliegen, solange wir warten?« fragte sie. »Ja, fliege.« Ich kauerte neben unserem Karren und wärm- te mir die Hände am pulsierenden Generator, wäh- rend Avluela sich zum Fliegen anschickte. Zuerst zog sie ihre Kleider aus, denn ihre Flügel besaßen wenig Kraft, und sie mußte überflüssiges Gewicht vermeiden. Geschmeidig und mit geübten Bewe- gungen streifte sie die durchscheinenden Pantoffel von den winzigen Füßen, legte ihre rote Jacke ab und ließ die Beinkleider aus weichem Fell zu Boden gleiten. Das schwindende Licht im Westen umspiel- te ihre schlanke Gestalt. Wie alle Schmetterlingsge- schöpfe war sie unendlich zart gebaut; ihre Brüste waren winzige Erhebungen, und ihre Taille konn- te man mit den Händen umspannen. Ich bezweifel- te, ob sie mehr als einen halben Zentner wog. Als ich sie ansah, kam ich mir wie immer plump und erdverhaftet vor, widerlich klobig; und doch bin ich nicht übermäßig schwer. Am Wegrand kniete sie nieder, die Hände am Bo- den abgestützt, den Kopf gesenkt, und hielt die ritu- elle Andacht ihrer Gilde. Sie hatte mir den Rücken, zugewandt. Ihre feinen Flügel begannen zu zittern, erfüllt von Leben, und bauschten sich um sie wie ein Mantel, den der Wind erfaßt hatte. Ich konnte nicht begreifen, daß diese Flügel etwas zu tragen vermochten, und sei es nur ein ätherisches Wesen wie Avluela. Es waren keine Vogelschwingen, son- dern Schmetterlingsflügel, geädert und transparent, hier und da mit schwarzen, türkisblauen und roten Flecken gezeichnet. Kräftige Sehnen verbanden sie mit zwei flachen Muskeln unterhalb der vorsprin- genden Schulterblätter; aber ihr fehlte das massive Brustbein der fliegenden Geschöpfe und die stützen- den Muskelstränge. Oh, ich weiß, daß die Schmet- terlingsgeschöpfe mehr als Muskelkraft einsetzen, um sich in die Lüfte zu erheben; daß sie sich my- stischer Übungen bedienen. Doch selbst ich, der ich zur Gilde der Wächter gehöre, empfinde eine gewis- se Skepsis den Mysterien-Gilden gegenüber. Avluela beendete ihre Andacht. Sie erhob sich; der Wind fing sich in ihren Flügeln; sie wurde ein Stück in die Höhe getragen. Dort, zwischen Erde und Himmel schwebte sie, und ihre Flügel flatter- ten krampfhaft. Noch herrschte Dämmerung, und Avluelas Flügel waren reine Schwingen der Nacht. Ich sah, wie sie vom Abendlicht nach Osten abge- trieben wurde. Ihre Arme und Flügel schlugen hef- tig; das kleine spitze Gesicht wirkte verbissen; ihre schmalen Lippen formten die Worte ihrer Gilde. Sie knickte den Körper in der Hüfte ab und schwang die, Beine nach hinten; und ganz plötzlich schwebte sie horizontal. Sie sah nach unten, und ihre Flügel fä- cherten die Luft. Höher, Avluela, höher! Und sie stieg höher, als habe sie allein durch ihren Willen das letzte Licht im Westen besiegt. Mit Vergnügen beobachtete ich, wie sich ihr nack- ter Körper von der Dunkelheit abhob. Ich konnte sie deutlich sehen, denn die Augen eines Wächters sind scharf. Sie hatte nun eine Höhe von nahezu zehn Metern erreicht, und ihre Flügel waren völlig entfaltet, so daß sie teilweise die Türme von Roum verdeckten. Sie winkte. Ich warf ihr eine Kußhand zu und rief Worte der Liebe. Wächter heiraten nicht und zeugen auch keine Kinder, aber dennoch war Avluela wie eine Tochter für mich, und ich verfolg- te mit Stolz ihren Flug. Seit einem Jahr, als wir uns in Agupt begegnet wa- ren, wanderten wir die gleichen Wege, und es war, als hätte ich sie ein Leben lang gekannt. Sie vermit- telte mir neue Kräfte. Ich weiß nicht, was ich ihr gab: Sicherheit, Wissen, eine Verbindung zu den Ta- gen vor ihrer Geburt. Ich hoffte nur, daß sie mich ebenso liebte wie ich sie. Nun schwebte sie weit oben. Sie kreiste, schwang sich höher, tauchte nach unten, drehte Pirouet- ten und tanzte. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind. Ihr Körper schien ein zufälliger Anhang der beiden ausgespannten Flügel zu sein, die durch die Nacht schimmerten und glänzten und pulsier-, ten. Höher stieg sie; sie genoß ihre Schwerelosig- keit und gab mir mehr denn je das Gefühl, daß ich plump und schwerfällig war. Wie ein schlanker Pfeil schoß sie plötzlich voran, in Richtung Roum. Ich sah ihre Fußsohlen, ihre Flügelspitzen. Dann war sie verschwunden. Seufzend schob ich die Hände in meine Achsel- höhlen, um sie warmzuhalten. Wie kam es, daß ich den Frost des Winters spürte, während das Mädchen Avluela unbekleidet am Himmel tanzte? Es war nun die zwölfte der zwanzig Stunden, und ich mußte an meine Wache denken. Ich ging zum Karren, öffnete meine Koffer und bereitete die In- strumente vor. Einige der Skalendeckel waren ver- gilbt und verblaßt; die Zeiger hatten ihre Leucht- schicht verloren; Rostflecken verunstalteten die Gehäuse, Zeugen jener Zeit, als Piraten mich im Erdmeer überfallen hatten. Die abgewetzten und ge- sprungenen Hebel und Tasten reagierten sofort auf meine Berührung, als ich mit der Vorarbeit begann. Zuerst betet man um einen reinen, aufnahmefähi- gen Geist; dann stellt man die Seelenverwandtschaft zu den Instrumenten her; dann kommt die eigentli- che Wache, das Absuchen des sternerfüllten Firma- ments nach Feinden der Menschheit. Das war mein Beruf und meine Fertigkeit. Ich berührte Knöpfe und Griffe, schob fremde Gedanken zur Seite und berei- tete mich darauf vor, eins mit meinen Geräten zu werden., Ich hatte eben die Schwelle überschritten und die erste Phase des Wachens erreicht, als eine dunk- le, wohlklingende Stimme hinter mir sagte: »Nun, Wächter, wie geht es?« Ich klammerte mich am Karren fest. Man leidet physische Schmerzen, wenn man so unerwartet aus seiner Arbeit gerissen wird. Einen Moment spürte ich, wie Klauen mein Herz umfaßten. Hitze stieg mir ins Gesicht; meine Blicke waren verschwommen, und die Zunge fühlte sich trocken an. Sobald ich dazu fähig war, unternahm ich die geeigneten Maß- nahmen zur Linderung der Schmerzen und trennte mich von meinen Instrumenten. Ich versuchte mein Zittern so gut wie möglich zu verbergen und wand- te mich um. Gormon, der dritte unserer kleinen Gruppe, war aufgetaucht und stand unbeschwert neben mir. Er lachte, belustigt über meine Qual, aber ich konnte keinen Zorn für ihn empfinden. Ganz gleich, wie groß die Herausforderung ist, man bleibt langmütig mit den Gildelosen. Mühsam sagte ich: »Hast du deine Zeit lohnend verbracht?« »Ja. Wo ist Avluela?« Ich deutete zum Himmel. Gormon nickte. »Was hast du gefunden?« fragte ich. »Daß diese Stadt tatsächlich Roum ist.« »Daran bestand nie ein Zweifel.« »Für mich schon. Aber nun habe ich den Beweis.«, »Ja?« »In der Übertasche. Da!« Er stellte die Tasche auf das Pflaster und weitete den oberen Rand so aus, daß er beide Hände hinein- schieben konnte. Mit einem kleinen Stöhnen zerr- te er einen schweren Gegenstand hervor, etwas aus weißem Stein – eine Marmorsäule, wie ich nun sah, gerillt und vom Alter zerfressen. »Aus einem Tempel des Roum-Imperiums!« sagte Gormon freudestrahlend. »Du hättest sie nicht mitnehmen sollen.« »Warte!« rief er und griff noch einmal in die Ta- sche. Er holte eine Handvoll runder Metallplättchen hervor und ließ sie vor meinen Füßen klirrend zu Boden fallen. »Münzen! Geld! Sieh sie dir an, Wäch- ter! Die Gesichter der Cäsaren!« »Der was?« »Der ehemaligen Herrscher. Kennst du die Ge- schichte der früheren Zyklen nicht?« Ich betrachtete ihn neugierig. »Du behauptetest, keiner Gilde anzugehören, Gormon. Könnte es sein, daß du Historiker bist und es vor mir zu verbergen suchst?« »Sieh dir mein Gesicht an, Wächter! Kann ich ei- ner Gilde angehören? Würden sie eine Mißgeburt aufnehmen?« »Du hast recht«, erwiderte ich und betrachtete sei- ne goldene Haut, die dick und wachsartig war, dazu die Augen mit den roten Pupillen und den schar-, tigen Mund. Gormon hatte früher teratogenetische Drogen erhalten; er war ein Monstrum, anziehend auf seine Weise, aber dennoch ein Monstrum, eine Mißgeburt, die außerhalb der Gesetze und Sitten un- serer Zivilisation stand. Und eine Gilde der Mißge- burten gibt es nicht. »Da ist noch etwas«, sagte Gormon. Seine Überta- sche war ungeheuer geräumig; der Inhalt einer Welt konnte in das faltige graue Maul geschoben werden, und immer noch war sie nicht länger als eine Män- nerhand. Gormon holte Maschinenteile hervor, Le- sespulen, ein eckiges Ding aus braunem Metall, das vielleicht ein altertümliches Werkzeug darstellte, drei Quadrate aus blitzendem Glas, fünf Papierstrei- fen – Papier! – und eine Reihe anderer Zeugnisse der Vergangenheit. »Sieht du?« sagte er. »Eine ergiebige Wanderung, Wächter! Und keine Zufallsbeute! Al- les aufgezeichnet, alles etikettiert, Gesteinsschicht, geschätztes Alter, Fundort. Hier haben wir Jahrtau- sende von Roum.« »War es richtig, diese Dinge mitzunehmen?« frag- te ich zweifelnd. »Weshalb nicht? Wem werden sie fehlen? Wer aus diesem Zyklus kümmert sich um die Vergangen- heit?« »Die Historiker.« »Sie brauchen keine Funde für ihre Arbeit.« »Weshalb sammelst du diese Dinge?« »Die Vergangenheit interessiert mich, Wächter., Obwohl ich keiner Gilde angehöre, habe ich Ehr- geiz. Ist das falsch? Darf man als Ungeheuer kein Wissen erlangen?« »Gewiß, gewiß. Deinem Wissensdurst sind keine Grenzen gesetzt, wenn du darin Erfüllung findest. Nun sind wir also in Roum. Im Morgengrauen wer- den wir die Stadt betreten. Ich hoffe, daß ich dort Beschäftigung finde.« »Es wäre möglich, daß du auf Schwierigkeiten stößt.« »Weshalb?« »Es sind bereits viele Wächter in Roum. Man wird deine Dienste kaum benötigen.« »Ich will versuchen, die Gunst des Fürsten von Roum zu erlangen.« »Der Fürst von Roum ist ein kalter, grausamer Mann.« »Du kennst ihn?« Gormon zuckte mit den Schultern. »Ich habe von ihm gehört.« Er stopfte die Gegenstände wieder in seine Tasche. »Aber du mußt das Risiko mit ihm eingehen, Wächter. Welche andere Möglichkeit hast du?« »Keine«, sagte ich, und Gormon lachte. Ich konn- te seinen Humor nicht teilen. Er beschäftigte sich mit seiner Beute aus der Ver- gangenheit. Ich war durch seine Worte zutiefst de- primiert. Er schien so selbstsicher in einer unbere- chenbaren Welt, dieser Gildenlose, dieses mutierte, Ungeheuer, dieser Mann mit seinem unmensch- lichen Aussehen; wie konnte er so kühl, so unge- zwungen bleiben? Er lebte unberührt vom Leid und verspottete jene, die sich von der Furcht unterdrük- ken ließen. Gormon reiste nun seit neun Tagen mit uns. Wir hatten ihn im Süden kennengelernt, in der antiken Stadt unterhalb des Vulkans. Ich hatte nicht den Vorschlag gemacht, daß er mit uns reisen sollte; er hatte sich selbst eingeladen, und auf Avluelas Ge- heiß hatte ich nachgegeben. Die Wege sind zu dieser Jahreszeit dunkel und kalt, und gefährliche Bestien der verschiedensten Rassen gibt es im Überfluß. Ein alter Mann, der mit einem jungen Mädchen unter- wegs ist, tut gut daran, einen kräftigen Kerl wie Gor- mon an seine Seite zu holen. Und doch gab es Tage, an denen ich wünschte, er wäre nicht mit uns ge- kommen – so wie jetzt. Langsam ging ich zurück zu meinen Instrumen- ten. Als sei es ihm jetzt erst aufgefallen, fragte Gor- mon: »Habe ich deine Wache unterbrochen?« »Ja«, entgegnete ich ohne Vorwurf. »Das tut mir leid. Du kannst sie wieder aufneh- men, ich werde dich nicht stören.« Und er warf mir sein strahlendes Lächeln zu, das mich die Arroganz seiner Worte vergessen ließ. Ich berührte die Knöpfe und Griffe und überprüf- te die Skalen. Aber ich konnte mich nicht in den Zu- stand des Wachens versetzen, denn ich spürte Gor-, mons Gegenwart und befürchtete, er könnte trotz seines Versprechens meine Konzentration von neu- em schmerzhaft zerstören. Schließlich wandte ich mich von den Geräten ab. Gormon stand auf der an- deren Straßenseite und hielt Ausschau nach Avlue- la. Als er merkte, daß ich ihn ansah, wandte er sich mir zu. »Stimmt etwas nicht, Wächter?« »Alles in Ordnung. Aber der Augenblick ist nicht günstig für meine Arbeit. Ich werde warten.« »Sag mir eines«, fuhr er fort. »Wenn die Feinde der Erde tatsächlich von den Sternen kommen, werden deine Maschinen es dir verkünden?« »Ich vertraue darauf.« »Und dann?« »Dann verständige ich die Verteidiger.« »Und danach ist dein Lebenswerk vollendet?« »Vielleicht«, sagte ich. »Aber weshalb seid ihr eine ganze Gilde? Weshalb gibt es keine Zentrale, in der Wache gehalten wird? Weshalb eine Schar wandernder Wächter, die von einer Stadt zur anderen ziehen?« »Je mehr Beobachtungsvektoren, desto größer ist die Chance, die Invasion rechtzeitig zu entdecken.« »Dann wäre es ohne weiteres möglich, daß ein Wächter seine Instrumente einschaltet und nichts erkennt, obwohl die Invasoren bereits hier sind?« »Es könnte geschehen. Und deshalb gibt es so vie- le von uns.«, »Manchmal habe ich das Gefühl, daß ihr über- treibt.« Gormon lachte. »Glaubst du tatsächlich, daß eine Invasion bevorsteht?« »Ja«, entgegnete ich steif. »Andernfalls wäre mein Leben vergeudet gewesen.« »Und weshalb sollte sich sein Volk von den Ster- nen die Erde aneignen? Was besitzt ihr außer den Überresten alter Reiche? Was würden sie mit dem elenden Roum anfangen? Mit Perris? Mit Jorslem? Verfallene Städte! Idiotenfürsten! Komm, Wächter, gib es zu: die Invasion ist ein Mythos, und du voll- führst viermal am Tag eine sinnlose Arbeit. Hm?« »Es ist mein Amt und mein Auftrag, Wache zu hal- ten. Du hingegen scheinst nur spotten zu können. Jedem das seine, Gormon.« »Verzeih mir«, sagte er mit spöttischer Unterwür- figkeit. »Dann geh und wache!« »Das werde ich!« Verärgert wandte ich mich den Instrumenten zu. Ich nahm mir fest vor, jede Unterbrechung zu igno- rieren, und sei sie noch so brutal. Die Sterne stan- den am Himmel; ich betrachtete die schimmernden Konstellationen, und automatisch registrierte mein Gehirn die vielen Welten. Laßt uns wachen, dachte ich. Laßt uns Ausschau halten, allen Spöttern zum Trotz. Ich konzentrierte mich. Ich umklammerte die Griffe und ließ die Energie machtvoll durch mein Inneres strömen. Ich wand-, te meinen Geist dem Himmel zu und suchte nach feindlichen Welten. Welche Ekstase! Welche unver- gleichliche Pracht! Ich, der nie diesen kleinen Pla- neten verlassen hatte, durchwanderte die dunkle Leere des Raumes, glitt von Stern zu brennendem Stern, sah Planeten wie Kreisel wirbeln. Gesichter starrten mir auf meiner Reise entgegen, einige blick- los, andere mit einer Vielzahl von Augen. Die ge- samte Galaxis mit ihren verschiedenartigen Völkern lag ausgebreitet vor mir. Ich suchte nach möglichen Konzentrationen feindlicher Kräfte. Ich inspizierte Kasernenhöfe und Militärlager. Ich suchte, wie ich es Zeit meines Lebens viermal täglich getan hatte, nach den Invasoren, die man uns prophezeit hat- te, nach den Eroberern, die letzten Endes Besitz von unserer zerrissenen Welt ergreifen sollten. Ich fand nichts, und als ich erschöpft und schweißtriefend aus meiner Trance erwachte, sah ich Avluela. Federleicht landete sie. Gormon rief ihren Namen, und sie lief nackt auf ihn zu. Er nahm das winzige Geschöpf in seine starken Arme und hielt sie fest, nicht leidenschaftlich, sondern in einem Ausbruch von Lebensfreude. Als er sie freigab, wandte sie sich mir zu. »Roum!« rief sie außer Atem. »Roum!« »Du hast es gesehen?« »Alles! Tausende von Menschen! Lichter! Breite Straßen! Einen Markt! Gebäuderuinen, die viele Zy-, klen alt sind! Wächter, dieses Roum ist herrlich!« »Dann hattest du einen guten Flug?« fragte ich. »Es war ein Wunder!« »Morgen werden wir nach Roum ziehen.« »Nein, Wächter, noch heute, heute nacht!« Sie war kindhaft eifrig, und ihr Gesicht leuchtete vor Erre- gung. »Es ist ein ganz kurzer Weg. Sieh doch, die Stadt liegt gleich dort drüben.« »Wir sollten zuerst ausruhen«, sagte ich. »Wir wol- len nicht müde in Roum ankommen.« »Wir können rasten, sobald wir dort sind«, entgeg- nete Avluela. »Komm! Pack alles zusammen! Du bist mit deiner Wache fertig, nicht wahr?« »Ja.« »Dann brechen wir auf! Nach Roum! Nach Roum!« Ich warf Gormon einen bittenden Blick zu. Die Nacht war gekommen; wir mußten rasch ein La- ger aufschlagen, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu genießen. Ausnahmsweise stellte sich Gormon auf meine Seite. Er sagte zu Avluela: »Der Wächter hat recht. Wir brauchen alle eine Ruhepause. Wir ziehen im Morgengrauen nach Roum weiter.« Avluela schmollte. Sie wirkte mehr denn je wie ein Kind. Ihre Flügel hingen herab; ihr schmaler Körper verlor seine Straffheit. Trotzig schloß sie die Flügel, bis sie faustgroße Höcker an ihrem Rücken waren, und suchte die Kleider zusammen, die sie ne-, ben der Straße verstreut hatte. Sie zog sich an, wäh- rend wir das Nachtlager aufschlugen. Ich verteilte Nahrungstabletten; wir krochen in unsere Schlafab- teile. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf und träum- te von Avluela, die sich gegen den alterszerfresse- nen Mond abhob. Gormon flog an ihrer Seite. Zwei Stunden vor Beginn der Morgendämmerung erhob ich mich und vollführte die erste Wache des neu- en Tages, während die beiden noch schliefen. Dann weckte ich sie, und wir gingen gemeinsam auf Roum zu, die sagenhafte Hauptstadt eines früheren Impe- riums. *, Das Morgenlicht war strahlend und hart, als sei die Welt eben erst erschaffen worden. Die Straße wirkte leer; heutzutage reisen die Leute nicht viel, außer sie sind wie ich Wanderer aus Gewohnheit. Gele- gentlich traten wir zur Seite, um einem Angehörigen der Herren-Gilde Platz zu machen, dessen Kutsche von einem Dutzend ausdrucksloser Neuter gezo- gen wurde. Vier solcher Gefährte überholten uns in den ersten beiden Stunden des Tages, alle dicht ver- schlossen, um die Insassen vor den Blicken so ge- wöhnlicher Menschen, wie wir es waren, zu verber- gen. Einige Planwagen, beladen mit Waren, kamen an uns vorbei, dazu ein paar Schwebeplattformen. Doch im allgemeinen hatten wir die Straße für uns. Die Umgebung von Roum beherbergte Überre- ste der Vergangenheit; vereinzelte Säulen, die Frag- mente eines Aquädukts, die kein Wasser mehr trans- portierten, die Portale eines eingestürzten Tempels. Das war das antike Roum, aber wir sahen auch Din- ge der späteren Zyklen: Bauernhütten, die Kuppeln von elektrischen Anlagen, die Skelette von Wohn- häusern. Hin und wieder stießen wir auf den aus- gebrannten Rumpf eines alten Flugzeugs. Gormon untersuchte alles und nahm manchmal eine Probe mit. Avluela sah sich mit großen Augen um. Sie sag- te kein Wort. Wir gingen weiter, bis die Stadtmauer vor uns aufragte., Sie war aus säuberlich aneinandergefügten, glän- zend-blauen Steinen errichtet und erreichte etwa acht Mannshöhen. Unsere Straße lief unter einem Torbogen durch; die Pforte war weit geöffnet. Als wir uns dem Tor näherten, kam uns eine Gestalt entgegen, ein außergewöhnlich hochgewachsener Mann mit Kapuze und Maske, der das düstere Ge- wand der Pilger trug. Man tritt nicht von sich aus an einen Pilger heran, aber man geht auch nicht an ihm vorbei, wenn er winkt. Der Pilger winkte. Durch die vergitterte Maske fragte er: »Woher kommst du?« »Vom Süden. Ich lebte eine Weile in Agupt und überquerte dann die Landbrücke nach Talya.« »Wohin gehst du?« »Nach Roum.« »Was macht die Wache?« » Unverändert.« »Hast du in Roum einen Ort, an dem du wohnen kannst?« fragte der Pilger. Ich schüttelte den Kopf. »Wir vertrauen auf die Güte des Willens.« »Der Wille ist nicht immer gütig«, sagte der Pil- ger geistesabwesend. »Auch gibt es viele Wächter in Roum. Weshalb reist du mit einem Schmetterlings- geschöpf?« »Um Gesellschaft zu haben. Zudem ist sie jung und benötigt Schutz.« »Wer ist der andere Mann?«, »Ein Gildenloser, eine Mißgeburt.« »Das sehe ich. Aber was sucht er an deiner Sei- te?« »Er ist stark, und ich bin alt, und so reisen wir ge- meinsam. Wo liegt dein Ziel, Pilger?« »In Jorslem. Gibt es ein anderes Ziel für meine Gil- de?« Ich zuckte mit den Schultern. »Weshalb begleitest du mich nicht nach Jorslem?« fragte der Pilger. »Mein Weg führt jetzt nach Norden. Jorslem liegt im Süden, nahe an Agupt.« »Du warst in Agupt und nicht in Jorslem?« mein- te er verwundert. »Ja. Die Zeit war noch nicht reif für mich.« »Dann hole das Versäumte jetzt nach. Wir werden gemeinsam wandern, Wächter, und von der Vergan- genheit ebenso plaudern wie von der Zukunft. Ich helfe dir bei deiner Wache, und du unterstützt mich bei meiner Vereinigung mit dem Willen. Was hältst du davon?« Es war eine Versuchung. Vor meinen Augen flammte das Bild des Goldenen Jorslem auf, mit sei- nen heiligen Bauwerken und Schreinen, mit seinem Zentrum der Erneuerung, in dem die Alten verjüngt werden, mit seinen Türmen und Tempeln. Obwohl ich ein Mann bin, der nicht leichtfertig Entschlüs- se umstößt, war ich in diesem Augenblick gewillt, auf Roum zu verzichten und den Pilger nach Jors-, lem zu begleiten. Ich sagte: »Aber meine Gefährten …« »Laß sie hier zurück. Es ist mir nicht gestattet, mit den Gildenlosen zu reisen, und ich wünsche keine Frau in meiner Gesellschaft. Nur wir beide, Wächter, du und ich, werden nach Jorslem gehen.« Avluela, die ein wenig abseits gestanden hatte und an der Unterhaltung mit gerunzelter Stirn zuhörte, warf mir einen entsetzten Blick zu. »Ich kann sie nicht verlassen«, sagte ich. »Dann gehe ich allein nach Jorslem«, erwiderte der Pilger. Aus den Falten seiner Robe streckte er mir eine knochige Hand entgegen. Die Finger waren lang und weiß. Ich preßte meine Fingerspitzen ehr- fürchtig gegen die seinen, und der Pilger sagte: »Der Wille sei gnädig mit dir, Freund Wächter. Und wenn du einmal nach Jorslem gelangst, dann erkundige dich nach mir.« Er setzte seinen Weg schweigend fort. Gormon sah mich an. »Du wärst gern mit ihm ge- gangen, nicht wahr?« »Ich zog es in Erwägung.« »Was könntest du in Jorslem Besseres als hier fin- den? Auch Roum ist eine heilige Stadt. Hier kannst du eine Weile ausruhen. Du bist im Augenblick sehr geschwächt.« »Vielleicht hast du recht«, gestand ich und ging mit meiner letzten Energie auf das Tor von Roum zu., Aufmerksame Augen beobachteten uns durch Schlitze in der Wand. Als wir unter dem Torbo- gen standen, trat uns ein fetter, pockennarbiger Po- sten mit aufgedunsenem Gesicht entgegen und frag- te nach unserem Anliegen. Ich nannte meine Gilde und den Zweck meines Herkommens, und er zog verächtlich die Nase kraus. »Geh wieder fort, Wächter! Wir brauchen hier nur nützliche Leute.« »Das Wachen hat durchaus seinen Nutzen«, sag- te ich freundlich. »Gewiß, gewiß.« Er sah Avluela mit zusammenge- kniffenen Augen an. »Wer ist das? Ich dachte immer, Wächter seien dem Zölibat verpflichtet.« »Sie ist nichts weiter als eine Reisegefährtin.« Der Posten lachte. »Ich wette, die Reise macht dir Spaß. Nicht, daß man viel an ihr finden könnte. Wie alt ist sie? Dreizehn, vierzehn? Komm her, Kind! Laß dich nach Schmuggelgut untersuchen!« Er tastete sie rasch ab und runzelte die Stirn, als er die win- zigen Brüste berührte. Dann, als er die zusammen- gefalteten Flügel spürte, zog er seine Augenbrau- en hoch. »Was ist das? Ein Schmetterlingsgeschöpf! Schmutziges Geschäft, wenn sich Schmetterlinge mit alten Wächtern zusammentun.« Kichernd leg- te er den Arm um sie, und ich sah mit einemmal heftigen Zorn in Gormons Augen. Er wollte vortre- ten, aber ich hielt ihn gerade noch rechtzeitig zu- rück. Ich umklammerte sein Handgelenk mit meiner, ganzen Kraft. Wir wären alle drei ruiniert gewesen, wenn uns der Posten angegriffen hätte. Allmählich beruhigte sich Gormon. Mit eisiger Miene sah er zu, wie der Posten seine »Untersuchung« beendete. Schließlich wandte sich der Mann mit offenkun- digem Ekel Gormon zu und fragte: »Was bist denn du für einer?« »Ich bin gildenlos, Euer Gnaden«, entgegnete Gor- mon scharf. »Das armselige, wertlose Produkt der Te- ratogenese. Aber dennoch ein freier Mann, der Zu- gang nach Roum wünscht.« »Müssen wir hier noch mehr Ungeheuer dul- den?« »Ich esse wenig und arbeite schwer.« »Du würdest noch schwerer arbeiten, wenn du dich kastrieren ließest«, entgegnete der Posten. Gormon funkelte ihn an. Ich sagte: »Dürfen wir die Stadt betreten?« »Einen Augenblick.« Der Posten streifte eine Den- kerkappe über. Seine Augen wurden schmal, als er seine Botschaft an die Gedächtnisspeicher weiter- gab. Sein Gesicht spannte sich an und erschlaff- te wieder. Sekunden später kam die Antwort. Wir konnten nicht hören, wie sie ausgefallen war, aber seine enttäuschte Miene verriet uns, daß er keinen Grund gefunden hatte, uns am Betreten der Stadt zu hindern. »Weiter – alle drei«, sagte er. »Und rasch!« Wir passierten das Tor., »Ich hätte ihm den Schädel zerschmettern kön- nen«, sagte Gormon. »Dann wärst du noch vor Sonnenuntergang ka- striert worden. Mit Geduld kommt man meist ra- scher ans Ziel.« »Wie er sie behandelt hat …!« »Du nimmst eine besitzergreifende Haltung gegen- über Avluela ein«, sagte ich. »Vergiß nicht, daß sie zu den Schmetterlingen gehört und keinen Gildelo- sen heiraten kann.« Gormon überhörte meinen Tadel. »Sie erregt mich nicht mehr als dich, Wächter. Aber es schmerzt mich, mitansehen zu müssen, daß sie so behandelt wird. Ich hätte ihn umgebracht, wenn du nicht da- zwischengetreten wärst.« »Wo sollen wir in Roum wohnen?« fragte Avluela. »Zuerst suchen wir das Hauptquartier meiner Gil- de auf«, sagte ich. »Ich werde ein Zimmer dort neh- men. Danach können wir vielleicht bei der Schmet- terlingsgilde speisen.« »Und dann gehen wir in die Gosse zu den anderen Gildelosen und betteln ein paar Kupferlinge zusam- men.« Gormons Stimme klang trocken. »Ich bedaure dich, weil du eine Mißgeburt bist«, entgegnete ich, »aber ich finde es häßlich, daß du dich selbst bedauerst. Kommt!« Über eine gewundene Straße mit Kopfsteinpflaster gelangten wir in die eigentliche Stadt. Wir befanden uns in den Außenbezirken, einer Wohngegend mit, niedrigen flachen Häusern, auf deren Dächern un- förmige Verteidigungsanlagen installiert waren. Im Zentrum von Roum lagen die glänzenden Türme, die wir in der Nacht zuvor vom Wegrand aus erspäht hatten. Im Zentrum befanden sich auch die sorgfäl- tig konservierten Überreste des antiken Roum, der Markt, das Fabrikgelände, die Tempel des Willens, die Gedächtnisspeicher, die Übernachtungsquartie- re, die Bordelle für Besucher von fremden Welten, die Regierungsgebäude und die Verwaltungen der verschiedenen Gilden. An der Ecke, neben einem Gebäude aus dem zwei- ten Zyklus, fand ich eine öffentliche Denker-Kap- pe und streifte sie über meine Stirn. Sofort rasten meine Gedanken die Leitung entlang, bis sie an die Grenzschicht kamen, die ihnen Zugang zu einem der Speichergehirne gewährte. Ich durchdrang die Grenzschicht und sah das Gehirn selbst, eine runz- lige hellgraue Masse, umgeben von einem grünen Gehäuse. Ein Historiker erzählte mir einmal, daß in früheren Zyklen die Menschen Denkmaschinen kon- struiert hatten, die unheimlich teuer waren und un- vorstellbare Energiemengen verbrauchten. Das war nicht die schlimmste Torheit unserer Vorfahren; aber weshalb sollte man künstliche Gehirne her- stellen, wenn der Tod Tag für Tag Dutzende natürli- cher Denkapparate liefert, die sich in die Gedächt- nisspeicher einsetzen lassen? Fehlte ihnen vielleicht das Wissen, diese Gehirne richtig zu benutzen? Ich, kann das nicht glauben. Ich nannte dem Gehirn meine Gildenummer und fragte nach den Koordinaten unseres Hauptquar- tiers. Sofort erhielt ich sie, und wir machten uns auf den Weg, Avluela und Gormon links und rechts von mir. Wie immer zog ich den Karren, der meine Instrumente barg, hinter mir her. In der Stadt herrschte reges Treiben. Weder im schläfrigen, fieberheißen Agupt noch an irgendei- nem anderen Ort meiner Nordwanderung hatte ich solche Menschenmengen erblickt. Die Straßen wa- ren voll von scheuen, maskierten Pilgern. Dazwi- schen drängten sich geschäftige Historiker, düster dreinblickende Kaufleute und hin und wieder die Sänfte eines Herren. Avluela entdeckte eine Menge Schmetterlingsgeschöpfe, aber sie durfte die Ange- hörigen ihrer Gilde erst begrüßen, wenn sie die ritu- elle Reinigung hinter sich hatte. Zu meinem Bedau- ern muß ich sagen, daß ich viele Wächter erspähte, die mich feindselig musterten. Ich sah auch Vertei- diger und eine Reihe von Vertretern der niederen Gilden wie Verkäufer, Diener, Fabrikarbeiter, Schrei- ber, Boten und Gepäckträger. Natürlich gingen auch die Neuter schweigend ihren bescheidenen Tätig- keiten nach, und zahlreiche Besucher von fremden Welten zogen durch die Straßen, die einen zum Ver- gnügen, die anderen, um irgendwelche Geschäfte mit den von Armut heimgesuchten Erdbewohnern abzuschließen. Ich bemerkte viele Mißgeburten, die, verstohlen durch die Menge huschten. Keiner von ihnen besaß Gormons Stolz. Er war einzigartig un- ter seinesgleichen; die anderen, gesprenkelt und ge- scheckt und asymmetrisch, gliederlos oder mit zu vielen Gliedern behaftet, deformiert in tausend ver- schiedenen Arten, waren Kriecher, Feiglinge, Duck- mäuser. Sie waren Taschendiebe, handelten heim- lich mit Organen, beteten für das Wohl derer, die ihnen Geld gaben, oder verlockten mit falschen Ver- sprechungen. Keiner von ihnen hielt sich aufrecht wie ein echter Mensch. Das Gehirn hatte mir genaue Angaben übermittelt, und nach einer knappen Stunde erreichten wir das Quartier meiner Gilde. Ich ließ Gormon und Avlue- la draußen warten und rollte meinen Karren in die Vorhalle. Etwa ein Dutzend Angehörige meiner Gilde lun- gerte dort herum. Ich gab mich mit einer Handbe- wegung zu erkennen, und sie erwiderten die Ge- ste lustlos. Waren das die Wächter, von denen die Sicherheit der Erde abhing? Einfaltspinsel und Schwächlinge! »Wo kann ich mich anmelden?« fragte ich. »Du bist neu? Woher kommst du?« »Zuletzt war ich in Agupt registriert.« »Du hättest dort bleiben sollen. Hier braucht man keine Wächter.« »Wo kann ich mich anmelden?« fragte ich noch einmal., Ein geckenhafter junger Mann deutete auf einen Schirm im Hintergrund des Raumes. Ich ging hin, preßte meine Fingerspitzen dagegen und nannte meinen Namen, den ein Wächter nur einem Gilde- angehörigen verraten darf, und das auch nur inner- halb eines Gildehauses. Ein Paneel glitt zur Seite, und ein Mann sah mich mit verquollenen Augen an. Er trug das Wächter-Emblem nicht auf der linken, sondern auf der rechten Wange, was seinen hohen Rang verriet. Er nannte mich beim Namen und fuhr fort: »Es war unklug von dir, nach Roum zu kom- men. Wir sind überfüllt.« »Dennoch ersuche ich um Quartier und Arbeit.« »Ein Mann mit deinem Humor hätte sich für die Komiker-Gilde melden sollen«, entgegnete er. »Ich finde nichts Komisches an der Situation.« »In der letzten Zusammenkunft hat unsere Gilde ein Gesetz erlassen, nach dem kein Haus verpflich- tet ist, mehr Mitglieder aufzunehmen, als es Räume zur Verfügung hat. Und unsere Räume sind alle ver- geben. Leb wohl, Freund.« Ich war entsetzt. »Ich kenne dieses Gesetz nicht. Es ist unglaublich. Wie kann eine Gilde ihre Mitglie- der abweisen, wenn sie müde und mit wunden Fü- ßen um Quartier nachsuchen? Ein Mann in meinen Jahren, der die Landbrücke von Agupt nach Talya überquert hat, kommt hungrig nach Roum …« »Weshalb hast du dich nicht früher mit uns in Ver- bindung gesetzt?«, »Ich hatte keine Ahnung, daß es nötig sein wür- de.« »Die neuen Gesetze …« »Möge der Wille die neuen Gesetze vernichten!« rief ich. »Ich verlange Unterkunft! Wie kannst du sie mir versagen, der ich schon wachte, bevor du gebo- ren wurdest …« »Langsam, Bruder, langsam.« »Sicher gibt es irgendeine Ecke, in der ich schla- fen kann. Ein paar Abfälle, die ich …« Während mein Zorn in Bitten umschlug, wurde sein Gesichtsausdruck weicher. »Wir haben keinen Platz. Wir haben kein Essen. Die Zeiten sind hart für unsere Gilde. Es geht das Gerücht, daß man sie ganz auflösen will, daß wir ein unnötiger Luxus sind. Uns sind Schranken gesetzt. Da es in Roum Wächter im Überfluß gibt, leiden wir alle Hunger.« »Aber wohin soll ich gehen? Wohin?« »Ich rate dir, den Fürsten von Roum um Hilfe zu bitten«, sagte er. *, Draußen erzählte ich Gormon von dem Gespräch, und er schüttelte sich vor Lachen. »Den Fürsten von Roum um Hilfe bitten!« wiederholte er. »Den Für- sten von Roum …« »Es ist üblich, daß die Unglücklichen sich an den Herrscher wenden«, sagte ich kühl. »Der Fürst von Roum kennt kein Mitleid«, entgeg- nete Gormon. »Der Fürst von Roum wirft dir deine eigenen Knochen vor, wenn du Hunger leidest.« »Vielleicht sollten wir es bei der Schmetterlings- Gilde versuchen«, warf Avluela ein. »Dort wird man uns verpflegen.« »Nicht Gormon«, stellte ich fest. »Wir haben auch ihm gegenüber eine Verpflichtung.« »Wir könnten ihm etwas zu essen mitbringen.« »Ich gehe zuerst zum Hof«, beharrte ich. »Die Ver- hältnisse müssen geklärt werden. Danach können wir immer noch improvisieren, falls es sich als not- wendig erweisen sollte.« Sie gab nach, und wir schlugen den Weg zum Pa- last des Fürsten ein, einem wuchtigen Bauwerk, das sich jenseits des Flusses befand. Vor dem Palast breitete sich eine säulenumgrenzte Plaza aus. Bett- ler aller Art trafen sich hier; einige waren nicht ein- mal menschlicher Abstammung. Ein Geschöpf mit schlangenartigen Tentakeln und einem zerfurchten Gesicht warf sich mir entgegen und verlangte ein, Almosen, bis Gormon es zur Seite schob; Sekunden später umklammerte ein nicht minder groteskes We- sen mit Leuchtkratern in der Haut und augenüber- säten Gliedmaßen meine Knie. Es bat mich im Na- men des Willens um Barmherzigkeit. »Ich bin nur ein armer Wächter«, entgegnete ich und deutete auf meinen Karren. »Ich bin selbst hergekommen, um Barmherzigkeit zu erwirken.« Aber das Geschöpf gab nicht nach und schilderte mit schluchzender, erstickter Stimme seine Leiden, bis ich ihm zu Gor- mons Mißfallen ein paar Nahrungstabletten in den Brustbeutel fallen ließ. Dann schoben wir uns zum Palasteingang vor. Unter den Säulen erwartete uns von neuem ein furchtbarer Anblick: ein verstüm- meltes Schmetterlingswesen, die zierlichen Glied- maßen verkrümmt und verdreht, einen Flügel halb ausgebreitet und gestutzt, den anderen völlig ver- krüppelt. Das Geschöpf stürzte sich auf Avluela, rief ihr einen fremden Namen zu und weinte so hef- tig, daß Avluelas Beinkleider von den Tränen flek- kig wurden. »Sprich bei der Gilde für mich«, bat der Flieger. »Man hat mich nur abgewiesen, weil ich ein Krüppel bin, aber wenn du für mich sprichst …« Avluela erklärte ihm, daß sie nichts tun könne, daß sie selbst fremd in der Stadt sei. Der verzwei- felte Flieger wollte sie nicht loslassen. Gormon hob ihn vorsichtig hoch und trug ihn auf die Seite. Wir erreichten den Eingang und standen mit einemmal drei freundlichen Neutern gegenüber, die nach unse-, rem Begehr fragten und uns rasch an zwei alte Kar- teibeamte weiterreichten. Die beiden wollten wis- sen, was wir hier suchten. »Wir bitten um Audienz«, sagte ich. »Wir möchten ein Gnadengesuch einreichen.« »Die Audienz findet in vier Tagen statt«, entgeg- nete der Beamte zur Rechten. »Wir werden euer Ge- such eintragen.« »Wir wissen nicht, wo wir schlafen sollen«, stieß Avluela hervor. »Wir sind hungrig. Wir …« Ich brachte sie zum Schweigen. Gormon hatte in- zwischen seine Übertasche geöffnet. Helle Gegen- stände blitzten in seiner Hand: Münzen aus Gold, dem ewigen Metall, geschmückt mit bärtigen, ha- kennasigen Gesichtern. Er hatte sie bei seiner Durch- forschung der Ruinen entdeckt. Nun warf er eine da- von dem Mann zu, der uns zurückgewiesen hatte. Der Beamte fing sie in der Luft auf, rieb mit dem Daumen über die glänzende Fläche und ließ die Münze in den Falten seines Gewandes verschwin- den. Sein Kollege sah uns erwartungsvoll an, und Gormon gab auch ihm ein Goldstück. »Vielleicht können wir im Innern eine Sonderau- dienz erreichen«, sagte ich. »Vielleicht«, entgegnete einer der Beamten. »Geht hier durch.« Und so gelangten wir in den Palast selbst. Wir standen in dem riesigen, widerhallenden Bauwerk und sahen das Hauptschiff entlang bis zum Thron-, saal in der Apsis. Es waren noch mehr Bettler hier – sie besaßen Lizenzen auf Lebenszeit – dazu Pil- ger, Hellseher, Historiker, Musiker, Schreiber und Beamte. Ich hörte leise Gebete; ich roch würzigen Weihrauch; ich spürte die Vibration unterirdischer Gongs. In vergangenen Zyklen war dieser Palast das Heiligtum einer alten Religionsgemeinschaft gewe- sen – der Christer, wie mir der historisch beschlage- ne Gormon verriet – und er hatte sich etwas von sei- nem geweihten Charakter erhalten, auch wenn er nun als Sitz der weltlichen Regierung benutzt wur- de. Aber wie sollten wir mit dem Fürsten zusam- menkommen? Zu meiner Linken sah ich eine kleine, reich geschmückte Kapelle, vor der eine Reihe wohl- habender Kaufleute und Landbesitzer warteten. Als ich die Szene näher betrachtete, sah ich drei Schä- del auf einer Auskunfts-Anlage und daneben einen stämmigen Schreiber. Ich bat Gormon und Avluela, auf mich zu warten, und schloß mich der Reihe an. Sie bewegte sich langsam vorwärts, und nahe- zu eine Stunde verging, bis ich die Auskunfts-An- lage erreicht hatte. Die Schädel starrten mich aus leeren Augenhöhlen an; in ihrem Innern blubberte und gurgelte die Nährlösung, die das tote, aber im- mer noch funktionsfähige Gehirn mit seinen Aber- millionen Synapsen versorgte. Der Schreiber schien entsetzt zu sein, daß sich ein Wächter hierher wag- te, aber bevor er etwas sagen konnte, stieß ich her- vor: »Ich komme als Fremder und möchte die Gnade, des Fürsten erflehen. Ich und meine Gefährten sind ohne Unterkunft. Meine eigene Gilde hat mich ab- gewiesen. Was soll ich tun? Wie kann ich eine Au- dienz erlangen?« »Komm in vier Tagen wieder!« »Ich habe viele Nächte am Wegrand geschlafen. Nun brauche ich ein bequemeres Lager.« »Eine öffentliche Herberge …« »Aber ich gehöre einer Gilde an!« protestierte ich. »Keine öffentliche Herberge nimmt mich auf, wenn meine Gilde in dieser Stadt ein eigenes Haus unter- hält. Aber die Gilde weist mich wegen irgendwel- cher neuer Regelungen zurück. Verstehst du meine Notlage?« Der Schreiber sagte müde: »Du kannst um eine Sonderaudienz nachsuchen. Man wird sie dir ab- schlagen, aber du kannst immerhin den Antrag stel- len.« »Wo?« »Hier. Nenne den Zweck deines Besuchs!« Ich gab den Schädeln meinen Namen an und er- wähnte auch Name und Status meiner Begleiter. Dann beschrieb ich meinen Fall. Alles wurde ab- sorbiert und an die Gehirne weitergegeben, die sich irgendwo im Zentrum der Stadt befanden. Als ich fertig war, sagte der Schreiber: »Man wird dich ver- ständigen, wenn deine Bitte Gehör findet.« »Und wo soll ich inzwischen bleiben?« »Am besten in der Nähe des Palastes.«, Ich verstand. Ich konnte mich den vielen Un- glücklichen anschließen, die sich auf der Plaza zu- sammendrängten. Wie viele hatten den Fürsten um einen besonderen Gefallen gebeten oder waren im- mer noch hier, Monate oder Jahre später? Sie schlie- fen auf Stein, bettelten um Abfälle und gaben ihre Hoffnung nicht auf. Ich hatte alles versucht. Ich kehrte zu Gormon und Avluela zurück, erklärte ihnen die Lage und schlug vor, daß wir nun versuchen sollten, anderswo Quar- tier zu finden. Gormon gehörte keiner Gilde an und war jederzeit in einer der schmutzigen öffentlichen Herbergen willkommen, die man für Leute seiner Art errichtet hatte; Avluela wurde vielleicht von ih- rer eigenen Gilde aufgenommen. Nur ich mußte auf der Straße schlafen – und nicht zum erstenmal. Aber ich hoffte, daß sich unsere Wege nicht trennen wür- den. Ich betrachtete uns als eine Art Familie, auch wenn der Gedanke bei einem Wächter merkwürdig klingen mag. Als wir uns dem Ausgang näherten, erinnerte mich meine Uhr leise daran, daß die Zeit der näch- sten Wache gekommen war. Es war meine Pflicht und mein Privileg, überall meine Wache abzuhal- ten, unabhängig von den äußeren Umständen; und so hielt ich an, öffnete meinen Karren und stellte die Instrumente ein. Gormon und Avluela standen ne- ben mir. Ich sah offenen Spott auf den Gesichtern derer, die den Palast betraten oder verließen. Wir, standen in keinem hohen Ansehen, denn wir wach- ten nun schon so lange, und nie hatte sich der pro- phezeite Feind gezeigt. Aber man hat seine Pflich- ten, so lächerlich sie auch den anderen erscheinen mögen. Was für einige ein hohles Ritual ist, stellt für andere vielleicht ein Lebenswerk dar. Verbissen versetzte ich mich in den Zustand der Aufnahme- bereitschaft. Die Welt verschwamm vor meinen Au- gen, und ich wurde eins mit dem Raum. Wie immer erfaßte mich Freude, und ich suchte die vertrauten Plätze ab, aber auch andere, die mir weniger bekannt waren. Mein Geist, verstärkt durch die Instrumente, jagte in wilden Sprüngen durch die Galaxien. Sam- melte sich eine Armada? Wurden Truppen für die Eroberung der Erde gedrillt? Viermal täglich hielt ich meine Wache, und die anderen Gildemitglieder taten das gleiche, jeder zu einem anderen Zeitpunkt, so daß der Raum zu keiner Sekunde unbeobachtet blieb. Ich glaube nicht, daß man diese Einführung als dumm bezeichnen konnte. Als ich mich aus meiner Trance befreite, hörte ich eine harte Stimme: »… für den Fürsten von Roum! Macht Platz für den Fürsten von Roum!« Ich riß die Augen auf, hielt den Atem an und ver- suchte mich zu orientieren. Eine vergoldete Sänf- te, getragen von Neutern, war im Hintergrund des Palastes aufgetaucht und kam nun das Hauptschiff entlang auf mich zu. Vier Männer in den eleganten Trachten und reich geschmückten Masken der Her-, ren flankierten den Zug. An der Spitze gingen drei untersetzte, breitschultrige Mißgeburten, die mit ih- ren Kehlsäcken die Laute der Ochsenfrösche imitie- ren konnten; sie scheuchten mit lauten Trompeten die Menge zur Seite. Mir kam es sonderbar vor, daß der Fürst von Roum Mißgeburten in seinem Dienst hatte, selbst wenn sie so besondere Fähigkeiten be- saßen wie diese hier. Mein Karren stand der Prozession im Wege, und ich versuchte in aller Hast, ihn zu schließen und zur Seite zu schieben, bevor der Zug mich erreich- te. Meine Finger zitterten vom Alter und der Furcht, und es gelang mir nicht, die Dichtungen aufzuset- zen; während ich in wachsender Nervosität weiter- arbeitete, kamen die Mißgeburten ganz nahe. Ihr Lärm klang mir betäubend in den Ohren, und Gor- mon versuchte mir zu helfen. Ich mußte ihm zuru- fen, daß nur ein Wächter die Instrumente berühren darf. Einen Augenblick später hatten mich die Neu- ter erreicht und schwangen ihre Peitschen, um den Weg freizumachen. »Im Namen des Willens«, rief ich, »ich bin ein Wächter!« Und eine tiefe, ruhige, gewaltige Stimme sagte: »Laßt ihn! Er ist ein Wächter.« Nichts regte sich. Der Fürst hatte gesprochen. Die Neuter zogen sich zurück. Die Mißgeburten hielten mit ihrer Musik ein. Die Träger setzten die Sänfte nieder. Alle im Hauptschiff des Palastes hat- ten sich zurückgezogen, bis auf Avluela, Gormon, und mich. Die schimmernden Kettenvorhänge der Sänfte teilten sich. Zwei der Herren eilten herbei und streckten die Hände durch die Schallbarrie- re, um dem Fürsten behilflich zu sein. Die Barriere sank mit einem hellen Summen in sich zusammen. Der Fürst von Roum zeigte sich. Er war so jung. Es war ein halbes Kind, mit vol- lem dunklem Haar und einem faltenlosen Gesicht. Aber er war zum Regieren geboren, und trotz sei- ner Jugend hatte er etwas Herrschsüchtiges an sich. Seine Lippen waren schmal und zusammengepreßt; die Adlernase sprang kühn vor; die Augen, tief und kalt, waren Teiche der Unendlichkeit. Er trug das ju- welenbestickte Gewand der Herren-Gilde, aber auf seiner Wange befand sich das Doppelkreuz der Ver- teidiger, und er hatte die dunkle Stola der Histori- ker um die Schultern gelegt. Ein Angehöriger der Herren-Gilde kann sich in allen anderen Gilden ein- schreiben, und es gehörte sich sogar, daß ein Herr- scher zugleich Verteidiger war; doch es verblüffte mich, daß der Fürst Zugang bei den Historikern ge- sucht hatte. Diese Gilde war eher den Besinnlichen vorbehalten. Er betrachtete mich gleichgültig und sagte: »Du hast einen merkwürdigen Platz für deine Wache ge- wählt, Alter.« »Die Stunde wählte den Ort, Sire«, erwiderte ich. »Ich befand mich hier, als mich die Pflicht rief. Ich wußte nicht, daß Ihr diesen Weg nehmen würdet.«, »Du hast keine Feinde entdeckt?« »Nein, Sire.« Ich wollte schon das unerwartete Auftauchen des Fürsten ausnützen und ihn um Hilfe bitten; aber das Interesse an mir erlosch wie eine flackernde Kerze, und ich wagte es nicht, ihn anzusprechen, als er sich von mir abwandte. Er betrachtete Gormon mit ge- runzelter Stirn und strich sich einige Male über das Kinn. Dann fiel sein Blick auf Avluela. Seine Miene hellte sich auf. Die Kinnmuskeln arbeiteten. Die Na- senflügel zuckten. »Komm zu mir, kleines Schmet- terlingsgeschöpf.« Er winkte. »Bist du die Freundin dieses Wächters?« Sie nickte verschüchtert. Der Fürst streckte ihr die Hand entgegen; sie schwebte zur Sänfte hinauf, und mit einem so häß- lichen Grinsen, daß es fast wie eine Parodie wirk- te, zog sie der Fürst durch den Vorhang. Im näch- sten Augenblick verschlossen zwei Herren die Schallbarriere. Aber die Prozession ging nicht wei- ter. Ich stand wie erstarrt da. Gormons Körper war verkrampft. Ich rollte meinen Karren an eine ande- re Stelle. Lange Minuten vergingen. Die Höflinge schwiegen und wandten den Blick diskret von der Sänfte ab. Endlich öffnete sich der Vorhang wieder. Avlue- la stolperte ins Freie. Ihr Gesicht war blaß, und ihre Augen zuckten. Sie schien wie betäubt, Schweiß lief ihr über die Wangen. Beinahe wäre sie gefallen, aber, ein Neuter stützte sie und geleitete sie zu uns. Die Flügel unter ihrer Jacke waren halb entfaltet, so daß sie bucklig wirkte. Ich wußte, daß sie nur in sehr starker Erregung vergaß, die Flügel zu schließen. Mit unsicheren Schritten kam sie auf uns zu. Sie zitter- te, sagte aber kein Wort. Dann warf sie sich an Gor- mons breite Brust. Die Träger hoben die Sänfte auf. Der Fürst von Roum verließ seinen Palast. Als er fort war, stammelte Avluela heiser: »Der Fürst hat uns Unterkunft in seinem Gästehaus ge- währt.« *, Das Personal wollte uns natürlich nicht glauben. Das Gästehaus des Fürsten befand sich hinter dem Palast in einem kleinen Park mit Farnen und Win- terblumen. Normalerweise fanden hier nur Ange- hörige der Herren-Gilde Unterkunft; gelegentlich durfte ein besonders verdienstvoller Historiker hier weilen, wenn er einen wichtigen Forschungsauftrag durchführte; oder man beherbergte einen Verteidi- ger, der den Fürsten zu strategischen Besprechun- gen aufsuchte. Ein Schmetterlingsgeschöpf im fürst- lichen Gästehaus stellte eine Rarität dar. Daß aber ein Wächter und eine Mißgeburt hier Einzug hiel- ten, wollte kein Mensch glauben. Als wir uns des- halb vorstellten, empfingen uns die Diener mit Spott und Zorn. »Verschwindet!« befahlen sie uns, schließ- lich. »Gesindel! Abschaum der Menschheit!« Avluela entgegnete ernsthaft: »Der Fürst hat uns hier Unterkunft gewährt, und ihr dürft uns nicht ab- weisen.« »Fort von hier!« Ein Mann mit lückenhaftem Gebiß holte einen Lähmungsstab hervor und schwang ihn Gormon ins Gesicht, wobei er eine häßliche Bemerkung über die Gildelosen machte. Gormon schlug ihm den Stab aus der Hand, ohne auf den stechenden Schmerz zu achten, und versetzte ihm einen Faustschlag, daß er zu Boden stürzte und sich übergab. Sofort kamen, Neuter herbeigelaufen. Gormon packte den nächsten Diener und schleuderte ihn in ihre Mitte. Das wilde Geschrei und die Flüche erregten die Aufmerksam- keit eines ehrwürdigen Schreibers, der an die Tür watschelte, lautstark Ruhe befahl und uns nach un- serem Begehr fragte. »Das läßt sich rasch nachprüfen«, sagte er, als Av- luela ihre Geschichte beendet hatte. Er wandte sich an einen Diener: »Sende einen Gedanken an die Kar- teibeamten!« Nach einiger Zeit legte sich die Verwirrung, und wir wurden eingelassen. Man gab uns getrennte, aber benachbarte Räume. Ich hatte noch nie zuvor solchen Luxus erlebt und werde ihn wohl auch nie mehr erleben. Die Zimmer waren hoch und geräu- mig. Man betrat sie durch einen Teleskop-Tunnel, der auf die Wärmeausstrahlung des jeweiligen Be- sitzers reagierte und jedem Fremden das Eindringen verwehrte. Auf einen bloßen Wink hin glühten Lich- ter auf, denn in Deckenkugeln und Wandschalen be- fanden sich Kolonien von selbstleuchtenden Tier- chen. Man hatte sie darauf abgerichtet, die Gesten der Menschen zu interpretieren und ihnen zu ge- horchen. Je nach Wunsch des Bewohners waren die Fenster offen oder wurden von quasi-lebenden Ne- belschleiern einer fremden Welt verdeckt. Sie wa- ren nicht nur hübsch anzusehen, sondern verström- ten obendrein Düfte, die der Stimmung des Gastes entsprachen. In jedem Raum befand sich eine Den-, ker-Kappe, die an die Hauptspeicher angeschlossen war. Mit ihrer Hilfe konnte man außerdem Diener, Schreiber, Kanzleibeamte oder Musiker herbeiru- fen. Natürlich wagte ich, der ich einer so beschei- denen Gilde angehörte, andere Menschen nicht der- artig auszunützen. Ich fürchtete ihren Zorn. Zudem benötigte ich ihre Dienste nicht. Ich fragte Avluela nicht, was in der Fürstensänfte vorgefallen war. Ich konnte es mir ebensogut vorstel- len wie Gormon, dessen kaum unterdrückter Zorn deutlich seine Liebe für unsere schlanke, zierliche Reisebegleiterin verriet. Wir machten es uns bequem. Ich stellte meinen Karren neben dem Fenster ab und bedeckte ihn mit Schleiern. Dort sollte er bleiben, bis meine nächste Wache kam. Ich entledigte mich des Reisestaubs, während kleine Geschöpfe in den Wänden sanfte Melodien summten. Später nahm ich eine Mahlzeit zu mir. Avluela kam herein, frisch und entspannt, und wir plauderten über unsere Erlebnisse. Gormon zeigte sich stundenlang nicht. Ich dachte, daß er vielleicht das Gästehaus ganz verlassen hatte, weil er diese Pracht nicht gewohnt war, und daß er Zu- flucht bei anderen Gildelosen gesucht hatte. Aber als ich in der Abenddämmerung mit Avluela im Park spazierenging und eine Treppe hinaufstieg, um die Sterne über Roum zu betrachten, entdeckte ich Gor- mon. In seiner Begleitung befand sich ein hochge- wachsener, ausgemergelter Mann mit der Stola der, Historiker; die beiden unterhielten sich leise. Gormon nickte mir zu und sagte: »Wächter, ich möchte dir meinen neuen Freund vorstellen.« Der ausgemergelte Mann spielte mit den Fransen seiner Stola. »Ich bin Basil, der Historiker«, sagte er, und seine Stimme war dünn wie ein Fresko, das man von der Wand geschält hat. »Ich komme von Per- ris und möchte tiefer in die Geheimnisse von Roum eindringen. Es wird viele Jahre dauern, bis ich die- ses Ziel erreicht habe.« »Der Historiker weiß interessante Dinge zu erzäh- len«, erklärte Gormon. »Er gehört zu den Ersten sei- ner Gilde. Kurz bevor ihr kamt, beschrieb er mir die Techniken, mit deren Hilfe man die Vergangenheit entschlüsseln kann. Man zieht einen Graben durch die Ablagerungsschicht des Dritten Zyklus und trägt mit Vakuumgeräten die Erdmoleküle ab, bis die alte Formation freiliegt.« »Wir haben die Katakomben der Imperatoren-Epo- che gefunden«, sagte Basil, »und den Schutt aus der Zeit des großen Umsturzes. Wir entdeckten Splitter des weißen Metalls, auf dem man zu Ende des Zwei- ten Zyklus Bücher schrieb. All das wird zur Unter- suchung nach Perris geschickt. Dann, wenn es klas- sifiziert und enträtselt ist, kommt es wieder zurück an seinen Fundort. Interessiert dich die Vergangen- heit, Wächter?« »Oh, gewiß.« Ich lächelte. »Aber Gormon scheint sie zu faszinieren. Ich hege manchmal den Verdacht,, daß er sich nur verstellt. Würdest du einen verklei- deten Historiker erkennen?« Basil sah Gormon prüfend an. Sein Blick fiel auf die grotesken Züge und den muskulösen Körper. »Er ist kein Historiker«, sagte er schließlich. »Aber ich gebe zu, daß er großes Interesse an der Antike zeigt. Er stellte mir viele kluge Fragen.« »Welcher Art?« »Er möchte etwas über den Ursprung der Gilden wissen. Er fragt nach dem Namen des Genetikers, der die ersten fortpflanzungsfähigen Schmetterlin- ge schuf. Er erkundigt sich, weshalb es Mißgebur- ten gibt und ob sie tatsächlich unter dem Fluch des Willens stehen.« »Und du kennst die Antworten auf diese Fra- gen?« »Einige«, entgegnete Basil. »Einige.« »Wie sind die Gilden entstanden?« »Nach dem Zweiten Zyklus befand sich alles in Verwirrung«, sagte der Historiker. »Kein Mensch kannte seinen Rang, niemand wußte, welchen Sinn das Leben hatte. Auf der Erde stolzierten Angehörige fremder Rassen umher, die uns als wertlos betrach- teten. Es war notwendig, gewisse Beziehungspunkte zu schaffen, damit die Menschen sich wieder an et- was klammern konnten. Und so tauchten die ersten Gilden auf: Herrscher, Herren, Kaufleute, Landbesit- zer, Hausierer und Diener. Später kamen die Schrei- ber, Musiker, Komiker und Lastenträger. Danach, wurden Karteibeamte nötig, Wächter und Verteidi- ger. Als uns die Jahre der Magie Schmetterlingsge- schöpfe und Mißgeburten brachten, teilten wir auch sie in Gilden ein. Und dann schuf man die Gildelo- sen, die Neuter, damit …« »Aber die Mißgeburten waren doch auch gilde- los!« warf Avluela ein. »Der Historiker sah sie zum erstenmal an. »Wer bist du, Kind?« »Avluela von der Gilde der Schmetterlingsge- schöpfe. Ich reise mit dem Wächter und der Miß- geburt.« Basil sagte: »Wie ich Gormon bereits erklärte, wa- ren die Mißgeburten anfangs in einer eigenen Gil- de zusammengefaßt. Diese Gilde wurde vor tausend Jahren von den Herrschern aufgelöst, als eine Split- tergruppe versuchte, die heiligen Stätten von Jors- lem zu erobern. Seit dieser Zeit sind die Mißgebur- ten gildelos. Ihr Rang ist kaum höher als der von Neutern.« »Das wußte ich nicht«, sagte ich. »Du bist kein Historiker«, entgegnete Basil selbst- gefällig. »Es ist unsere Aufgabe, die Vergangenheit zu entschlüsseln.« »Gewiß, gewiß.« »Und wieviele Gilden gibt es heute?« fragte Gor- mon. Basil antwortete ausweichend: »Über hundert, mein Freund. Einige sind sehr klein, andere lokal be-, grenzt. Ich beschäftige mich nur mit den ursprüngli- chen Gilden und ihren unmittelbaren Nachfolgern. Was in den letzten Jahrhunderten geschehen ist, wird von anderen Gildemitgliedern behandelt. Soll ich die Information für dich einholen?« »Es war nur eine beiläufige Frage.« Gormon wink- te ab. »Deine Neugier umfaßt viele Gebiete«, meinte der Historiker. »Ich finde die Welt und alles, was in ihr vorgeht, faszinierend. Ist das verboten?« »Es ist merkwürdig«, entgegnete Basil. »Die Gil- delosen wagen sich selten über ihren Horizont hin- aus.« Ein Diener tauchte auf. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Verachtung verbeugte er sich vor Av- luela und sagte: »Der Fürst ist zurückgekehrt. Er wünscht Eure Gesellschaft im Palast.« Angst flackerte in Avluelas Augen. Aber sie konn- te nicht widersprechen. »Soll ich dich begleiten?« fragte sie. »Bitte. Ihr müßt gebadet und neu eingekleidet wer- den. Der Fürst wünscht zudem, daß Ihr mit geöffne- ten Flügeln zu ihm kommt.« Avluela nickte. Der Diener brachte sie fort. Wir blieben noch eine Weile draußen stehen; der Historiker Basil erzählte von der Vergangenheit Roums, und ich hörte ihm zu. Gormon starrte in das wachsende Dunkel. Nach einer Weile verabschiede-, te sich der Historiker und entfernte sich mit gewich- tigen Schritten. Sekunden später öffnete sich in ei- nem Hof unter uns eine Tür, und Avluela tauchte auf. Sie bewegte sich, als gehörte sie zur Gilde der Schlafwandler. Transparente Schleier umhüllten sie, und ihr fragiler Körper schimmerte geisterhaft weiß im Licht der Sterne. Ihre Flügel waren ausgebrei- tet und hoben und senkten sich im Rhythmus ihres Herzschlages. Zwei Diener hatten sie an den Ellbo- gen gefaßt und führten sie auf den Palast zu. »Flieg, Avluela, flieg!« flüsterte Gormon. »Jetzt kannst du noch entkommen!« Sie verschwand in einem Seiteneingang des Pa- lastes. Die Mißgeburt sah mich an. »Sie hat sich an den Fürsten verkauft, um uns Quartier zu verschaffen.« »So scheint es.« »Ich könnte den ganzen Palast niederreißen!« »Du liebst sie?« »Das dürfte offenkundig sein.« »Komm zur Vernunft«, riet ich ihm. »Du bist ein außergewöhnlicher Mann, aber ein Schmetterlings- geschöpf ist nichts für dich. Ganz besonders nicht Avluela, die das Bett des Fürsten geteilt hat.« »Sie geht von meinen Armen in seine.« Ich war erschüttert. »Du hast Avluela besessen?« »Mehr als einmal.« Er lächelte bitter. »Im Augen- blick der Ekstase schlagen ihre Flügel wie Blätter im Sturm.«, Ich umkrampfte das Geländer, um nicht in den unteren Hof zu stürzen. Die Sterne wirbelten; der alte Mond und seine beiden künstlichen Gefährten schwankten. Ich war erschüttert, ohne den Grund meiner Erregung voll zu begreifen. War es Zorn dar- über, daß Gormon es gewagt hatte, ein Gesetz zu brechen? War es ein Ausbruch jener väterlichen Ge- fühle, die ich für Avluela hegte? Oder war es reiner Neid, daß Gormon es wagte, eine Sünde zu begehen, zu der ich nicht fähig war? »Dafür könnten sie dir das Gehirn ausbrennen und die Seele nehmen«, sagte ich. »Und nun machst du mich auch noch zum Mitwisser.« »Was soll’s? Dieser Fürst befiehlt, und er bekommt, was er verlangt – aber es gab andere vor ihm. Das mußte ich jemandem sagen.« »Hör auf!« »Werden wir sie wiedersehen?« »Fürsten wechseln ihre Frauen oft. Ein paar Tage, vielleicht eine einzige Nacht – dann wird er sie wie- der wegwerfen. Und dann müssen vermutlich auch wir sein Gästehaus verlassen.« Ich seufzte. »Zumin- dest genießen wir jetzt die unverdiente Gunst.« »Wie sehen deine Zukunftspläne aus?« fragte Gor- mon. »Ich möchte eine Weile in Roum bleiben.« »Selbst wenn du auf der Straße schlafen mußt? Man scheint hier keine Wächter zu brauchen.« »Ich werde schon durchkommen. Später begebe, ich mich vielleicht nach Perris.« »Um mit den Historikern Verbindung aufzuneh- men?« »Um Perris zu sehen. Und du? Was hält dich hier in Roum?« »Avluela.« »Hör auf!« »Schon gut«, sagte er, und sein Lächeln war hart. »Aber ich bleibe hier, bis der Fürst ihrer müde wird. Dann gehört sie mir, und ich werde Mittel und Wege finden, mit ihr zusammenzuleben. Wir Gildelosen sind erfinderisch. Wir müssen es sein. Vielleicht schlagen wir unser Quartier eine Weile in Roum auf und begleiten dich dann nach Perris. Wenn es dich nicht stört, mit Ungeheuern und treulosen Schmet- terlingsgeschöpfen zu reisen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Darüber sprechen wir, wenn die Zeit gekommen ist.« »Warst du schon je zuvor in Gesellschaft einer Mißgeburt?« »Nicht sehr oft und nicht für längere Zeit.« »Ich fühle mich geehrt.« Er trommelte mit den Fingern gegen das Geländer. »Schlage mir die Bitte nicht ab, Wächter. Ich stelle sie aus einem ganz be- stimmten Grund.« »Und der wäre?« »Ich möchte dein Gesicht an dem Tag sehen, an dem deine Instrumente dir sagen, daß die Invasion begonnen hat.«, Ich spürte, wie ein Gewicht meine Schultern nie- derdrückte. »Dann wirst du mich lange begleiten müssen.« »Glaubst du nicht, daß die Invasion kommen wird?« »Eines Tages. Aber nicht jetzt.« Gormon lachte vor sich hin. »Du täuschst dich. Sie steht kurz bevor.« »Ich kann deine Bemerkung nicht witzig finden.« »Was ist, Wächter? Hast du den Glauben verloren? Es ist seit tausend Jahren bekannt: Eine fremde Ras- se begehrt die Erde und wird eines Tages kommen, um sie sich anzueignen. Sie besitzt sogar einen Ver- trag, nach dem ihr die Erde gehört. Soviel wurde ge- gen Ende des Zweiten Zyklus bekannt.« »Ich weiß das alles, und ich bin kein Historiker.« Dann sah ich ihn an und sprach Worte, die mir bis- her noch nie über die Lippen gekommen waren. »Mißgeburt, ich habe die doppelte Zahl deiner Le- bensjahre Wache gehalten und die Sterne beobach- tet. Etwas, das so oft wiederholt wird, verliert sei- ne Bedeutung. Sag deinen Namen zehntausendmal, und er wird ein leerer Klang sein. Ich habe gewacht und gut gewacht, und in den dunklen Stunden der Nacht denke ich manchmal, daß ich umsonst wa- che, daß ich mein Leben vergeudet habe. Das Wa- chen bereitet Freude, aber ich weiß nicht, ob es ei- nen Zweck hat.« Er umkrampfte mein Handgelenk. »Dein Geständ-, nis ist ebenso schockierend wie das meine. Behalte deinen Glauben, Wächter! Die Invasion wird kom- men.« »Woher willst du das wissen?« »Auch die Gildelosen haben ihre Begabungen.« Das Gespräch beunruhigte mich. »Ist es schmerz- haft, ohne Gilde zu sein?« »Man findet sich damit ab. Und es gibt gewisse Freiheiten, die den Mangel an Status ausgleichen. Ich kann unbefangen mit jedermann sprechen.« »Das höre ich.« »Ich bewege mich frei. Ich bekomme immer Nah- rung und Unterkunft, auch wenn die Nahrung ver- dorben und die Unterkunft schlecht ist. Obwohl es ihnen verboten ist, fühlen sich die Frauen zu mir hingezogen. Vielleicht gerade deshalb. Und mich plagt kein Ehrgeiz.« »Du hattest nie den Wunsch, deinen Status zu ver- bessern?« »Nie.« »Als Historiker wärst du vielleicht glücklicher.« »Ich bin auch jetzt glücklich. Ich genieße die Freu- den eines Historikers, ohne seine Verantwortung zu tragen.« »Wie selbstgefällig du sprichst!« rief ich. »Wie kann man aus der Gildelosigkeit eine Tugend machen?« »Wie sonst ließe sich die Bürde des Willens ertra- gen?« Er warf einen Blick zum Palast. »Die Demü- tigen werden sich erheben. Die Mächtigen werden, fallen. Ich prophezeie dir eines, Wächter: der lüster- ne Fürst da drinnen wird das Leben kennenlernen, noch bevor der Sommer um ist. Ich werde ihm die Augen aus den Höhlen reißen, weil er mir Avluela genommen hat.« »Starke Worte! Du begehst heute einen Verrat nach dem anderen.« »Nimm es als Prophezeiung!« »Du kannst gar nicht in seine Nähe gelangen«, sagte ich. Dann, verärgert, daß ich seine einfältigen Reden ernst nahm, fügte ich hinzu: »Und weshalb greifst du ihn an? Er tut nur, was alle Fürsten tun. Gib dem Mädchen die Schuld. Sie hätte sich wei- gern können.« »Und hätte ihre Flügel dabei verloren. Oder den Tod gefunden. Nein, sie hatte keine Wahl. Ich werde sie rächen.« In einer plötzlichen Geste krümmte die Mißgeburt Daumen und Zeigefinger und stieß sie in unsichtbare Augen. »Warte!« sagte er. »Du wirst es sehen.« Zwei Zeit- und Wettermesser kamen in den Hof und bauten die Instrumente ihrer Gilde auf. Sie ent- zündeten Wachskerzen, und der Rauch stieg mir bei- ßend in die Nase. Ich hatte keine Lust mehr, mich mit der Mißgeburt zu unterhalten. »Es wird spät«, sagte ich. »Ich bin müde und muß bald meine Wache halten.« »Wache gründlich!« riet Gormon., Abends vollführte ich in meiner Kammer die vierte und letzte Wache dieses langen Tages, und zum er- stenmal im Leben entdeckte ich eine Unregelmäßig- keit. Ich konnte sie nicht näher erfassen. Es war ein vages Gefühl, ein Hören und zugleich Schmecken, der Eindruck, daß ich mit einer gewaltigen Masse in Kontakt stand. Ich war beunruhigt und beschäftigte mich weit länger als sonst mit meinen Instrumen- ten, aber das Gefühl war zu Ende der Sitzung nicht klarer als zu Beginn. Danach überlegte ich, was ich tun sollte. Wächtern wird von Jugend an eingebleut, daß sie sofort Alarm geben müssen, wenn sie glauben, die Welt sei in Gefahr. War ich nun verpflichtet, die Ver- teidiger zu verständigen? Viermal in meinem bishe- rigen Leben war Alarm gegeben worden, und im- mer hatte es sich um einen Irrtum gehandelt. Die Wächter, die Schuld an dieser Falschmeldung tru- gen, hatten ihren Status verloren. Einer hatte sein Gehirn den Historikern zur Verfügung gestellt; einer war aus Scham zu den Neutern gegangen; einer hat- te seine Instrumente zertrümmert und beschlossen, unter den Gildelosen zu leben; und einer, der ver- sucht hatte, weiterhin seinen Beruf auszuüben, war von seinen Kollegen verspottet und verhöhnt wor- den. Ich verstand nicht, weshalb man einen Men- schen verachtete, der einen Fehlalarm ausgelöst hat-, te, denn war es nicht besser, zu früh zu warnen als zu spät? Aber so waren eben die Sitten unserer Gil- de, und ich mußte mich danach richten. Ich zog noch einmal alles in Erwägung und kam zu dem Schluß, daß die Gründe für einen Alarm nicht ausreichten. Wahrscheinlich hatte mir an diesem Abend Gor- mon dumme Gedanken in den Kopf gesetzt. Seine spöttischen Reden von der bevorstehenden Invasi- on hatten mich beeinflußt. Ich konnte nicht handeln. Ich wagte es nicht, mei- ne Stellung durch eine voreilige Warnung aufs Spiel zu setzen. Ich mißtraute meinen eigenen Gefühlen. Ich löste keinen Alarm aus. Verwirrt, aufgewühlt, mit schwerem Herzen, schloß ich den Karren und fiel in einen tiefen Schlaf. Im Morgengrauen erwachte ich und lief sofort ans Fenster. Unterbewußt rechnete ich damit, Invasoren auf den Straßen zu sehen. Aber alles war still; das Grau des Winters hing über dem Hof, und schläfri- ge Diener kommandierten widerstandslose Neuter umher. Mit Unbehagen machte ich mich an die er- ste Wache des neuen Tages, aber das sonderbare Ge- fühl des Vorabends kehrte zu meiner großen Erleich- terung nicht wieder. Allerdings war mir klar, daß nachts meine Aufnahmebereitschaft: immer stärker ist als am Tage. Ich aß und ging in den Hof hinaus. Gormon und, Avluela warteten bereits. Sie wirkte erschöpft und niedergeschlagen, ausgehöhlt von den Erlebnissen der Nacht, aber ich vermied es, mit ihr darüber zu sprechen. Gormon lehnte verächtlich an einer mu- schelverzierten Mauer. »Wie war die Wache?« frag- te er. »Danke, gut.« »Und wie möchtest du den heutigen Tag verbrin- gen?« »Ich werde mir Roum ansehen«, sagte ich. »Kommt ihr mit?« »Natürlich«, erwiderte Gormon, und Avluela nick- te leicht. Und so schlenderten wir wie Touristen durch das herrliche Roum. Gormon war unser Führer durch die wirre Vergan- genheit Roums und widerlegte damit die Behaup- tung, er sei noch nie zuvor hier gewesen. Wie ein Historiker beschrieb er die Dinge, auf die wir bei unserer Wanderung durch die winkeligen Straßen stießen. Überreste aus den Epochen vieler Jahrtau- sende begegneten uns. Wir sahen die Energiekup- peln des Zweiten Zyklus und das Kolosseum, wo in unvorstellbarer Vergangenheit Mensch und Tier wie Dschungelbestien aufeinander losgegangen wa- ren. In den Trümmern dieses Bauwerks erzählte uns Gormon von der Grausamkeit jener fernen Epochen. »Sie kämpften nackt vor riesigen Zuschauermengen. Mit bloßen Händen griffen die Männer Löwen an, Raubkatzen mit zotteligen Mähnen; und wenn das, Tier in seinem Blute dalag, wandte sich der Sieger dem Fürsten von Roum zu und bat darum, von den Verbrechen, die er begangen und die ihn in die Are- na gebracht hatten, freigesprochen zu werden. Und wenn er gut gekämpft hatte, machte der Fürst ein Zeichen mit der Hand, und der Mann war frei.« Gormon führte uns die Geste vor: er hob den Dau- men und wies damit mehrmals über die rechte Schulter. »Aber wenn der Mann sich als feige erwie- sen hatte oder wenn der Löwe vor seinem Tod be- sonders gut gekämpft hatte, dann machte der Fürst eine andere Handbewegung, und der Mann wurde dazu verurteilt, gegen die nächste Bestie anzutre- ten.« Gormon zeigte uns auch diese Geste: der Mit- telfinger der geschlossenen Faust wies kurz nach oben. »Woher weiß man diese Dinge?« fragte Avluela, aber Gormon tat, als habe er den Satz nicht gehört. Wir sahen die hoch aufragenden Masten, die man zu Beginn des Dritten Zyklus erreicht hatte, um aus dem Erdinnern Energie anzuzapfen; sie funktionier- ten immer noch, wenn sie auch rostzerfressen und alt waren. Wir sahen die zerbrochene Säule einer Wettermaschine aus dem Zweiten Zyklus. Immer noch war sie mindestens zwanzig Mann hoch. Wir sahen einen Hügel, auf dem weiße Marmorbrocken des Ersten Zyklus wie blasse Todesblumen verstreut lagen. Als wir in den Kern der Stadt vordrangen, stießen wir auf eine Reihe von Verteidigungsver-, stärkern, mit deren Hilfe man Invasoren die volle Macht des Willens entgegenschleudern konnte. Wir besuchten einen Markt, wo Besucher von den Ster- nen mit Bauern um ausgegrabene Trümmer der An- tike feilschten. Gormon mischte sich unter die Men- ge und erstand ein paar Kleinigkeiten. Wir kamen zu einer Lebewesen-Handlung, in der Reisende von Quasi-Geschöpfen bis zu Leidenschaftserregern alles kaufen konnten. Wir aßen in einem kleinen Restau- rant am Ufer des Tver, wo auch Gildelose ohne viel Aufhebens bedient wurden. Gormon bestand dar- auf, daß wir einheimische Spezialitäten bestellten – weiche teigartige Bänder und einen herben gold- gelben Wein. Dann schlenderten wir durch einen überdach- ten Säulengang, in dessen Nischen plumpe Hausie- rer Waren von den Sternen, prachtvollen Kleinkram von Afreek und die armseligen Erzeugnisse des ei- genen Landes feilhielten. Die Arkaden mündeten in eine Plaza mit einem bootsförmigen Brunnen. Da- hinter erhob sich eine vielfach gesprungene Stein- treppe, die zu einem unkrautübersäten Ruinenplatz führte. Gormon winkte, und wir stolperten über das häßliche Trümmerfeld. Dann jedoch sahen wir ei- nen prunkvollen Palast vor uns, der sich an einen Hügel lehnte. Er schien aus dem frühen Zweiten oder gar aus dem Ersten Zyklus zu stammen. »Man sagt, dies sei der Mittelpunkt der Welt«, er- klärte Gormon. »Auch in Jorslem gibt es einen Platz,, der diese Ehre für sich in Anspruch nimmt. Die Stel- le ist auf den Landkarten verzeichnet.« »Wie kann die Welt an ihrer Oberfläche einen Mit- telpunkt besitzen, wenn sie rund ist?« fragte Avlue- la. Gormon lachte. Wir betraten das Bauwerk. Im In- nern, in kühlem Dunkel, entdeckten wir eine juwe- lengeschmückte Erdkugel, die von innen beleuch- tet wurde. »Hier habt ihr eure Welt«, sagte Gormon mit einer weitausholenden Geste. »Oh!« Avluela hielt den Atem an. »Alles – alles ist darauf verzeichnet.« Der Globus war das Werk eines Meisters. Er zeig- te naturgetreue Umrisse und Erhebungen, die Meere wirkten wie tiefe spiegelnde Teiche, die Wüsten wa- ren so trocken, daß man Durst empfand, und in den Städten wimmelte es von Leben. Ich erkannte die Kontinente: Eyrop, Afreek, Ais und Stalya. Ich be- trachtete das riesige Erdmeer. Ich fuhr mit dem Fin- ger über die goldene Spanne der Landbrücke, die ich noch vor kurzem unter vielen Mühen zu Fuß über- quert hatte. Avluela suchte Roum, Agupt, Jorslem und Perris. Sie deutete auf die hohen Berge nördlich von Hind und sagte leise: »Hier bin ich geboren, wo das Eis nie schmilzt und die Berge den Mond berüh- ren. Hier haben die Schmetterlingsgeschöpfe ihr Kö- nigreich.« Sie fuhr mit dem Finger nach Westen, auf Fars zu, und dann weiter in die furchtbare Arban-, Wüste und nach Agupt. »Diesen Weg bin ich geflogen. Nachts, als ich die Schwelle der Kindheit überschritten hatte. Wir müs- sen alle fliegen, und ich wählte diese Strecke. Oft und oft dachte ich, daß ich sterben müßte. Hier in der Wüste, mit Sand in der Kehle und Sandkörnern auf den Flügeln, mußte ich landen. Ich lag tagelang nackt im heißen Sand. Ein anderer Schmetterling sah mich und bekam Mitleid. Er half mir beim Auf- stieg. Als ich mich in der Luft befand, kehrte meine Kraft zurück, und wir flogen gemeinsam nach Agupt weiter. Aber er starb über dem Meer. Sein Leben er- losch, obwohl er noch jung und kräftig war, und er stürzte ins Wasser. Ich flog nach unten, um bei ihm zu sein, und das Meer war sogar nachts heiß. Ich trieb dahin, und der Morgen kam, und dann sah ich die Koralleninseln und die vielfarbigen Fische. Sie schwammen auf ihn zu und schnappten nach ihm, während er mit ausgebreiteten Flügeln auf der Was- serfläche lag. Ich drückte ihn in die Tiefe, damit er dort seinen Frieden finden konnte, und flog weiter nach Agupt, allein, verängstigt. Und dort traf ich dich, Wächter.« Schüchtern lächelte sie mich an. »Zeig uns, wo du geboren bist, Wächter!« Mit steifen Knien humpelte ich zur anderen Seite der Erdkugel hinüber. Avluela folgte mir, während Gormon zurückblieb, als interessierte ihn die Sache nicht. Ich deutete auf die verstreuten Inseln, die in zwei langen Streifen das Erdmeer durchziehen – die, Überreste des Verlorenen Kontinents. »Hier«, sagte ich und deutete auf meine Heimatin- sel im Westen. »Hier wurde ich geboren.« »So weit weg!« rief Avluela. »Und vor so langer Zeit«, entgegnete ich. »Manch- mal glaube ich, es war bereits im Zweiten Zyklus.« »Nein! Das ist unmöglich!« Aber sie sah mich an, als könnte es wahr sein, daß ich bereits mehr als tausend Jahre zählte. Ich strich lächelnd über ihre weiche Wange. »Es kommt mir nur so vor«, sagte ich. »Wann hast du deine Heimat verlassen?« »Als ich doppelt so alt war wie du«, sagte ich. »Ich kam zuerst hierher …« ich deutete auf die öst- liche Inselgruppe. »Ich verbrachte ein Dutzend Jah- re als Wächter auf Palash. Dann trieb mich der Wille über das Erdmeer nach Afreek. Ich lebte eine Weile in den heißen Ländern. Dann ging ich weiter nach Agupt. Dort traf ich ein kleines Schmetterlingsmäd- chen.« Ich schwieg und betrachtete die Inseln, die meine Heimat gewesen waren. Aus meinem Innern verschwand das Bild des hageren, verwitterten Al- ten, und ich sah mich noch einmal als jungen Mann, wie ich in den grünen Bergen umherkletterte und im kühlen Meer badete. Zu jener Zeit hielt ich mei- ne Wache an einem weißen Strand, gegen den die Brandung dröhnte. Während ich vor mich hinsann, wandte sich Av- luela an Gormon und sagte: »Und jetzt du! Zeig uns,, woher du kommst, Mißgeburt!« Gormon zuckte mit den Schultern. »Der Ort ist nicht auf diesem Globus verzeichnet.« »Aber das ist unmöglich!« »Wirklich?« fragte er. Sie drängte ihn, aber er wich ihren Fragen aus, und wir traten durch einen Seitenausgang auf die Straßen Roums. Ich wurde allmählich müde, aber Avluela hät- te am liebsten die ganze Stadt an einem Nachmit- tag durchforscht, und so schlenderten wir weiter durch das Labyrinth der Straßen. Wir passierten ein prunkvolles Viertel, in dem die Herren und Kaufleu- te wohnten, und sahen die sumpfigen Behausungen der Diener und Hausierer am Rande der Katakom- ben. Wir kamen durch die Wohnbezirke der Musiker und Komiker, und die Schlafwandler boten uns ihre zweifelhaften Dienste an. Eine dicke Frau beschwor uns, ihre Wohnung zu betreten und die Zukunft zu erfahren. Avluela sah uns bittend an, aber Gormon schüttelte den Kopf, und ich lächelte nur. Wir gin- gen weiter. Nun befanden wir uns am Rande eines Parks im Herzen der Stadt. Hier flanierten die Bür- ger von Roum mit einem Eifer, wie ich ihn im hei- ßen Agupt selten erlebt hatte. Wir schlossen uns den Spaziergängern an. »Seht doch!« rief Avluela. »Wie das leuchtet!« Sie deutete auf den schimmernden Bogen einer Kugel, die irgendein wertvolles Zeugnis des Alter-, tums umschloß. Als ich die Augen beschattete, er- kannte ich im Innern der Sphäre eine verwitterte Steinmauer, die von einer Menschentraube umge- ben war. »Das ist der Rachen der Wahrheit«, sagte Gormon. »Was soll das heißen?« erkundigte sich Avluela. »Komm! Sieh es dir an!« Eine Menschenschlange wartete vor der Sphäre. Wir schlossen uns an und standen bald am Eingang. Wir starrten in den zeitlosen Raum, der jenseits der Schwelle begann. Ich wußte nicht, weshalb man ge- rade diesem Bauwerk einen besonderen Schutz hat- te angedeihen lassen, und so fragte ich Gormon, der die Klugheit eines Historikers besaß. »Weil man hier absolute Sicherheit erlangen kann«, erwiderte Gor- mon. »Weil hier die Aussagen genau mit den Fakten übereinstimmen. « »Das verstehe ich nicht«, sagte Avluela. »Es ist unmöglich, an diesem Ort zu lügen«, er- klärte Gormon. »Kannst du dir ein wertvolleres Ver- mächtnis der Vergangenheit vorstellen?« Er trat über die Schwelle, und einen Moment lang wirkte sei- ne Gestalt verschwommen. Ich folgte ihm rasch. Av- luela zögerte. Es dauerte lange, bis sie eintrat. Der Wind, der an der Schwelle des winzigen, in sich ge- schlossenen Universums blies, schien sie zurückzu- drängen. In einem besonderen Abteil befand sich der Ra- chen der Wahrheit. Die Menschenschlange beweg-, te sich darauf zu, und ein würdevoll dreinblicken- der Beamter dirigierte den Strom zum Heiligtum. Es dauerte eine Weile, bevor wir eintreten durften. Und dann standen wir vor dem grausigen Kopf ei- nes Ungeheuers in Hochrelief. Der Stein war vom Alter zerfressen. Das Monstrum hatte sein Maul weit aufgerissen; eine finstere Höhle gähnte uns entge- gen. Gormon nickte, als sei alles so, wie er es erwar- tet habe. »Was machen wir nun?« fragte Avluela. Gormon sagte: »Wächter, leg deine Rechte in den Rachen der Wahrheit.« Stirnrunzelnd kam ich seinem Befehl nach. »Einer von uns wird dir jetzt eine Frage stellen«, fuhr Gormon fort. »Du mußt sie beantworten. Wenn du etwas anderes als die Wahrheit sprichst, schließt sich das Maul und trennt dir die Hand ab.« »Nein!« stieß Avluela hervor. Ich warf einen unbehaglichen Blick auf die Stein- kiefer, die meine Hand umschlossen. Ein Wächter, der seine Hand nicht mehr gebrauchen kann, ist ein Mann ohne Beruf; im Zweiten Zyklus hätte man vielleicht eine Prothese erhalten, die noch kunstvol- ler war als das eigene Glied, aber der Zweite Zyklus war längst vorbei, und heutzutage kennt man solche Dinge nicht mehr. »Wie ist so etwas möglich?« fragte ich. »Der Wille ist in diesem Bezirk besonders stark«, erwiderte Gormon. »Er unterscheidet streng zwi-, schen Wahrheit und Lüge. Im Hintergrund der Wand befinden sich drei Schlafwandler, durch die der Wille spricht, und sie steuern den Rachen. Hast du Angst vor dem Willen, Wächter?« »Ich habe Angst vor meiner eigenen Zunge.« »Sei tapfer. Noch nie ist in dieser Sphäre eine Lüge ausgesprochen worden. Noch nie ging eine Hand verloren.« »Gut, dann fangt an«, sagte ich. »Wer wird mir eine Frage stellen?« »Ich«, entgegnete Gormon. »Ich möchte folgendes wissen: Kannst du mit reinem Gewissen sagen, daß du dein Leben als Wächter sinnvoll findest?« Ich schwieg lange Zeit und betrachtete das aufge- rissene Maul. Meine Gedanken kreisten. Schließlich erwiderte ich: »Wenn man sein Leben dafür opfert, die anderen Menschen zu beschützen, hat man vielleicht eine edle Aufgabe erfüllt.« »Vorsicht!« rief Gormon angstvoll. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte ich. »Weiter!« »Aber es ist sinnlos, einem imaginären Feind nach- zujagen, und es ist töricht und sündhaft, Zufrieden- heit mit sich selbst zu zeigen, wenn man den Feind nicht aufgespürt hat. Mein Leben war eine Ver- schwendung.« Die Kiefer des Mauls zuckten nicht. Ich zog meine Hand heraus. Ich starrte sie an, als sei sie eben erst aus dem Gelenk gewachsen. Ich, fühlte mich plötzlich Zyklen alt. Avluela hatte die Augen weit aufgerissen und preßte die Hand vor den Mund. Meine Worte schienen sie schockiert zu ha- ben. »Du hast ehrlich gesprochen und dich dabei nicht geschont«, sagte Gormon. »Du urteilst zu hart über dich, Wächter.« »Ich wollte meine Hand nicht verlieren«, entgeg- nete ich. »Hätte ich lügen sollen?« Er lächelte und wandte sich an Avluela. »Nun du!« Sichtlich verängstigt trat das kleine Schmetter- lingsgeschöpf an das Maul heran. Ihre winzige Hand zitterte. Ich wäre am liebsten zu ihr hingelaufen und hätte sie von dem teuflischen Monstrum fortgeris- sen. »Wer stellt die Frage?« »Ich«, erklärte Gormon. Avluelas Flügel bewegten sich schwach unter den Kleidern. Ihr Gesicht wurde blaß; ihre Nasenflügel bebten; sie schob die Oberlippe vor. Geduckt stand sie an der Wand und betrachtete ihren Arm. Vor der Kammer sahen wir verwischt die Gesichter der Wartenden; ihre Lippen bewegten sich. Zweifellos drückten sie ihre Ungeduld über unser langes Ver- weilen aus. Aber wir hörten nichts. Die Atmosphä- re um uns war stickig und warm, und sie enthielt jenen leichten Modergeruch, der allen alten Dingen anhaftet., Gormon sagte langsam: »Vergangene Nacht hast du es zugelassen, daß der Fürst von Roum Besitz von deinem Körper ergriff. Zuvor hattest du dich der Mißgeburt Gormon hingegeben, obwohl Sitte und Gesetz solche Verbindungen nicht dulden. Sehr viel früher noch warst du die Gefährtin eines Schmet- terlings, der inzwischen nicht mehr lebt. Vielleicht hast du noch andere Männer geliebt, aber von ihnen weiß ich nichts, und sie sind unwichtig für meine Frage. Sage mir eines, Avluela: wer erweckte deine leidenschaftlichsten Gefühle, und wen würdest du zum Partner nehmen, wenn du die Wahl hättest?« Ich wollte protestieren, daß die Mißgeburt drei und nicht eine Frage gestellt und sich somit einen Vorteil verschafft hatte. Aber ich kam nicht mehr dazu, denn Avluela antwortete ohne Zögern, die Hand in den Fängen des Ungeheuers: »Der Fürst von Roum erregte meinen Körper mehr als jeder an- dere Mann, aber er ist kalt und grausam, und ich verachte ihn. Meinen toten Schmetterlingsgefähr- ten habe ich tiefer als jeden anderen geliebt, aber er war schwach, und ich hätte keinen Schwächling zum Partner genommen. Du, Gormon, erscheinst mir auch jetzt noch manchmal als Fremder, und ich habe das Gefühl, weder deinen Körper noch deine Seele zu kennen. Und doch, obwohl Abgründe zwi- schen uns liegen, würde ich dich als Gefährten mei- ner Zukunft wählen.« Sie zog ihre Hand aus dem Rachen., »Gut gesprochen!« sagte Gormon, obwohl ihre deutlichen Worte ihn auch geschmerzt hatten. »Wenn die Umstände es erfordern, besitzt du eine erstaunliche Redegewandtheit. Und nun bin ich an der Reihe, meine Hand zu riskieren.« Er ging auf den Rachen zu, und ich sagte: »Du hast die ersten beiden Fragen gestellt. Möchtest du nicht das Werk vollenden und auch die letzte stellen?« »Kaum«, entgegnete er. Er machte mit der freien Hand eine lässige Bewegung. »Steckt ruhig die Köp- fe zusammen und beratet, was ihr von mir wissen wollt.« Avluela und ich berieten. Mit einer Zielstrebigkeit, die ich von ihr nicht gewohnt war, schlug sie eine Frage vor; und da es die gleiche war, die mir auf der Zunge gelegen hatte, stimmte ich zu. Sie sagte: »Als wir vor der Weltkugel standen, Gor- mon, bat ich dich, mir deine Heimat zu zeigen. Du gabst zur Antwort, daß du sie auf dem Globus nicht finden könntest. Das erschien mir äußerst sonderbar. Ich frage dich nun folgendes: Bist du wirklich eine Mißgeburt, die ziellos durch die Welt wandert?« »Nein«, erwiderte er. In gewissem Sinne hatte er die Frage Avluelas be- antwortet, aber uns allen war klar, daß diese Aus- kunft nicht genügte, und er ließ seine Hand in den Fängen des Ungeheuers, als er fortfuhr: »Ich konnte euch meine Heimat auf der Weltkugel nicht zeigen, weil ich nicht auf der Erde geboren wurde, sondern, auf einem Planeten, dessen Namen ich nicht ver- raten darf. Ich bin keine Mißgeburt, sondern habe mich lediglich verkleidet. Ich lebe seit zehn Jahren auf der Erde.« »Und was suchst du hier auf der Erde?« fragte ich. »Ich muß nur eine Frage beantworten«, sagte Gor- mon. Doch dann lächelte er. »Aber ihr sollt die Antwort erfahren. Ich wurde als militärischer Be- obachter auf die Erde geschickt, um die Invasion vorzubereiten, auf die ihr so lange gewartet habt und an die ihr nicht mehr glaubt. Sie wird in weni- gen Stunden erfolgen.« »Lügen!« schrie ich ihm entgegen. »Lügen!« Gormon lachte. Und er zog seine Hand unversehrt aus dem Rachen der Wahrheit. *, Verwirrt und betäubt floh ich mit meinem Instru- mentenkarren aus der schimmernden Sphäre. Un- vermittelt stand ich in einer dunklen, kühlen Straße. Die Nacht war zu winterlich früher Stunde herein- gebrochen. In einiger Zeit mußte ich mit der letzten Wache des Tages beginnen. Gormons Spott dröhnte durch mein Gehirn. Er hatte alles geplant; er hatte uns zum Rachen der Wahrheit gelockt; er hatte mich zu dem Geständnis gezwungen, daß ich nicht mehr an meinen Beruf glaubte; und auch von Avluela hatte er ein Bekennt- nis erpreßt. Er hatte uns schonungslos die Wahrheit enthüllt, obwohl er dazu nicht verpflichtet gewesen wäre. Seine Worte hatten mich im Innersten getrof- fen. War der Rachen der Wahrheit ein Betrug? Konnte Gormon uns belügen, ohne gestraft zu werden? Seit ich meinen Beruf aufgenommen hatte, wach- te ich zu vorgeschriebenen Stunden. Doch nun bra- chen alle Regeln zusammen; ich konnte nicht auf die neunte Stunde warten. Ich kauerte auf der zu- gigen Straße nieder, öffnete den Karren, richtete die Instrumente her und versenkte mich in den Zustand der Trance. Mein verstärktes Bewußtsein jagte zu den Ster- nen. Wie ein Gott schwebte ich durch die Unend- lichkeit. Ich spürte die Macht der Sonnenstürme,, aber ich war kein Schmetterlingsgeschöpf und hielt dem Druck stand. Weiter schwebte ich, vorbei an den heftigen Lichtpartikeln, in den dunklen Raum jenseits der Sonne. Und dort erfaßte mich ein neu- er Druck. Sternschiffe kamen näher. Nicht die Passagierschiffe, die gaffende Touristen zu unserer verfallenen Welt brachten. Nicht die Transporter der Handelsflotte, nicht die Räumschif- fe, welche die interstellaren Dämpfe beseitigen, und nicht die Vergnügungsjachten in ihren Hyperbelbah- nen. Das hier waren Militärschiffe, dunkel, fremdartig, drohend. Ich wußte nicht, wie viele es waren; ich erkannte nur, daß sie mit vielfacher Lichtgeschwin- digkeit auf die Erde zurasten und einen Kegel ver- drängter Energie vor sich herschoben. Und dieser Kegel war es, den ich bereits vergangene Nacht ge- spürt hatte, der sich durch die Instrumente in mein Inneres gebohrt und mich umgeben hatte wie ein Kristallwürfel, in dem die Belastungskurven auf- schimmern. Mein Leben lang hatte ich darauf gewartet. Ich war dazu ausgebildet worden, es zu spüren. Ich hatte gebetet, daß ich es nie spüren würde, und dann, in meiner Leere, hatte ich mir das Gegenteil gewünscht – und schließlich hatte ich aufgehört, daran zu glauben. Aber nun spürte ich es, in einer kalten Straße Roums, dicht neben dem Rachen der, Wahrheit. Ich spürte es, weil die Mißgeburt Gormon mich darauf aufmerksam gemacht hatte und weil ich die Stunde meiner Wache vorverlegt hatte. Jeder Wächter weiß, daß er sich aus der Trance lösen muß, sobald seine Beobachtungen durch eine sorgfältige Nachprüfung bestätigt sind. Gehorsam wechselte ich von einem Kanal zum anderen, doch das Gefühl blieb: titanische Kräfte jagten mit unvor- stellbarer Geschwindigkeit auf die Erde zu. Entweder ich täuschte mich, oder die Invasion war gekommen. Aber ich konnte mich nicht aus meiner Trance befreien, um den Alarm auszulösen. Langsam sog ich die Wahrnehmungen auf und verarbeitete sie. Ich befragte meine Instrumente und ließ mir die persönlichen Eindrücke bestätigen. Mir war bewußt, daß ich wertvolle Zeit verschwendete, daß es meine Pflicht war, die Verteidiger zu benach- richtigen. Endlich riß ich mich von den Betrachtungen los und kehrte in die Welt zurück, über die ich wachen sollte. Avluela stand neben mir; sie war verwirrt, veräng- stigt. Ihre Augen wirkten leer, und sie grub die Zäh- ne in die Knöchel ihrer Hand. »Wächter! Wächter, hörst du mich? Was ist gesche- hen?« »Die Invasion«, entgegnete ich. »Wie lange war ich in Trance?« »Ich weiß nicht. Etwa eine halbe Minute. Du hat-, test die Augen geschlossen. Ich dachte, du seist tot.« »Gormon hat die Wahrheit gesagt. Die fremden Schiffe sind bereits unterwegs. Wo ist er? Wohin ging er?« »Er verschwand, als wir den Rachen der Wahrheit verließen«, flüsterte Avluela. »Wächter, ich habe Angst. Ich spüre, daß alles zusammenbricht. Ich muß fliegen – ich kann jetzt nicht hier unten blei- ben.« »Warte!« sagte ich. Ich wollte sie umfassen und verfehlte sie. »Geh jetzt nicht! Zuerst muß ich den Alarm auslösen und dann …« Aber sie streifte bereits ihre Kleider ab. Mit nack- tem Oberkörper stand sie im Abendlicht da, wäh- rend rings um uns Leute dahinhasteten, ohne zu ahnen, was ihnen bevorstand. Ich wollte Avluela an meiner Seite haben, aber ich konnte den Alarm nicht länger hinausschieben, und so wandte ich mich meinen Instrumenten zu. Wie in einem Traum, der ausgelöst wird durch übergroße Sehnsucht, griff ich nach dem Knopf, der die Verteidiger auf der ganzen Erde mobilmachen würde. Hatte bereits jemand den Alarm gegeben? Hatte ein anderer Wächter das gleiche gefühlt wie ich und das Signal gegeben, ohne sich von Zweifeln und Ver- wirrung aufhalten zu lassen? Nein. Nein. Denn nir- gends hörte ich das Kreischen der Sirenen, die in, winzigen Satelliten über der Stadt kreisten. Ich drückte auf den Knopf. Aus dem Augenwin- kel sah ich Avluela nackt am Boden knien und die Andacht verrichten. Ihre Flügel sammelten Kraft. In kurzer Zeit würde sie in der Luft sein, unerreichbar für mich. Und dann war der Alarm ausgelöst. Im gleichen Augenblick kam eine kraftvolle Ge- stalt auf uns zu. Gormon, dachte ich. Ich erhob mich von meinen Instrumenten und streckte ihm die Arme entgegen. Ich wollte ihn festhalten. Aber es war nicht Gormon, sondern ein geschäftiger, aufge- blasener Diener, der sich an Avluela wandte. »Lang- sam, Schmetterling, falte deine Flügel wieder. Der Fürst von Roum schickt mich zu dir. Du sollst ihm den Abend verkürzen.« Er hielt sie fest. Ihre kleinen Brüste bebten; ihre Augen blitzten zornig. »Laß mich los! Ich will fliegen.« »Der Fürst von Roum verlangt nach dir«, sagte der Diener und umklammerte sie. »Der Fürst von Roum wird heute nacht andere Ab- lenkungen haben«, wandte ich ein. »Er braucht das Mädchen nicht.« Noch während ich sprach, begannen die Sirenen am Himmel zu heulen. Der Diener gab sie frei. Einen Moment lang ar- beiteten seine Kinnmuskeln; er vollführte eine der Schutzgesten, die dem Willen galten. Dann sah er, zum Himmel und meinte unwirsch: »Der Alarm! Wer hat den Alarm ausgelöst? Du, alter Wächter?« Menschen rannten ziellos durch die Straßen. Avluela, die nun frei war, jagte an mir vorbei – zu Fuß, da ihre Flügel erst halb entfaltet waren – und wurde von der Menge aufgesogen. Über das furch- terregende Kreischen der Sirenen dröhnten Anwei- sungen aus den öffentlichen Lautsprechern, die der Sicherheit und der Verteidigung der Erde galten. Ein schlaksiger Mann mit dem Zeichen des Verteidigers auf der Wange rannte an mir vorbei und stammelte zusammenhanglose Sätze. Die Welt schien mit ei- nemmal wahnsinnig geworden zu sein. Nur ich blieb ruhig. Ich sah zum Himmel hinauf, halb in der Erwartung, die schwarzen Schiffe der In- vasoren über den Türmen von Roum zu entdecken. Aber ich sah nichts außer den kreischenden Schein- werfern, die das Dunkel erhellten. »Gormon?« rief ich. »Avluela?« Ich war allein. Eine sonderbare Leere überkam mich. Ich hatte den Alarm ausgelöst; ich hatte meine Beschäftigung verloren. Man benötigte nun keine Wächter mehr. Beinahe liebevoll strich ich über den abgewetzten Karren, der so viele Jahre mein Begleiter gewesen war. Meine Finger berührten die fleckigen, scharti- gen Instrumente; und dann wandte ich mich ab und ließ sie zurück. Ich ging durch die dunklen Straßen, frei von jeder Last, ein Mann, dessen Leben in ei-, nem Augenblick erfüllt und nutzlos geworden war. Und um mich wütete das Chaos. *, Es hatte geheißen, daß im Augenblick der Invasion alle Gilden mit Ausnahme der Wächter mobilge- macht würden. Wir, die so lange für das Wohl der Erde gesorgt hatten, nahmen am eigentlichen Kampf nicht teil. Sobald der Alarm schrillte, waren wir ent- lassen. Nun lag es an der Verteidiger-Gilde, ihre Fä- higkeiten unter Beweis zu stellen. Sie hatte einen halben Zyklus lang geplant, was sie im Kriegsfall tun würde. Wie sahen nun die Vorbereitungen aus? Was würde sie unternehmen? Mein einziger Wunsch war es, zum Gästehaus des Fürsten zurückzukehren und dort die Krise abzu- warten. Es war hoffnungslos, jetzt nach Avluela zu suchen, und ich machte mir schwere Vorwürfe, daß ich sie hatte entkommen lassen, nackt und ohne Be- schützer. Wohin sollte sie gehen? Wer würde ihr hel- fen? Ein Gildengefährte rannte mit seinem Karren die Straße entlang und stieß beinahe mit mir zusam- men. »Vorsicht!« warnte ich ihn. Er sah atemlos auf. »Ist es wahr?« fragte er verwirrt. »Man hat Alarm ge- geben?« »Hörst du die Sirenen nicht?« »Aber ist der Alarm berechtigt?« Ich deutete auf seinen Karren. »Du kannst dich vergewissern.« »Die Leute sagen, daß der Wächter, der den Alarm, auslöste, betrunken war – ein alter Narr, den man gestern im Gildehaus abwies,« »Das könnte sein«, entgegnete ich. »Aber wenn der Alarm echt ist …« Ich lächelte, »Wenn er echt ist, finden wir unsere wohlverdiente Ruhe. Alles Gute, Wächter!« »Dein Karren! Wo ist dein Karren?« rief er mir nach. Aber ich war bereits weitergegangen, auf eine mächtige Steinsäule zu, die noch aus dem Roum der Imperatoren zu stammen schien. Szenen der Vergangenheit waren in den Stein ge- meißelt: Schlachten und Siege, fremdländische Herrscher, die in Ketten der Schmach durch die Straßen geführt wurden, stolze Adler, die Macht und Triumph ausstrahlten. Mich hatte eine merkwürdige Ruhe erfaßt. Ich blieb eine Weile vor der Säule ste- hen und bewunderte die herrlichen Reliefs. Eine Ge- stalt lief ängstlich auf mich zu: »Ah, du kommst ge- rade recht. Könntest du mir diese Szenen erklären, Historiker? Sie faszinieren mich und erwecken mei- ne Neugier.« »Bist du wahnsinnig? Hörst du den Alarm nicht?« »Ich selbst habe ihn ausgelöst, Historiker.« »Dann flieh! Invasoren kommen. Wir müssen kämpfen.« »Nicht ich, Basil. Meine Zeit ist vorüber. Erzähl mir mehr von diesen Reliefs. Diese besiegten Köni-, ge, diese zerbrochenen Herrscher! Ein Mann in dei- nen Jahren wird doch nicht mehr aktiv kämpfen?« »Man macht alle mobil.« »Alle außer den Wächtern«, sagte ich. »Bleib ei- nen Augenblick. Die Sehnsucht nach der Vergangen- heit ist mir angeboren. Gormon hat mich verlassen; willst du nicht mein Führer durch die verlorenen Zyklen sein?« Der Historiker schüttelte heftig den Kopf, mach- te einen Bogen um mich und versuchte fortzulau- fen. Ich griff nach seinem hageren Arm; doch er ent- wischte mir, und ich behielt nur die dunkle Stola zurück, die ihm von der Schulter geglitten war. Dann lief er auf seinen dürren Beinen wie verrückt die Straße entlang und entschwand meinen Blicken. Ich zuckte mit den Schultern und betrachtete die Sto- la, die so unerwartet in meinen Besitz übergegangen war. Sie war mit schimmernden Metallfäden durch- wirkt, die sich zu einem sinnverwirrenden Muster verschlangen: es schien mir, als verschwände jeder Faden im Gewebe, um dann an einem ganz anderen Ort wieder aufzutauchen, wie die Stammbäume von Herrscherhäusern, die sich in alle Welt verzweigten. Eine Meisterhand hatte diese Stola gewirkt. Nach- denklich legte ich sie um die Schultern. Ich ging weiter. Meine Beine, die mir Stunden zuvor beinahe den Dienst aufgesagt hätten, trugen mich nun kraft- voll voran. Mit jugendlichem Schwung schlender-, te ich durch die aufgewühlte Stadt. Es fiel mir nicht schwer, den richtigen Weg zu finden. Ich über- querte den Tver und suchte auf der anderen Seite nach dem Palast des Fürsten. Die Dunkelheit hat- te sich vertieft, da zum Schutze der Stadt die mei- sten Lichter ausgeschaltet waren. Von Zeit zu Zeit verkündete ein dumpfer Knall, daß über der Stadt Abschirmbomben explodierten und dunkle Wolken ablagerten, die dem Feind die Sicht erschwerten. Es waren kaum Menschen auf den Straßen. Die Sire- nen schrillten immer noch. Auf den Hausdächern wurden die Verteidigungsanlagen in Betrieb gesetzt; mit einem hohen Summen wärmten sich die Antrie- be der Abfangwaffen auf. Energieverstärker wurden aneinandergekoppelt. Ich hegte nun keinen Zwei- fel mehr daran, daß die Invasion tatsächlich be- vorstand. Man hätte die Mobilisierung abgeblasen, wenn nicht andere Wächter meine Beobachtung be- stätigt hätten. Als ich mich dem Palast näherte, liefen atemlos zwei Historiker an mir vorbei. Ihre Stolen flatter- ten im Wind. Sie riefen mir ein paar Kodeworte ih- rer Gilde zu, und erst jetzt erinnerte ich mich, daß ich Basils Stola trug. Da ich nicht antworten konnte, kamen sie näher und fragten in normaler Sprache: »Was ist los mit dir? Auf deinen Posten! Wir müssen beobachten! Wir müssen alle Ereignisse festhalten und kommentieren.« »Ihr täuscht euch«, erklärte ich. »Ich bin kein Hi-, storiker, sondern trage diese Stola nur für euren Bru- der Basil, der sie in meiner Obhut zurückließ. Für mich gibt es keine Arbeit.« »Ein Wächter!« riefen sie wie aus einem Munde, um mich dann zu verfluchen. Ich ging lachend zum Palast weiter. Die Tore standen offen. Die Neuter, die den Ein- gang bewacht hatten, waren ebenso verschwun- den wie die beiden Karteibeamten des inneren Bau- werks. Die Bettler von der Plaza drängten in den Palast, um Schutz zu finden. Das wiederum erweck- te den Zorn der Lizenzbettler, die mit bemerkens- werter Kraft auf die hereinströmenden Flüchtlinge einschlugen. Ich sah Krüppel mit ihren Krücken zu- schlagen; ich sah Blinde mit verdächtiger Genauig- keit Hiebe austeilen; Büßer hatten plötzlich Dolche und Sonik-Pistolen in der Hand. Ich machte einen Bogen um dieses schamlose Treiben und drang ins Innere des Palastes vor. Ganz unvermittelt klangen Fanfaren auf, und je- mand rief: »Platz gemacht! Platz gemacht!« Eine Gruppe kräftiger Diener marschierte auf die Gemächer des Fürsten in der Apsis zu. Einige von ihnen hielten ein zappelndes, sich wehrendes We- sen mit halb geöffneten Flügeln fest: Avluela! Ich rief ihren Namen, aber meine Stimme ging im Ge- schrei unter, und ich konnte mich auch nicht bis zu ihr durchkämpfen. Einen Moment lang sah ich sie noch, blaß und winzig neben ihren Bewachern, und, dann war sie verschwunden. Ich packte einen Neuter, der unsicher hinter den Dienern herschlenderte. »Dieses Schmetterlingsgeschöpf! Weshalb wurde sie hergebracht?« »Er – er – sie …« »Der Fürst – seine Geliebte – in der Kutsche – er – er – sie – die Invasoren …« Ich schob die zitternde Kreatur zur Seite und rannte auf die Apsis zu. Ein Bronzewall, zehnmal so hoch wie ich, gebot mir Einhalt. Ich hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Avluela!« rief ich heiser. »Av … lu … ela …!« Man vertrieb mich nicht, ließ mich aber auch nicht ein. Der Kampf an den Westtoren des Palastes weitete sich aus und erreichte das Hauptschiff. Als ich sah, daß die Meute der Bettler auf mich zukam, verließ ich den Palast durch eine Seitentür. Allein stand ich im Park, der zum fürstlichen Gä- stehaus führte. Elektrizität knisterte in der Luft. Ich nahm an, daß sie von den Verteidigungsanlagen des Palastes herrührte, eine Art Strahlenschirm, der die Stadt schützen sollte. Aber einen Augenblick später erkannte ich, daß sie die Ankunft der Invasoren be- deutete. Sternenschiffe brannten am Himmel. Als ich sie in meiner Trance gesehen hatte, waren sie schwarz gegen die Unendlichkeit des Raumes erschienen, aber nun leuchtete sie mit dem Glanz, von Sonnen. Wie schimmernde Juwelen bedeckten sie den Himmel; sie erstreckten sich in einer langen Kette von Ost nach West, und ich glaubte Siegesfan- faren zu vernehmen. Ich weiß nicht, wie hoch die Sternenschiffe über mir waren, und ich weiß auch nicht, wie viele es waren. Ich weiß nur, daß sie ganz plötzlich majestä- tisch über der Erde schwebten. Wenn ich ein Vertei- diger gewesen wäre, hätte mich bei ihrem Anblick sofort der Mut verlassen. Licht in allen Schattierungen schoß über den Him- mel. Der Kampf hatte begonnen. Ich konnte die Ak- tionen unserer Krieger nicht verstehen, aber ich war gleichermaßen verwirrt von den Manövern jener, die gekommen waren, um unseren alterszerfresse- nen Planeten zu erobern. Ich schäme mich, aber ich stand nicht nur außerhalb des Kampfes, ich stand über ihm, als ginge er mich nichts an. Ich wollte Av- luela an meiner Seite haben, aber sie befand sich ir- gendwo im Innern des Palastes, in Gesellschaft des Fürsten von Roum. Selbst Gormon wäre jetzt ein Trost gewesen – Gormon, die Mißgeburt; Gormon, der Spion; Gormon, der abscheuliche Verräter un- serer Welt. In vielfacher Verstärkung dröhnten Stimmen durch den Palast: »Macht Platz für den Fürsten von Roum! Der Fürst von Roum führt die Verteidiger zum Kampf um das Vaterland.« Aus dem Palast kam ein glänzendes Schiff in Trop-, fenform. Man hatte transparente Scheiben in die Kuppel eingesetzt, damit das Volk den Herrscher sehen und durch seinen Anblick Mut fassen konn- te. Am Schaltpult befand sich der Fürst von Roum, stolz aufgerichtet; die Gesichtszüge verrieten grim- mige Entschlossenheit. Und neben ihm, gekleidet wie eine Herrscherin, entdeckte ich die winzige Ge- stalt Avluelas. Sie schien sich in Trance zu befin- den. Das königliche Schiff hob vom Boden ab und schwebte in die Dunkelheit. Ich hatte den Eindruck, daß es von einer zwei- ten Maschine verfolgt wurde und daß es sich zum Kampf stellte. Die Schiffe zogen immer engere Krei- se. Blaue Funken stoben auf und hüllten sie ein. Und dann kletterten sie höher und verschwanden hinter den Hügeln von Roum. Wütete der Kampf auf dem ganzen Planeten? War Perris in Gefahr, das heilige Jorslem oder gar die schläfrige Inselwelt des Verlorenen Kontinents? Schwebten überall Sternenschiffe? Ich wußte es nicht. Ich erlebte die Ereignisse nur in einem win- zigen Ausschnitt mit, über den Türmen von Roum, und selbst hier waren meine Eindrücke verwischt und ungenau. Gelegentlich zuckte Licht auf, und dann sah ich ganze Geschwader von Fliegern am Himmel; doch die meiste Zeit lag Dunkelheit wie ein dicker Samtbehang über der Stadt. Ich sah, wie unsere großen Verteidigungsmaschinen von den, Hausdächern aus Energiestrahlen nach oben sand- ten; und doch blieben die Sternenschiffe unbeschä- digt. Der Hof, in dem ich stand, war verlassen, aber in der Ferne hörte ich ängstliche Stimmen, die wie das Kreischen von Vögeln klangen. Hin und wieder erschütterte ein dumpfer Knall die ganze Stadt. Ein- mal marschierte eine Truppe Schlafwandler an mir vorbei; auf der Plaza vor dem Palast entdeckte ich Komiker, die eine Art flimmerndes Netz ausspann- ten; ein Lichtblitz zeigte mir drei Historiker, die auf einem Antischwerkraft-Floß dahinschwebten und eifrig Notizen machten. Es schien – aber sicher wuß- te ich es nicht –, daß das Schiff des Fürsten zurück- kehrte, dicht gefolgt von seinem Gegner. »Avluela«, flüsterte ich, als die beiden Lichtpunk- te verloschen. Kamen Truppen aus den Sternen- schiffen? Bohrten sich gewaltige Energiesäulen von den kreisenden Maschinen auf die Erde zu? Wes- halb hatte der Fürst Avluela mit in den Kampf ge- nommen? Wo war Gormon? Was taten die Verteidi- ger? Weshalb gelang es nicht, die feindlichen Schif- fe kampfunfähig zu machen? Während der ganzen Nacht verharrte ich auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes und beobachtete den kosmischen Kampf, ohne ihn zu begreifen. Der Morgen dämmerte. Blasse Lichtstreifen schlangen sich von Turm zu Turm. Ich rieb mir die Augen. Offenbar hatte ich eine Zeitlang im Stehen geschlafen. Vielleicht sollte ich mich der Gilde der, Schlafwandler anschließen. Meine Finger berührten die Historiker-Stola, und ich fragte mich, wie sie in meinen Besitz gekommen war. Dann erinnerte ich mich. Ich sah zum Himmel. Die fremden Schiffe waren verschwunden. Der Morgenhimmel war grau wie immer, mit einem ro- sigen Hauch im Osten. Ich suchte nach meinem Kar- ren, und dann fiel mir ein, daß ich nicht mehr wa- chen mußte. Ich spürte eine merkwürdige Leere in mir aufsteigen. War der Kampf vorüber? Hatten wir den Feind besiegt? Lagen die Schiffe der Invasoren zerschmolzen vor den Toren von Roum? Alles war still. Ich hörte nicht die Sinfonien, die sonst zu Ehren des neuen Tages gespielt wurden. Und dann kam aus dem unheimlichen Schweigen ein neuer Laut. Räderfahrzeuge rumpelten über die Straßen der Stadt und eine ruhige Stimme verkün- dete über die öffentlichen Lautsprecher: »Roum ist gefallen. Roum ist gefallen.« *, Das fürstliche Gästehaus stand leer. Neuter und Mit- glieder der Diener-Gilde waren geflohen. Die Vertei- diger und Herren waren wohl ehrenhaft im Kampf gefallen, Basil, der Historiker, war nirgends zu se- hen. Ich ging auf mein Zimmer, machte mich frisch und aß, sammelte meine Habe und nahm Abschied von dem Luxus, den ich nur für so kurze Zeit genos- sen hatte. Ich bedauerte, daß es mir nicht möglich gewesen war, länger in Roum zu bleiben; aber zu- mindest war mir Gormon ein ausgezeichneter Füh- rer gewesen, und ich hatte sehr viel gesehen. Nun beschloß ich weiterzuwandern. Es erschien mir unklug, in einer besiegten Stadt zu bleiben. Die Denker-Kappe in meinem Zimmer reagierte nicht, als ich sie überstreifte, und so wuß- te ich nicht, in welchem Ausmaß die Fremden die Herrschaft übernommen hatten; aber es war offen- sichtlich, daß zumindest Roum sich in ihrem Be- sitz befand, und ich wollte rasch fort von hier. Ich überlegte, ob ich nach Jorslem gehen sollte, wie es jener hochgewachsene Pilger bei meiner Ankunft in Roum vorgeschlagen hatte. Aber dann wählte ich doch die westliche Richtung nach Perris. Diese Stadt lag nicht nur näher; sie beherbergte auch das Hauptquartier der Historiker. Meinen Beruf konn- te ich nicht mehr ausüben, doch ich fühlte den son- derbaren und mächtigen Drang, meine Dienste den, Historikern anzubieten und bei ihnen mehr über die schillernde Vergangenheit der Erde zu erfahren. Gegen Mittag verließ ich das Gästehaus. Ich ging zuerst zum Palast, der immer noch offenstand. Die Bettler lagen umher, einige schlafend, andere im Rausch, die meisten tot; an ihren Wunden erkannte ich, daß sie sich in ihrer Angst und Panik gegenseitig erschlagen hatten. Ein Beamter saß niedergedrückt neben der Auskunftsvorrichtung in der Kapelle. Als ich eintrat, sagte er: »Es hat keinen Zweck. Die Ge- hirne funktionieren nicht.« »Wie steht es mit dem Fürsten von Roum?« »Tot. Die Invasoren holten sein Schiff vom Him- mel.« »Ein junges Schmetterlingsgeschöpf zog an seiner Seite in den Kampf. Hast du etwas über sie erfah- ren?« »Nichts. Vermutlich ist sie auch tot.« »Und die Stadt?« »Gefallen. Überall wimmelt es von Invasoren.« »Töten sie?« »Sie plündern nicht einmal«, erklärte der Mann. »Sie sind sehr freundlich. Sie haben uns aufgele- sen.« »Nur in Roum oder überall?« Der Mann zuckte mit den Schultern. Er begann seinen Oberkörper hin- und herzuwiegen. Ich ließ ihn allein und drang tiefer in den Palast ein. Zu mei- ner Überraschung waren die Privatgemächer des, Fürsten nicht versiegelt. Ich betrat sie; der üppige Luxus der Vorhänge, Gobelins, Leuchten und Mö- bel flößte mir Ehrfurcht ein. Ich ging von Raum zu Raum und stand schließlich vor dem fürstlichen Bett, dessen Decke von einem kolossalen Muschel- geschöpf einer fremden Welt gebildet wurde. Ich be- rührte das unendlich weiche Gewebe, unter dem der Fürst geschlafen hatte, und dann erinnerte ich mich, daß auch Avluela in diesem Bett gelegen hatte. Wäre ich jünger gewesen, so hätte ich geweint. Ich verließ den Palast und überquerte langsam die Plaza, um meine Wanderung nach Perris anzutre- ten. Als ich aufbrach, sah ich zum erstenmal unse- re Bezwinger. Ein Gefährt fremdartiger Konstrukti- on hielt am Rande der Plaza, und an die zehn Ge- stalten stiegen aus. Sie hatten Ähnlichkeit mit uns Menschen. Sie waren groß und breitschultrig wie Gormon, und nur die außergewöhnliche Länge der Arme wies sie als Fremde aus. Ihre Haut war nicht- humanoid, und ich bin überzeugt, daß ich nichthu- manoide Lippen und Augen entdeckt hätte, wenn ich näher gewesen wäre. Ohne mich zu beachten, schlenderten sie über die Plaza, mit einem merk- würdig lockeren Schritt, der mich augenblicklich an Gormon erinnerte. Sie betraten den Palast. Ihre Hal- tung war weder prahlerisch noch drohend. Touristen. Wieder einmal übte Roum seine magi- sche Anziehungskraft auf Fremde aus., Ich überließ unsere neuen Beherrscher ihrem Ver- gnügen und wanderte zu den Außenbezirken der Stadt. Die Bitterkeit des ewigen Winters kroch in meine Seele. Tat es mir leid, daß Roum gefallen war? Oder trauerte ich, weil ich Avluela verloren hatte? Oder kam es nur daher, daß ich nun drei Wachen versäumt hatte und wie ein Süchtiger die entstan- dene Leere spürte? All diese Dinge spielten wohl eine Rolle. Kein Mensch war auf den Straßen, als ich auf das Stadttor zustrebte. Die Roumer blieben wohl aus Furcht vor den neuen Herren in ihren Häusern. Ge- legentlich summte eines der fremdartigen Fahrzeuge vorbei, aber niemand belästigte mich. Ich erreichte am Spätnachmittag das Westtor der Stadt. Es stand offen, und dahinter sah ich einen sanft ansteigenden Hügel, an dessen Kuppe sich dunkelgrüne Baumkro- nen ausbreiteten. Ich verließ Roum. In einiger Ent- fernung entdeckte ich einen Pilger, der mit unsiche- ren Schritten die Straße entlang marschierte. Ich überholte ihn bald. Sein stockender, ängstlicher Gang erschien mir sonderbar, denn nicht einmal die grobe braune Kut- te konnte die Kraft und Jugend seines Körpers ver- bergen; er hielt sich aufrecht, mit straffen Schultern und einem ungebeugten Rücken, und doch ging er zögernd und schwankend wie ein Greis. Als ich ihn einholte und einen Blick auf seine Gesichtsmaske warf, verstand ich; er benützte das Schallgerät, das, die Blinden vor Hindernissen warnt. Er bemerkte meine Nähe und sagte: »Ich bin ein blinder Pilger. Ich bitte dich, mich nicht zu belästigen.« Es war nicht die Stimme eines Pilgers. Sie klang kraftvoll, hart und befehlsgewohnt. »Ich belästige niemanden«, erwiderte ich. »Ich bin ein Wächter, der letzte Nacht seine Beschäftigung verloren hat.« »Viele haben letzte Nacht ihre Beschäftigung ver- loren, Wächter.« »Aber sicherlich nicht die Pilger.« »Nein«, sagte er. »Nicht die Pilger.« »Wohin gehst du?« »Fort von Roum.« »Du hast kein bestimmtes Ziel im Auge?« »Nein«, sagte der Pilger. »Keines. Ich werde um- herwandern.« »Vielleicht sollten wir gemeinsam wandern«, schlug ich vor, denn es gilt als Glück, wenn man mit einem Pilger reist, und ich hatte nun nicht mehr die Gesellschaft Avluelas und Gormons. »Mein Ziel ist Perris. Willst du mich begleiten?« »Perris ist so gut wie jede andere Stadt«, entgegne- te der Pilger bitter. »Ja. Gehen wir gemeinsam nach Perris. Aber was führt einen Wächter dorthin?« »Ich bin kein Wächter mehr. Ich will versuchen, Aufnahme in der Historiker-Gilde zu finden.« »Ah«, meinte er. »Dieser Gilde gehörte ich auch an, allerdings nur als Ehrenmitglied.«, »Jetzt, da die Erde gefallen ist, möchte ich etwas über ihre ruhmreichere Vergangenheit erfahren.« »Es ist also mehr als Roum gefallen?« »Ich vermute es«, sagte ich. »Ah«, flüsterte der Pilger. »Ah!« Er schwieg, und wir gingen gemeinsam weiter. Ich reichte ihm den Arm“, und nun wurde sein Schritt sicher und fest wie der eines jungen Mannes. Von Zeit zu Zeit stieß er einen Seufzer oder gar ein un- terdrücktes Schluchzen aus. Wenn ich nach Einzel- heiten seines Pilgertums fragte, antwortete er aus- weichend oder überhaupt nicht. Als wir etwa eine Stunde unterwegs waren und durch dichten Wald zogen, sagte er plötzlich: »Die Maske bereitet mir Schmerzen. Könntest du mir helfen, sie zurechtzu- rücken?« Zu meinem Erstaunen begann er sie zu entfernen. Ich hielt den Atem an, denn einem Pilger ist es un- tersagt, sein Gesicht zu zeigen. Hatte er vergessen, daß ich mein Augenlicht noch besaß? Als er die Maske endlich gelöst hatte, fuhr er fort: »Mein Anblick wird dich erschrecken.« Das Bronzegitter glitt von seiner Stirn, und ich sah zuerst Augenhöhlen, die noch wund waren, zerris- sen von Fingernägeln. Dann kam die kühne Nase zum Vorschein und schließlich der zusammenge- preßte Mund des Fürsten von Roum. »Eure Majestät!« rief ich. Getrocknetes Blut klebte ihm an den Wangen. Um, die wunden Augenhöhlen hatte er eine grüne Sal- be aufgetragen. Wahrscheinlich empfand er kei- nen Schmerz, aber mich durchzuckte ein glühen- der Stich. »Keine Majestät mehr«, sagte er. »Hilf mir die Mas- ke zurechtrücken!« Seine Hände zitterten, als er sie mir entgegenstreckte, »Die Flansche hier müssen er- weitert werden. Sie pressen grausam gegen meine Wangen, Hier – und hier …« Rasch verstellte ich die Maske, damit ich das ge- schundene Gesicht nicht mehr sehen mußte. Er setzte sie wieder auf. »Ich bin jetzt ein Pilger«, sagte er ruhig. »Roum hat keinen Fürsten mehr. Du kannst mich verraten, Wächter, oder nach Perris be- gleiten.« »Ich bin kein Verräter«, sagte ich. Schweigend setzten wir unseren Weg fort. Ich brachte es nicht fertig, mich mit diesem Mann über Nichtigkeiten zu unterhalten. Es würde eine düstere Reise nach Perris werden; aber ich kannte nun sei- ne Identität und war verpflichtet, ihm als Führer zu dienen. Ich dachte an Gormon und daran, wie genau er seinen Schwur gehalten hatte. Ich dachte auch an Avluela, und hundertmal lag mir die Frage auf der Zunge, wie es ihr in der Nacht der Niederlage ergan- gen war, Doch ich schwieg. Die Dämmerung brach herein, aber noch leuchte- te die Sonne goldrot im Westen. Und plötzlich blieb ich stehen und stieß einen heiseren Ruf der Überra-, schung aus. Hoch über mir schwebte Avluela. Auf ihrer Haut spiegelten sich die Farben des Sonnen- untergangs, und ihre Flügel waren weit ausgebrei- tet. Sie schimmerten in allen Tönen des Regenbo- gens. Avluela stieg immer höher, und sie befand sich schon mehr als hundert Meter über dem Erdboden. Ich mußte ihr als winziger Punkt zwischen den Bäu- men erscheinen. »Was ist?« fragte der Prinz. »Was siehst du?« »Nichts.« »Sag mir, was du siehst!« Ich konnte ihn nicht belügen. »Ich sehe ein Schmet- terlingsmädchen, Eure Majestät. Sie steigt immer hö- her.« »Dann muß die Nacht hereingebrochen sein.« »Nein«, entgegnete ich. »Die Sonne steht noch über dem Horizont.« »Wie ist das möglich? Diese Geschöpfe besitzen Nachtflügel. Die Sonne würde sie zu Boden drük- ken.« Ich zögerte. Ich brachte es nicht fertig zu erklären, weshalb Avluela am Tage flog, obwohl sie Nacht- schwingen besaß. Ich konnte dem Fürsten von Roum nicht sagen, daß neben ihr der Fremde Gor- mon schwebte, mühelos und ohne Flügel. Er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt und stützte sie, half ihr, den Druck der Sonnenstürme zu ertragen. Ich konnte dem Fürsten nicht verraten, daß sein Rächer und seine Geliebte gemeinsam am Himmel, schwebten. »Nun?« fragte er. »Weshalb fliegt sie am Tage?« »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Ich begreife es nicht. Heutzutage gibt es so viele Dinge, die mir un- verständlich sind.« Der Fürst schien meine Worte zu akzeptieren. »Ja, Wächter. Wir begreifen so manches nicht.« Wieder schwieg er. Ich wollte Avluela rufen, aber ich wußte, daß sie mich nicht hören konnte, und so ging ich weiter in Richtung Perris, dem Sonnenun- tergang entgegen, neben mir den blinden Fürsten. Und über uns schwebten Gormon und Avluela, dunkle Silhouetten gegen das letzte Licht des Tages. Schließlich stiegen sie so hoch, daß ich sie mit blo- ßem Auge nicht mehr sehen konnte. *, ZWEITER TEIL Die Reise mit einem gefallenen Fürsten ist nicht leicht. Er hatte das Augenlicht verloren, aber nicht den Stolz; die Blindheit hatte ihn nicht demütig ge- macht. Er trug die Kutte und die Maske des Pilgers, doch in seiner Seele herrschten keine Frömmigkeit und Güte. Im Innern war er der Fürst von Roum ge- blieben. Ich ersetzte ihm die Untertanen, als wir nun im Vorfrühling auf Perris zuwanderten. Ich geleitete ihn auf die besten Straßen; auf seinen Befehl hin erzähl- te ich Erlebnisse meiner früheren Wanderschaft; ich tröstete ihn während seiner Phasen tiefer Niederge- schlagenheit. Als Gegenleistung erhielt ich wenig außer vielleicht der Gewißheit, daß ich nie Hunger leiden mußte. Niemand verwehrt einem Pilger die Nahrung, und wenn wir unterwegs in den Dörfern Rast machten, erhielt auch ich als Begleiter des Für- sten reichlich zu essen. Einmal, zu Beginn unserer Reise, vergaß er sich und sagte hochmütig zu einem Wirt: »Sorge dafür, daß mein Diener ordentlich ver- pflegt wird!« Der blinde Fürst konnte den schockierten, ungläu- bigen Blick des Mannes nicht sehen – denn was soll- te ein Pilger mit einem Diener anfangen? – aber ich blinzelte dem Wirt lächelnd zu und tippte mir an, die Stirn. Der Mann verstand und bediente uns bei- de, ohne den Fürsten zur Rede zu stellen. Ich wies den Fürsten später auf seinen Irrtum hin, und von diesem Moment an nannte er mich immer seinen Gefährten. Aber ich wußte, daß ich nichts anderes als sein Diener war. Das Wetter war freundlich. Je weiter das Jahr fort- schritt, desto wärmer wurde es in Eyrop. Neben der Straße begannen schlanke Weiden und Pappeln zu grünen. Allerdings war ein Großteil der Alleen mit den prachtvollen Bäumen fremder Sterne bepflanzt, die man während der Zeiten des Zweiten Zyklus auf die Erde geholt hatte. Ihre blauen Blätter widerstan- den dem Winter von Eyrop. Auch die Vögel kamen von Afreek zurück. Sie schmetterten ihre Lieder in den Himmel und besprachen wohl unter sich den Wechsel der Erdherrschaft. »Sie verspotten mich«, sagte der Fürst einmal im Morgengrauen. »Sie sin- gen mir ihre Lieder vor und wissen, daß ich ihren Glanz nicht sehen kann.« Er war verbittert – mit gutem Grund. Er, der so viel besessen und alles verloren hatte, klagte oft. Für mich bedeutete die Unterwerfung der Erde nur eine Änderung der Gewohnheiten. Sonst war alles gleich geblieben. Ich mußte nicht mehr Wache halten, aber ich. wanderte wie früher über das Antlitz der Erde, einsam auch dann, wenn ich einen Gefährten hatte. Ich fragte mich, ob der Fürst wußte, weshalb man ihn geblendet hatte. Ich fragte mich, ob Gormon im, Augenblick des Triumphes dem Fürsten erklärt hat- te, daß es sich im Grunde um Eifersucht handelte. »Du hast Avluela genommen«, hatte Gormon viel- leicht gesagt. »Du sahst ein kleines Schmetterlings- geschöpf und dachtest, sie würde dich amüsieren. Und du sagtest: ›Los, Mädchen, komm mit mir!‹ Du hast sie nicht als Persönlichkeit betrachtet. Du hast nicht überlegt, daß sie vielleicht einem anderen den Vorzug geben würde. Du hast als Fürst von Roum dein Recht gefordert und keine Widerrede geduldet. Da!« … und das rasche Zustoßen der gekrümmten Fin- ger … Aber ich wagte nicht zu fragen. So viel Achtung vor dem gefallenen Fürsten war noch in mir. Ich brachte es nicht fertig, in sein Privatleben einzu- dringen, mich mit ihm über sein Geschick zu unter- halten, als sei er ein gewöhnlicher Weggefährte. Ich antwortete, wenn ich gefragt wurde. Ich unterhielt ihn, wenn er es gebot. Ansonsten schwieg ich wie jeder treue Untertan in Gegenwart des Herrschers. Tagtäglich wurden wir daran erinnert, daß der Fürst von Roum kein Herrscher mehr war. Über uns schwebten die Invasoren, manchmal in Maschinen, manchmal aus eigener Kraft. Der Ver- kehr war dicht. Sie begutachteten ihren neuen Be- sitz. Ihre Schatten streiften uns oft. Merkwürdiger- weise empfand ich keinen Zorn – nur Erleichterung, daß das lange Warten der Erde vorüber war. Der, Fürst dachte anders. Er schien genau zu spüren, wann die Invasoren über uns hinwegschwebten, und dann murmelte er Flüche vor sich hin. Zeich- neten seine Sehnerven irgendwie die Bewegung von Schatten und Licht auf? Oder waren seine übrigen Sinne durch den Verlust des Augenlichtes so ge- schärft, daß er das schwache Summen eines Floßes hören und die Körperausdünstung der Fremden rie- chen konnte? Ich fragte ihn nicht. Manchmal in der Nacht, wenn er glaubte, ich sei eingeschlafen, schluchzte er. Ich empfand Mitleid für ihn. Er war schließlich noch so jung. In diesen Stunden der Dunkelheit erfuhr ich, daß nicht ein- mal das Schluchzen eines Fürsten mit dem gewöhn- licher Menschen zu vergleichen ist. Er schluchzte trotzig, zornig, haßerfüllt. Aber er schluchzte. Meistens wirkte er stoisch, resigniert. Er setzte ei- nen Fuß vor den anderen und ging neben mir her. Mit jedem Schritt entfernte er sich weiter von Roum. Zu anderen Zeiten jedoch glaubte ich durch das Git- terwerk seiner Maske direkt in seine Seele schauen zu können. Seine aufgestaute Wut suchte sich klein- liche Ziele. Er verspottete mich wegen meines nied- rigen Ranges; er warf mir die Leere meines Lebens vor. Er spielte mit mir. »Nenne mir deinen Namen, Wächter!« »Das ist verboten, Majestät.« »Die alten Gesetze gelten nicht mehr. Los, Alter, wir werden noch viele Monate gemeinsam verbrin-, gen. Soll ich dich immer Wächter nennen?« »So will es meine Gilde.« »Deine Gilde will auch, daß du den Herrschern ge- horchst. Wie heißt du?« »Es ist uns selbst verboten, den Angehörigen der Herrscher-Gilde unseren Namen zu verraten, es sei denn, der Gilde-Meister hätte es schriftlich geneh- migt.« Er spuckte aus. »Wie bringst du es fertig, mir zu trotzen, obwohl du meinen Zustand kennst? In mei- nem Palast würdest du so etwas niemals wagen.« »In Eurem Palast, Majestät, würdet Ihr diese un- geziemende Forderung nicht stellen. Auch die Herr- scher sind gewissen Geboten verpflichtet. Eines da- von befiehlt Anerkennung der Gilde-Vorschriften.« »Du wagst es, mich zu belehren?« rief der Fürst. Wütend warf er sich neben der Straße zu Boden. Er legte sich ins Gras, nahm den Ast eines fremd- ländischen Baumes in die Hand und zerdrückte die scharfen Nadeln in den Fingern. Ich stand neben ihm. Ein schweres Fahrzeug rollte vorbei, das erste an diesem Morgen. Die Invasoren im Innern winkten uns zu. Nach langer Zeit sagte der Fürst mit leich- tem, beinahe schmeichelndem Tonfall: »Ich heiße Enric. Und du?« »Ich bitte Euch, das Thema fallenzulassen, Maje- stät.« »Aber du kennst nun meinen Namen! Es ist mir auch verboten, ihn vor anderen auszusprechen.«, »Ich habe nicht danach gefragt«, erklärte ich fest. Ich gab nicht nach. Es war ein winziger Sieg, den ich über den blinden Fürsten errungen hatte, aber er quälte mich dafür mit tausend kleinen Boshei- ten. Er neckte, hänselte, verspottete und verfluch- te mich. Er sprach mit Verachtung von meiner Gil- de; er verlangte die niedrigsten Handlangerdienste von mir. Ich ölte seine Metallmaske; ich rieb Salbe in seine wunden Augenhöhlen; ich tat andere Din- ge, die so beschämend waren, daß ich sie aus mei- ner Erinnerung verbannte. Und so näherten wir uns Perris, der leere alte Mann und der ausgehöhlte jun- ge; wir haßten einander und wurden doch durch ein festes Band miteinander verkettet. Es war eine schwere Zeit. Ich mußte mit seinen wechselnden Stimmungen fertig werden. Einmal schwelgte er verzückt in Plänen zur Rückeroberung der Erde, und dann wieder stürzte er abgrundtief, wenn er erkennen mußte, daß der Sieg der Invaso- ren vollkommen war. Ich mußte ihn in den Dörfern vor seiner eigenen Unüberlegtheit schützen. Manch- mal benahm er sich immer noch wie der Fürst von Roum. Er kommandierte das Volk und schlug nach Menschen, die seinen Willen nicht rasch genug re- spektierten. Er benahm sich durchaus nicht wie ein heiliger Mann. Schlimmer noch, ich mußte ihm be- hilflich sein, seine Lüste zu befriedigen. Ich kaufte Frauen, die in der Dunkelheit zu ihm kamen, ohne zu ahnen, daß sie sich einem Pilger hingaben., Als Pilger war er ein Betrüger, denn er trug nicht den Sternstein, mit dessen Hilfe die heiligen Män- ner Verbindung zum Willen suchten. Irgendwie lö- ste ich alle heiklen Situationen für ihn, sogar das einemal, als wir unterwegs auf einen echten Pilger stießen, einen streitsüchtigen alten Mann, der voller theologischer Spitzfindigkeiten steckte. »Sprechen wir über die Immanenz des Willens«, sagte er zum Fürsten, und der Fürst, dessen Geduld an diesem Nachmittag bereits erschöpft war, antwortete mit ei- nem rüden Ausdruck. Ich versetzte ihm unauffällig einen Tritt gegen das Schienbein und sagte zu dem schockierten Pilger: »Unser Freund fühlt sich heute nicht wohl. Letzte Nacht nahm er Verbindung mit dem Willen auf und empfing eine Botschaft, die sein Inneres aufwühlte. Ich bitte dich, laß uns weiterzie- hen, bis er wieder zu sich gefunden hat.« Mit solchen Ausreden gelang es mir immer wie- der, Schwierigkeiten zu umgehen. Als das Wetter wärmer wurde, legte der Prinz ein sanfteres Wesen an den Tag. Vielleicht hatte er sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt, oder er er- sann neue Taktiken, um sein Los besser ertragen zu können. Er sprach beinahe lässig von sich, seinem Niedergang, seiner Demütigung. Wenn er seine frü- here Macht erwähnte, so spürte ich genau, daß er sich keinen Illusionen hingab. Er sprach von seinem Reichtum, seinen Geliebten, seinen Juwelen, seinen raffinierten Maschinen, seinen Mißgeburten, Mu-, sikern und Dienern. Ich kann nicht sagen, daß ich ihn zu irgendeiner Zeit unserer Wanderschaft moch- te, aber in diesen Augenblicken erkannte ich wenig- stens einen leidenden Menschen hinter der Maske der Gleichgültigkeit. Und er gestand mir Persönlichkeit zu. Ich weiß, daß es ihm schwerfiel. Er sagte: »Wenn man an der Macht ist, Wächter, wird man von den anderen Menschen abgeschnit- ten. Personen werden zu Dingen. Man bedient sich ihrer. Für mich warst du nichts als eine Maschine, die nach den Invasoren Ausschau hielt. Wahrschein- lich hattest du auch deine Träume, deinen Ehrgeiz und deine Sorgen, aber ich sah in dir einen vertrock- neten Alten, der außerhalb seiner Gildenfunktion keine Existenzberechtigung hatte. Nun, da ich blind bin, sehe ich mehr.« »Ja?« »Ich sehe, daß du einmal jung warst, Wächter. Du liebtest deine Heimat, deine Familie, vielleicht auch ein Mädchen. Man wählte eine Gilde für dich, und du mußtest eine harte Lehrzeit durchmachen. Si- cher hast du dich manchmal gefragt, welchen Sinn das alles hatte. Und du sahst uns vorbeifahren, Her- ren und Herrscher. Wir mußten dir wie Kometen er- scheinen. Und doch hat das Schicksal uns jetzt zu- sammengeführt, und wir marschieren die gleiche Straße nach Perris. Wer von uns beiden ist nun der Glücklichere?«, »Ich befinde mich jenseits von Glück oder Leid«, entgegnete ich. »Ist das wahr? Ist das wirklich wahr? Oder ver- birgst du dein wahres Wesen hinter diesen Worten? Sag mir eines, Wächter: Ich weiß, daß es Angehöri- gen deiner Gilde verboten ist, sich zu verheiraten, aber hast du je geliebt?« »Ja.« »Und auch darüber bist du hinaus?« »Bedenke mein Alter«, sagte ich ausweichend. »Aber du könntest lieben. Du könntest jetzt lie- ben. Du bist nicht mehr an den Eid deiner Gilde ge- bunden, habe ich recht? Du könntest eine Frau neh- men.« Ich lachte. »Wer würde mich begehren?« »Sprich nicht so. Du hast noch Kraft für dein Al- ter. Du hast die Welt gesehen, du verstehst sie. Viel- leicht findest du in Perris ein Mädchen, das …« Er unterbrach sich. »Warst du je versucht, deinen Eid zu brechen?« In diesem Augenblick segelte ein Schmetterlings- geschöpf über uns. Es war eine Frau in mittleren Jahren, die sich nur mühsam in der Luft hielt, da noch schwaches Tageslicht herrschte. Ich spürte ei- nen schmerzhaften Stich, und ich wollte sagen: Ja, ja, ich habe die Versuchung gespürt, vor nicht allzu langer Zeit. Da war ein Schmetterlingsgeschöpf, Av- luela, ein halbes Kind. Auf meine Art habe ich sie, geliebt, auch wenn ich sie nie berührte, und ich lie- be sie immer noch. Ich sagte nichts. Aber ich sah dem Schmetterlingsgeschöpf nach, das freier war als ich, weil es Flügel besaß, und ich fühlte in der Wärme des Frühlingsabends mit einem- mal die kalte Einsamkeit. »Ist es noch weit bis Perris?« fragte der Fürst. »Wenn wir gleichgültig weiterwandern, werden wir eines Tages am Ziel sein.« »Und dann?« »Ich will versuchen, ein neues Leben in der Histo- riker-Gilde zu beginnen. Und du?« »Ich hoffe, daß ich Unterkunft bei Freunden fin- de.« Wir gingen weiter, Tag für Tag viele Stunden. Man- che, die vorüberkamen, boten uns Plätze in ihren Kutschen an, aber wir lehnten ab, weil wir befürch- teten, daß die Invasoren an den Kontrollpunkten nach Mitgliedern der Herrscher-Gilde suchten. Wir durchquerten einen meilenlangen Tunnel, über dem sich schneebedeckte Berge auftürmten; wir kamen in eine Ebene, wo Bauern ihre Felder bestellten; und wir kühlten unsere brennenden Sohlen im Quell- wasser. Golden brach der Sommer herein. Wir gin- gen durch die Welt, aber uns verband nichts mehr mit ihr. Wir kümmerten uns nicht um die Nachrich- ten von der Eroberung der Erde; allerdings war es offensichtlich, daß die Invasoren die Menschheit, beherrschten. In kleinen Maschinen schwebten sie über das Land. Ich gab den Wünschen des Fürsten in jeder Hin- sicht nach, auch wenn sie unangenehm für mich waren. Ich versuchte sein freudloses Leben aufzu- hellen. Ich gab ihm das Gefühl, daß er immer noch herrschte – wenn auch nur über einen nutzlosen al- ten Wächter. Ich brachte ihm auch bei, seine Pilger- rolle glaubhafter zu spielen. Ich verbesserte seine Haltung und lehrte ihn die Phrasen und Gebete, die ich kannte. Es wurde mir klar, daß er während sei- ner Regierungszeit wenig Beziehung zum Willen ge- habt hatte. Nun heuchelte er Glauben vor, und das fiel ihm nicht leicht. In einer Stadt namens Dijon sagte er: »Hier will ich Augen kaufen.« Natürlich meinte er keine lebenden Augen. Das Geheimnis der Organverpflanzung war mit dem Zweiten Zyklus untergegangen. Auf den wohlha- benden Planeten kann man natürlich für eine gewis- se Summe jedes Wunder kaufen, aber unsere Erde ist eine vernachlässigte Welt am Rande des Uni- versums. In den Tagen seiner Herrschaft hätte der Fürst auf eine jener Welten gehen und neues Au- genlicht erwerben können, doch nun war es ihm le- diglich möglich, mechanische Augen zu kaufen, die ihn zwischen Hell und Dunkel unterscheiden lie- ßen. Selbst das war noch ein Vorteil; im Augenblick hatte er keine Hilfe außer dem Schallgerät, das ihn, vor Hindernissen am Wege warnte. Woher wußte er allerdings, daß er in Dijon einen Mann mit der nö- tigen Kunstfertigkeit finden würde? Und wie wollte er die Augen bezahlen? »Der Mann an den ich denke, ist der Bruder von einem meiner Schreiber«, sagte er. »Er gehört der Gilde der Kunsthandwerker an, und ich erwarb in Roum oftmals seine Arbeiten. Er wird Augen für mich haben.« »Und die Kosten?« »Ich bin nicht völlig mittellos.« Wir hielten in einem Wäldchen mit verkrüppelten Korkeichen, und der Fürst streifte seine Kutte ab. Er deutete auf seine Hüfte und sagte: »Hier habe ich für Notfälle eine Reserve. Gib mir dein Messer!« Ich reichte es ihm, und er drückte auf den Knopf, der den kühlen, scharfen Lichtstrahl auslöste. Mit der Linken tastete er die Hüfte nach der richtigen Stel- le ab; dann spannte er das Fleisch zwischen zwei Fingern und machte einen fünf Zentimeter langen Einschnitt. Die Wunde blutete nicht, und er schien auch keinen Schmerz zu empfinden. Ich sah ver- wirrt zu, wie er mit den Fingern den Schnitt weite- te, als sei es die Öffnung einer Tasche. Er warf mir mein Messer wieder zu. Schätze rollten aus seiner Hüfte. »Achte darauf, daß nichts verlorengeht«, befahl er mir. Funkelnde Kleinode von fremden Welten fielen, ins Gras, ein winziger Himmelsglobus, fünf goldene Münzen aus dem Roum der Imperatoren, ein Ring mit leuchtenden Tupfern aus Quasi-Lebewesen, ein Fläschchen mit einem unbekannten Parfüm, eine Gruppe von Miniatur-Musikinstrumenten aus ed- len Hölzern und Metallen, acht Statuetten von Herr- schern, und vieles mehr. Ich sammelte die Kostbar- keiten und legte sie nebeneinander hin. »Eine Übertasche«, erklärte der Fürst kühl, »die ein geschickter Chirurg in meine Hüfte verpflanz- te. Ich sah voraus, daß eine Zeit der Krisen kommen könnte, in der ich den Palast eilig verlassen würde. So stopfte ich in die Tasche, soviel ich konnte; sie enthält noch mehr wertvolle Schätze. Sag mir, was ich herausgenommen habe!« Ich beschrieb ihm die Kostbarkeiten. Er hörte an- gespannt zu, und ich wußte, daß er nur meine Ehr- lichkeit prüfen wollte. Als ich fertig war, nickte er erfreut. »Nimm den Globus, den Ring und die bei- den leuchtendsten Juwelen. Versteck sie in deiner Tasche. Alles andere kannst du wieder hier hineinle- gen.« Er spreizte die Öffnung der Hüfte, und ich warf nacheinander die Kleinode hinein, die nun wieder in einer anderen Dimension verschwanden. Er hätte auf diese Weise den Inhalt des halben Palastes ver- stauen können. Als ich die Schätze in Sicherheit ge- bracht hatte, preßte er die Schnittränder aneinander, und sie schlossen sich, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Er kleidete sich wieder an., In der Stadt machten wir rasch den Laden des Kunsthandwerkers Bordo ausfindig. Er war ein un- tersetzter Mann mit einem sommersprossigen Ge- sicht, einer flachen Nase und einem zuckenden Auge, aber seine Hände wirkten zart wie die einer Frau. Dunkle staubige Holzregale und winzige Fen- ster gaben seinem Laden ein düsteres Aussehen; das Gebäude schien Jahrtausende alt zu sein. Nur weni- ge Kostbarkeiten befanden sich im Laden. Die mei- sten hatte er verborgen. Er betrachtete uns mit Zu- rückhaltung. Offensichtlich verblüffte es ihn, daß ein Wächter und ein Pilger ihn aufsuchten. Auf eine ungeduldige Geste des Fürsten hin sagte ich: »Mein Freund benötigt Augen.« »Ich stelle mechanische Augen her, ja. Aber sie sind teuer und erfordern monatelange Arbeit. Kein Pilger kann sie sich leisten.« Ich legte einen Edelstein auf die verwitterte The- ke. »Wir sind nicht arm.« Verblüfft nahm Bordo den Stein auf, drehte ihn hin und her und betrachtete das fremdartige Feuer in seinem Innern. »Wenn du wiederkommst, sobald die Blätter fal- len …« »Du hast keine Augen vorrätig?« fragte ich. Er lächelte. »Sie werden selten gebraucht. Und wir achten darauf, daß unser Lager nicht zu groß wird.« Ich zeigte ihm den Himmelsglobus. Bordo erkann-, te ihn als das Werk eines Meisters, und sein Mund stand offen. Er legte ihn vorsichtig auf die Handflä- che. Ich wartete, bis er sich in das Stück verliebt hatte, und nahm es dann wieder an mich. »Bis zum Herbst können wir nicht warten«, sagte ich. »Wir werden nach Perris weitergehen.« Ich nahm den Fürsten am Ellbogen und schob ihn zur Tür. »Halt!« rief Bordo. »Ich will zumindest nachsehen. Vielleicht findet sich irgendwo ein Paar …« Und er begann in den Übertaschen zu kramen, die sich an der rückwärtigen Wand befanden. Natürlich hatte er ein Augenpaar vorrätig, und ich feilschte ein wenig um den Preis. Wir einigten uns auf den Globus, den Ring und einen Edelstein. Der Fürst sagte während des ganzen Handelns kein Wort. Ich bestand darauf, daß die Augen sofort ein- gesetzt wurden. Bordo nickte erregt, schloß seinen Laden und streifte eine Denker-Kappe über. Er rief einen Chirurgen zu sich. Kurz danach begannen die Vorbereitungen zur Operation. Der Fürst wurde in einem versiegelten, sterilen Raum auf eine Matte ge- legt. Er streifte das Schallgerät und die Maske ab; und als seine kühn geschnittenen Gesichtszüge zum Vorschein kamen, stieß Bordo einen unterdrückten Schrei aus. Er wollte etwas sagen, aber ich trat ihm heftig auf den Fuß. Bordo schluckte. Der Chirurg hatte nichts von dem Intermezzo bemerkt und be- gann die Augenhöhlen auszuwaschen. Die Augen waren perlgraue Kugeln, kleiner als, echte Augen und von senkrechten Schlitzen durch- zogen. Ich weiß nicht, welcher Mechanismus sich in ihrem Innern befand, aber sie besaßen feine Gold- fäden, die mit den Nerven verbunden wurden. Der Fürst schlief zu Beginn der Operation, während ich Wache hielt und Bordo dem Chirurgen half. Dann wurde es nötig, daß wir ihn weckten. Sein Gesicht zuckte im Schmerz, aber er beherrschte sich so rasch, daß Bordo ein Gebet murmelte. »Mehr Licht«, sagte der Arzt. Bordo schob eine schwebende Leuchtkugel näher. Der Fürst sagte: »Ja, ja, ich sehe den Unterschied.« »Wir müssen noch einiges testen und verbessern«, entgegnete der Chirurg. Bordo ging nach draußen. Ich folgte ihm. Der Mann zitterte am ganzen Körper, und sein Gesicht war grün vor Furcht. »Werdet ihr uns jetzt töten?« fragte er. »Natürlich nicht.« »Ich erkannte …« »Du erkanntest einen armen Pilger, der auf seiner Wanderung ein furchtbares Unglück erlitt. Nichts sonst.« Ich betrachtete eine Zeitlang Bordos Schätze. Dann betraten der Chirurg und sein Patient den La- den. Der Fürst trug nun die perlmuttgrauen Kugeln in den Augenhöhlen, und ein Muskelring aus künst- lichem Fleisch sorgte dafür, daß sie sich nicht lok- kern konnten. Die toten Sphären ließen den Fürsten, mehr denn je wie eine Maschine erscheinen. Wenn er den Kopf drehte, verengten und erweiterten sich die senkrechten Pupillenschlitze. »Paß auf!« sagte er und zeigte auf verschiedene Gegenstände im Raum. Er nannte sogar ihren Namen. Ich wußte, daß er al- les wie durch einen dichten Schleier wahrnahm, aber zumindest konnte er wieder sehen. Er setzte die Maske auf, und bei Einbruch der Dunkelheit ver- ließen wir Dijon. Der Fürst wirkte beinahe heiter. Aber die mecha- nischen Augen waren nur ein schwacher Ersatz für das, was Gormon ihm entrissen hatte, und bald ge- nug wußte er es. In jener Nacht, als wir auf den fau- ligen Strohsäcken einer Pilger-Herberge lagen, stieß der Fürst unartikulierte Laute des Zorns aus. Ich sah im wechselnden Licht des Mondes und seiner bei- den künstlichen Begleiter, wie er die Arme hob und immer wieder mit verkrampften Fingern nach einem unsichtbaren Feind stieß – immer wieder. *, Der Sommer ging zu Ende, als wir schließlich Per- ris erreichten. Wir kamen vom Süden in die Stadt, über eine breite Straße, die von uralten Bäumen ge- säumt wurde. Dünner Regen fiel. Windböen trieben uns vertrocknete Blätter entgegen. Jene Entsetzens- nacht, in der wir beide aus dem besiegten Roum ge- flohen waren, erschien nun fast wie ein Traum; die lange Wanderung durch den Frühling und Sommer hatte uns gestählt, und die grauen Türme von Perris versprachen einen neuen Anfang. Wahrscheinlich machten wir uns selbst etwas vor, denn was bot die Welt einem gefallenen Fürsten, der nur noch Schat- ten wahrnahm, und einem Wächter, der die Blüte seiner Jahre längst überschritten hatte? Perri3 war eine düstere Stadt. In Roum hatten wir selbst mitten im Winter blauen Himmel und strah- lenden Sonnenschein gehabt. Über Perris hingegen schienen immer Wolken zu liegen, und sowohl die Häuser als auch die Landschaft wirkten schwer und bedrückend. Selbst die Stadtmauer war aschgrau und ohne jeden Glanz. Das Tor stand weit offen. Da- neben kauerte ein verdrießlicher kleiner Mann in der Tracht der Wachtposten. Er rührte sich nicht von der Stelle, als wir näher kamen. Ich sah ihn fra- gend an, und er schüttelte den Kopf. »Geh ruhig weiter, Wächter.« »Du überprüfst mich nicht?«, »Weißt du nicht, daß vor sechs Nächten die Tore für immer geöffnet wurden – in allen Städten? Be- fehl der Invasoren. Die meisten Posten haben keine Arbeit mehr.« »Suchen die Invasoren nicht mehr nach Angehö- rigen der Herrscher-Gilde?« fragte ich. »Sie haben ihre Kontrollpunkte an anderen Stellen errichtet. Und sie setzen dazu keine Posten ein. Die Stadt ist unbewacht. Geht hinein!« Wir betraten das Stadttor, und ich sagte: »Weshalb bist du noch hier?« »Ich habe vierzig Jahre hier gestanden«, erklärte er. »Wohin sollte ich gehen?« Mit einer Geste gab ich ihm zu verstehen, daß ich sein Leid teilte, und dann betraten der Fürst und ich Perris. »Fünfmal kam ich durch das Südtor nach Perris«, sagte der Fürst. »Immer in einer Kutsche, angekün- digt durch das Quäken und Trompeten meiner Miß- geburten. Wir fuhren an den Fluß, vorbei an den al- ten Bauwerken und Monumenten, und weiter zum Palast des Grafen von Perris. Und nachts tanzten wir auf Antischwerkraft-Flößen hoch über der Stadt, es fanden Schmetterlings-Balletts statt, und auf dem Turm von Perris erlebten wir die Nordlichter mit. Und der Wein, der rote Wein von Perris, die Frauen in ihren raffinierten Kleidern, mit ihren rosigen Brü- sten und den weichen Hüften! Wir haben in Wein gebadet, Wächter.« Er deutete nach vorn. »Ist das der, Turm von Perris?« »Ich glaube, es ist die Ruine der Wettermaschine«, entgegnete ich. »Die Wettermaschine wäre eine senkrechte Säu- le. Was ich sehe, steht auf einem breiten Sockel und verjüngt sich zur Spitze hin, wie der Turm von Per- ris.« »Ich sehe eine Säule, mindestens dreißig Mann hoch, deren oberes Ende geknickt ist. Der Turm wäre nicht so nahe am Südtor, habe ich recht?« Meine Stimme klang sanft. Der Fürst murmelte einen Fluch. »Dann ist es also die Wettermaschine. Bordos Augen leisten mir keine allzu guten Dienste, was? Ich mache mir selbst et- was vor, Wächter. Ich belüge mich. Suche eine Den- ker-Kappe auf und frage nach, ob der Graf aus der Stadt geflohen ist.« Ich starrte noch eine Zeitlang auf die gebroche- ne Säule der Wettermaschine, dieses bizarre Gebil- de, das der Welt im Zweiten Zyklus solches Leid ge- bracht hatte. Ich versuchte die glatten Marmorwände zu durchdringen und die Eingeweide zu sehen, jene geheimnisvollen Spulen und Instrumente, die ganze Kontinente versenkt hatten, die vor langer Zeit mei- ne Heimat im Westen von einem bergigen Kontinent in eine Inselkette verwandelt hatten. Dann wandte ich mich ab, streifte eine öffentliche Denker-Kappe über, erkundigte mich nach dem Grafen und erhielt die erwartete Antwort. Ich fragte noch nach Unter-, kunftsmöglichkeiten. »Nun?« fragte der Fürst. »Der Graf von Perris und seine Söhne wurden während der Eroberung getötet. Seine Dynastie ist erloschen, sein Titel wurde abgeschafft, seinen Pa- last haben die Invasoren in ein Museum umgewan- delt. Der übrige Adel von Perris ist entweder tot oder geflohen. Ich werde dir eine Unterkunft bei den Pil- gern beschaffen.« »Nein. Nimm mich mit zu den Historikern!« »Möchtest du dieser Gilde beitreten?« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Nein, du Narr! Aber wie kann ich mich allein in ei- ner fremden Stadt zurechtfinden, wenn alle meine Freunde fort sind? Was sollte ich zu echten Pilgern in der Herberge sagen? Ich bleibe bei dir. Die Histo- riker können einen blinden Pilger nicht abweisen.« Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zum Gilde- haus der Historiker mitzunehmen. Wir mußten durch die halbe Stadt gehen, und wir benötigten dazu fast einen Tag. Perris schien sich in Verwirrung zu befinden. Die Ankunft der Invasoren hatte die Struktur unserer Gesellschaft zerbrechen lassen. Große Bevölkerungsgruppen, zum Teil gan- ze Gilden, hatten ihre Beschäftigung verloren. Ich sah Dutzende von Wächtern auf den Straßen, und einige schleppten immer noch ihre Karren mit. An- dere hatten sich gleich mir von dieser Bürde befreit und wußten nun nicht, was sie mit ihren Händen, anfangen sollten. Meine Gildegefährten wirkten dü- ster und hohlwangig; viele hatten sich dem Trunk ergeben. Ich sah Posten, die ziellos durch die Stra- ßen schlichen, da sie nichts mehr zu bewachen hat- ten, und Verteidiger, die den Niedergang ihrer Gil- de noch nicht fassen konnten. Ich sah keine Herren und natürlich keine Herrscher, aber eine Unzahl ar- beitsloser Komiker, Musiker, Schreiber und ande- rer Hofbeamter, die lustlos hin und her schlender- ten. Und ich sah Horden von Neutern, deren Körper von der ungewohnten Arbeitspause erschlafft wa- ren. Nur die Hausierer und Somnambulisten schie- nen wie früher ihren Tätigkeiten nachzugehen. Die Invasoren gehörten zum normalen Straßen- bild. In Zweier- und Dreiergruppen zogen sie dahin, diese Wesen mit den überlangen Armen. Sie hat- ten schwere Augenlider, ihre Nasen waren hinter Atemfiltern versteckt, und die vollen, breiten Lip- pen preßten sich dicht zusammen. Die meisten von ihnen trugen einheitliche Kleidung in einem satten, dunklen Grün – vielleicht sogar eine Art Besatzungs- Uniform. Einige hatten Waffen bei sich, sonderbar primitive Dinge, die wohl mehr zur Abschreckung als zur Selbstverteidigung dienten. Sie wirkten im allgemeinen entspannt, wenn sie sich unter die Erd- bewohner mischten – großzügige Eroberer, selbstbe- wußt und stolz, die keine Belästigung von der unter- drückten Bevölkerung erwarteten. Aber die Tatsache, daß sie sich nur in Gruppen auf die Straßen wagten,, zeigte doch, daß sie innerlich unsicher waren. Mich störte ihre Anwesenheit nicht, auch dann nicht, wenn sie mit arroganten Besitzermienen die alten Monumente von Perris musterten; aber der Fürst von Roum, für den Menschen nur aufrechte dunkle Flecken gegen einen verschwommenen Hintergrund waren, spürte instinktiv, wenn die Fremden in der Nähe waren, und atmete jedesmal tief ein. Zudem bereisten sehr viel mehr fremde Touristen als früher unsere Welt, Geschöpfe von den verschie- densten Sternen. Einige vertrugen unsere Atmo- sphäre, andere schlenderten mit hermetisch abge- schlossenen Atemglocken oder pyramidenförmigen Filtern umher, und wieder andere hatten Rauman- züge übergestreift. Natürlich hatte es schon immer fremde Besucher auf der Erde gegeben, aber nicht in dieser Zahl. Sie waren überall, durchschnüffel- ten die altertümlichen Modelle des Turms von Per- ris ab, erkletterten waghalsig die höchsten Verbin- dungsstege, starrten in besetzte Gebäude, machten Fotos, tauschten Geld bei schmierigen Hausierern, flirteten mit Schmetterlingsgeschöpfen und Schlaf- wandlerinnen und rasten in Gruppen von einer Se- henswürdigkeit zur nächsten. Es war, als hätten die Invasoren in der gesamten Galaxis die Losung aus- gegeben: BESUCHT JETZT DIE ERDE! NEUE GE- SCHÄFTSLEITUNG! Zumindest unseren Bettlern ging es nicht schlecht. Die Krüppel von fremden Welten konnten, kaum mit Almosen rechnen, aber den Erdgeborenen gehörte das Mitleid der Touristen. Mißgeburten, die nicht ohne weiteres als Terraner zu erkennen wa- ren, gingen ebenfalls leer aus, und ich sah, wie ei- nige der Mutanten ihren vom Glück mehr begün- stigten Kollegen die Geldschalen entrissen. Und die Touristen filmten diese Szenen, um sie auf irgend- einem fremden Planeten ihren Angehörigen vorzu- führen. Endlich erreichten wir das Gildehaus der Histo- riker. Es war, wie man sich vorstellen konnte, ein pracht- volles Bauwerk, denn es beherbergte die gesam- te Vergangenheit der Menschen. Es erhob sich am Südufer der Senn, genau gegenüber dem imposan- ten Palast des Grafen. Aber der Palast des toten Gra- fen war alt, noch aus dem Ersten Zyklus, ein lang- gestrecktes, verwinkeltes Gebäude mit dem grünen Metalldach des traditionellen Perris-Stils, während das Gildehaus eine fensterlose weiße Säule darstell- te, um die sich von der Spitze bis zum Sockel eine Spirale aus goldenem Metall wand. Auf diesem Me- tall war die Geschichte der Menschheit aufgezeich- net. Das obere Stück der Spirale trug noch keine In- schrift. Die Entfernung war zu groß, als daß ich den Text hätte lesen können, und ich fragte mich, ob sich die Historiker die Mühe gemacht hatten, die Nieder- lage der Erde einzutragen. Später erfuhr ich, daß sie es nicht getan hatten – die Inschriften endeten mit, dem Zweiten Zyklus. So wurde viel Unerfreuliches der nachfolgenden Zeit verschwiegen. Die Nacht brach herein. Und Perris, das unter dem wolkenverhangenen Himmel so trostlos ausgesehen hatte, erwachte zu Schönheit, wie eine alte Frau, die verjüngt aus Jorslem zurückkehrte. Die Lichter der Stadt verbreiteten einen sanften, aber strahlenden Glanz, der die alten grauen Gebäude verzauberte, der die harten Ecken verschwimmen ließ, der den Schmutz des Alters verdeckte und Häßlichkeit in Poesie verwandelte. Der unförmige Palast des Gra- fen wurde zu einem Märchengebilde. Der Turm von Perris, durch Scheinwerferlicht aus dem Dunkel ge- holt, ragte im Osten auf wie eine gigantische Spin- ne. Das Weiß der Historikersäule war nun unsagbar schön, und die Spirale der Vergangenheit schien sich nicht mehr bis zu ihrer Spitze zu winden, son- dern umschlang den Betrachter. Auch die Schmet- terlingsgeschöpfe von Perris waren zu dieser Stun- de unterwegs. Sie tanzten über uns ihren Reigen, die transparenten Flügel weit ausgebreitet, um das Sternenlicht aufzufangen, die schlanken Körper ab- gewinkelt. Wie sie dahinschwebten, diese genetisch verän- derten Kinder der Erde, diese glücklichen Angehö- rigen einer Gilde, deren einzige Aufgabe es ist, Ver- gnügen im Leben zu finden! Sie wirkten auf uns Erdverhaftete wie kleine Monde. Invasoren schlos- sen sich dem Flug an, die langen Gliedmaßen eng an, den Körper gepreßt. Mir fiel auf, daß die Schmetter- lingsgeschöpfe keine Abneigung gegenüber den Neu- ankömmlingen zeigten, sondern sie freundlich emp- fingen und an ihrem Reigen teilnehmen ließen. Die beiden künstlichen Monde wanderten von Westen nach Osten, blank und leuchtend. Satel- litenlautsprecher überschütteten uns mit perlen- der Musik. Irgendwo lachten Mädchen, und der Duft von Wein zog an mir vorbei. Und als ich das besiegte Perris betrachtete, dachte ich unwillkür- lich : Wie muß erst das freie Perris ausgesehen ha- ben? »Sind wir am Gildehaus der Historiker?« fragte Fürst Enric gereizt. »Ja«, entgegnete ich. »Eine weiße Säule mit …« »Ich weiß, wie es aussieht, Idiot! Das Gebäude dort drüben, nicht wahr?« »Das ist der Palast des Grafen, Majestät.« »Dann dort drüben?« »Ja.« »Weshalb gehen wir nicht hinein?« »Ich sehe mir Perris an«, sagte ich. »Ich habe noch nie im Leben größere Schönheit kennengelernt. Roum ist auch anziehend, auf seine Weise. Roum ist eine Königin, Perris eine Kurtisane.« »Du wirst poetisch, Alter!« »Ich spüre meine Jugend wieder. Ich könnte auf den Straßen tanzen. Diese Stadt jubelt mir zu.« »Beeil dich, beeil dich! Wir sind wegen der Histo-, riker hergekommen. Auf den Jubel kannst du ein an- deresmal hören.« Seufzend geleitete ich ihn zum Eingang des gro- ßen Gebäudes. Wir betraten einen Gang aus glänzen- dem schwarzen Stein, während Lichtstrahlen uns abtasteten. Eine gewaltige Ebenholztür, fünf Mann breit und zehn Mann hoch, erwies sich als projizier- te Illusion, denn als wir an sie herantraten, spürte ich die Tiefe und sah das gewölbte Innere. Wärme wehte mir entgegen und ein fremdartiger Duft, und wir passierten die Schwelle. Im Innern entdeckten wir eine gigantische Vorhal- le, beinahe so ehrfurchtgebietend wie das Haupt- schiff des Fürstenpalastes in Roum. Alles war weiß, und von dem Stein ging ein Leuchten aus, das den Raum in strahlende Helligkeit tauchte. Zu beiden Seiten führten massive Tore in Seitenflügel. Obwohl die Nacht hereingebrochen war, drängten sich noch viele Wissensdurstige um die Fragebänke im Hinter- grund der Halle, wo Bildschirme und Denker-Kap- pen den Kontakt zu den riesigen Archiven der Histo- riker herstellten. Mir fiel auf, daß in der Menge viele Invasoren waren. Unsere Schritte hallten auf den Steinfliesen wi- der. Ich sah keine eigentlichen Historiker, und so ging ich zu einer Fragebank, streifte eine Denker-Kap- pe über und verständigte das Zentralgehirn, daß ich den Historiker Basil suchte, den ich flüchtig in, Roum kennengelernt hatte. »Was willst du von ihm?« »Ich bringe ihm die Stola, die er in meiner Obhut zurückließ, als er aus Roum floh.« »Der Historiker Basil hat mit Genehmigung der Er- oberer Roum wieder aufgesucht, um seine Forschun- gen fortzusetzen. Ich werde ein anderes Gildemit- glied schicken, das die Stola in Empfang nimmt.« Wir mußten nicht lange warten. Wir standen dicht nebeneinander im Hintergrund der Halle, und ich beobachtete die Invasoren, die noch so viel über un- sere Vergangenheit lernen mußten, als ein beleibter Mann mit verdrießlichen Zügen auf uns zukam. Er trug die Stola der Historiker. »Ich bin Historiker Elegro«, stellte er sich selbst- bewußt vor. »Ich bringe dir Basils Stola.« »Komm. Folge mir.« Er war aus einer sorgfältig getarnten Tür in der Wand getreten. Nun benutzte er sie ein zweitesmal, schloß sie hinter uns und ging mit schnellen Schrit- ten einen Korridor entlang. Ich rief ihm zu, daß mein Begleiter blind sei und nicht so rasch gehen kön- ne, und Elegro blieb mit ungeduldiger Miene ste- hen. Seine Mundwinkel zuckten, und er fuhr sich mit den kurzen, dicken Fingern durch den dunklen Bart. Als wir ihn eingeholt hatten, bewegte er sich etwas langsamer. Wir marschierten durch ein Gewirr von Gängen und kamen schließlich in Elegros Woh-, nung, irgendwo hoch oben im Gildehaus. Der Raum war dunkel, aber reich mit Bildschir- men, Denker-Kappen, Schreibmaterial, Mikropho- nen und anderen Studierhilfen ausgestattet. Die Wände bedeckte ein purpurnes Gewebe, das of- fensichtlich lebte, denn die Randfalten pulsierten rhythmisch. Drei schwebende Leuchten sorgten für schwaches Licht. »Die Stola«, sagte er. Ich holte sie aus meiner Tasche. In jenen Tagen der Verwirrung, kurz nach der Eroberung von Roum, hatte ich sie eine Zeitlang getragen – schließlich war es Basil gleichgültig gewesen, daß sie bei seiner Flucht in meinen Händen zurückblieb. Aber dann hatte ich sie weggelegt, denn es führte zu Kompli- kationen, wenn ein Mann in Wächter-Robe die Sto- la eines Historikers trug. Elegro nahm sie mir rasch aus der Hand, entfaltete sie und sah sie sorgfältig an, als suche er nach Ungeziefer. »Wie kamst du in den Besitz dieser Stola?« »Basil und ich trafen einander während der Inva- sion. Er war in einem Zustand höchster Erregung. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber er lief an mir vorbei, und ich behielt nur die Stola zurück.« »Er hat eine andere Geschichte erzählt.« »Es tut mir leid, wenn ich ihn kompromittiert habe«, sagte ich. »Jedenfalls hast du seine Stola zurückgebracht. Ich werde die Nachricht noch heute nach Roum durch-, geben. Erwartest du eine Belohnung für deine Ehr- lichkeit?« »Ja.« Ein wenig verärgert fragte Elegro: »Welcher Art?« »Ich möchte als Lehrling in die Gilde der Histori- ker aufgenommen werden.« Er sah mich verwirrt an. »Aber du hast doch eine Gilde!« »Heutzutage ist man als Wächter gildelos. Die Wache hat ihren Sinn verloren. Mein Eid gilt nicht mehr.« »Mag sein. Aber du bist ein wenig alt für den Ver- such, in eine neue Gilde einzutreten.« »Nicht zu alt.« »Unsere Mitglieder müssen schwierige Aufgaben erfüllen.« »Ich bin gewillt, hart zu arbeiten. Ich lerne gern. Trotz meines Alters bin ich wissensdurstig.« »Dann werde ein Pilger wie dein Freund. Sieh dich in der Welt um.« »Ich habe die ganze Welt kennengelernt. Nun möchte ich mich den Historikern anschließen und mehr von der Vergangenheit der Erde erfahren.« »Du kannst dir unten alle Informationen holen, Wächter. Die Frage-Bänke stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung.« »Das ist nicht dasselbe. Nimm mich auf!« »Geh zu den Karteibeamten«, schlug Elegro vor. »Ihre Arbeit ist weniger anstrengend.«, »Ich ziehe die Historiker-Gilde vor.« Elegro seufzte tief. Er preßte die Fingerspitzen an- einander, senkte den Kopf und spitzte die Lippen. Offensichtlich hatte er noch nie mit einem ähnli- chen Fall zu tun gehabt. Noch während er überleg- te, öffnete sich eine Tür, eine Historikerin trat ein. Sie trug eine kleine türkisblaue Musiksphäre in den Händen. Als sie sah, daß Elegro Besuch hatte, blieb sie überrascht stehen. Sie nickte entschuldigend und sagte: »Ich komme später wieder.« »Bleib«, entgegnete der Historiker. Er wandte sich an mich und den Fürsten. »Meine Frau, die Histori- kerin Olmayne.« Zu seiner Frau sagte er: »Diese bei- den Reisenden kommen aus Roum. Sie haben Ba- sils Stola abgeliefert. Der Wächter möchte nun als Lehrling in unsere Gilde aufgenommen werden. Was rätst du mir?« Olmayne runzelte die Stirn. Sie legte die Musik- sphäre in eine dunkle Kristallschale und schalte- te sie dabei versehentlich ein. Das Fragment einer perlenden Melodie klang auf. Die Frau wandte sich uns zu. Sie stand in der Blüte ihrer Jugend, wäh- rend ihr Mann bereits die erste Hälfte seines Lebens überschritten hatte. Aber sie hatte eine sonderba- re Entschlossenheit an sich, die von Reife zeugte. Vielleicht war sie in Jorslem gewesen, um sich neue Jugend zu holen; aber in diesem Fall erschien es merkwürdig, daß ihr Mann nicht das gleiche ge-, tan hatte, außer er bevorzugte die Würde des Alters. Sie hatte ein großflächiges Gesicht mit einer hohen Stirn, betonten Wangenknochen, einem breiten, sinnlichen Mund und einem leicht vorspringenden Kinn. Das glänzende schwarze Haar stand in einem sonderbaren Kontrast zu ihrer hellen Haut. Weiße Haut ist selten bei uns, jedenfalls viel seltener als in alter Zeit. Avluela, mein schönes, kleines Schmet- terlingsmädchen, hatte auch schwarzes Haar und weiße Haut besessen – aber hier endete die Ähn- lichkeit, denn Avluela war zart und zerbrechlich ge- wesen, während die Historikerin Olmayne vor Ener- gie sprühte. Ihr Körper war ebenmäßig, mit geraden Schultern, hohen Brüsten und schlanken Beinen. Sie hatte eine königliche Haltung. Sie betrachtete uns so lange, bis ich den kühlen Blick aus den dunklen Augen kaum noch ertragen konnte. Schließlich fragte sie: »Hält sich der Wäch- ter für geeignet, unseren Beruf auszuüben?« Die Frage war an keine bestimmte Person gerich- tet. Ich zögerte ebenso wie Elegro, sie zu beantwor- ten; und schließlich sagte der Fürst in seiner be- fehlsgewohnten Stimme: »Der Wächter ist geeignet, eurer Gilde beizutreten.« »Und wer bist du?« fragte Olmayne. Sofort änderte sich der Tonfall des Fürsten. »Ein elender blinder Pilger, Milady, der zu Fuß von Roum nach Perris gewandert ist und von diesem Wächter unterstützt wurde. Wenn ich meine Meinung äu-, ßern darf, so besitzt dieser Mann durchaus die Fä- higkeiten, die von einem Historiker-Lehrling gefor- dert werden.« »Und du selbst?« fragte Elegro. »Welche Pläne hast du?« »Ich suche hier nur Zuflucht«, sagte der Fürst. »Ich bin des Umherwanderns müde, und ich muß über vieles nachdenken. Vielleicht könnte man mir hier kleinere Aufgaben übertragen. Ich möchte nicht von meinem Gefährten getrennt werden.« Olmayne wandte sich an mich: »Wir werden über deinen Fall beraten. Wenn man deine Bitte akzep- tiert, mußt du einige Prüfungen ablegen. Ich werde die Bürgschaft für dich übernehmen.« »Olmayne!« stieß Elegro mit deutlicher Verwun- derung hervor. Sie lächelte uns heiter an. Ein Familienstreit schien sich anzubahnen; aber er brach nicht aus, und die Historiker boten uns ihre Gastfreundschaft an – Erfrischungen, alkoholische Getränke, ein Nachtlager. Wir speisten allein in ei- nem Raum ihrer Suite, während sie mit anderen Hi- storikern über unseren ungewöhnlichen Antrag be- rieten. Der Fürst wirkte sonderbar erregt; er schlang das Essen in sich hinein, verschüttete eine Flasche Wein, spielte nervös mit Messer und Gabel und leg- te die Hände immer wieder an die metallisch grauen Augäpfel. Schließlich sagte er leise und drängend: »Wie sieht sie aus?«, Ich beschrieb sie ihm in allen Einzelheiten und versuchte ihm eine möglichst genaue Vorstellung von ihr zu vermitteln. »Du sagst, sie ist schön?« »Ich glaube, ja. Du weißt, daß man so etwas in meinem Alter abstrakt beurteilt.« »Ihre Stimme erregt mich«, sagte der Fürst. »Sie hat Macht. Sie ist königlich. Sie muß schön sein; es wäre ungerecht, wenn ihr Körper nicht zu ihrer Stimme passen würde.« »Sie gehört einem anderen Mann und ist zudem unsere Gastgeberin«, entgegnete ich mühsam. Ich erinnerte mich an einen Tag in Roum, als die Sänfte aus dem Palast getragen wurde und der Fürst Avluela erspähte. Er hatte sie zu sich befohlen und sie in die Sänfte gezerrt, um sein Verlangen zu be- friedigen. Ein Herrscher mochte mit dem einfachen Volk so umspringen; ein Pilger durfte es nicht, und ich hatte Angst vor Enrics Plänen. Wieder faßte er nach den künstlichen Augen. Seine Gesichtsmus- keln zuckten. »Versprich mir, daß du ihretwegen keine Schwie- rigkeiten machen wirst«, sagte ich. Er öffnete den Mund zu einer wütenden Erwide- rung, aber dann beherrschte er sich mühsam. »Du verkennst mich, Alter«, sagte er langsam. »Ich wer- de die Gesetze der Gastfreundschaft nicht verletzen. Und nun gib mir noch etwas Wein.« Ich drückte auf den Knopf, und eine zweite Fla-, sche Wein wurde serviert. Es war ein starker Rot- wein, nicht die goldene Flüssigkeit, die wir in Roum getrunken hatten. Ich schenkte ein; wir tranken; die Flasche war rasch geleert. Ich packte sie an den Po- laritätslinien und knickte sie rasch. Sie zerplatzte wie eine Seifenblase. Sekunden später trat Olmayne ein. Sie hatte sich umgezogen. Anstelle des dunklen, einfachen Nachmittagskleides hatte sie ein durch- scheinendes scharlachrotes Gewand gewählt, das ihre Schultern freigab. Es enthüllte die Konturen ih- res Körpers, und ich sah zu meiner Überraschung, daß sie einen Nabel hatte. Er unterbrach die glatte Kurve ihres Leibes so raffiniert, daß selbst ich Erre- gung spürte. Sie sagte freundlich: »Deine Bewerbung ist ak- zeptiert worden. Ich bürge für dich. Man stellt die Prüfungen noch heute abend zusammen. Wenn du sie bestehst, wirst du in unserer Abteilung arbei- ten.« Ihre Augen blitzten mit einemmal schelmisch. »Mein Mann, das will ich dir nicht verhehlen, be- fürwortet diese Entwicklung nicht. Aber seine Mei- nung zählt nicht. Kommt jetzt mit, ihr beiden.« Sie streckte die Hände aus und reichte sie mir und dem Fürsten. Ihre Finger waren kühl. In meinem In- nern pochte ein heftiges Fieber. Es war, als hätte ich in Jorslem das Wasser der Verjüngung genossen. »Kommt!« sagte Olmayne und führte uns in den Raum, in dem die Prüfungen stattfanden., Und so wurde ich in die Historiker-Gilde aufgenom- men. Die Prüfungsfragen waren oberflächlich. Olmay- ne brachte uns in einen kreisförmigen Raum an der Spitze der hohen Säule. Die gekrümmten Wände waren mit edlen Hölzern der verschiedensten Farb- töne verkleidet. Glatte Bänke standen im Kreis um eine Spirale von der Höhe eines Mannes, und die Schriftzeichen der Spirale waren so klein, daß ich sie nicht entziffern konnte. Ein halbes Dutzend Hi- storiker saßen herum. Man sah ihnen an, daß sie nur auf Olmaynes Befehl hin gekommen waren. Der schäbige, alte Wächter, für den sie aus einer Laune heraus bürgte, interessierte die Männer nicht im ge- ringsten. Man reichte mir eine Denker-Kappe. Eine krat- zige Stimme stellte mir durch die Kappe ein Dut- zend Fragen. Meine Herkunft wurde durchleuchtet und mein Charakter. Ich nannte ihnen meine Gilde- Kennziffer, damit sie sich mit dem hiesigen Gilde- meister in Verbindung setzen und Erkundigungen über mich einholen konnten. Gleichzeitig sollten sie meinen Austritt aus der Wächter-Gilde beantragen. Normalerweise konnte man vom Wächtereid nicht entbunden werden, aber wir hatten keine normalen Zeiten, und ich wußte, daß meine Gilde dem Unter- gang geweiht war., Nach einer Stunde war alles vorbei. Olmayne leg- te mir persönlich die Stola um die Schultern. »Du erhältst eine Schlafgelegenheit in der Nähe unserer Wohnung«, sagte sie. »Du wirst deine Wäch- terkleidung abgeben müssen. Dein Freund hingegen kann sein Pilgergewand weiterhin tragen. Nach ei- ner gewissen Probezeit beginnen wir mit deiner Aus- bildung. Inzwischen hast du unbeschränkten Zutritt zu den Gedächtnisspeichern. Ich hoffe, dir ist klar, daß du erst nach vielen Jahren Vollmitglied unserer Gilde werden kannst.« Ich nickte. »Du heißt ab jetzt Tomis«, fuhr Olmayne fort. »Noch nicht der Historiker Tomis, sondern Tomis von den Historikern. Das ist ein bedeutender Unter- schied. Dein früherer Name existiert nicht mehr.« Der Fürst und ich wurden in einen Raum geführt, den wir von nun an teilen sollten. Es war ein be- scheidener Platz, aber er enthielt eine Waschgele- genheit, Anschlüsse zu Denker-Kappen und anderen Informationsspeichern und eine Speise-Zuleitung. Fürst Enric ging hin und her und machte sich mit den Hindernissen vertraut. Schränke, Betten, Stühle und andere Möbel klappten aus den Wänden, wenn er gegen die Schalter stieß. Endlich hatte er sich zu- rechtgefunden. Er holte ein Bett aus der Wand und legte sich hin. »Ich möchte eines wissen, Tomis von den Histo- rikern.«, »Ja?« »Meine Neugier läßt mir keine Ruhe. Wie hast du in deinem früheren Leben geheißen?« »Das ist jetzt unwichtig.« »Dich bindet kein Eid mehr. Willst du mir den- noch die Auskunft verweigern?« »Die Gewohnheit bindet mich«, entgegnete ich. »Ich bin jetzt doppelt so alt wie du, und nie war es mir gestattet, meinen Namen auszusprechen.« »So sprich ihn jetzt aus!« »Wuellig.« Es war merkwürdig befreiend. Mein früherer Name schien vor meinen Lippen in der Luft zu schweben; er tanzte wie ein Kolibri durch das Zimmer, wirbelte hoch, schlug gegen eine Wand und zerbrach mit ei- nem hellen Klirren. Ich zitterte. »Wuellig«, sagte ich noch einmal. »Ich habe früher Wuellig geheißen.« »Das ist vorbei.« »Ja. Nun bin ich Tomis von den Historikern.« Und wir lachten beide, bis das Lachen schmerz- te. Der blinde Fürst stand auf und schlug mir freund- schaftlich auf den Arm, und wir riefen immer wie- der meinen und seinen Namen, wie kleine Kinder, die eben die Worte der Macht entdeckt hatten und zugleich erkennen mußten, wie wenig echte Macht Worte in Wirklichkeit besitzen. So begann mein neues Leben bei den Histori- kern., Zu Beginn verließ ich das Gildehaus überhaupt nicht. Meine Tage und Nächte waren mit Arbeit aus- gefüllt, und Perris blieb mir fremd. Auch der Fürst verbrachte einen großen Teil seiner Zeit im Gilde- haus und ging nur fort, wenn die Langeweile oder die Erbitterung ihn übermannte. Gelegentlich schloß er sich der Historikerin Olmayne an, um nicht allein in seiner Blindheit zu sein; aber ich weiß, daß er auch ohne Begleitung das Haus verließ. Er wollte uns trotzig beweisen, daß er mit den Gefahren der Stadt fertig wurde. Meine Arbeitsstunden waren in folgende Tätig- keiten aufgegliedert: Einführungsunterricht, unter- geordnete Lehrlingsaufgaben, Privatstudien. Es überraschte mich nicht, daß ich sehr viel älter als die übrigen Lehrlinge war. Die meisten waren Kinder, Nachkommen von Historikern. Sie betrach- teten mich mit Verwirrung und konnten es nicht fas- sen, daß ein Greis wie ich ihren Unterricht teilte. Gewiß, es gab einige Lehrlinge, die erst spät ihre Be- rufung für die Gilde der Historiker entdeckt hatten, aber keiner war auch nur annähernd so alt wie ich. Daher hatte ich wenig Kontakt mit ihnen. Zu unserer Ausbildung gehörte auch, daß wir die verschiedenen Techniken zur Aufhellung der Ver- gangenheit erlernten. Staunend sah ich mich in den Labors um, wo Funde der früheren Zyklen analysiert wurden; ich sah die Detektoren, die mit Hilfe der atomaren Verfallszeit das Alter eines Gegenstands, bestimmen; ich beobachtete, wie Strahlen vielfarbi- gen Lichts ein Stückchen Holz in Asche verwandel- ten und es zwangen, seine Geheimnisse preiszuge- ben; ich sah, wie aus toter Materie die Vergangenheit wieder lebendig wurde. Wohin wir auch gehen, überall hinterlassen wir unsere Spuren: Lichtparti- kel prallen von unseren Gesichtern ab, und der Pho- tonenfluß gibt ihnen einen festen Platz in der Umge- bung. Die Historiker wiederum lösen sie aus dieser Beziehung, teilen sie in Kategorien, bestimmen sie. Ich betrat einen Raum, wo gespensterhafte Gesichter in einem fettigen blauen Nebel schwebten: verstor- bene Könige und Gilde-Meister, ehemalige Herzöge, Helden der Antike. Ich beobachtete Techniker, die ein Stück Geschichte aus einer Handvoll verkohl- ter Materie zusammensetzten. Ich sah, wie feuchte Abfallklumpen Zeugnis ablegten von Revolutionen und Attentaten, von kulturellen Veränderungen und dem Niedergang der Sitten. Dann weihte man mich oberflächlich in die Aus- grabungstechniken ein. Raffinierte Simuliergerä- te zeigten mir Historiker in den Ruinenstädten von Afreek und Ais. Ich nahm an einer Unterwasserex- pedition teil, die nach Zivilisationsüberresten des Verlorenen Kontinents suchte; Historikerteams be- stiegen durchscheinende tropfenförmige Schiffe, die wie grüne Gelatineperlen aussahen; sie schoben sich durch das Erdmeer, immer tiefer bis zu den schlick- verkrusteten Landmassen, und mit starken violetten, Strahlen bohrten sie sich durch den Schlamm, um ihm die Wahrheit zu entreißen. Ich sah die Scher- bensammler, die Schattenjäger, die Molekülspezia- listen. Eine der eindrucksvollsten Vorführungen war die Ausgrabung einer Wettermaschine im Süden von Afreek. Wahrhaft heldenhafte Historiker legten den Sockel des titanischen Apparats frei und holten ihn dann mit Energiewinden aus dem Boden. Die Erde selbst schien zu stöhnen, als dieser Eingriff vorbei war. Und während die Wettermaschine hoch über dem Erdboden schwebte, untersuchten Experten ih- ren früheren Standort, um zu erkennen, wie man sie errichtet hatte. Meine Augen leuchteten bei diesem Schauspiel. Eine überwältigende Ehrfurcht vor der Gilde, die ich gewählt hatte, erfaßte mich. Wenn ich früher Hi- storiker kennengelernt hatte, waren sie mir hochmü- tig, aufgeblasen, eingebildet oder zumindest über- heblich erschienen; sie besaßen keinen Charme. Aber das Ganze ist größer als die Summe der Teile, und ich sah Basil und Elegro, die so hohl waren, so gleichgültig gegenüber anderen Menschen, als Teile eines gewaltigen Bemühens, die strahlende Vergan- genheit neu zu erwecken. Diese Erforschung der ent- schwundenen Zeiten war erhaben, die einzig wür- dige Beschäftigung für den Menschen; denn da wir unsere Gegenwart und unsere Zukunft verloren hat- ten, mußten wir all unsere Kräfte der Vergangenheit zuwenden. Sie konnte uns niemand nehmen, wenn, wir nur wachsam genug waren. Viele Tage studierte ich die Einzelheiten dieses Bemühens, jede Arbeitsstufe vom Auflesen winzi- ger Staubkörnchen über ihre Behandlung und Ana- lyse im Labor bis zur Synthese und Interpretation, die von den erfahrensten Historikern vorgenommen wurde. Ich erblickte gelegentlich einen dieser Wei- sen. Welk und ausgetrocknet waren sie, uralt, mit schlohweißem Haar. Ihre dünnen Lippen murmel- ten unaufhörlich Kommentare und Interpretationen, und ihre Ausführungen grenzten oft an Spitzfindig- keit. Im Flüsterton erzählte man mir, daß einige von ihnen zwei- bis dreimal in Jorslem verjüngt worden waren und nun auf der Schwelle des endgültigen Todes standen. Als nächstes zeigte man uns die Gedächtnisspei- cher, wo die Historiker ihre Erkenntnisse sammeln und an die Wissensdurstigen weitergeben. Als Wächter hatte ich mich kaum dafür interes- siert, wie diese Gedächtnisspeicher funktionierten. Nun stockte mir der Atem, als ich die Mammutt- anks der Historiker sah. Ich stand in einem nied- rigen, langgestreckten Saal – es gab Dutzende da- von, wie ich erfuhr – und betrachtete die Schädel, die in Neunerreihen angeordnet waren. Sie füllten den ganzen Raum aus. Die Perspektive narrte mich; ich konnte nicht sagen, ob zehn oder fünfzig dieser Neunerreihen hintereinander gestaffelt waren. Aber der Anblick dieser gebleichten Schädel hatte etwas, Überwältigendes an sich. »Sind das die Gehirne von früheren Historikern?« fragte ich. »Einige«, erwiderte unser Führer. »Aber es ist nicht nötig, nur Historiker-Gehirne einzusetzen. Je- des normale menschliche Gehirn läßt sich verwen- den. Selbst ein Diener besitzt mehr Speicherkapa- zität, als man vermuten würde. Da wir für unsere Stromkreise keinerlei Redundanz benötigen, können wir jedes einzelne Gehirn voll ausnützen.« Ich versuchte mehr von der Apparatur zu erspä- hen, die sich hinter einem glatten Schutzwall be- fand. »Was wird in diesem Saal gespeichert?« frag- te ich. »Die Namen der Bewohner Afreeks aus dem Zwei- ten Zyklus, dazu möglichst viele persönliche Daten über jeden einzelnen. Da diese Zellen damit noch nicht ganz ausgelastet sind, haben wir vorüberge- hend gewisse geographische Einzelheiten über den Verlorenen Kontinent eingespeist, dazu Informatio- nen über die Entstehung der Landbrücke.« »Können diese Informationen von provisorischen Speichern ohne Schwierigkeiten auf permanente Speicher umgelagert werden?« »Ja. Alles geschieht elektromagnetisch. Unsere Fakten sind nichts anderes als Ladungsaggregate. Wir verlagern sie von einem Gehirn auf das andere, indem wir die Polarität umkehren.« »Und wenn sich nun ein elektrischer Fehler ein-, schleicht?« fragte ich. »Sie sagen, daß die Stromkrei- se nicht die geringste Redundanz haben. Ist es mög- lich, daß man durch ein Mißgeschick Informationen zerstört?« »Nein«, erklärte der Führer ruhig. »Wir haben eine Reihe von Sicherungen, die für kontinuierliche En- ergie sorgen. Und da wir organisches Gewebe für unsere Speicherzellen benutzen, haben wir eine op- timale Sicherheit: selbst im Falle einer Stromunter- brechung behalten die Gehirne ihre Informationen. Es wäre anstrengend, aber durchaus nicht unmög- lich, diese Informationen wiederzuerlangen.« »Ergaben sich während der Invasion Schwierigkei- ten?« fragte ich. »Wir stehen unter dem Schutz der Invasoren, die sehr an unserer Arbeit interessiert sind.« Nicht lange danach durften wir Lehrlinge von der Galerie aus an einer Sitzung der Historiker teilneh- men. Die Gildemitglieder, unter ihnen Elegro und Olmayne, hatten sich in vollem Pomp versammelt. Auf einem Podium mit dem Symbol der Spirale stand der Gilde-Meister, Kanzler Kenishal, ein dü- sterer, gebieterischer Mann. In seiner Gesellschaft befand sich einer der Invasoren. Kenishal hielt eine kurze Rede. Seine wohlklingende Stimme konnte nicht ganz die Hohlheit seiner Worte vertuschen; wie alle hohen Beamten erging er sich in Platitüden und Selbstlob. Dann stellte er den Eroberer vor. Der Fremde streckte die Arme aus, bis sie die Wän-, de des Auditoriums zu berühren schienen. »Ich bin Menschenherrscher Sieben«, sagte er ru- hig, »verantwortlich für Perris und insbesondere für die Historiker-Gilde. Ich bin hierhergekommen, um ausdrücklich zu betonen, daß die Historiker durch die Besatzung keinerlei Beschränkungen erleiden sollen. Sie haben freien Zugang zu allen Plätzen der Erde sowie anderer Planeten, die sich für die Aufhel- lung der Vergangenheit als wichtig erweisen könn- ten. Sie haben Einsicht in sämtliche Akten bis auf jene, die unmittelbar mit der Organisation der Be- setzung zusammenhängen. Kanzler Kenishal hat mir indes versichert, daß die Eroberung ohnehin außer- halb Ihres Forschungsbereiches liegt, so daß es zu keinen Härtefällen kommen wird. Die Besatzungsre- gierung ist sich im klaren darüber, welche wertvolle Arbeit Ihre Gilde leistet. Die Geschichte der Erde ist von großer Bedeutung, und wir wünschen, daß Sie Ihre Bemühungen fortsetzen.« »Damit die Erde eine größere Touristenattraktion wird«, flüsterte der Fürst von Roum neben mir. Menschenherrscher Sieben fuhr fort: »Der Kanzler hat mich gebeten. Ihnen von einer Verwaltungsän- derung zu berichten, die automatisch aus der Beset- zung der Erde folgt. Bisher wurden alle Gildenstrei- tigkeiten vor einem eigenen Gildegericht verhandelt, an dessen Spitze Kanzler Kenishal stand. Um die Verwaltung einheitlich zu gestalten, hat es sich als notwendig erwiesen, die Gerichtsbarkeit der Gil-, den aufzuheben. Der Kanzler wird ab jetzt sämtliche Streitfälle uns übertragen.« Die Historiker murmelten. Sie wurden unruhig und tauschten besorgte Blicke aus. »Der Kanzler dankt ab!« stieß ein Lehrling in mei- ner Nähe hervor. »Was bleibt ihm anderes übrig, du Schwachkopf?« flüsterte ein anderer. Die Sitzung wurde aufgehoben, und die Historiker diskutierten erregt in den Korridoren. Ein Träger der Stola war so außer sich, daß er niederkniete und die Beruhigungsübungen vollführte, ohne auf die Men- ge zu achten. Wir Lehrlinge wurden einfach zur Sei- te gedrängt. Ich versuchte den Fürsten zu schützen, da ich befürchtete, er könnte umgestoßen und von der Masse zertrampelt werden; aber wir wurden ge- trennt, und ich verlor ihn für ein paar Minuten aus den Augen. Als ich ihn wiedersah, stand die Histo- rikerin Olmayne an seiner Seite. Ihr Gesicht war ge- rötet, ihre Augen glänzten; sie sprach rasch auf ihn ein. Der Fürst umklammerte ihren Ellbogen, als be- nötigte er eine Stütze. *, Nachdem die Einführung vorbei war, vertraute man mir einfache Pflichten an. In der Hauptsache mußte ich Dinge verrichten, die in früheren Zeiten voll- kommen von Maschinen erledigt worden waren, beispielsweise das Überwachen von Leitungen, die Nährlösungen in die Gehirne der Gedächtnisspei- cher tropften. Tag für Tag hielt ich mich ein paar Stunden in dem schmalen Korridor mit den Instru- mententafeln auf und suchte nach verstopften Lei- tungen. Falls eine dieser Leitungen blockiert war, zeichnete sich der Spannungsverlauf an den trans- parenten Röhren ab und wurde mit Hilfe polarisier- ten Lichtes sichtbar gemacht. Ich erfüllte meine be- scheidene Aufgabe ebenso gewissenhaft wie die vielen anderen kleinen Aufträge, die wir Lehrlinge erhielten. Aber ich hatte auch Gelegenheit, private Nachfor- schungen über die Vergangenheit unseres Planeten anzustellen. Manchmal erkennt man wahre Werte erst, wenn sie unwiederbringlich verloren sind. Ein Leben lang hatte ich als Wächter gedient und mich bemüht, die Erde rechtzeitig vor den Invasoren zu warnen, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wer die Erde er- obern wollte und aus welchen Gründen. Ein Leben lang war mir vage bewußt gewesen, daß die Erde bessere Tage gekannt hatte als jene des Dritten Zy-, klus, in die ich hineingeboren war. Und doch hatte ich mich nicht darum gekümmert, wie die Vergan- genheit ausgesehen hatte und auf welche Ursachen der Verfall zurückzuführen war. Erst als die Sternen- schiffe der Invasoren am Himmel aufglühten, spürte ich die Sehnsucht, mehr über jene entschwundene Zeit zu erfahren. Nun durchforschte ich als Tomis, der älteste Lehrling der Historiker, die Archive der Vergangenheit. Jeder Bürger hat das Recht, eine öffentliche Den- ker-Kappe überzustreifen und von den Historikern Informationen zu jedem Thema zu fordern. Nichts wird ihnen verheimlicht. Aber die Historiker helfen nicht freiwillig; man muß selbst wissen, wie man die Fragen stellt, und das bedeutet, daß man bereits gründliche Vorkenntnisse benötigt. Punkt für Punkt holt man sich dann die Fakten zusammen. Das ist nicht schwer, wenn man beispielsweise nach den klimatischen Verhältnissen in Agupt, nach den Sym- ptomen der Kristallkrankheit oder nach den Regeln einer bestimmten Gilde fragt. Aber es nützt nicht das geringste, wenn man größere Fragenkomplexe lösen möchte. Man müßte tausend Informationen einholen, um überhaupt beginnen zu können. Und diese Mühe machen sich die wenigsten. Als Historiker-Lehrling hatte ich Zugang zu sämt- lichen Daten. Mehr noch, ich durfte die Karteien be- nutzen. Die Karteibeamten sind eine Untergilde der Historiker. Sie ordnen und klassifizieren Dinge, die, sie oft selbst nicht begreifen; das Endprodukt ihrer mühseligen Arbeit dient der höheren Gilde. Ohne diese Karteien, die nicht jedem zugänglich sind, wäre jede Forschungsarbeit zum Scheitern verur- teilt. Ich will hier nicht schildern, wie ich mein Wissen zusammenscharrte – die vielen Stunden, die ich in dem Labyrinth der Korridore verbrachte, die Rück- schläge, die Verwirrung, die Müdigkeit. Als Neuling war ich hilflos den derben Späßen anderer ausge- liefert, und manche Kollegen, aber auch voll ausge- bildete Gildemitglieder, gaben mir aus reiner Bos- heit die falsche Auskunft. Aber ich lernte, welche Wege ich gehen mußte, wie ich meine Fragen anein- anderreihen mußte, wie ich von einem Hinweis zum nächsten vorstoßen mußte, bis plötzlich die Wahr- heit hervorbrach. Nicht durch Intelligenz, sondern vor allem durch Beharrlichkeit entnahm ich schließ- lich den Karteien der Historiker die zusammenhän- gende Geschichte über den Niedergang der Mensch- heit. Hier ist sie: In grauer Vorzeit war das Leben auf der Erde bru- tal und primitiv. Wir nennen diese Zeit den Ersten Zyklus. Ich spreche nicht von der Epoche vor der Zivilisation, als die Menschen wie Tiere in Höh- len hausten und Steinwerkzeuge benutzten. Der Er- ste Zyklus nahm seinen Anfang, als der Mensch es erlernte, Informationen aufzuzeichnen und seine, Umgebung zu kontrollieren. Das geschah zuerst in Agupt und Sumir, vor etwa vierzigtausend Jahren – doch das stimmt nicht mit der Zeitrechnung jener Menschen überein, da sich gegen Ende des Zweiten Zyklus die Spanne eines Jahres veränderte und wir nicht mehr feststellen konnten, wie lange die Erde früher gebraucht hatte, um sich einmal um die Son- ne zu drehen. Es scheint etwas länger als heute ge- wesen zu sein. Der Erste Zyklus war die Zeit des Imperatoren- Roum. Auch Jorslem erlebte seine erste Blüte. Ey- rop blieb noch primitiv und ungezähmt, als Ais und große Teile von Afreek längst zivilisiert waren. Im Westen hoben sich zwei große Kontinente aus dem Erdmeer, und auch sie waren von Wilden bewohnt. Es heißt, daß in diesem Zyklus die Menschheit keine Verbindung zu Völkern von anderen Sternen hatte. Diese Abgeschiedenheit ist schwer zu verste- hen, aber man muß sich mit den Tatsachen abfin- den. Die Menschheit kannte nur das Licht des Feu- ers; sie wußte nicht, wie man Krankheiten heilte; niemand konnte verjüngt werden. Es war eine Epo- che ohne Bequemlichkeit, eine graue, harte Zeit. Der Tod kam früh; kaum hatte man ein paar Söhne ge- zeugt, wurde man zu Grabe getragen. Man lebte in Angst; und meist war es Angst vor irrealen Dingen. Die Seele verkrampft sich bei dem Gedanken an jene Ära. Und doch wurden im Ersten Zyklus herr- liche Städte gegründet – Roum, Perris, Atin, Jors-, lem – und bewundernswerte Taten vollbracht. Man betrachtet mit Ehrfurcht jene Vorfahren, die Anal- phabeten waren, keine Hygiene kannten und keine Maschinen besaßen und die doch ihre Welt meister- ten. Krieg und Kümmernisse gab es oft im Ersten Zy- klus. Zerstörung und Schöpfung erfolgten nahezu gleichzeitig. Flammen fraßen die glänzendsten Städ- te der Menschheit. Chaos drohte die Ordnung zu verschlingen. Wie konnten die Menschen der Vor- zeit dieses Leben ertragen? Gegen Ende des Ersten Zyklus hatten sie viel von ihrem primitiven Wesen abgelegt. Endlich standen ihnen Energiequellen zur Verfügung; es entstanden Verbindungswege; Nachrichten wurden in kürze- ster Zeit übermittelt; Erfindungen verwandelten die Welt. Die Methoden der Kriegführung hielten Schritt mit der technischen Entwicklung; aber die völlige Katastrophe konnte immer wieder abgewehrt wer- den, obwohl sie manchmal dicht bevorstand. In je- ner letzten Phase des Ersten Zyklus wurde der Ver- lorene Kontinent kolonisiert, ebenso Stralya, und man nahm die ersten Kontakte zu den Nachbarpla- neten unseres Sonnensystems auf. Der Übergang vom Ersten zum Zweiten Zyklus wird willkürlich in die Zeit gelegt, als die Menschen zum erstenmal mit intelligenten Lebewesen fremder Welten in Berührung kamen. Dies geschah, wie die Historiker glauben, knappe fünfzig Generationen,, nachdem die Menschen des Ersten Zyklus die Elek- tronen- und Atomenergie gemeistert hatten. So kön- nen wir mit Recht sagen, daß die frühen Bewohner der Erde von den primitivsten Anfängen bis zur Er- forschung der Galaxis gelangten. Doch auch auf den Zweiten Zyklus können wir stolz sein. Denn wenn die Menschheit im Ersten Zy- klus trotz vieler Hindernisse ans Ziel gelangte, so kannte der Zweite Zyklus keinerlei Beschränkun- gen, und man leistete Wunderdinge. In dieser Epoche brach die Menschheit zu den Sternen auf, und die Sterne kamen zu uns. Die Erde war ein Markt für die Güter aller Welten. Ständig er- lebte man neue Überraschungen. Man konnte Hun- derte von Jahren leben; Augen, Herzen, Lungen und Nieren wurden gewechselt wie ein Paar Schuhe; die Luft war sauber, niemand hungerte, und Kriege ge- hörten der Vergangenheit an. Maschinen aller Art dienten dem Menschen. Aber die Maschinen genüg- ten nicht, und so züchtete man im Zweiten Zyklus Menschen, die Maschinen waren, ohne Maschinen, die Menschen waren: Geschöpfe, die genetisch von Menschen abstammten, aber künstlich geboren wur- den und anschließend eine Drogenbehandlung er- fuhren, die ihnen das Erinnerungsvermögen nahm. Diese Kreaturen konnten, ähnlich wie unsere Neu- ter, tüchtig arbeiten, aber ihnen fehlten die Erfah- rungen, Erinnerungen, Erwartungen und schöpfe- rischen Fähigkeiten, welche die menschliche Seele, besitzt. Millionen solcher Quasimenschen kümmer- ten sich um die stumpfe Alltagsarbeit und ermög- lichten damit den anderen ein Leben der Erfüllung. Nach der Erschaffung der Quasimenschen kam die Züchtung der Supertiere, die durch biologische Ver- änderung des Gehirns Aufgaben erfüllen konnten, zu denen sie früher nicht in der Lage gewesen wa- ren: Hunde, Katzen, Mäuse und Rinder gehörten der Arbeiterklasse an, und gewisse hochentwickelte Pri- maten erhielten Funktionen, die früher Menschen innegehabt hatten. Durch diese volle Ausschöpfung der Umgebung schuf der Mensch ein Paradies auf Erden. Der Geist schwang sich zu ungeahnten Höhen em- por. Dichter, Gelehrte und Wissenschaftler leisteten Großes. Glänzende Städte entstanden überall. Die Bevölkerung war gewaltig, und doch fanden alle Platz, und es herrschte keine Not. Man konnte sei- nen Launen nachgeben; es wurde mit genetischer Chirurgie, genetischen Mutationen und teratogene- tischen Drogen experimentiert. Viele neue Formen entstanden. Raumstationen schwebten am Himmel und er- füllten mannigfache Aufgaben. Zu dieser Zeit ent- standen auch die beiden künstlichen Monde. Die Historiker wissen nicht, ob sie einen funktionellen Zweck hatten oder rein der Ästhetik dienten. Auch die Nordlichter, die allnächtlich über den Himmel zucken, könnten damals installiert worden sein, ob-, wohl einige Wissenschaftler die Ansicht vertreten, daß ihr Erscheinen in den gemäßigten Zonen mit den geographischen Veränderungen zu tun hat, die das Ende des Zweiten Zyklus ankündigten. Jedenfalls war es eine der herrlichsten Epochen. »Die Erde sehen und sterben«, hieß damals ein Schlagwort der fremden Völker. Niemand, der sich auf Weltenreise begab, wagte es, diesen Wunderpla- neten auszulassen. Wir hießen die Fremden willkom- men, nahmen ihre Komplimente und ihr Geld entge- gen, boten ihnen großzügige Gastfreundschaft und stellten stolz unsere Errungenschaften zur Schau. Der Fürst von Roum kann bezeugen, daß die Mächtigen letzten Endes gedemütigt werden. Und je höher man gestiegen ist, desto tiefer fällt man. Nach einigen Jahrtausenden unvorstellbaren Glan- zes trieben es die Menschen des Zweiten Zyklus zu weit. Sie begingen zwei Fehler, den einen aus dum- mer Arroganz und den anderen aus übertriebener Selbsteinschätzung. Noch heute muß die Erde für diese Fehler büßen. Die Wirkung des ersten Fehlers machte sich nur langsam bemerkbar. Ganz allmählich hatte sich die Haltung der Menschheit gegenüber anderen Rassen von Ehrfurcht zu sachlicher Anerkennung und dann zu Verachtung gewandelt. Zu Beginn des Zyklus wa- ren die Erdbewohner naiv und kühn in eine Gala- xis vorgestoßen, die bereits viele fortschrittliche und zivilisierte Rassen beherbergte. Das hätte zu einem, Trauma führen können, aber es schuf den Drang, die anderen Rassen zu überflügeln. Und so geschah es, daß die Terraner in den anderen Völkern bald eben- bürtige Partner erblickten. Später schlug dieses Ge- fühl sogar in Herablassung um. Man schlug vor, auf der Erde »Studienlager« für niedrigere Rassen zu errichten. In diesen Lagern sollte die natürliche Umgebung der fremden We- sen simuliert werden, damit Gelehrte ihr Leben und Treiben beobachten konnten. Aber die Kosten zur Herbeischaffung und Erhaltung dieser Studienob- jekte waren so hoch, daß es sich bald als notwendig erwies, die Lager zur öffentlichen Besichtigung frei- zugeben. Die angeblich wissenschaftlichen Einrich- tungen verwandelten sich in Zoos. Zu Beginn holte man nur diejenigen Wesen auf die Erde, die biologisch und psychologisch nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Menschen aufwie- sen, so daß wenig Gefahr bestand, sie als ebenbür- tig zu betrachten. Ein Wesen mit unzähligen Glied- maßen, das in einem Methan-Drucktank lebt, erregt kein Mitleid bei jenen, die gegen die Gefangennah- me von intelligenten Geschöpfen protestieren wür- den. Wenn diese Methankreatur dann obendrein eine komplexe und einmalige Zivilisation besitzt, dann läßt man sich rasch von dem Argument be- schwichtigen, die Untersuchung dieser Rasse sei eine wissenschaftliche Notwendigkeit. Deshalb ent- hielten die ersten Studienlager nur bizarre Geschöp-, fe. Die Sammler erhielten zudem die Auflage, nur die Lebewesen einzufangen, die selbst noch keine Raumfahrt besaßen. Es wäre peinlich gewesen, An- gehörige einer Rasse zu entführen, die zu unseren Touristen zählte. Immer mehr Lager wurden errichtet, als sich herausstellte, daß sie großen finanziellen Gewinn brachten. Man wählte die Rassen nicht mehr so kri- tisch wie früher aus; nicht nur die völlig fremdarti- gen und grotesken Geschöpfe wurden eingefangen, sondern alle möglichen galaktischen Lebewesen, die nicht in der Lage waren, auf diplomatischem Wege zu protestieren. Und je mehr die Kühnheit unserer Vorfahren zunahm, desto lockerer wurden die Be- stimmungen, bis sich schließlich Exemplare von mehr als tausend Welten auf der Erde befanden, dar- unter einige, die ältere und kompliziertere Kulturen besaßen als wir. Die Archive der Historiker zeigen, daß die Ex- pansion unserer Studienlager in vielen Teilen des Universums Erschütterungen hervorrief. Man be- zeichnete uns als Räuber, Entführer und Piraten; Ko- mitees prangerten die Unterdrückung der fremden Geschöpfe an; gelegentlich wurden Erdbewohner, die andere Planeten besuchten, von erbosten Einge- borenen festgehalten und aufgefordert, dem Treiben ein Ende zu bereiten. Aber die Protestierenden be- fanden sich in der Minderheit. Die meisten Völker der Galaxis schwiegen verlegen zu unseren Studien-, lagern. Sie bedauerten die Barbarei – und besuchten die Zoos, wenn sie sich auf der Erde befanden. Wo konnte man schließlich innerhalb weniger Tage Le- bensformen aus allen Teilen des Universums finden? Unsere Studienlager waren eine Touristenattraktion. In schweigender Übereinkunft verschlossen unsere Nachbarn die Augen vor dem unmoralischen Tun. In den Archiven der Historiker befindet sich ein Bild von einem dieser Zoos. Es ist eine der ältesten visuellen Aufzeichnungen, welche die Gilde über- haupt besitzt, und ich durfte sie nur sehen, weil Ol- mayne sich für mich einsetzte. Trotz eines Doppel- filters in der Denker-Kappe nimmt man die Szene nur verschwommen wahr. Hinter einer gekrümm- ten, transparenten Trennwand befinden sich fünf- zig oder mehr Geschöpfe einer ungenannten Welt. Ihre Körper sind dunkelblaue Pyramiden mit rosa Gesichtsflächen an jedem Scheitelpunkt. Sie be- wegen sich auf kurzen stämmigen Beinen, und aus jedem Gesicht ragen zwei Greifarme. Obwohl es schwer ist, die inneren Gefühle von Extraterrestri- ern zu durchschauen, erkennt man doch deutlich die völlige Verzweiflung dieser Geschöpfe. Durch die trüben grünen Gase ihrer Atmosphäre bewegen sie sich langsam, müde, resigniert. Einige haben die Kanten aneinandergelegt – offensichtlich eine Form der Kommunikation. Eines scheint tot zu sein. Zwei liegen am Boden wie zerbrochenes Spielzeug, aber ihre Gliedmaßen bewegen sich schwach. Es ist ein, niederdrückender Anblick. Später entdeckte ich in vergessenen Winkeln des Archivs noch mehr solcher Szenen. Sie verrieten mir viel. Mehr als tausend Jahre des Zweiten Zyklus wuch- sen die Studienlager, ohne daß man etwas dagegen unternahm. Inzwischen erschien es allen Rassen, ausgenommen den Opfern, natürlich und logisch, daß die Erdbewohner diese Grausamkeiten im Na- men der Wissenschaft begingen. Dann wurden auf einer fernen Welt primitive Lebewesen entdeckt, die sich in etwa mit den Terranern des Ersten Zyklus vergleichen ließen. Es handelte sich um eine huma- noide Rasse, die unleugbar Intelligenz besaß. Trotz heftiger Gegenwehr der Eingeborenen holten Samm- ler eine Zuchtkolonie auf die Erde und sperrte sie in ein Studienlager. Das war der erste entscheidende Fehler. Zur Zeit der Entführung waren die Wesen dieser fremden Welt – sie wird in den Aufzeichnungen im- mer als H362 geführt – nicht in der Lage, zu pro- testieren oder eine Strafexpedition auf die Erde zu schicken. Aber kurz danach wurden sie von Gesand- ten gewisser anderer Welten besucht, die sich poli- tisch gegen die Erde verbündet hatten. Unter Anlei- tung dieser Gesandten forderten die Eingeborenen von H362 die Rückgabe der Gefangenen. Die Erde weigerte sich und wies darauf hin, daß die interstel- lare Politik die Studienlager seit Jahrhunderten still-, schweigend gebilligt habe. Es folgten langwierige di- plomatische Verhandlungen, in denen die Erde ihre Haltung nur bekräftigte. Die Bewohner von H362 antworteten mit Drohun- gen. »Eines Tages werdet ihr eure Handlungsweise bereuen«, sagten sie. »Wir werden euren Planeten er- obern und in ein einziges riesiges Studienlager für die Menschheit verwandeln.« Man lachte damals nur darüber. Während der nächsten Jahrtausende hörte man wenig von der zornerfüllten Rasse auf H362. Sie machte rasche Fortschritte in ihrem abgelegenen Winkel der Galaxis, aber da es allen Berechnungen nach ein kosmisches Zeitalter dauern würde, bis sie eine Drohung für die Erde darstellte, ignorierte man sie einfach. Weshalb sollte man auch speerschwin- gende Wilde ernstnehmen? Die Erde hatte sich eine neue Aufgabe gestellt: sie wollte das Klima des gesamten Planeten unter Kon- trolle bringen. Im kleinen Rahmen kannte man die Wetterkontrolle schon seit dem Ersten Zyklus. Wol- ken konnten zum Abregnen gebracht werden; Nebel ließ sich auflösen, und Hagel wurde dazu gezwun- gen, in wenig gefährdeten Gebieten niederzugehen. Man versuchte auch, die Gletscher der Polarzonen zu schmelzen und die Wüsten fruchtbar zu machen. Aber diese Maßnahmen waren lokal begrenzt und hatten, mit wenigen Ausnahmen, keine bleibende Wirkung auf die Umgebung., Im Zweiten Zyklus machte man sich daran, an mehr als hundert Orten rund um den Erdball enorm hohe Säulen zu errichten. Wir können nicht ab- schätzen, welche Höhe diese Bauten erreichten, da keine einzige unzerstört blieb und die Baupläne ver- lorengingen, aber es heißt, daß sie selbst die höch- sten Wolkenkratzer überragten. Innerhalb dieser Säulen befanden sich technische Apparaturen, die unter anderem den Zweck hatten, die Pole des irdi- schen Magnetfeldes zu verschieben. Soviel wir wissen, war es das Ziel der Wetterma- schinen, die Geographie des Planeten nach einem sorgfältig ausgeklügelten Schema zu verändern. Man ging dabei von der Tatsache aus, daß das heu- tige Erdmeer in eine Vielzahl kleinerer Meere auf- gegliedert war. Obwohl diese Ozeane miteinander in Verbindung standen, betrachtete man sie doch als Einzelmeere, da ihre Grenzen zum Großteil von Landmassen gebildet wurden. In der Nordpolgegend beispielsweise gab es nur schmale Wasserstraßen zwischen Ais und dem Verlorenen Kontinent (be- kannt unter dem Namen Usa-amrik) im Westen und zwischen Usa-amrik und Eyrop im Osten, wo das kalte Polarwasser in die wärmeren Meere des Verlo- renen Kontinents strömen konnte. Die Manipulation mit den Magnetkräften führte zu einer Pendelbewegung der Erde in ihrer Bahn. Auf diese Weise wollte man die Eismassen des Nord- pols zur Schmelze bringen und das dabei entstehen-, de kalte Wasser in wärmere Zonen leiten. Da diese Schmelze jedoch eine erhöhte Wasserverdampfung und damit stärkere Niederschläge mit sich brachte, mußte man dafür sorgen, daß diese Niederschläge nicht im Norden als Schnee fielen. Man faßte den Plan, die vorherrschenden Westwinde, welche die Wolken in gemäßigte Gebiete trieben, abzulenken und in die trockenen Zonen zu steuern. Natürlich kann ich hier nur die groben Züge schil- dern. Die Einzelheiten kennen wir nicht. Wir wis- sen, daß es Pläne gab, durch Landhebung oder -sen- kung die Meeresströme zu verlagern, und daß man die Wärme der Tropen zu den Polen leiten wollte. Aber das ist unwichtig. Wichtig sind die Folgen die- ses grandiosen Vorhabens. Nach einer jahrhundertelangen Vorbereitungszeit, die mehr Mühe und Geld kostete als jedes andere Projekt in der Geschichte der Menschheit, wurden die Wettermaschinen eingesetzt. Und sie führten zum Chaos. Das entsetzliche Experiment der Planetenbahn- verschiebung brachte eine Verlagerung der geogra- phischen Pole mit sich: ein Großteil der nördlichen Hemisphäre erlebte eine neue Eiszeit; Usa-am- rik und sein Nachbar, Sud-amrik, wurden von den Fluten überspült; zwischen Eyrop und Afreek ent- stand eine Landbrücke; die menschliche Zivilisati- on lag in Scherben da. Das alles spielte sich nicht im Handumdrehen ab. Offensichtlich ging in den, ersten Jahrhunderten alles glatt. Das Polareis taute, und das damit verbundene Ansteigen des Meerwas- serspiegels wurde durch die Konstruktion von ato- maren Verdampfungsmaschinen aufgefangen – klei- ne Sonnen, die man an genau berechneten Stellen über dem Ozean kreisen ließ. Erst allmählich wur- de deutlich, daß die Wettermaschinen zu tektoni- schen Veränderungen in der Erdkruste führten. Und im Gegensatz zu den klimatischen Veränderungen ließen sie sich nicht rückgängig machen. Heftige Stürme peitschten über die Erde, gefolgt von endlosen Trockenheiten. Millionen Menschen kamen ums Leben; die Nachrichtenübermittlung brach zusammen; fluchtartig verließen ganze Natio- nen die bedrohten Kontinente. Die glänzende Zivi- lisation des Zweiten Zyklus war zerstört. Die Studi- enlager wurden aufgelöst. Um wenigstens den Rest der Bevölkerung zu ret- ten, übernahmen einige der mächtigsten galakti- schen Rassen die Herrschaft der Erde. Sie errich- teten Energiepfeiler, welche die Erdachse stützten; sie zerlegten die Wettermaschinen, die nicht von selbst eingestürzt waren; sie kümmerten sich um die Hungrigen und Armen und gewährten uns Wie- deraufbaukredite. Für uns war es eine Zeit, in der die Gesellschaftsstruktur endgültig zusammenbrach. Die Erde gehörte uns nicht mehr. Wir akzeptierten die Mildtätigkeit der Fremden. Aber da wir immer noch die gleiche Rasse waren,, erholten wir uns wieder. Wir hatten das Kapital un- seres Planeten verschleudert und konnten nie etwas anderes als Bettler und Schuldner sein; wir began- nen den Dritten Zyklus mit größerer Demut als je zuvor. Die wissenschaftliche Ausbildung der Vergan- genheit war uns geblieben, und auf dieser Grundla- ge bauten wir die neue Welt auf. Wir führten die Gil- den ein, um der Gemeinschaft einen festen Halt zu geben. Die Historiker bemühten sich, aus den Rui- nen der Vergangenheit brauchbares Material zu ho- len. Die Schulden, die wir hatten, waren enorm. Und wir konnten sie nicht begleichen. Wir hofften auf einen Verzicht der Gläubiger, auf einen Erlaß der Schulden. Verhandlungen in dieser Richtung hatten bereits begonnen, als das Unerwartete geschah. Die Bewohner von H362 boten unseren Gläubigern an, sämtliche Schulden zu begleichen – wenn sie dafür Besitzanspruch auf die Erde erheben durften. Man kam zu einer Einigung. H362 betrachtete sich nun als vertragsgemäßer Be- sitzer der Erde. Es ließ die anderen Rassen wissen, daß es sich das Recht vorbehielt, den Planeten ir- gendwann in der Zukunft zu besetzen. Daß es sei- nen Plan nicht sofort durchführte, lag daran, daß es noch keine Raumfahrt besaß. Jedermann war klar, daß H362 sich auf diese Wei- se gerächt hatte. Die Bewohner konnten die Erde in ein Studienlager verwandeln, wie sie es angekün-, digt hatten. Auf der Erde entwickelte sich die straff gegliederte Gildenstruktur, die wir heute noch be- sitzen. Die Drohung von H362 wurde ernstgenom- men. Wir waren hart geprüft und wagten es nicht mehr, über eine andere Rasse zu spotten. Man führ- te die Gilde der Wächter ein, die den Himmel nach Invasoren absuchen sollte. Es folgten die Verteidi- ger. In kleinen Dingen bewiesen wir unseren alten Hang zur Phantasie, vor allem in den Jahren der Ma- gie, als wir die Gilde der Schmetterlinge schufen, eine Parallele zu den Schwimmern, von denen man heute nicht mehr viel hört. Auch die Mutanten ent- standen damals, Angehörige einer Gilde mit unbe- rechenbaren genetischen Merkmalen. Die Wächter wachten. Die Herrscher herrschten. Die Schmetterlingsgeschöpfe tanzten am Himmel. Das Leben ging weiter, Jahr für Jahr, in Eyrop und in Ais, in Stralya, in Afreek, auf den Inseln des Ver- lorenen Kontinents. Der Schwur von H362 wurde zum Mythos, aber wir blieben wachsam. Und weit weg, durch Lichtjahrtausende von der Erde getrennt, sammelten unsere Feinde Kraft. Sie vergaßen nie- mals die Zeit, in der wir ihre Rassenangehörigen in Studienlagern gefangengehalten hatten. In einer Nacht des Schreckens brachen sie über die Erde herein. Nun sind sie unsere Beherrscher, und sie haben ihren Schwur erfüllt. All dies und noch mehr erfuhr ich bei meiner Su- che in den Archiven der Historiker., Inzwischen mißbrauchte der Fürst von Roum mut- willig die Gastfreundschaft von Elegro. Ich hätte mir meine Gedanken darüber machen müssen, denn ich kannte den Fürsten und seinen Charakter besser als jeder andere in Perris. Aber ich beschäftigte mich zu sehr mit den Archiven und der Vergangenheit. Wäh- rend ich die Einzelheiten des Zweiten Zyklus mit Hilfe von Protoplasma-Akten-Regenerierungsknoten und Photonenströmen studierte, begann Fürst Enric ein Verhältnis mit der Historikerin Olmayne. Wie bei den meisten Verführungen war wohl we- nig Überredungskunst vonnöten. Olmayne war eine sinnliche Frau, die ihren Mann zwar gern mochte, aber nicht liebte. Sie zeigte deutlich, daß sie ihn für einen Schwächling und Wichtigtuer hielt. Und Eleg- ro, dessen Arroganz und Strenge seine innere Un- entschlossenheit nicht verbergen konnten, schien ihre Verachtung zu verdienen. Welche Art von Ehe sie führten, kann ich nicht beurteilen, aber man sah deutlich, daß sie die führende Kraft war und daß er ihren Wünschen nicht gerecht werden konnte. Und dann – weshalb hatte sich Olmayne bereit er- klärt, die Bürgschaft für uns zu übernehmen? Gewiß nicht aus Mitleid zu einem alten, abgerisse- nen Wächter. Es muß der Wunsch gewesen sein, den geheimnisvollen Pilger, der so herrisch sprach, nä- her kennenzulernen. Also hatte sich Olmayne vom, ersten Augenblick an zu Fürst Enric hingezogen ge- fühlt; und er benötigte natürlich kaum Ermutigung, um ihr Angebot zu akzeptieren. Möglicherweise hatten sie ihr Verhältnis sofort nach unserer Ankunft im Gildehaus begonnen. Ich ging meine Wege, Elegro ging die seinen, und Olmayne und Fürst Enric gingen die ihren. Der Sommer wich dem Herbst und dann dem Winter. Ich wühlte mit leidenschaftlicher Ungeduld in den Aufzeichnungen. Noch nie zuvor hatte ich so bren- nendes Interesse, so bohrende Neugier verspürt. Ich fühlte mich verjüngt, obwohl ich nicht in Jorslem gewesen war. Ich sah den Fürsten nur selten, und wenn wir uns trafen, sprachen wir wenig, es gehör- te sich nicht, daß ich ihn ausfragte, und er erzählte nichts über seine Person. Gelegentlich dachte ich an mein früheres Leben, an meine Reisen von Ort zu Ort, an Avluela, die nun vielleicht die Gefährtin eines Eroberers war. Wie nannte sich der falsche Mutant Gormon jetzt, da er seine Verkleidung abgestreift und sich als Bewoh- ner von H362 zu erkennen gegeben hatte? Erdkönig Neun? Meereslord Fünf? Übermensch Drei? Wo er auch sein mochte, er mußte Befriedigung über die vollkommene Niederlage der Erde empfinden. Als der Winter zu Ende ging, erfuhr ich von dem Verhältnis zwischen der Historikerin Olmayne und dem Fürsten von Roum. Zuerst hörte ich die geflü- sterten Bemerkungen der Lehrlinge; dann sah ich, das Lächeln auf den Gesichtern der anderen Histo- riker, wenn Olmayne und Elegro in der Nähe wa- ren; schließlich fiel mir das Betragen von Enric und Olmayne auf. Es war offensichtlich. Diese Berüh- rungen, dieser Austausch von Geheimworten und kleinen Zärtlichkeiten – was sollten sie sonst bedeu- ten? Die Historiker nehmen das Ehegelübde ernst. Wie bei den Schmetterlingen gilt die Verbindung für das ganze Leben, und man durfte den Partner nicht be- trügen, wie Olmayne es tat. Wenn man obendrein mit einem Historiker verheiratet ist – was oft vor- kommt, aber nicht Gebot ist –, dann gilt die Vereini- gung um so stärker. Welche Rache würde Elegro nehmen, wenn er die Wahrheit erfuhr? Zufällig war ich dabei, als sich die Situation zum Konflikt ausweitete. Es war ein Abend im Vorfrüh- ling. Ich hatte lange und intensiv in den versteckte- sten. Winkeln der Archive gearbeitet und Informa- tionen ans Tageslicht gebracht, die längst vergessen waren; nun schwirrte mir der Kopf, und ich wan- derte durch die hell erleuchteten Straßen von Per- ris, um. frische Luft zu schnappen. Ich schlenderte entlang der Senn und wurde von dem Agenten eines Somnambulisten angesprochen, der mich ins Reich der Träume einführen wollte. Ich begegnete einem einsamen Pilger, der seine Andacht vor einem Tem- pel abhielt. Ich sah zwei junge Schmetterlinge über, mir und vergoß ein paar Tränen des Selbstmitleids. Ein fremder Tourist mit Atemmaske und reich be- sticktem Umhang hielt mich an; er neigte das rote, pockennarbige Gesicht dicht zu mir und hauchte mir Halluzinationen in die Nasenlöcher. Schließlich kehrte ich ins Gildehaus zurück und wollte meinen Bürgen eine gute Nacht wünschen, bevor ich mich zur Ruhe legte. Olmayne und Elegro waren in ihrem Heim. Auch Fürst Enric entdeckte ich. Olmayne ließ mich ein, aber sie beachtete mich nicht weiter, ebensowenig wie die anderen. Elegro marschierte mit so hefti- gen Schritten über den Teppich, daß die zarten Le- bensformen erregt mit ihren Blütenblättern zuckten. »Ein Pilger!« stieß Elegro hervor. »Wenn es irgendein Hausierer gewesen wäre, hätte ich nur Demütigung empfunden. Aber ein Pilger – das macht die Sache ungeheuerlich!« Fürst Enric hatte die Arme verschränkt und stand reglos da. Man konnte unmöglich seinen Gesichts- ausdruck unter der Pilgermaske erkennen, aber er schien völlig ruhig zu sein. Elegro sagte: »Leugnest du, daß du in meine Ehe eingedrungen bist?« »Ich leugne nichts. Ich gebe nichts zu.« »Und du?« Elegro wirbelte herum und sah seine Frau an. »Sprich die Wahrheit, Olmayne! Sprich ein einzigesmal die Wahrheit! Was sollen die Gerüchte, die über dich und den Pilger umgehen?«, »Ich habe keine Gerüchte gehört«, erklärte Olmay- ne liebenswürdig. »Daß er dein Bett teilt! Daß ihr gemeinsam berau- schende Getränke nehmt! Daß ihr euch der Eksta- se hingebt!« Olmaynes Lächeln blieb. Ihr Gesicht war völlig ru- hig. Mir erschien sie schöner als je zuvor. Elegro zerrte wütend an den Fransen seiner Stola. Sein strenges, bartumrahmtes Gesicht war zornge- rötet. Er holte aus seiner Tasche eine winzige Sicht- kapsel, die er dem Paar entgegenstreckte. »Weshalb soll ich meinen Atem verschwenden?« fragte er. »Alles ist hier. Der Photonenfluß hat alles aufgezeichnet. Ich habe euch überwachen lassen. Habt ihr geglaubt, mir könnte so etwas verborgen bleiben? Du, Olmayne, eine Angehörige der Histo- riker! Du solltest die Mittel und Wege unserer Gil- de kennen.« Olmayne betrachtete die Kapsel aus der Ferne, als sei es eine entsicherte Zeitbombe. Mit Abscheu sag- te sie: »Typisch für dich, Elegro, daß du uns nach- spioniert hast! War es angenehm, unser Glück zu be- obachten?« »Du Bestie!« schrie er. Er steckte die Kapsel ein und ging auf den reglos dastehenden Fürsten zu. Elegros Züge waren nun haßverzerrt. Als er noch einen Schritt vom Fürsten entfernt war, sagte er eisig: »Du wirst für diesen Fre- vel bestraft werden! Man wird dir die Pilgerkutte, vom Leib reißen und dich wie das Ungeheuer be- handeln, das du bist. Der Wille soll deine Seele ver- zehren!« »Hüte deine Zunge!« erwiderte Fürst Enric. »Ich – meine Zunge hüten? Wer bist du, daß du so mit mir zu reden wagst? Ein Pilger, der die Gattin seines Gastgebers begehrt – der doppelt frevelt – der in einem Atemzug Lügen und Lästerungen hervor- stößt?« Elegro schäumte. Seine Kühle war verflo- gen. Nun zeigte er einen beinahe hilflosen Zorn, ei- nen Mangel an Selbstbeherrschung, der seine innere Schwäche verriet. Wir drei standen reglos da, ver- blüfft von dem Strom seiner Worte. Endlich wich die Erstarrung, als der Historiker, fortgerissen von seiner eigenen Entrüstung, den Fürsten an den Schultern packte und heftig schüttelte. »Ratte!« donnerte Enric. »Nimm deine Finger von mir!« Er stieß seine Fäuste gegen Elegros Brust, so daß der Historiker durch das Zimmer geschleudert wur- de. Elegro stieß gegen eine Hängeschaukel. Drei Fläschchen mit schillernden Flüssigkeiten zerbra- chen am Boden; der Teppich stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus. Keuchend preßte Elegro die Hand an die Brust und sah uns hilfesuchend an. »Eine Tätlichkeit!« sagte er schweratmend. »Welch schändliches Verbrechen!« »Du hast die erste Tätlichkeit begangen« erinnerte Olmayne ihren Mann., Elegro deutete mit zitterndem Finger auf den Für- sten. »Dafür kann es keine Sühne geben, Pilger!« »Nenn mich nicht mehr Pilger!« sagte Enric. Sei- ne Hände griffen an das Gitterwerk der Maske. Ol- mayne schrie auf und suchte ihn daran zu hindern; aber in seinem Ärger kannte der Fürst keine Beherr- schung. Er schleuderte die Maske zu Boden und stand da, das harte Gesicht schrecklich entblößt. Die grauen mechanischen Augäpfel verbargen sei- ne Wut. »Ich bin der Fürst von Roum!« verkündete er laut. »Nieder mit dir! Rasch, Historiker, die drei Kniefälle und die fünf Verbeugungen!« Elegro schien zusammenzubrechen. Er starr- te den Fürsten ungläubig an; und dann vollführte er in einer Art Reflex die Demutsbezeugungen vor dem Verführer seiner Frau. Zum erstenmal seit dem Untergang von Roum hatte der Fürst seinen frühe- ren Status preisgegeben, und das Vergnügen dar- über zeichnete sich so deutlich auf dem zerschun- denen Gesicht ab, daß sogar die grauen Metallaugen zu leuchten schienen. »Hinaus!« befahl der Fürst. »Laß uns allein!« Elegro floh. Ich blieb, erstaunt, verwirrt. Der Fürst nickte mir höflich zu. »Würdest du uns einige Augenblicke des Alleinseins gönnen, alter Freund?« *, Ein Schwächling kann von einem überraschenden Angriff in die Flucht geschlagen werden, aber so- bald er zur Ruhe kommt, wird er auf Rache sinnen. So war es auch bei Elegro. Der Anblick des Fürsten hatte ihn aus seinen eigenen Räumen fliehen lassen, aber sobald er sich in Sicherheit befand, begann er Pläne zu schmieden. Später am Abend, als ich eben überlegte, ob ich ein Schlafmittel nehmen sollte, be- fahl mich Elegro zu sich in sein Studierzimmer, das in einem der unteren Stockwerke lag. Dort erwartete er mich, umgeben von den Utensi- lien seiner Gilde: Spulen und Bänder, Datenchips, Kapseln, Denker-Kappen, vier hintereinanderge- schaltete Schädel, eine Reihe von Bildschirmen und eine winzige Schmuckspirale. Seine Hand um- krampfte einen Beruhigungskristall von einer der Wolken-Welten; das milchige Innere verfärbte sich dunkelblau, als es die Anspannung von ihm nahm. Er warf mir einen strengen Blick zu. »Wußtest du, wer der Mann war, als du mit ihm nach Perris kamst?« sagte er. »Ja.« »Du hast seine Identität mit keinem Wort er- wähnt.« »Niemand fragte danach.« »Weißt du, daß du uns alle in Gefahr brachtest? Es ist verboten, einen Angehörigen der Herrscher-Gil-, de zu beherbergen.« »Wir sind Erdbewohner«, sagte ich. »Erkennen wir die Autorität der Herrscher nicht mehr an?« »Nicht seit der Eroberung. Die Invasoren haben die Auflösung aller Regierungen befohlen. Die Herr- scher selbst wurden gefangengenommen, wenn sie nicht beim Kampf ums Leben kamen.« »Findest du nicht, daß wir uns diesem Befehl wi- dersetzen sollten?« Der Historiker Elegro sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist es die Aufgabe der Historiker, sich in die Politik einzumischen? Tomis, wir fügen uns der augenblicklichen Regierung, ganz gleich, wie sie an die Macht gekommen ist. Niemand aus unseren Reihen leistet Widerstand.« »Das sehe ich.« »Deshalb müssen wir uns dieses gefährlichen Flüchtlings entledigen. Tomis, ich befehle dir, so- fort das Hauptquartier der Besatzungsmacht auf- zusuchen. Du wirst zu Menschenherrscher Sieben gehen und ihm mitteilen, daß wir den Fürsten von Roum gefangen haben.« »Ich soll gehen?« stieß ich hervor. »Weshalb schickst du einen alten Mann als Boten in die Nacht hinaus? Eine normale Nachricht per Denker-Kappe würde genügen.« »Das ist zu gefährlich. Fremde könnten die Bot- schaft abfangen. Es wäre nicht gut für unsere Gilde, wenn sich diese Neuigkeit herumspräche. Du mußt, die Nachricht persönlich überbringen.« »Aber es wird ungewöhnlich erscheinen, daß du einen einfachen Lehrling schickst.« »Nur wir beide wissen Bescheid«, erklärte Elegro. »Ich kann nicht gehen. Deshalb mußt du die Aufga- be übernehmen.« »Ohne Begleitschreiben läßt man mich niemals zu Menschenherrscher Sieben vor.« »Teile seinen Adjutanten mit, daß du weißt, wie man des Fürsten von Roum habhaft werden könnte. Man wird dich nicht abweisen.« »Darf ich deinen Namen erwähnen?« »Wenn es sich als notwendig erweist. Du kannst sagen, daß ich und meine Frau den Fürsten in unse- ren Privatgemächern festhalten.« Ich hätte beinahe laut aufgelacht. Aber ich be- herrschte mich angesichts dieses Feiglings, der es nicht einmal wagte, persönlich den Mann zu denun- zieren, der ihm Hörner aufgesetzt hatte. »Der Fürst wird letzten Endes erkennen, was wir getan haben«, meinte ich. »Kannst du wirklich von mir verlangen, daß ich meinen Weggefährten ver- rate?« »Es ist kein Verrat, sondern eine Verpflichtung der Regierung gegenüber.« »Ich fühle mich dieser Regierung nicht verpflich- tet. Meine Treue gehört der Herrscher-Gilde. Und deshalb half ich auch dem Fürsten von Roum, als er sich in Gefahr befand.«, »Dafür könnten die Eroberer dein Leben fordern«, erklärte Elegro. »Nur wenn du deinen Fehler einge- stehst und bei der Verhaftung des Fürsten aktiv mit- hilfst, werden sie dir milde gesinnt sein. Geh jetzt!« Ich habe ein langes Leben hinter mir und war im- mer tolerant gewesen. Aber in diesem Augenblick empfand ich tiefste Verachtung für den Historiker Elegro. Für mich gab es kaum eine Wahl. Elegro wollte, daß der Liebhaber seiner Frau bestraft wurde, hatte aber nicht den Mut, ihn selbst anzuzeigen; deshalb mußte ich einen Mann den Behörden übergeben, dem ich geholfen hatte und für den ich Verantwor- tung besaß. Weigerte ich mich, so lieferte Elegro ver- mutlich mich den Invasoren aus; oder er rächte sich an mir kraft seines hohen Historikeramtes. Wenn ich jedoch Elegros Wunsch nachkam, dann hatte ich für alle Zeiten einen dunklen Fleck auf meinem Gewis- sen. Zudem würde ich mich vor den Herrschern ver- antworten müssen, falls sie je wieder an die Macht kamen. Während ich die Möglichkeiten abwog, verfluch- te ich die treulose Gattin des Historikers und ihren schwächlichen Mann. Ich zögerte ein wenig. Elegro drohte mir, daß er mich vor der Gilde anklagen würde, weil ich bewußt einen Flüchtling eingeschleust hatte. Er brachte zur Sprache, daß ich mir Geheimmaterial aus den Ar- chiven der Gilde beschafft hatte. Er deutete an, daß, er mir den Zugang zu diesen Informationen für im- mer verwehren könne. Schließlich erklärte ich mich bereit, das Haupt- quartier der Invasoren aufzusuchen. Ich hatte inzwi- schen einen Verrat geplant, der – so hoffte ich – den Verrat von Elegro aufheben würde. Der Morgen graute, als ich das Gebäude verließ. Draußen war es mild und angenehm; Nebel hing über den Straßen von Perris und verlieh ihnen einen sanften Schimmer. Die Monde waren nicht zu se- hen. Ich fühlte Unbehagen in den verlassenen Stra- ßen, obwohl ich mir einredete, daß niemand einen alten Historiker angreifen würde. Aber ich besaß nur ein Messer, und ich hatte Angst vor Banditen. Mein Weg führte über eine der Fußgängerrampen. Ich keuchte ein wenig, denn die Steigung war steil, aber als ich die obere Trasse erreicht hatte, war ich in Sicherheit. Hier gab es Patrouillen, und man be- gegnete anderen Nachtschwärmern. Ich sah eine gei- sterhafte Gestalt aus weißer Seide: es war ein von den Toten Auferstandener, ein Bewohner des Plane- ten Bull, wo die Reinkarnation üblich ist und nie- mand seinen ursprünglichen Körper benutzt. Ich sah drei weibliche Wesen von den Schwan-Plane- ten, die mich kichernd fragten, ob ich keinen Män- nern ihrer Rasse begegnet sei. Offenbar war ihre Paa- rungszeit gekommen. Ich sah zwei Mutanten, die mich aufmerksam beobachteten und wohl zu dem Schluß kamen, daß es sich nicht lohnte, mich aus-, zurauben. Sie schlenderten weiter, und ihre gefleck- ten Kehlsäcke zitterten. Endlich erreichte ich das gedrungene Oktagon-Ge- bäude, in dem der Prokurator von Perris residierte. Es war kaum bewacht. Offensichtlich vertrau- ten die Invasoren darauf, daß wir keinen Gegenan- griff versuchen würden, und sie hatten ganz recht; ein Planet, der zwischen Dunkelheit und Morgen- grauen erobert werden kann, leistet danach keinen nennenswerten Widerstand. Ich sah das schwache Leuchten eines Suchscheinwerfers. In der Luft war der Geruch von Ozon. Auf dem großen Platz vor dem Gebäude errichteten Kaufleute ihre Marktbu- den für den kommenden Tag. Kräftige Diener luden Fässer mit Gewürzen ab, und Neuter trugen Stangen mit dunklen Würsten. Ich trat durch den Schein- werferstrahl, und einer der Eroberer hielt mich an. Ich erklärte ihm, daß ich eine wichtige Nachricht für Menschenherrscher Sieben hätte, und nach er- staunlich kurzer Zeit stand ich vor dem Prokurator. Der Fremde hatte ein einfach, aber geschmack- voll eingerichtetes Büro. Es war nur mit heimischen Gegenständen geschmückt: Webdecken aus Afreek, zwei Alabastervasen aus dem alten Agupt, eine Mar- morstatue, die aus dem Roum der Imperatorzeit stammen mochte, und eine dunkle Schale aus Talya, in der ein paar Todesblumen standen. Als ich ein- trat, schien er sich mit verschiedenen Nachrichten- würfeln zu befassen; ich hatte bereits erfahren, daß, die Invasoren ihre Hauptarbeit in den Nachtstun- den erledigten, und so überraschte es mich nicht, ihn beschäftigt zu finden. Nach einer kleinen Pau- se blickte er auf und sagte: »Was gibt es, alter Mann? Wer ist dieser geflüchtete Herrscher?« »Der Fürst von Roum«, entgegnete ich. »Ich kenne den Ort, wo er sich aufhält.« Sofort blitzte in seinen kühlen Augen Interesse auf. Er fuhr mit den vielfingrigen Händen über die Schreibtischplatte, auf der sich die Embleme unse- rer Gilden befanden. »Weiter!« sagte er. »Der Fürst befindet sich in der Stadt, in einem ganz bestimmten Gebäude, und er kann nicht flie- hen.« »Und du bist hergekommen, um mir diesen Ort mitzuteilen?« »Nein«, entgegnete ich. »Ich bin hergekommen, um seine Freiheit zu erkaufen.« Der Prokurator war einen Moment lang sprachlos. »Manchmal verwirrt ihr Menschen mich. Ich denke, du willst uns diesen entlaufenen Herrscher auslie- fern, um eine Belohnung zu erhalten, und dabei hast du die Absicht, ihn freizukaufen. Weshalb kommst du überhaupt zu uns? Soll das ein Scherz sein?« »Darf ich eine Erklärung abgeben?« Er starrte die spiegelnde Oberfläche seines Schreibtisches an, während ich in raschen Zügen die Situation schilderte. Ich sprach von meiner Wan- derung an der Seite des blinden Fürsten, von unse-, rer Ankunft im Gildehaus der Historiker, von dem Verhältnis, das sich zwischen Olmayne und Fürst Enric angebahnt hatte und von Elegros kleinlichen Rachegefühlen. Ich machte deutlich, daß ich die In- vasoren nur unter Elegros Druck aufgesucht hatte und daß es nicht meine Absicht war, den Fürsten zu verraten. Dann sagte ich: »Ich weiß, daß ihr alle An- gehörigen der Herrscher-Gilde verfolgt. Aber dieser Mann hat bereits einen hohen Preis für seine Frei- heit bezahlt. Ich bitte Euch, die Historiker davon zu verständigen, daß Fürst Enric amnestiert wird. Dann kann er seine Pilgerfahrt nach Roum fortset- zen. Auf diese Weise verliert Elegro jegliche Macht über ihn.« »Und was hast du uns für diese Amnestie anzu- bieten?« fragte Menschenherrscher Sieben. »Ich habe die Archive der Historiker gründlich durchforscht.« »Und?« »Ich habe das entdeckt, was ihr sucht.« Der Prokurator musterte mich lange. »Woher weißt du, was wir suchen?« »In einem vergessenen Winkel der Archive befin- det sich eine Bildaufzeichnung eurer Vorfahren«, sagte ich ruhig. »Sie erscheinen darauf als Gefange- ne der Erdbewohner, als Insassen eines Studienla- gers, und man kann genau erkennen, daß sie leiden. Es ist eine vollständige Rechtfertigung der Invasi- on.«, »Unmöglich! Ein solches Dokument existiert nicht!« An seiner heftigen Reaktion erkannte ich, daß ich eine wunde Stelle berührt hatte. Er fuhr fort: »Wir haben die Archive gründlich durchsucht. Es gibt nur eine Aufzeichnung über ein Studienlager, und sie zeigt ein nichthumanoides Volk, pyramidenförmige Geschöpfe, die vermutlich von einer der Anchor-Welten stammen.« »Dieses Bild habe ich auch gesehen«, erwiderte ich. »Es ist nicht das einzige. Ich habe viele Stunden danach geforscht, denn ich wollte erfahren, welches Unrecht unsere Ahnen begangen hatten.« »Die Karteien …« »… sind manchmal unvollständig. Ich entdeckte diese Aufzeichnung durch einen reinen Zufall. Die Historiker selbst haben keine Ahnung, daß sie exi- stiert. Ich kann sie euch ausliefern – wenn ihr den Fürsten von Roum freigebt.« Der Prokurator schwieg. Schließlich sagte er: »Du verwirrst mich. Ich kann nicht entscheiden, ob du ein ausgemachter Gauner oder ein Mann der Tugend bist.« »Ich weiß, was echte Loyalität ist.« »Aber du verrätst die Geheimnisse deiner Gil- de…« »Ich war früher Wächter und diene bei den Hi- storikern erst als Lehrling. Außerdem kann ich es nicht zulassen, daß der Fürst auf Wunsch eines be-, trogenen Ehemanns getötet wird. Nur Ihr könnt ihn aus den Händen Elegros befreien; deshalb biete ich Euch das Dokument an.« »Das die Historiker sorgfältig verborgen haben, da- mit wir es nicht gegen die Menschheit verwenden.« »Das die Historiker verlegt und vergessen ha- ben.« »Ich bezweifle es«, sagte Menschenherrscher Sie- ben. »Die Leute arbeiten peinlich genau. Sie haben die Aufzeichnungen versteckt. Und verrätst du nicht die ganze Menschheit, wenn du es uns auslieferst? Wirst du dadurch nicht zum Kollaborateur des ver- haßten Feindes?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich möchte, daß der Fürst von Roum seine Freiheit erlangt. Alles an- dere ist mir gleichgültig. Das Dokument gehört euch, wenn ihr ihm Amnestie gewährt.« Der Fremde schien zu lächeln. »Es ist nicht gerade in unserem Interesse, Mitglieder der Herrscher-Gilde frei herumlaufen zu lassen. Deine Lage ist schwie- rig, siehst du das ein? Ich könnte dich dazu zwin- gen, mir die genaue Lage des Dokuments zu verra- ten – ohne den Fürsten freizulassen.« »Das könntet Ihr«, gab ich zu. »Ich gehe das Risi- ko ein. Ich nehme an, daß ein Volk, das herkam, um ein altes Verbrechen zu bestrafen, ein gewisses Ehr- gefühl besitzt. Ich befinde mich in Eurer Macht, und die Lage des Dokuments ist in meinem Gehirn regi- striert.«, Nun lachte er offen. »Einen Augenblick«, sagte er. Er sagte ein paar Sätze seiner eigenen Sprache in ein bernsteingelbes Mikrophon, und kurz danach betrat ein zweiter Er- oberer das Büro. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er seine Verkleidung abgelegt hatte. Es war Gormon, der angebliche Mutant. Lächelnd sagte er: »Ich grü- ße dich, Wächter.« »Und ich erwidere den Gruß, Gormon.« »Ich bin jetzt Sieger Dreizehn.« »Und mich nennt man Tomis von den Histori- kern.« Menschenherrscher Sieben fragte: »Woher kennt ihr beide euch?« »Wir freundeten uns kurz vor der Invasion an«, er- klärte Sieger Dreizehn. »Ich traf diesen Mann wäh- rend meiner Mission in Talya und wanderte mit ihm nach Roum.« Ich zitterte. »Wo ist Avluela?« »Vermutlich in Pars«, sagte er achselzuckend. »Sie sprach davon, daß sie in ihre Heimat Hind zurück- kehren wolle.« »Du hast sie also nur kurze Zeit geliebt?« »Wir waren eher Gefährten als Liebhaber«, sagte der Eroberer. »Eine harmlose Sache.« »Für dich vielleicht.« »Für uns beide.« »Und für diese harmlose Sache hast du einem Menschen das Augenlicht genommen?«, Gormon zuckte mit den Schultern. »Ich tat es, um ein hochmütiges Geschöpf Demut zu lehren.« »Damals sprachst du von Eifersucht«, erinnerte ich ihn. »Und von Liebe.« Sieger Dreizehn schien das Interesse an mir zu verlieren. Er wandte sich an Menschenherrscher Sieben. »Weshalb ist der Mann hier? Und weshalb hast du mich rufen lassen?« »Der Fürst von Roum befindet sich in Perris«, sag- te Menschenherrscher Sieben. Sieger Dreizehn sah ihn überrascht an. »Er ist ein Gefangener der Historiker«, fuhr der Prokurator fort. »Dieser Mann bietet uns einen son- derbaren Handel an. Du kennst den Fürsten besser als wir; ich bitte dich deshalb um Rat.« Der Prokurator schilderte die Lage. Der Fremde, der sich früher Gormon genannt hatte, hörte nach- denklich und schweigend zu. Schließlich meinte Menschenherrscher Sieben: »Es geht um folgendes Problem: Sollen wir einem Herrscher Amnestie ge- währen?« »Er ist blind«, meinte Sieger Dreizehn. »Er besitzt keine Macht mehr. Seine Anhänger sind in alle Win- de zerstreut. Vielleicht ist seine Haltung noch unge- brochen, aber er stellt keine Gefahr für uns dar. Ich finde, wir sollten den Handel akzeptieren.« »Es kann Verwaltungsschwierigkeiten geben, wenn wir eine Ausnahme machen«, meinte Men- schenherrscher Sieben. »Aber ich werde es riskie-, ren.« Er wandte sich an mich: »Wo befindet sich nun das Dokument?« »Sorgt zuerst dafür, daß der Fürst von Roum frei- gelassen wird«, entgegnete ich ruhig. Beide Invasoren verrieten Belustigung. »Das ist nur fair«, sagte Menschenherrscher Sieben. »Aber wie können wir sicher sein, daß du dein Wort hältst? Während wir den Fürsten befreien, stößt dir viel- leicht etwas zu.« »Darf ich einen Vorschlag machen?« warf Sieger Dreizehn ein. »Tomis, weshalb vertraust du die Lage des Dokuments nicht einem Nachrichtenwürfel an, der mit einer Zeitverzögerung von sechs Stunden arbeitet und so präpariert ist, daß nur der Fürst von Roum die Sperre aufheben kann? Wenn wir den Für- sten innerhalb von sechs Stunden nicht gefunden und befreit haben, erlischt die Nachricht. Wenn es uns jedoch gelingt, den Mann aufzuspüren, dann er- halten wir die Information unabhängig davon, was mit dir geschieht.« »Du denkst an alle Möglichkeiten«, sagte ich. »Bist du einverstanden?« erkundigte sich der Pro- kurator. Ich nickte. Man brachte mir einen Würfel und stellte mir ei- nen abgeschirmten Platz zur Verfügung, während ich auf der glänzenden Oberfläche die Regalnum- mer und die Fragegleichungen des Dokuments ein- trug. Sekunden vergingen; der Würfel stülpte sich, um, und die Information verschwand in seinem In- nern. Ich gab ihnen den Block. So verriet ich die Menschheit und beugte mich vor den Invasoren, aus Treue zu einem blinden, lü- sternen Fürsten. *, Der Morgen war hereingebrochen. Ich begleitete die Invasoren nicht zum Gildehaus der Historiker; die Szenen, die sich unweigerlich abspielen wür- den, gingen mich nichts an. Ich zog es vor, in einiger Entfernung abzuwarten. Dünner Sprühregen fiel, als ich durch die grauen Straßen entlang der Senn ging. Der Fluß umspülte die Pfeiler von Brücken aus dem Ersten Zyklus, Brücken, die viele Jahrtausende über- spannten, Zeugen einer Ära, in welcher der Mensch nur mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ge- wesen war. Winzige Krater, hervorgerufen durch die Regentropfen, bohrten sich in die Wasserfläche. Hel- ligkeit erfaßte die Stadt. Aus einem Reflex heraus suchte ich nach meinen Wächterinstrumenten und mußte mir erst in Erinnerung rufen, daß diese Zeit längst vorbei war. Die Gilde der Wächter existierte nicht mehr, der Feind war gekommen, und der alte Wuellig, nun Tomis von den Historikern, hatte sich an die Feinde der Menschheit verkauft. Ein doppeltürmiges Bauwerk, früher ein Religi- onshaus der Christer-Sekte, ragte vor mir auf, und in seinem Schatten entdeckte ich eine Somnambu- listenzelle. Ich ging hinein. Bisher hatte ich wenig mit dieser Gilde zu tun gehabt; ich hütete mich vor Scharlatanen, und davon gibt es mehr als genug auf unserer Welt. Die Somnambulisten behaupten, daß sie im Zustand der Trance Vergangenheit, Gegen-, wart und Zukunft wahrnehmen können. Ich verste- he selbst etwas von Trance, denn als Wächter muß- te ich mich viermal täglich in Aufnahmebereitschaft versetzen; aber ein Wächter, der stolz auf die Arbeit seiner Gilde ist, verachtet notwendigerweise jene, die Gewinn aus dem Hellsehen schlagen. Aber bei den Historikern hatte ich zu meiner Überraschung erfahren, daß man die Somnambuli- sten häufig zu Rate zog, wenn es galt, einen Platz der Antike wiederzufinden. Und es hieß auch, daß diese Leute unserer Gilde gute Dienste leisteten. Ich war immer noch skeptisch, wollte mich jedoch gern be- kehren lassen. Zudem benötigte ich im Augenblick einen Schutz vor dem Sturm, der sich über dem Gil- dehaus der Historiker zusammenbraute. Ein schmaler, graziöser Mann in Schwarz verbeug- te sich übertrieben tief, als ich die niedrige Zelle be- trat. »Ich bin Samit von den Somnambulisten«, sagte er mit hoher, klagender Stimme. »Ich hoffe, daß wir dir nur Gutes verkünden können. Das hier ist mei- ne Gefährtin Murta.« Die Somnambulistin Murta war eine üppige Frau, die sich in Spitzengewänder gehüllt hatte. Dunkle Augenringe zeichneten sich in ihrem wabbeligen Gesicht ab, und ein schwacher Schnurrbart wuchs auf ihrer Oberlippe. Somnambulisten arbeiten zu zweit. Einer wirbt die Kunden an, der andere ver- setzt sich in Trance. Meist bestehen die Teams aus, Mann und Frau. Mein Inneres rebellierte bei dem Gedanken, daß der Fleischkoloß Murta und der zier- liche, zerbrechliche Samit verheiratet waren, aber diese Dinge gingen mich nichts an. Ich nahm den Stuhl, den Samit mir anbot. Auf einem Tisch in der Nähe sah ich Nahrungstabletten in verschiedenen Farben; ich hatte die Familie beim Frühstück gestört. Murta befand sich tief in Trance; sie ging mit schwe- ren Schritten im Raum hin und her und streifte ge- legentlich die Möbel. Es heißt, daß Somnambulisten nur ein paar Stunden am Tage wach sind, um Nah- rung zu sich zu nehmen und die körperlichen Be- dürfnisse zu befriedigen. Ich hörte kaum zu, als Samit in blumiger Spra- che die Dienste seiner Gilde anpries. Dieses Gerede war für die Unwissenden bestimmt; Somnambuli- sten schließen oft genug Geschäfte mit Angehöri- gen der niederen Gilden ab. Schließlich aber spür- te der Mann meine Ungeduld und fragte mich, was ich wissen wollte. »Darüber ist sich die Somnambulistin doch sicher im klaren?« fragte ich. »Benötigst du einen allgemeinen Überblick?« »Ich möchte mehr über das Geschick der Perso- nen wissen, die mir nahestehen. Die Somnambuli- stin soll sich vor allem auf die Vorgänge im Gilde- haus der Historiker konzentrieren.« Samit trommelte mit den langen Fingernägeln ge- gen die glatte Tischfläche und warf Murta einen in-, tensiven Blick zu. »Stellst du mit der Wahrheit in Verbindung?« fragte er sie. Statt einer Antwort seufzte sie tief, und die Fleischberge gerieten in Bewegung. »Was siehst du?« fragte er sie. Sie nuschelte vor sich hin. Somnambulisten be- nutzen eine sonderbare Sprache; einige behaupten, daß sie von einem alten Dialekt Agupts abstamme. Ich weiß nichts Näheres darüber. Jedenfalls klang das Gestammel in meinen Ohren zusammenhang- los und verwirrend. Samit hörte eine Weile zu, nick- te dann und streckte mir die Hand entgegen. »Es geht um große Dinge«, erklärte er. Wir schacherten kurz um den Preis. »Rasch«, sag- te ich ungeduldig, nachdem wir uns geeinigt hatten. »Wie sieht die Wahrheit aus?« Er drückte sich vorsichtig aus. »Es sind Eroberer im Spiel und Mitglieder der Historiker-Gilde.« Ich ermutigte ihn nicht, sondern schwieg. »Sie haben einen komplizierten Streit. Ein Mann ohne Augen steht im Mittelpunkt.« Ich setzte mich kerzengerade auf. Samit lächelte kühl und triumphierend. »Der Mann ohne Augen ist tief gefallen. Man könnte sa- gen, daß er die bezwungene Erde repräsentiert. Nun ist er dem Ende nahe. Er versucht seine frühere Po- sition zu erreichen, aber er weiß, daß dies unmög- lich ist. Er hat jemanden von der Historiker-Gilde dazu gebracht, einen Schwur zu brechen. In das, Gildehaus kommen mehrere Eroberer, um ihn zu – züchtigen? Nein, um ihn zu befreien. Soll ich fort- fahren?« »Rasch!« »Dann mußt du mehr bezahlen.« Ich runzelte die Stirn. Das war eine Erpressung. Aber die Gefährtin dieses Mannes hatte die Wahr- heit gesehen. Ich hatte zwar nur erfahren, was ich bereits wußte, aber es bestand die Möglichkeit, daß ich noch brauchbare Informationen erhielt. Ich gab dem Mann mehr Geld. Samit umklammerte die Münzen und sprach noch einmal mit Murta. Sie antwortete erregt, wirbelte ei- nige Male herum und stieß mit den Möbeln zusam- men. Samit sagte: »Der Mann ohne Augen hat sich in eine Ehe gedrängt. Der wütende Ehemann will ihn bestrafen, und die Fremden geben sich Mühe, das zu verhindern. Die Fremden suchen eine verbor- gene Wahrheit; sie werden sie finden, mit Hilfe ei- nes Verräters. Der Mann ohne Augen sucht Freiheit und Macht; er wird Frieden finden. Die Frau, die ge- sündigt hat, sucht Vergnügen; sie wird Mühsal fin- den.« »Und ich?« fragte ich in die beharrliche Stille. »Von mir hast du nicht gesprochen.« »Du wirst Perris bald so verlassen, wie du es betre- ten hast. Du wirst nicht allein gehen, und du wirst nicht das Gewand deiner jetzigen Gilde tragen.«, »Wo liegt mein Ziel?« »Das weißt du ebensogut wie wir. Weshalb willst du Geld für unnötige Fragen verschwenden?« Wieder schwieg er. »Was wird mir auf der Reise nach Jorslem zusto- ßen?« fragte ich. »Auskünfte über die Zukunft kannst du dir nicht leisten. Sie sind zu teuer. Ich rate dir, dich mit dem zufriedenzugeben, was du bereits weißt.« »Ich habe noch einige Fragen zu deinen Informa- tionen.« »Wir erläutern unsere Auskünfte niemals.« Er grinste. Ich spürte seine Verachtung. Die Som- nambulistin Murta, die immer noch durch das Zim- mer wanderte, stöhnte und rülpste. Offenbar vermit- telten ihr die Mächte, mit denen sie in Verbindung stand, neue Informationen; sie wimmerte, zitterte, schnalzte. Samit sagte etwas in seiner fremdartigen Sprache. Sie antwortete ausführlich. »Eine kostenlo- se letzte Information«, meinte er schließlich. »Dein Leben ist nicht in Gefahr, wohl aber deine Seele. Es wäre gut, so rasch wie möglich mit dem Willen Frie- den zu schließen. Erneuere deine moralische Ori- entierung. Überlege, wo deine wahre Loyalität liegt. Büße die Sünden, die du in wohlmeinender Absicht verübt hast. Mehr kann ich nicht sagen.« Murta rührte sich und schien aus der Trance zu erwachen. Die Fleischberge zuckten wie im Krampf. Sie öffnete die Augen, aber ich sah nur das Weiße –, ein entsetzlicher Anblick. Ihre wulstigen Lippen ga- ben schwärzliche Zähne frei. Samit winkte mich mit einer raschen Geste hinaus. Ich floh in einen trüben, regenverhangenen Morgen. Eilig kehrte ich zum Gildehaus der Historiker zu- rück. Ich war außer Atem, und ein heißer, stechen- der Schmerz saß in meinen Rippen. Ich blieb eine Weile vor dem imposanten Bauwerk stehen, um neue Kräfte zu sammeln. Eine Schwebeplattform glitt über mir vorbei; sie kam aus einem oberen Stockwerk des Gildehauses. Beinahe verließ mich der Mut. Aber schließlich betrat ich doch die Vor- halle und begab mich nach oben, zur Wohnung un- serer Gastgeber. Eine Gruppe erregter Historiker stand im Korridor. Geflüsterte Sätze drangen an mein Ohr. Ich schob mich durch die Menge. Ein hohes Gildemitglied hob den Arm und sagte: »Was suchst du hier, Lehrling?« »Ich bin Tomis, für den die Historikerin Olmayne bürgte. Meine Kammer befindet sich hier.« »Tomis!« rief jemand. Ich wurde gepackt und in die Wohnung ge- schleppt. Ein Bild der Verwüstung erwartete mich. Ein Dutzend Historiker standen entsetzt herum. Ich erkannte Kanzler Kenishal. In seinen grauen Au- gen las ich Verzweiflung. Unter einer Decke links neben dem Eingang lag eine zusammengesunkene Gestalt im Pilgergewand – der Fürst von Roum. Die Maske war ein Stück von ihm entfernt, blutbefleckt., Auf der anderen Seite des Raumes, an einen Glas- schrank mit Gegenständen des Zweiten Zyklus ge- lehnt, starrte mich der Historiker Elegro aus leeren Augen an. Seine Miene wirkte zugleich wütend und überrascht. Ein Pfeil steckte in seinem Hals. Im Hin- tergrund, festgehalten von zwei kräftigen Männern, entdeckte ich Olmayne. Ihr rotes Kleid war zerris- sen und enthüllte hohe weiße Brüste; das dunkle Haar hing ihr wirr auf die Schultern; Schweißtrop- fen glänzten auf ihrer hellen Haut. Sie schien ihre Umgebung nicht wahrzunehmen. »Was ist hier geschehen?« fragte ich. »Ein Doppelmord«, erklärte der Kanzler mit gebro- chener Stimme. Er kam auf mich zu: ein hochge- wachsener, hagerer Mann mit schlohweißem Haar.. Eines seiner Augenlider zuckte unkontrolliert. »Wann hast du diese Leute zum letztenmal lebend gesehen, Lehrling?« »Am späten Abend.« »Was tatest du hier?« »Ich stattete meinen Gönnern nur einen Besuch ab.« »Gab es Streit?« »Ja – zwischen dem Historiker Elegro und dem Pil- ger«, gab ich zu. »Worüber?« fragte der Kanzler leise. Ich warf Olmayne einen unsicheren Blick zu, aber sie sah und hörte nichts. »Es ging um sie«, sagte ich., Die anderen Historiker kicherten und stießen ein- ander an. Ich hatte nur bestätigt, was sie vermute- ten. Der Kanzler setzte eine feierliche Miene auf. Er deutete auf den toten Fürsten. »Der Mann hier war dein Weggefährte, als du nach Perris kamst«, sagte er. »Wußtest du, wer sich hinter der Pilgermaske verbarg?« Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich ahnte es.« »Daß er …« »… der geflohene Fürst von Roum war«, sagte ich. Ich wagte jetzt keine Ausflüchte. Meine Lage war zu gefährlich. Wieder flüsterten und nickten die Anwesenden. Kanzler Kenishal erklärte: »Dieser Mann wurde von den Eroberern gesucht. Du hattest nicht das Recht, seine Identität zu verschweigen.« Ich blieb stumm. Der Kanzler fuhr fort: »Du hast das Gildehaus nachts verlassen und bist jetzt erst zurückgekehrt. Was hast du in der Zwischenzeit getan?« »Ich suchte den Prokurator von Perris auf – Men- schenherrscher Sieben.« Erregung. »Zu welchem Zweck?« »Um dem Prokurator mitzuteilen, daß man den Fürsten von Roum gefunden habe und in der Woh- nung eines Historikers festhalte«, sagte ich. »Ich tat dies auf Befehl des Historikers Elegro. Nachdem ich, Meldung gemacht hatte, schlenderte ich ein paar Stunden ziellos durch die Straßen von Perris. Und bei meiner Rückkehr fand ich dann …« »… Chaos vor«, ergänzte Kanzler Kenishal. »Der Prokurator kam im Morgengrauen her und suchte diese Suite auf. Elegro und der Fürst müssen noch am Leben gewesen sein. Dann ging er in unsere Ar- chive und holte – holte – Material – von höchster Empfindlichkeit – höchster Empfindlichkeit – hol- te Material, das nicht allgemein zugänglich war – von höchster Empfindlichkeit …« Der Kanzler stock- te. Wie eine komplizierte Maschine, die plötzlich von Rost befallen wird, verlangsamte er seine Bewe- gungen und stieß heisere, zusammenhanglose Lau- te aus. Er schien am Rande eines Zusammenbruchs zu sein. Einige bedeutende Historiker eilten ihm zu Hilfe; jemand reichte ihm eine Droge. Nach wenigen Se- kunden hatte sich der Kanzler wieder erholt. »Die Morde geschahen, nachdem der Prokurator das Ge- bäude verlassen hatte«, fuhr er fort. »Die Historike- rin Olmayne konnte uns bisher keine Auskunft ge- ben. Vielleicht weißt du etwas, Lehrling.« »Ich war nicht hier. Zwei Somnambulisten in der Nähe der Senn können bezeugen, daß ich mich zur Zeit des Verbrechens bei ihnen befand.« Jemand lachte, als ich die Somnambulisten er- wähnte. Mir war es gleichgültig; im Augenblick mußte ich an wichtigere Dinge als meine persönli-, che Würde denken. Der Kanzler sagte langsam: »Du gehst jetzt in dei- ne Kammer, Lehrling, und bleibst dort, bis wir dich verhört haben. Danach verläßt du das Gildehaus und innerhalb von zwanzig Stunden auch die Stadt Perris. Kraft meines Amtes verstoße ich dich aus der Historiker-Gilde.« Samit hatte mich zwar gewarnt, aber ich war den- noch wie betäubt. »Verstoßen? Weshalb?« »Wir können dir nicht mehr vertrauen. Zu viele Geheimnisse umgeben dich. Du bringst uns einen Fürsten und verbirgst seine Identität; du bist Zeuge eines verhängnisvollen Streites; du suchst mitten in der Nacht den Prokurator auf. Vielleicht hast du so- gar dazu beigetragen, daß unser Archiv heute mor- gen einen beklagenswerten Verlust erlitt. Wir haben keine Verwendung für undurchsichtige Persönlich- keiten. Wir brechen jede Verbindung zu dir ab.« Der Kanzler deutete zum Ausgang. »Geh jetzt in deine Kammer und warte, bis du verhört wirst.« Man brachte mich aus der Suite. Als sich die Te- leskopöffnung schloß, warf ich noch einen Blick zu- rück und sah, wie der Kanzler aschfahl in die Arme seiner Begleiter sank. Im gleichen Moment erwach- te Olmayne aus ihrer Erstarrung und stürzte laut schreiend zu Boden. *, Als ich allein in meiner Kammer war, suchte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen. Es wurde fast Mittag, bis mich ein fremder Historiker abholte; er hatte Verhörgeräte bei sich. Ich beobachtete die Maschinen mit Unbehagen und überlegte, daß alles zu Ende sein würde, wenn die Historiker erfuhren, daß ich die Archivaufzeichnung des Studienlagers an die Invasoren verraten hatte. Man verdächtigte mich bereits; der Kanzler hatte die Anschuldigung nur deshalb nicht ausgesprochen, weil es ihm merk- würdig vorkommen mußte, daß ein Lehrling private Nachforschungen im Archiv anstellte. Ich hatte Glück; der Mann beschäftigte sich nur mit den Einzelheiten der Morde; und sobald er merk- te, daß ich zu diesem Thema nichts sagen konnte, ließ er mich frei und gab mir den Rat, innerhalb der gesetzten Frist das Gildehaus zu verlassen. Ich erwi- derte, daß ich bald aufbrechen wolle. Aber zuerst benötigte ich Ruhe. Ich hatte in die- ser Nacht keinen Schlaf gefunden; und so nahm ich ein Medikament, das mir drei Stunden Rast geben würde. Als ich erwachte, stand jemand neben mir: Olmayne. Sie schien seit dem vergangenen Abend gealtert zu sein. Sie trug ein einfaches, dunkles Gewand und hatte ihren Schmuck abgelegt. Ihre Gesichts- züge wirkten starr. Ich verbarg mein Erstaunen über, ihre Anwesenheit und murmelte eine Entschuldi- gung, daß ich sie nicht sofort erkannt hatte. »Beruhige dich«, sagte sie sanft. »Habe ich dich gestört?« »Nein. Ich bin eben aufgewacht.« »Ich hatte noch keinen Schlaf. Aber das läßt sich später nachholen. Wir schulden einander ein paar Erklärungen, Tomis.« »Ja.« Ich erhob mich unsicher. »Fühlst du dich wohl? Ich sah dich vor einigen Stunden, und da warst du in Trance versunken.« »Man gab mir Medikamente«, erwiderte sie. »Erzähl mir alles über die gestrige Nacht.« Einen Moment lang schloß sie die Augen. »Du warst dabei, als Elegro uns angriff und vom Für- sten hinausgewiesen wurde. Einige Stunden später kehrte Elegro zurück. Er war in Begleitung des Pro- kurators von Perris und verschiedener anderer In- vasoren. Elegro schien sich in Hochstimmung zu befinden. Der Prokurator holte einen Würfel her- vor und befahl dem Fürsten, die Hand daraufzule- gen. Der Fürst weigerte sich, aber schließlich gab er nach. Als er den Würfel berührt hatte, verließen der Prokurator und Elegro die Suite. Der Fürst und ich blieben zurück. Keiner von uns begriff, was ge- schehen war. Wachtposten am Eingang verhinderten eine Flucht des Fürsten. Nicht lange danach betra- ten der Prokurator und Elegro von neuem die Woh- nung. Diesmal schien Elegro niedergeschlagen und, sogar verwirrt, während der Prokurator vor Freude strahlte. Dann verkündete uns der Prokurator, daß der frühere Fürst von Roum begnadigt sei und un- gehindert seines Weges gehen könne. Die Invasoren zogen sich zurück.« »Weiter!« Olmayne sprach wie eine Schlafwandlerin: »Eleg- ro schien nicht zu verstehen, was sich zugetragen hatte. Er schrie, daß er verraten und betrogen wor- den sei. Eine häßliche Szene folgte. Elegro steiger- te sich in einen weibischen Zorn; der Fürst wurde immer hochfahrender; jeder befahl dem anderen, die Suite zu verlassen. Der Streit wurde so heftig, daß der Teppich abstarb. Die Blütenblätter hingen schlaff zu Boden; die kleinen Mäuler standen of- fen. Schließlich griff Elegro zur Waffe und drohte, daß er sie benützen werde, wenn der Fürst nicht augenblicklich die Wohnung verließe. Der Fürst unterschätzte Elegros Zorn und glaubte an einen Bluff. Er trat ein paar Schritte vor und traf Anstal- ten, Elegro hinauszuwerfen. Elegro tötete den Für- sten. Im gleichen Augenblick riß ich einen Pfeil aus unserer Waffensammlung der Vergangenheit und bohrte ihn Elegro in den Hals. Die Spitze war ver- giftet; der Tod trat auf der Stelle ein. Ich weiß noch, daß ich Hilfe herbeirief, aber alles andere habe ich vergessen.« »Eine sonderbare Nacht.« »Zu sonderbar. Tomis, sag mir eines: Weshalb kam, der Prokurator hierher und weshalb nahm er den Fürsten nicht mit sich?« »Der Prokurator kam, weil dein verstorbener Gatte mir befohlen hatte, ihn zu holen«, erklärte ich. »Und er verhaftete den Fürsten nicht, weil Enric freige- kauft worden war.« »Zu welchem Preis?« »Zum Preis der Schmach.« »Du sprichst in Rätseln.« »Die Wahrheit entehrt mich. Ich bitte dich, nicht weiter in mich zu dringen.« »Der Kanzler sprach von einem Dokument, das der Prokurator mitnahm …« »Damit hat es zu tun«, gestand ich, und Olmayne sah zu Boden. Sie stellte keine Fragen mehr. »Du hast also einen Mord begangen«, sagte ich schließlich. »Worin besteht deine Strafe?« »Das Verbrechen wurde aus Leidenschaft und Furcht verübt«, erwiderte sie. »Dafür sieht die öf- fentliche Rechtsprechung keine Strafe vor. Aber ich werde wegen meines Ehebruchs und der Gewalttat von der Gilde verstoßen.« »Ich bedaure dich.« »Und ich habe die Auflage erhalten, nach Jors- lem zu pilgern, um meine Seele zu läutern. Ich muß noch heute aufbrechen, sonst kann die Gilde mein Leben fordern.« »Auch ich gehöre nicht mehr der Gilde an«, sag- te ich. »Und mein Weg führt ebenfalls nach Jorslem., Allerdings schlage ich ihn freiwillig ein.« »Darf ich dich begleiten?« Mein Zögern verriet mich. Ich war mit einem blin- den Fürsten hierhergekommen; mir lag wenig dar- an, mit einer gildelosen Mörderin weiterzuziehen. Vielleicht sollte ich ihren Wunsch ablehnen. Aber der Somnambulist hatte gesagt, daß ich nicht allein reisen würde. Olmayne meinte ruhig: »Begeistert bist du von meinem Vorschlag nicht. Vielleicht kann ich dich ermuntern.« Sie öffnete ihr Kleid, und zwischen ih- ren hellen Brüsten entdeckte ich eine graue Ober- tasche. »Darin befindet sich der Besitz des Fürsten von Roum«, sagte sie. »Er hat mir seine Schätze ge- zeigt, und ich nahm sie an mich, als er tot in mei- nem Zimmer lag. Dazu kommt mein eigener Besitz. Wir können ohne Not reisen. Nun?« »Ich kann dir den Wunsch kaum abschlagen.« »Dann halte dich in zwei Stunden bereit.« Sie ließ mich allein. Knappe zwei Stunden später kehrte sie zurück, angetan mit der Maske und Kut- te eines Pilgers. Über dem Arm trug sie eine zweite Pilgerausrüstung, die sie mir reichte. Ja, ich war nun gildelos, und das brachte zahlreiche Gefahren mit sich. Ich würde also als Pilger nach Jorslem gehen. Ich streifte die ungewohnte Kutte über und legte die Maske an. Wir sammelten unsere Habe. »Ich habe die Pilger-Gilde verständigt«, erklärte sie, als wir das Gildehaus der Historiker verließen., »Wir sind registriert. Irgendwann im Laufe des Tages werden wir unsere Sternsteine bekommen. Wie sitzt die Maske, Tomis?« »Gut.« »Dann ist alles in Ordnung.« Unser Weg führte über den großen Platz vor dem alten grauen Religionshaus. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt; im Mittelpunkt entdeck- te ich Invasoren. Bettler warteten auf milde Gaben. Sie beachteten uns nicht, denn niemand erwartet Reichtümer von Pilgern. Aber ich wandte mich an einen der listigen Burschen und fragte: »Was geht hier vor?« »Der Fürst von Roum wird bestattet«, sagte er. »Ein Befehl des Prokurators. Staatsbeerdigung mit allen Schikanen. Sie machen ein richtiges Fest daraus.« »Weshalb hält man diese Zeremonie in Perris ab?« fragte ich. »Wie starb der Fürst?« »Hör mal, frage einen anderen. Ich muß arbei- ten.« Er schüttelte meine Hand ab und mischte sich un- ter die Menge. »Sollen wir der Beerdigung beiwohnen?« fragte ich Olmayne. »Lieber nicht.« »Wie du willst.« Wir gingen auf die massive Steinbrücke zu, wel- che die Senn überspannt. Hinter uns verbreitete sich ein bläulicher Schimmer, als der Scheiterhaufen mit, dem toten Fürsten angezündet wurde. Dieser Schim- mer zeigte uns den Weg durch das nächtliche Perris. Wir wanderten nach Osten, auf Jorslem zu. *, DRITTER TEIL Unsere Welt war nun ganz in ihren Besitz überge- gangen. Auf unserer Wanderung durch Eyrop konnte ich sehen, daß die Invasoren alles an sich gerissen hatten, und wir gehörten ihnen, wie die Tiere im Stall dem Bauern gehören. Sie waren überall, wie hartnäckiges Unkraut, das sich nach einem Sturm ansiedelt. Sie bewegten sich mit kühlem Selbstvertrauen, als wollten sie uns durch ihre lässigen Bewegungen zu verstehen ge- ben, daß der Wille uns seine Gunst entzogen und ih- nen übertragen habe. Sie waren nicht grausam, und doch nahmen sie uns die Vitalität durch ihre bloße Gegenwart. Unsere Sonne, unsere Monde, unsere al- ten Museen, unsere Ruinen, unsere Städte, unsere Paläste, unsere Zukunft, Gegenwart und Vergangen- heit lagen in ihren Händen. Unser Leben hatte jede Bedeutung verloren. Nachts leuchteten spöttisch die Sterne. Das ganze Universum betrachtete uns in unserer Schmach. Der kalte Winterwind verriet uns, daß wir wegen unserer Sünden die Freiheit verloren hatten. Die grelle Sommerhitze verriet uns, daß wir für unseren Hochmut gedemütigt worden waren. Wir bewegten uns durch eine veränderte Welt, los- gelöst von der Vergangenheit. Ich, der ich früher Tag, für Tag die Sterne erforscht hatte, war dieses Ver- gnügens beraubt. Auf dem Wege nach Jorslem fand ich schwachen Trost in der Hoffnung, daß ich Verge- bung und vielleicht sogar Verjüngung erlangen wür- de. Olmayne und ich wiederholten jede Nacht das Ritual: »Wir beugen uns dem Willen!« »Wir beugen uns dem Willen!« »In großen und in kleinen Dingen.« »In großen und in kleinen Dingen.« »Und bitten um Vergebung.« »Und bitten um Vergebung.« »Für die Sünden, die wir begangen haben und be- gehen werden.« »Für die Sünden, die wir begangen haben und be- gehen werden.« »Und beten um ein reines Gewissen.« »Und beten um ein reines Gewissen.« »Bis zum Tage der Vergebung.« »Bis zum Tage der Vergebung.« Das waren unsere Worte. Während wir sie spra- chen, umklammerten wir die kühlen Sternsteine und suchten die Vereinigung mit dem Willen. Und so reisten wir nach Jorslem, durch eine Welt, die der Menschheit nicht mehr gehörte. *, Als wir uns von Talya aus der Landbrücke näherten, bekam ich zum erstenmal Olmaynes Grausamkeit zu spüren. Olmayne war von Natur aus grausam; das hatte ich in Perris erfahren. Und doch waren wir viele Monate gemeinsam unterwegs, von Perris über die Berge nach Talya, bevor sie ihre Krallen zeigte. Wir mußten an der Landbrücke halten, weil von Afreek eine Gruppe von Eroberern kam. Es waren etwa zwanzig Fremde, hochgewachsen und mit har- ten Gesichtszügen. Man spürte, daß sie stolz auf die Eroberung der Erde waren. Sie fuhren in einem ge- schlossenen Fahrzeug fremdartiger Konstruktion, mit breiten, sandgrauen Reifen und winzigen Fen- stern. Schon in weiter Ferne konnten wir die Staub- wolke erkennen. Es war eine heiße Zeit. Der Himmel selbst hatte die Farbe des Sandes, und flimmernde Streifen in Türkis und Gold durchzogen ihn. Etwa fünfzig Menschen warteten neben der Stra- ße. Hinter uns lag Talya und vor uns der Kontinent Afreek. Wir waren eine gemischte Gruppe: Einige Pilger wie Olmayne und ich, die in die heilige Stadt Jorslem wollten; aber auch viele Entwurzelte, Hei- matlose – Männer und Frauen, die von Kontinent zu Kontinent zogen, ohne zu wissen weshalb. Ich er- spähte fünf ehemalige Wächter und einige Kartei- beamte, einen Schreiber, einen Wachtposten und, sogar ein paar Mutanten. Die Landbrücke ist nicht breit, und so kann die Straße nur von wenigen Per- sonen gleichzeitig benutzt werden. Aber in früheren Zeiten war sie immer für beide Richtungen frei ge- wesen. Wir zögerten jedoch, da uns Invasoren ent- gegenkamen, und so drängten wir uns schüchtern zusammen und warteten. Einer der Mutanten löste sich von seinen Gefähr- ten und schlenderte auf mich zu. Er war klein, aber breitschultrig; seine Augen waren groß und grün umrandet; sein Haar wuchs in unregelmäßigen Bü- scheln, und die Nase war so winzig, daß die Na- senlöcher aus der Oberlippe zu kommen schienen. Dennoch sah er weniger grotesk aus als die meisten seiner Artgenossen. Er hatte einen ernsten Gesichts- ausdruck, aber in seinen Augen blitzte Humor. Mit dünner Stimme fragte er: »Glaubst du, daß man uns lange aufhalten wird, Pilger?« In früheren Zeiten hätte es niemand gewagt, sich ungebeten einem Pilger zu nähern – und für Mutan- ten galt diese Regel noch stärker als für gewöhnliche Menschen. Mir waren solche Bestimmungen gleich- gültig, aber Olmayne zog sich mit einem entrüsteten Fauchen zurück. »Wir müssen warten, bis unsere Gebieter den Weg freigeben«, erwiderte ich. »Haben wir eine andere Wahl?« »Nein, Freund, keine.« Als Olmayne die Anrede »Freund« hörte, fauch-, te sie von neuem und starrte den kleinen Mutan- ten wütend an. Er wandte sich ihr zu, und man sah, daß er ärgerlich war, denn mit einemmal leuchte- ten sechs parallele Pigmentstreifen unter seiner Gesichtshaut rot auf. Aber er verbeugte sich nur höflich vor Olmayne und sagte: »Darf ich mich vor- stellen? Ich heiße Bernalt und bin natürlich gilde- los. Ich komme aus Nayrub in Afreek. Wollt ihr nach Jorslem, Pilger?« »Ja«, erwiderte ich, während sich Olmayne wort- los umdrehte. »Und du? Kehrst du nach Nayrub zu- rück?« Bernalt verneinte. »Ich gehe auch nach Jorslem.« Sofort stieg Feindseligkeit in mir hoch. Der Char- me des Mutanten wirkte nicht mehr auf mich. Ich hatte schon einmal einen Mutanten zum Reisege- fährten genommen, und ich dachte nicht gern daran zurück. Kühl und distanziert fragte ich: »Darf ich er- fahren, was ein Mutant in Jorslem sucht?« Er spürte die Zurückweisung in meiner Stim- me, und in seinen großen Augen zeigte sich Trauer. »Auch wir dürfen uns in der heiligen Stadt umse- hen, weißt du das nicht? Fürchtest du, daß wir Mu- tanten wieder den Schrein der Verjüngung an uns reißen könnten, wie wir es vor tausend Jahren ta- ten?« Er lachte hart. »Ich bedrohe niemanden, Pilger. Ich bin furchtbar anzusehen, aber völlig ungefähr- lich. Möge der Wille dir gewähren, was du erbittest, Pilger.« Er verbeugte sich und ging zurück zu den, anderen Mutanten. Wütend wirbelte Olmayne herum. »Weshalb unterhältst du dich mit solchen Krea- turen?« »Der Mann sprach mich an. Er wollte mir eine Freundlichkeit erweisen. Wir tragen alle das gleiche Los, Olmayne und …« »Mann! Wie kannst du einen Mutanten Mann nen- nen?« »Auch Mutanten sind Menschen, Olmayne.« »Aber die niedrigste Sorte. Tomis, ich verabscheue solche Ungeheuer. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn sie in meiner Nähe sind. Wenn ich könnte, würde ich sie von dieser Welt verbannen.« »Wo bleibt die Toleranz der Historiker?« Sie fuhr auf, als sie den Spott in meiner Stimme vernahm. »Niemand verlangt von uns, daß wir Mu- tanten lieben, Tomis. Sie sind einer der Flüche, die der Menschheit auferlegt wurden – Parodien unse- rer Rasse, Feinde der Wahrheit und Schönheit. Ich verachte sie.« Es war eine Einstellung, die man des öfteren an- traf. Aber ich hatte keine Zeit mehr, Olmayne Vor- würfe wegen ihrer Intoleranz zu machen, denn das Gefährt der Invasoren kam heran. Ich hoffte, daß der Weg nach Afreek frei sein würde, sobald es uns pas- siert hatte. Aber es hielt an, und einige der Invaso- ren stiegen aus. Sie schlenderten ohne Eile auf uns zu. Ihre langen Arme schaukelten wie schlaffe Taue, hin und her. »Wer ist hier der Anführer?« fragte ei- ner von ihnen. Niemand antwortete, denn wir reisten unabhän- gig voneinander. Der Fremde wartete einen Augenblick und fuhr dann ungeduldig fort: »Kein Anführer? Kein Anfüh- rer? Also gut, hört alle zu! Der Weg bleibt frei. Ein Konvoi ist von Afreek nach hier unterwegs. Geht zu- rück nach Palerm und wartet dort bis morgen.« »Aber ich muß dringend nach Agupt …« begann der Schreiber. »Die Landbrücke ist heute geschlossen«, erklärte der Eroberer. »Geht zurück nach Palerm.« Seine Stimme war ruhig. Die Invasoren zeigten sich nie gewalttätig oder roh. Sie hatten die Sicher- heit der Überlegenen. Die Wangenmuskeln des Schreibers zitterten, aber er schwieg. Einige der Wartenden sahen aus, als wollten sie protestieren. Der Wachtposten wandte sich ab und spuckte aus. Der Mann, der immer noch kühn das Zeichen der Verteidiger auf der Wange trug, ballte die Fäuste und rang um Beherrschung. Die Mutan- ten flüsterten miteinander. Bernalt lächelte mir trau- rig zu und zuckte mit den Schultern. Zurück nach Palerm? Das war ein verschwendeter Tag. Wozu? Wozu? Der Fremde winkte lässig und befahl uns noch einmal, daß wir uns zurückziehen sollten., Und nun zeigte Olmayne ihr wahres Gesicht. Lei- se sagte sie zu mir: »Tomis, wenn du ihnen erklärst, daß du dem Prokurator von Perris einen Dienst er- wiesen hast, dann lassen sie uns beide sicher pas- sieren.« Ihre dunklen Augen glitzerten spöttisch und vol- ler Verachtung. Es war, als hätte sie zehn Lebensjahre auf meine Schultern geladen. »Warum sagst du so etwas?« frag- te ich sie. »Es ist heiß. Ich bin müde. Es ist idiotisch, uns zu- rück nach Palerm zu schicken.« »Ich teile deine Meinung. Aber ich kann nichts tun. Weshalb verletzt du mich?« »Ist die Wahrheit so schmerzhaft?« »Ich bin kein Kollaborateur, Olmayne.« Sie lachte. »Wie schön du das sagst! Aber es stimmt nicht, Tomis. Du hast ihnen die Dokumen- te verkauft.« »Um deinen Liebhaber, den Fürsten, zu retten«, erinnerte ich sie. »Immerhin, du hast mit den Invasoren verhandelt. Diese Tatsache bleibt bestehen, was auch dein Mo- tiv gewesen sein mag.« »Hör auf, Olmayne.« »Gibst du mir Befehle?« »Olmayne …» »Geh zu ihnen, Tomis. Sag ihnen, wer du bist, ver- lange, daß sie uns durchlassen.«, »Der Konvoi würde uns überrollen. Und ich habe keinen Einfluß auf die Invasoren. Ich stehe nicht im Dienste des Prokurators.« »Lieber sterbe ich, bevor ich nach Palerm zurück- gehe.« »Dann stirb«, sagte ich müde und wandte mich ab. »Verräter! Alter Schwachkopf! Feigling!« Ich tat, als achtete ich nicht auf ihre Worte, aber sie brannten in meinem Innern. Olmayne war nicht falsch, nur boshaft. Ich hatte mit den Eroberern ver- handelt; ich hatte die Gilde verraten, die mich auf- nahm; ich hatte den Kodex verletzt, der dumpfe Pas- sivität als einzigen Widerstand gegen die Invasoren vorschrieb. Das alles stimmte. Aber es war unfair von ihr, es mir vorzuwerfen. Ich hatte nicht an Pa- triotismus gedacht, als ich den Verrat beging; ich hatte versucht, einen Mann zu retten, dem ich mich verpflichtet fühlte, einen Mann, den sie liebte. Es war verabscheuenswürdig von Olmayne, mir jetzt meine Schuld vorzuwerfen, mein Gewissen zu quä- len, nur weil sie die Hitze und den Straßenstaub als lästig empfand. Aber diese Frau hatte kaltblütig ihren Mann um- gebracht. Weshalb sollte sie nicht auch in kleineren Dingen hart sein? Die Invasoren setzten ihren Willen durch; wir ver- ließen die Straße und wanderten zurück nach Pa- lerm, eine öde, heiße, schläfrige Stadt. An diesem Abend, wie um uns zu trösten, hielten fünf Schmet-, terlingsgeschöpfe über der Stadt an und tanzten am Himmel, drei Männer und zwei Frauen, elfen- haft schön. Ich betrachtete sie mehr als eine Stunde, bis meine Seele sich von mir zu lösen schien und zu ihnen hinaufschwebte. Ihre großen schimmern- den Flügel verdeckten kaum das Sternenlicht; ihre hellen schlanken Körper bewegten sich graziös. Der Anblick dieser Geschöpfe erinnerte mich an Avlue- la und weckte verwirrende Gefühle. Die Schmetterlinge zogen weiter. Bald danach zo- gen die beiden künstlichen Monde über den Him- mel. Ich ging in unsere Herberge, und kurze Zeit später betrat Olmayne mein Zimmer. Sie schien ihr Verhalten zu bereuen. Sie brach- te eine geschliffene Flasche mit, in der sich grüner Wein befand – nicht der Wein von Talya, sondern das Produkt einer fremden Welt. Vermutlich hatte sie einen hohen Preis dafür bezahlt. »Kannst du mir verzeihen, Tomis?« fragte sie. »Hier. Ich weiß, daß du Wein gern trinkst.« »Lieber wäre mir gewesen, du hättest diese Worte nicht ausgesprochen«, entgegnete ich. »Die Hitze hat mir die Beherrschung genommen. Verzeih mir, Tomis. Ich war dumm und taktlos.« Ich verzieh ihr, in der Hoffnung, daß der letzte Teil der Reise harmonischer verlaufen würde. Wir tranken den Wein, und dann ging sie in ihr Zimmer. Pilger müssen keusch leben – nicht, daß Olmayne je Gefallen an einem so ausgemergelten Greis wie mir, gefunden hätte, aber die Gesetze unserer neuen Gil- de ließen die Frage gar nicht aufkommen. Lange Zeit lag ich wach da, gepeinigt von Schuld- gefühlen. In ihrer Ungeduld und in ihrem Zorn hat- te Olmayne mich an einer empfindlichen Stelle ge- troffen: ich war ein Verräter der Menschheit. Bis zum Morgengrauen dachte ich darüber nach. Was hatte ich getan? Ich hatte unseren Bezwingern ein gewisses Doku- ment in die Hände gespielt. Hatten die Invasoren moralisch das Recht, dieses Dokument an sich zu nehmen? Es berichtete von einer schändlichen Behandlung, die sie durch unsere Rasse erfahren hatten. Weshalb also hätte ich es ihnen nicht ausliefern sollen? Man hilft den Eroberern nicht, auch wenn sie der Menschheit moralisch überlegen sind. Ist ein kleiner Verrat so schwerwiegend? Es gibt keinen kleinen Verrat. Vielleicht muß man die Sache in einem anderen Licht sehen. Ich tat es nicht, um den Feind zu unter- stützen, sondern um einem Freund zu helfen. Dennoch habe ich mit den Feinden zusammenge- arbeitet. Diese beharrliche Selbstzerfleischung könnte ei- nem gefährlichen Stolz entspringen. Aber ich fühle meine Schuld. Ich schäme mich zu Tode., Auf diese Weise verbrachte ich die Nacht. Als der Morgen heraufzog, erhob ich mich und bat den Wil- len, mir in der heiligen Stadt Jorslem die Erlösung zu gewähren. Dann weckte ich Olmayne. *, An diesem Tag war die Landbrücke frei und wir schlossen uns der Menge an, die von Talya nach Af- reek überwechselte. Ich befand mich nun zum zwei- tenmal auf der Landbrücke, denn im Vorjahr – wie lange schien das her zu sein! – war ich aus der an- deren Richtung gekommen, aus Agupt. Es gibt zwei große Pilgerrouten von Eyrop nach Jorslem. Der nördliche Weg führt durch die finste- ren Länder östlich von Talya zur Fähre von Stanbool und dann entlang der Westküste von Ais nach Jors- lem. Diese Route hätte ich vorgezogen, denn von all den berühmten Städten der Erde habe ich Stanbool noch nicht besucht. Aber Olmayne hatte eine Zeit- lang dort gelebt und nach Altertümern geforscht, und sie haßte die Gegend; deshalb nahmen wir den südlichen Weg – über die Landbrücke nach Afreek und entlang dem Mittleren See durch Agupt und die Ausläufer der Acban-Wüste. Echte Pilger gehen nur zu Fuß. Aber Olmayne sträubte sich dagegen, und obwohl wir weite Mär- sche zurücklegten, nutzte sie doch jede Gelegenheit zu einer Fahrt aus. Sie war sogar so schamlos, Fahr- zeuge zu organisieren. Bereits am zweiten Tag un- serer Reise hatte sie einen reichen Kaufmann dazu überredet, uns zur Küste mitzunehmen. Der Mann hatte nicht die geringste Absicht, seinen luxuriösen Reisewagen mit jemandem zu teilen, aber er konn-, te Olmaynes dunkler, sinnlicher Stimme nicht wi- derstehen. Der Kaufmann reiste vornehm. Ihn hatte die Er- oberung der Erde ebensowenig berührt wie der Ver- fall des Dritten Zyklus’. Sein Wagen hatte viermal die Länge eines erwachsenen Mannes und war so breit, daß fünf Menschen bequem darin Platz fan- den. Die Reisenden waren völlig von der Außen- welt abgeschlossen. Es gab keine Fenster, sondern nur eine Reihe von Bildschirmen, die auf Befehl die Landschaft zeigten. Die Temperatur wich nie von der Norm ab. Blitzende Hähne lieferten Geträn- ke; Nahrungstabletten waren im Überfluß vorhan- den; Konturensitze schützten die Reisenden gegen schlechte Straßen. Für Beleuchtung sorgte ein Skla- venlicht, das die Stimmung des Kaufmanns genau erkannte. Neben der Hauptsitzbank befand sich eine Denker-Kappe, aber ich erfuhr nie, ob der Kaufmann irgendwo im Wagen ein Gehirn aufbewahrte oder ob er Anschluß zu den Gedächtnisspeichern der Städte hatten, die wir durchfuhren. Er war ein gewichtiger, stattlicher Mann, der sich sichtlich verwöhnte. Seine dunkle Haut paßte gut zu der krausen schwarzen Haarmähne und den nüch- ternen, prüfenden Augen. Wie wir erfuhren, handel- te er mit Lebensmitteln fremder Welten; er tauschte unsere armseligen Handelsgüter gegen die Delikates- sen der anderen Rassen. Nun war er unterwegs nach Marsay, um eine Ladung von Halluzinations-Insek-, ten zu begutachten, die von einem der Gürtel-Plane- ten gekommen war. »Gefällt euch der Wagen?« fragte er, als er unser Staunen bemerkte. Olmayne, die selbst in Luxus ge- lebt hatte, betrachtete kopfschüttelnd die juwelen- bestickte Brokatverkleidung. »Er gehörte dem Grafen von Perris«, fuhr der Mann fort. »Ja, im Ernst, dem Grafen persönlich. Man hat seinen Palast jetzt in ein Museum verwandelt.« »Ich weiß«, sagte Olmayne leise. »Das hier war seine Reisekutsche. Sie sollte im Museum ausgestellt werden, aber ich kaufte sie ei- nem geldgierigen Eroberer ab. Auch bei denen gibt es Spitzbuben.« Der Kaufmann lachte laut, und der empfindliche Bezug an den Wänden des Ge- fährts schnellte entsetzt zurück. »Der Kerl, mit dem ich verhandelte, war der Gefährte des Prokurators. Ja, auch das haben sie. Er suchte nach einet be- stimmten Wurzel, die auf einem der Fisch-Planeten wächst, etwas, das seiner Männlichkeit nachhelfen soll, ihr versteht schon. Als er erfuhr, daß ich den gesamten Spezereien-Handel in der Hand habe, kam er zu mir, und wir schlossen unser kleines Geschäft ab. Natürlich mußte ich den Wagen ein wenig um- bauen lassen. Der Graf spannte vier Neuter vor und betrieb den Motor durch einen direkten Anschluß zu ihrem Kreislauf. Nun, das kann sich ein Graf lei- sten, aber nicht ich. Man verschleißt zu viele Neu- ter pro Jahr. Außerdem wollte ich bei den Invasoren, kein Aufsehen erregen. So ließ ich den Antrieb aus- bauen und statt dessen einen Hochleistungsmotor installieren – eine ganz raffinierte Sache. Ihr habt Glück, daß ich euch mitnehme, aber bei Pilgern ma- che ich gern eine Ausnahme. Normale Menschen werden neidisch, und Neid ist gefährlich für einen Mann, der etwas aus seinem Leben gemacht hat. Ihr seid nach Jorslem unterwegs?« »Ja«, sagte Olmayne. »Ich will auch hin, aber erst später. Sehr viel spä- ter.« Er strich sich über den Bauch. »Natürlich las- se ich mich verjüngen, aber bis dahin habe ich noch eine Weile Zeit, so der Wille sie mir gewährt. Seid ihr schon lange Pilger?« »Nein«, sagte Olmayne. »Wahrscheinlich wurden nach der Invasion viele Leute Pilger. Nun, ich kann es ihnen nicht verübeln. Jeder paßt sich an, wie er es für richtig hält. Habt ihr eigentlich diese kleinen Pilgersteine bei euch?« »Ja«, sagte Olmayne. »Darf ich einen sehen? Die Dinger haben mich schon immer fasziniert. Da war dieser Händler von den Dunkelstern-Welten, ein lausiger kleiner Ba- stard mit pechschwarzer Haut, und bot mir zehn Doppelzentner von dem Zeug an. Sagte, sie seien echt, ebenso wirksam wie die Pilgersteine. Ich lehn- te ab. Mit dem Willen spiele ich nicht. Manche Din- ge sind einfach tabu, selbst wenn sie einen hohen Gewinn bringen würden. Aber später tat es mir leid,, daß ich nicht einen als Souvenir behalten hatte. Ich habe noch nie einen berührt.« Er streckte Olmayne die Hand entgegen. »Darf ich?« »Wir dürfen niemandem unsere Sternsteine aus- händigen«, sagte ich. »Aber ich verrate es doch keinem!« »Es ist verboten.« »Wir sind hier doch ganz unter uns …« »Bitte! Was Sie verlangen, ist unmöglich.« Sein Gesicht verdüsterte sich, und einen Moment lang dachte ich, daß er anhalten und uns hinaus- werfen würde. Meine Hand umkrampfte den kühlen Stein, den ich zu Beginn meiner Pilgerreise bekom- men hatte. Die Berührung rief leichte Schwingun- gen in mir hervor, und ich schauderte vor Wohlge- fühl. Er darf den Stein nicht bekommen, schwor ich mir. Aber die Krise ging ohne Zwischenfall vorüber. Nachdem der Kaufmann gesehen hatte, daß wir fest blieben, drängte er uns nicht mehr. Wir fuhren weiter nach Marsay. Er war kein liebenswerter Mensch, aber er besaß einen gewissen plumpen Charme, und seine Worte kränkten uns selten. Olmayne, die eine anspruchs- volle Frau war und die meiste Zeit ihres Lebens in der vornehmen Abgeschlossenheit des Gildehauses verbracht hatte, empfand mehr Abscheu vor ihm als ich. Die lange Wanderschaft hatte mich abgestumpft. Aber selbst Olmayne schien ihn amüsant zu finden, wenn er mit seinem Reichtum und seinem Einfluß, prahlte, wenn er von den Frauen sprach, die auf al- len möglichen Welten auf ihn warteten, wenn er sei- ne Häuser und Grundstücke aufzählte und die Vor- nehmen erwähnte, die seinen Rat gesucht hatten. Er sprach beinahe ausschließlich von sich, und dafür waren wir ihm dankbar; einmal fragte er, weshalb wir gemeinsam reisten. Er wollte wohl andeuten, daß wir eine Liaison hatten; wir gaben zu, daß so et- was nicht die Regel war, und schnitten ein anderes Thema an. Ich glaube, während der restlichen Rei- se war er von unserer Unkeuschheit überzeugt. Sei- ne billigen Verdächtigungen berührten weder mich noch Olmayne. Wir hatten eine schwere Schuld zu tragen. Das Leben unseres Kaufmanns schien sich durch den Niedergang des Planeten nicht verändert zu ha- ben: er war so reich und frei wie zuvor. Aber auch er ärgerte sich manchmal über die Anwesenheit der Invasoren, wie wir in der Nähe von Marsay heraus- fanden. Wir mußten an einem Kontrollpunkt halten. Suchstrahler meldeten unser Näherkommen an die Spinndrüsen, und ein goldenes Netz überspannte plötzlich die Straße von einer Böschung zur ande- ren. Die Sensoren des Reisewagens entdeckten es und brachten das Fahrzeug zum Stillstand. In den Bildschirmen sahen wir ein Dutzend blasse Men- schengesichter. »Banditen?« fragte Olmayne., »Schlimmer noch«, entgegnete der Kaufmann. »Verräter.« Mit gerunzelter Stirn trat er an das Mi- krophon. »Was gibt es?« fragte er. »Steigt aus! Wir müssen euch untersuchen.« »Auf wessen Befehl?« »Auf Befehl des Prokurators von Marsay.« Es war eine häßliche Szene. Menschen übernah- men die Schmutzarbeit der Invasoren. Aber es war unvermeidlich, denn es gab kaum Arbeit, vor al- lem für die Angehörigen der Verteidiger-Gilde. Der Kaufmann begann, die komplizierte Versiegelung des Wagens zu lösen. Zorn rötete sein Gesicht, aber er konnte nichts tun. Das Netz war unüberwindbar. »Ich bin bewaffnet«, flüsterte er uns zu. »Bleibt sit- zen und fürchtet nichts.« Er stieg aus und ließ sich in eine Diskussion mit den Straßenposten ein. Wir verstanden nichts. Nach einiger Zeit riefen die Posten ihre Vorgesetzten zu Hilfe, weil der Kaufmann offenbar nicht nachgab. Drei Invasoren tauchten auf und schickten die Po- sten weg. Sofort änderte sich die Haltung des Kauf- manns; seine Miene wurde unterwürfig, seine Au- gen glänzten, und er gestikulierte heftig. Er führte die drei Fremden zum Wagen, öffnete ihn und zeig- te ihnen die beiden Passagiere – uns. Die Invasoren schienen verblüfft, inmitten dieser Pracht zwei Pil- ger zu entdecken, aber sie verlangten nicht, daß wir ausstiegen. Nach einer längeren Diskussion setzte sich der Kaufmann zu uns und versiegelte das Fahr-, zeug. Das Netz wurde aufgelöst; wir fuhren weiter nach Marsay. Der Kaufmann fluchte leise vor sich hin und sag- te schließlich: »Wißt ihr, wie ich diese langarmigen Scheusale hinauswerfen würde? Wir brauchen ledig- lich einen koordinierten Plan. Eine Nacht der Mes- ser; je zehn Erdbewohner übernehmen einen Erobe- rer. Wir würden sie alle erwischen.« »Weshalb hat noch niemand so eine Bewegung or- ganisiert?« fragte ich. »Das ist Aufgabe der Verteidiger, und diejenigen, die nicht bei der Invasion umkamen, stehen im Dienst der Fremden. Meine Pflicht ist es nicht, eine Widerstandsgruppe aufzubauen. Aber so müßte man jedenfalls zu Werke gehen. Guerillakrieg – von hin- ten anschleichen, ein Messer in die Kehle. Gute alte Methoden des Ersten Zyklus’; sie haben ihre Wir- kung nie verloren.« »Andere Invasoren würden nachkommen«, mein- te Olmayne düster. »Die behandeln wir ebenso!« »Sie würden sich rächen und unsere Welt vernich- ten«, sagte sie. »Diese Invasoren behaupten, sie seien zivilisiert, jedenfalls zivilisierter als wir«, entgegnete der Kauf- mann. »Eine solche Barbarei würde man ihnen in Millionen Jahren noch ankreiden. Nein, sie könnten uns nicht einfach vernichten. Vielleicht würden sie es satt bekommen, so viele Leute zu verlieren. Viel-, leicht würden sie sich zurückziehen. Dann wären wir wieder frei.« »Ohne für unsere Sünden gebüßt zu haben«, sag- te ich. »Was heißt das, Alter?« »Es war unwichtig.« »Ich nehme an, ihr würdet nicht mitmachen, wenn wir uns zur Wehr setzen?« »In meinem früheren Leben war ich Wächter«, er- klärte ich. »Ich habe nichts anderes getan als den Planeten geschützt. Ich liebe die Eroberer auch nicht, und ich wünsche von ganzem Herzen, daß sie verschwinden. Aber Ihr Plan ist nicht nur un- durchführbar, er ist moralisch wertlos. Reine Gewalt würde die Absicht des Willens durchkreuzen. Wir müssen uns die Freiheit auf edlere Weise verdienen. Diese Prüfung wurde uns nicht auferlegt, damit wir neue Bluttaten vollbringen.« Er sah mich verächtlich an. »Ich habe ganz verges- sen, daß ich mit Pilgern spreche. Also schön, verges- sen wir die Sache. Ich meinte es nicht ernst. Viel- leicht gefällt euch die Welt sogar so, wie sie ist.« »Nein«, sagte ich. Er sah Olmayne an. Ich tat das gleiche, weil ich unterbewußt erwartete, daß sie dem Kaufmann von meinem Verrat erzählen würde. Aber Olmay- ne schwieg zum Glück, und sie schwieg noch vie- le Monate. Wir trennten uns in Marsay von dem Kaufmann, und verbrachten die Nacht in einer Pilgerherberge. Am nächsten Tage brachen wir zu Fuß auf und gin- gen die Küste entlang. Gelegentlich wurden wir von Bauern mitgenommen, und einmal waren wir so- gar die Gäste von Invasoren, die das Land besichtig- ten. Wir machten einen weiten Bogen um Roum, als wir nach Talya kamen, und wandten uns nach Sü- den. Und so erreichten wir die Landbrücke, wo wir aufgehalten wurden und ich eine bittere Nacht ver- brachte. Wir überquerten die schmale Landzunge und be- traten den Boden Afreeks. *, Nach dem langen Marsch verbrachten wir die erste Nacht jenseits der Landbrücke in einer schmuddeli- gen Herberge unweit des Seeufers. Es war ein weiß- gekalktes Bauwerk aus Stein, praktisch ohne Fenster und im Viereck um einen kühlen Innenhof angelegt. Die meisten Gäste waren Pilger, aber ich sah auch einige Mitglieder anderer Gilden, vor allem Hausie- rer und Lastenträger. In einem abgelegenen Raum wohnte ein Historiker, dem Olmayne geflissentlich aus dem Wege ging, obwohl sie ihn nicht kannte; sie wollte einfach nicht an ihre frühere Gilde erin- nert werden. Auch Bernalt hatte in unserer Herberge Unter- kunft gefunden. Die neuen Gesetze der Invasoren gestatteten es Mutanten, jeden öffentlichen Gasthof aufzusuchen; dennoch erschien es mir ein wenig merkwürdig, ihn hier anzutreffen. Wir begegneten einander im Korridor. Bernalt lächelte mir zögernd zu, als wollte er mich wieder ansprechen, aber dann wurde er ernst, und der Glanz in seinen Augen er- losch. Er schien zu erkennen, daß ich noch nicht bereit für seine Freundschaft war. Oder vielleicht erinnerte er sich nur, daß Pilger sich nicht um die Gildelosen kümmern durften. So verlangte es das Gildegesetz, und es war immer noch in Kraft. Olmayne und ich aßen eine fettige Suppe und ein Eintopfgericht. Danach brachte ich sie zu ih-, rem Zimmer und wollte ihr eben gute Nacht wün- schen, als sie sagte: »Warte! Wir wollen gemeinsam den Willen anflehen.« »Man hat gesehen, daß ich dein Zimmer betrat«, wandte ich ein. »Man wird tuscheln, wenn ich zu lange bleibe.« »Dann treffen wir uns eben in deinem Raum.« Olmayne warf einen Blick in den Korridor. Alles war leer. Sie nahm mich am Handgelenk, und wir huschten in das gegenüberliegende Zimmer. Als ich die Tür verschlossen hatte, sagte sie: »Jetzt deinen Sternstein!« Ich holte den Stein aus der verborgenen Tasche in meiner Kutte und nahm ihn fest in die Hand. Ol- mayne tat das gleiche. Während meiner Pilgerreise hatte ich den Stern- stein als starken Trost empfunden. Es war lange her, seit ich mich zum letztenmal in die Wächter-Tran- ce versetzt hatte, aber der Bruch mit dieser alten Ge- wohnheit machte mir immer noch zu schaffen. Der Sternstein stellte eine Art Ausgleich für die wilde Ekstase dar, die ich während der Wache erlebt hat- te. Sternsteine kommen von einem der äußeren Sy- steme – ich weiß nicht einmal, von welchem – und werden nur durch die Pilger-Gilde vergeben. Der Stein selbst bestimmt, ob man zum Pilger geeignet ist oder nicht, denn jeder Unwürdige, der die Kut- te anzieht, verbrennt sich die Hand an seiner Glut., Es heißt, daß jeder Pilger Unbehagen empfindet, wenn sich seine Finger zum erstenmal um den Stein schließen. »Hattest du Angst, als man dir den Stein über- reichte?« fragte Olmayne. »Natürlich.« »Ich auch.« Wir warteten, bis die Steine uns empfänglich für den Willen machen würden. Ich umkrampfte die winzige, glatte Kugel, die wie ein Hagelkorn in mei- ner Hand lag, und spürte die Energie des Willens. Zuerst nahm ich meine Umgebung schärfer als bisher wahr. Jeder Riß in den Wänden der alten Herberge schien sich zu einer Schlucht zu vertie- fen. Das leise Flüstern des Windes steigerte sich zu einem hohen Kreischen. Im schwachen Schimmer der Lampe sah ich Farben, die jenseits des Spek- trums lagen. Dieses Gefühl hatte nichts mit der Trance des Wa- chens zu tun. Wenn sich ein Wächter im Zustand der Aufnahmebereitschaft befindet, kann er sei- ne Erdenschwere überwinden und mit ungeahn- ter Geschwindigkeit durch das Universum jagen. Er sieht alles, nimmt alles wahr. Er ist eine Art Gott. Der Sternstein hingegen vermittelte mir keine Infor- mationen. Wenn ich mich ganz in seinem Bann be- fand, konnte ich nichts sehen. Ich hatte keine Ah- nung, wo ich war. Ich wußte nur, daß mich etwas ganz Großes umgab, daß mich die Matrix des Uni-, versums einschloß. Man konnte es Vereinigung mit dem Willen nennen. Wie aus weiter Ferne hörte ich Olmayne sagen: »Glaubst du, was einige Leute über diese Steine be- haupten? Daß es sich nicht um eine Vereinigung, sondern um eine elektrische Täuschung handelt?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, ent- gegnete ich. »Mir ist die Ursache nicht so wichtig wie die Wirkung.« Skeptiker sagen, daß die Sternsteine nichts ande- res als Verstärkerstromkreise sind, welche die Ge- hirnwellen eines Menschen aufnehmen und zu- rückwerfen; das gewaltige Wesen, mit dem man in Berührung kommt, ist nichts weiter als die donnern- de Vibration eines einzigen elektrischen Impulses, der vom Pilger selbst ausgeht. Olmayne streckte die Hand aus, die den Stein umschloß. »Tomis, hast du die Geschichte der frü- hen Religionen studiert, als du bei den Historikern warst? Schon immer hat der Mensch die Vereini- gung mit der Ewigkeit gesucht. Viele, wenn auch nicht alle Religionen sprechen von der Verschmel- zung mit dem Göttlichen.« »Und dann gab es diese Drogen«, warf ich ein. »Ja. Gewisse Drogen, die dem Süchtigen einen Mo- ment lang das Gefühl geben, eins mit dem Univer- sum zu sein. Diese Sternsteine, Tomis, stellen nur die letzte Entwicklung in einer langen Reihe von Hilfsmitteln dar, welche die Loslösung der Seele, vom Körper ermöglichen. Nur wenige andere Völ- ker würden diese Isolierung vom Willen ertragen. Die Menschheit nimmt in diesem Punkt eine Son- derstellung ein.« Ihre Stimme wurde flatternd und leise. Sie sagte noch viel; sie hatte die Weisheit der Historiker, aber ich verstand nicht mehr, was sie mir mitteilen woll- te. Mir gelang die Vereinigung immer rascher als ihr, da ich es als Wächter geübt hatte, mich in Aufnah- mebereitschaft zu versetzen. Ich umklammerte den Stein und spürte seine Küh- le. In der Ferne hörte ich einen mächtigen Gong, das Aufschlagen der Brandung an einem unbekannten Strand, das Rauschen des Windes in einem fremd- artigen Wald. Ich spürte eine Aufforderung. Und ich folgte ihr. Und ich ergab mich dem Willen. Und ich glitt durch die Schichten meines Lebens, durch meine Jugend und die späteren Jahre, mei- ne Wanderschaften, meine Freuden, mein Leid, mei- ne Liebe, mein überschattetes Alter, meinen Verrat, meine Schwächen, meine Kümmernisse. Und ich befreite mich vom Ich. Ich warf das Ich ab. Ich verschmolz mit dem Willen und wurde einer von tausend Pilgern, nicht nur Olmayne; einer von denen, die durch die Berge von Hind und durch den Sand von Arb zogen, die in Ais, Palash und Stralya beteten, die nach Jorslem zogen, ohne zu wissen, wann ihre Reise zu Ende sein würde. Und ich teil- te mit ihnen allen die Vereinigung. Und ich sah im, Dunkel ein rötliches Leuchten am Horizont, das im- mer stärker wurde, bis es alles einhüllte. Und ich befand mich in seinem Innern, unwürdig, unrein, ein Gefangener des eigenen Körpers. Ich gab mich dem Willen ganz hin und wollte nichts anderes als diese Loslösung vom Ich. Und ich wurde geläutert. Als ich erwachte, war ich allein. *, Ich kannte Afreek gut. Als junger Mann hatte ich viele Jahre im Herzen des dunklen Kontinents ge- lebt. Die Ruhelosigkeit trieb mich schließlich nach Norden, nach Agupt, wo die Überreste des Ersten Zyklus besser erhalten sind als an allen anderen Städten des Altertums. Damals jedoch kümmerte ich mich noch nicht um die Vergangenheit. Ich hielt Wa- che und wanderte von Ort zu Ort, da ich meinen Be- ruf überall ausüben konnte. Der Zufall führte mich mit Avluela zusammen, als mich eben wieder das Reisefieber gepackt hatte, und so verließ ich Agupt, um nach Roum und später nach Perris zu gehen. Nun war ich mit Olmayne zurückgekehrt. Wir blieben in Küstennähe und vermieden die Sandwü- sten des Landesinnern. Als Pilger waren wir kaum den Beschwerlichkeiten des Weges ausgesetzt; wir litten niemals Hunger und bekamen auch da Quar- tier, wo unsere Gilde keine Herberge unterhielt. Je- dermann zollte uns Respekt. Olmaynes große Schön- heit hätte eine Gefahr darstellen können, vor allem, da sie von einem schwachen Greis begleitet wurde, aber hinter der Maske und Kutte vermutete niemand eine aufreizende Frau. Ich hegte keinerlei Illusionen über die Rolle, die Olmayne mir zugedacht hatte. Ich gehörte zu ihrer Reiseausrüstung – ich half ihr bei der Vereinigung mit dem Willen, besorgte Quartier und räumte ihr, alle Schwierigkeiten aus dem Weg. Mit dieser Rolle gab ich mich zufrieden. Ich wußte, daß sie eine ge- fährliche Frau war, die ihre unberechenbaren Lau- nen durchsetzte. Deshalb vermied ich jeden Streit mit ihr. Sie besaß nicht die Reinheit der Pilger. Obwohl sie wie alle Pilger die Prüfung des Sternsteines be- standen hatte, war ihr Körper schwach geblieben. Manchmal verschwand sie für eine halbe Nacht und länger, und ich konnte mir vorstellen, daß sie in ir- gendeiner Hintergasse die Maske abstreifte und sich dem nächstbesten Diener hingab. Aber das war ihre Angelegenheit; ich verlor kein Wort darüber. Auch in unseren Unterkünften achtete sie nicht auf Schicklichkeit. Wir hatten natürlich, wie es Pflicht war, getrennte Räume, aber meist lagen sie nebeneinander, und Olmayne rief mich zu sich oder kam zu mir, wann immer es ihr gefiel. Oft genug war sie unbekleidet; den Höhepunkt des Grotesken erreichte sie, als sie in einer Augustnacht in Agupt nichts außer ihrer Gesichtsmaske trug. Das Bronze- gitter, das ihre Züge verbarg, stand im schroffen Ge- gensatz zu ihrem hellen Körper. Nur ein einzigesmal kam ihr der Gedanke, daß ich vielleicht auch einmal jung gewesen war und Leidenschaft gespürt hatte. Sie warf einen Blick auf meinen ausgezehrten Kör- per und fragte: »Was wird die Verjüngung wohl aus dir machen? Ich versuche mir vorzustellen, wie du in der Blüte deiner Jahre ausgesehen hast.«, Olmayne haßte die Hitze und Trockenheit von Agupt. Wir reisten hauptsächlich bei Nacht und blieben tagsüber in den Herbergen. Die Straßen wa- ren überfüllt. Offenbar zogen viele Pilger nach Jors- lem. Olmayne und ich überlegten, daß es bei diesem Zustrom lange dauern würde, bis man uns Zutritt zu den Wassern der Verjüngung gewährte. »Du bist noch nie zuvor verjüngt worden?« fragte sie. »Noch nie.« »Ich auch nicht. Es heißt, daß manche zurückge- wiesen werden.« »Die Verjüngung ist ein Privileg, kein Recht«, er- klärte ich. »Man kann nicht alle annehmen.« »Und ich habe auch gehört, daß die Wasser nicht immer verjüngend wirken.« »Davon weiß ich nichts.« »Einige werden älter anstatt jünger. Einige werden zu schnell jung und sterben. Es gibt Risiken.« »Würdest du diese Risiken nicht auf dich neh- men?« Sie lachte. »Nur ein Narr würde zögern.« »Du brauchst die Verjüngung noch nicht«, mein- te ich. »Du gehst nach Jorslem, damit du deine Seele läu- terst.« »Ich werde mich auch um meine Seele kümmern, wenn wir in Jorslem sind.« »Aber du sprichst, als sei der Schrein der Verjün- gung dein einziges Ziel.«, »Es ist das wichtigste«, sagte sie. Sie stand auf und streckte sich wohlig. »Gewiß, ich muß auch meine Sünden büßen. Aber glaubst du, daß ich all die Stra- pazen nur auf mich genommen habe, um meine See- le zu läutern?« »Ich jedenfalls habe es getan«, sagte ich. »Du bist alt und vertrocknet. Du mußt dich um deine Seele kümmern – und um deinen Leib. Aber auch ich würde gern ein paar Jahre abstreifen. Nicht zuviel. Acht, zehn Jahre. Die Zeit, die ich mit die- sem Schwachkopf Elegro verschwendet habe. Du hast recht; eine richtige Verjüngung brauche ich nicht.« Ihre Miene wurde düster. »Wenn so viele Pil- ger in der Stadt sind, lassen sie mich vielleicht gar nicht zu! Sie werden sagen, daß ich zu jung bin und in vierzig oder fünfzig Jahren wiederkommen soll. Tomis, könnten sie mir die Verjüngung tatsächlich verweigern?« »Das läßt sich schwer beurteilen.« Sie zitterte. »Dich lassen sie hinein. Du bist bereits ein wandelndes Skelett – dich müssen sie verjüngen. Aber ich – Tomis, ich lasse es nicht zu, daß sie mich zurückweisen. Und wenn ich ganz Jorslem umkrem- peln muß, irgendwie komme ich hinein.« Ich stellte mir insgeheim die Frage, ob sie die rich- tige Einstellung für eine Büßerin hatte. Wenn man Pilger wird, ist man zur Demut verpflichtet. Aber ich schwieg, denn ich fürchtete Olmaynes Zorn. Viel- leicht ließ man sie trotz ihrer Schwächen zu. Ol-, maynes Handeln wurde von Eitelkeit bestimmt; ich hatte andere Beweggründe. Ich war lange umherge- wandert und hatte viel getan. Nicht immer war ich ohne Sünde gewesen. Ich sehnte mich mehr nach ei- ner Läuterung der Seele als nach einer Verjüngung. Oder waren diese Gedanken auch Eitelkeit? *, Als wir ein paar Tage später durch eine ausgedörrte Landschaft nach Osten wanderten, kamen uns Dorf- kinder erregt und zitternd entgegengelaufen. »Bitte, kommt!« riefen sie. »Pilger, kommt!« Olmayne sah sie verwirrt und ärgerlich an, als sie an ihrer Kutte zerrten. »Was sagen sie, Tomis? Ich kann diesen verdammten Agupt-Dialekt nicht ver- stehen.« »Sie möchten, daß wir ihnen helfen«, sagte ich und hörte mir ihre wirren Bitten genauer an. »In ih- rem Dorf ist die Kristallkrankheit ausgebrochen. Sie wollen, daß wir den Willen um Gnade anflehen.« Olmayne zog sich zurück. Ich konnte mir vorstel- len, daß sich ihr Gesicht hinter der Maske verzerr- te. Abwehrend hob sie die Hände, als wollte sie die Kinder daran hindern, ihre Kutte zu berühren. Dann sagte sie zu mir: »Wir können nicht hingehen.« »Wir müssen.« »Wir haben es eilig. Jorslem ist überfüllt. Ich möchte meine Zeit nicht in einem elenden Dorf ver- schwenden.« »Sie brauchen uns, Olmayne.« »Sind wir Ärzte?« »Wir sind Pilger«, entgegnete ich ruhig. »Die Ver- günstigungen, die wir erhalten, bringen auch Ver- pflichtungen mit sich. Wir genießen die Gastfreund- schaft der anderen Menschen und müssen dafür, unsere Seelen den Armen und Kranken zur Verfü- gung stellen. Komm.« »Nein.« »Du mußt in Jorslem einen Reisebericht abgeben, Olmayne.« »Es ist eine schreckliche Krankheit. Wenn wir uns nun anstecken?« »Davor hast du Angst? Vertraue auf den Willen! Wie kannst du eine Verjüngung erwarten, wenn dei- ne Seele ohne Tugend ist?« »Die Knochen sollen dir im Leib verfaulen«, sag- te sie leise. »Seit wann bist du so fromm? Du tust das absichtlich, weil ich dich an der Landebrücke gekränkt habe. In einem Augenblick der Schwäche habe ich dich verspottet, und deshalb rächst du dich so abscheulich. Das darfst du nicht, Tomis.« Ich achtete nicht auf ihre Anschuldigungen. »Die Kinder werden unruhig, Olmayne. Willst du hier auf mich warten, oder ins nächste Dorf weitergehen und dort Quartier nehmen?« »Du kannst mich nicht mitten in der Wildnis al- lein lassen.« »Ich muß mich um die Kranken kümmern.« Schließlich begleitete sie mich – nicht aus ei- ner plötzlich erwachten Hilfsbereitschaft, sondern vermutlich aus Furcht, ihre egoistische Weigerung könnte in Jorslem irgendwie gegen sie verwendet werden. Kurz danach kamen wir in das Dorf. Es war klein und verfallen, denn Agupt liegt in einem nie-, derdrückenden Hitzeschlaf und hat sich seit Jahr- tausenden kaum verändert. Der Gegensatz zu den betriebsamen Industriestädten weiter im Süden Af- reeks ist stark. Von der Hitze gepeinigt, folgten wir den Kindern in die Hütten der Kranken. Die Kristallkrankheit ist von den Sternen bei uns eingeschleppt worden. Die Erdbewohner sind zum Glück immun gegen die meisten Leiden fremder Rassen; aber Touristen von den Speerwelten haben diese Pest zu uns gebracht, und sie hat sich seit- dem auf der Erde eingenistet. Hätte sich das in den Tagen des Zweiten Zyklus zugetragen, so wäre die Krankheit wohl in wenigen Tagen ausgemerzt wor- den; aber wir besitzen nicht mehr das medizinische Geschick unserer Vorfahren, und kein Jahr verging, ohne daß irgendwo die Seuche auftrat. Olmayne zit- terte vor Angst, als wir die erste Lehmhütte betra- ten. Es gibt keine Hoffnung für jemanden, der von der Kristallkrankheit befallen ist. Man kann nur be- ten, daß die Gesunden verschont bleiben; und zum Glück ist die Ansteckungsgefahr nicht groß. Es ist eine schleichende Krankheit, die auf unbekannte Weise übertragen wird; oft bleiben Verwandte des Opfers verschont, und die Seuche bricht in einem entfernten Stadtteil oder gar in einem anderen Land aus. Das erste Symptom ist eine Schuppenbildung auf der Haut; die Stellen beginnen zu jucken und, entzünden sich. Es folgt eine Schwächeperiode, während der sich der Knochenkalk auflöst. Man wird schlaff und müde, aber das ist erst das Frühsta- dium der Krankheit. Bald danach verhärten sich die Außengewebe. Dicke, undurchsichtige Häute über- ziehen die Augen; manchmal verschließen sie auch die Nasenlöcher. In dieser Phase besitzt der Kranke oft hellsehe- rische Fähigkeiten. Die Seele trennt sich mitunter stundenlang vom Körper, aber die Lebensfunktionen werden dadurch nicht beeinträchtigt. Dann, etwa zwanzig Tage nach Ausbruch der Krankheit, setzt die Kristallisierung ein. Während sich die Knochen auflösen, bekommt die Haut Risse und Sprünge, und es bilden sich glänzende Kristalle in geometrischen Mustern. Das Opfer sieht aus, als sei es von Diaman- ten umhüllt. Die Kristalle strahlen violett, grün und rot; von Stunde zu Stunde verändern sich die Facet- ten; wenn das Krankenzimmer beleuchtet ist, schil- lert der Patient in allen Farben. Während dieser Zeit verändert sich der Organis- mus des Kranken unaufhörlich, als sei er eine fremd- artige Larve. Wie durch ein Wunder bleibt das Leben erhalten; allerdings hat der Patient in dieser Phase keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Vermutlich nimmt er auch die Veränderungen nicht wahr, die in ihm vorgehen. Und dann ergreift die Metamor- phose die lebenswichtigen Organe und kommt ins Stocken. Die Krise erreicht rasch ihren Höhepunkt:, ein kurzer Krampf, eine letzte Energieentladung des Nervensystems, der Kranke bäumt sich auf, Kristalle klirren, und alles ist vorbei. Auf dem Ursprungspla- neten ist die Kristallisierung keine Krankheit, son- dern eine echte Metamorphose, das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung zu einer Symbiose hin. Leider fehlt diese Evolution auf der Erde, und so bringt die kristalline Umwandlung für die Befal- lenen unweigerlich den Tod. Da der Prozeß sich nicht aufhalten läßt, konnten Olmayne und ich die unwissenden und verstörten Dorfbewohner nur trösten. Ich sah sofort, daß die Krankheit den Ort schon vor einiger Zeit erreicht hatte. Jedes Stadium war vertreten, von leichten Rötungen bis zur vollständigen Kristallisierung. Zu meiner Linken lagen in einer düsteren Reihe die neu Erkrankten. Sie waren bei vollem Bewußtsein und hatten eine klare Vorstellung von dem entsetzlichen Ende, das sie erwartete. An der rückwärtigen Wand befanden sich auf Strohmatten fünf Patienten in der Hellseher-Phase. Rechts von mir warteten diejeni- gen, die bereits von der Kristallisierung befallen wa- ren. Einer davon schien dem Tode nahe; sein Körper schillerte in einer geradezu schmerzhaften Schön- heit. Falsche Rubine, Smaragde und Opale leuchte- ten auf; er selbst dämmerte im Innern dieses Kokons dahin. Niemand kannte seine Gedanken. Olmayne zuckte zurück, als wir über die Schwel- le traten., »Es ist furchtbar«, flüsterte sie. »Ich gehe nicht hinein!« »Wir müssen. Es ist unsere Pflicht.« »Ich bin nicht freiwillig der Pilger-Gilde beigetre- ten.« »Du wolltest Vergebung«, erinnerte ich sie. »Du mußt sie dir verdienen.« »Wir werden uns die Krankheit zuziehen!« »Der Wille kann sie uns überall schicken, Olmay- ne. Sie taucht ganz zufällig auf. Die Gefahr ist für uns hier nicht größer als etwa in Perris.« »Aber weshalb haben sich so viele Dorfbewohner infiziert?« »Das Dorf wird vom Willen gestraft.« »Laß diesen mystischen Unsinn«, entgegnete sie erbittert. »Ich habe dich immer für einen vernünfti- gen Mann gehalten. Offenbar habe ich dich falsch eingeschätzt. Dein Fatalismus ist widerlich.« »Ich habe gesehen, wie meine Welt erobert wur- de«, entgegnete ich. »Ich habe miterlebt, wie der Fürst von Roum fiel. Solche Dinge verändern die Haltung eines Menschen. Komm jetzt, Olmayne.« Wir betraten die Hütte. Olmayne zögerte immer noch. Auch mich ergriff Furcht, aber ich verbarg sie. Ich war beinahe zu selbstgefällig in meiner Fröm- migkeit gewesen, als ich die schöne Historikerin zu- rechtwies, denn nun verstand ich ihre Gefühle ein wenig., Ich zwang mich zur Ruhe. Es gibt verschiedene Arten der Sühne, überlegte ich. Wenn ich durch Krankheit sühnen soll, dann werde ich mich dem Willen beugen. Vielleicht kam Olmayne zu der gleichen Entschei- dung, oder ihr Gefühl für das Dramatische dräng- te ihr die Rolle der Samariterin auf. Sie machte die Runde mit mir. Wir gingen mit gesenkten Köpfen von Strohmatte zu Strohmatte und hielten die Stern- steine fest in der Hand. Wir sprachen mit den Kran- ken. Wir lächelten, als die eben erst Erkrankten uns um Trost anflehten. Wir beteten. Olmayne blieb vor einem Mädchen stehen, dessen Augen sich bereits mit einer dünnen Haut überzogen hatten. Sie knie- te nieder und hielt den Sternstein an die schuppige Wange der Kleinen. Das Mädchen murmelte Orakel, aber wir verstanden ihre Sprache nicht. Schließlich kamen wir zu dem Mann, der sich im Endstadium der Krankheit befand. Die Kristallisie- rung um seinen Körper wirkte wie ein Prunksarg. Ir- gendwie hatte ich die Furcht verloren, ebenso wie Olmayne, denn wir standen lange schweigend da und betrachteten die groteske Szene. Schließlich flüsterte Olmayne: »Wie schrecklich! Wie wunder- bar. Wie schön!« Drei weitere Hütten erwarteten uns. Die Dorfbewohner drängten sich an den Eingän- gen. Wenn wir die Hütten verließen, fielen die Ge- sunden vor uns auf die Knie, berührten den Saum, unserer Kutten und riefen mit schrillen Stimmen, daß wir den Willen um Gnade anflehen sollten. Wir versuchten sie zu trösten, ohne ihnen falsche Hoff- nungen zu machen. Die Erkrankten hörten sich un- sere Worte stumpf und gleichgültig an, als hätten sie erkannt, daß es für sie keine Rettung mehr gab; die Gesunden hingegen klammerten sich an jede Silbe. Der Vorsteher des Dorfes – eigentlich sein Vertreter, denn der echte Vorsteher war erkrankt – dankte uns immer wieder, als hätten wir tatsächlich etwas für die Bewohner getan. Zumindest hatten wir Trost ge- spendet, und das darf nicht verachtet werden. Als wir die letzte Krankenhütte verließen, sahen wir in der Ferne eine schmale Gestalt, die uns be- obachtete: der Mutant Bernalt. Olmayne stieß mich an. »Diese Kreatur hat uns verfolgt, Tomis. Von der Landbrücke bis hierher!« »Er reist auch nach Jorslem.« »Ja, aber weshalb hält er hier an? Weshalb ausge- rechnet an diesem gräßlichen Ort?« »Still, Olmayne. Sei wenigstens jetzt höflich zu ihm!« »Zu einer Mißgeburt!« Bernalt kam näher. Der Mutant war in ein weiches weißes Gewand gekleidet, das seine abstoßende Er- scheinung etwas milderte. Er deutete traurig zum Dorf hinüber und sagte: »Eine große Tragödie! Der Wille hat diesen Ort schwer gestraft.«, Er erklärte, daß er einige Tage zuvor hier angekom- men sei und einen Freund aus seiner Heimat Nay- rub getroffen habe. Ich nahm an, daß er einen Mu- tanten meinte, aber nein, Bernalts Freund war Arzt. Wie der Mutant erzählte, habe er versucht, etwas für die Erkrankten zu tun. Der Gedanke, daß Bernalt mit einem Arzt befreundet war, mutete seltsam an, und Olmayne fand ihn geradezu obszön. Sie gab sich keine Mühe, ihre Verachtung für den Mutanten zu verbergen. Eine teilweise kristallisierte Gestalt wankte aus ei- ner der Hütten und tastete blindlings umher. Bernalt nahm den Kranken am Arm und führte ihn vorsich- tig in die Hütte zurück. Als er wieder zu uns kam, meinte er: »Manchmal bin ich fast froh, daß ich zu den Mutanten gehöre. Wir sind nämlich immun ge- gen die Kristallisierung.« Seine Augen wirkten mit einemmal traurig. »Störe ich euch, Pilger? Ihr wirkt so eisig hinter euren Masken. Ich tue keinem Men- schen etwas. Soll ich mich zurückziehen?« »Aber nein«, erwiderte ich, obwohl ich das Ge- genteil meinte. Seine Gegenwart beunruhigte mich; vielleicht hatte ich mich doch von Olmaynes Ver- achtung anstecken lassen. »Bleib eine Weile bei uns. Ich würde dich einladen, mit uns nach Jorslem zu reisen, aber du weißt, daß die Gilde es uns verbie- tet.« »Natürlich. Ich verstehe.« Er war kühl und höf- lich, aber er konnte seine innere Bitterkeit nicht ver-, heimlichen. Die meisten Mutanten sind so tierhaft und primitiv, daß sie nicht wissen, wie sehr sie von normalen Menschen verachtet werden; Bernalt hin- gegen besaß die Gabe des Verstehens, und sie mußte peinigend für ihn sein. Aber er lächelte bald wieder und deutete nach vorn. »Mein Freund kommt.« Drei Gestalten näherten sich. Eine war Bernalts Arzt, ein schlanker, dunkelhäutiger Mann mit sanf- ter Stimme, müden Augen und hellem Haar. In sei- ner Begleitung befand sich ein höherer Beamter der Invasoren und ein anderer Fremdling. »Ich hör- te, daß zwei Pilger hierhergerufen wurden«, sagte der Eroberer. »Ich danke euch, daß ihr den Leiden- den Trost gespendet habt. Ich bin Erdbeanspruchter Neunzehn; dieser Distrikt gehört zu meinem Verwal- tungsgebiet. Darf ich euch heute abend zum Essen einladen?« Ich wußte nicht, ob ich die Gastfreundschaft des Eroberers annehmen konnte, und Olmaynes plötz- liches Zusammenzucken verriet mir, daß auch sie zögerte. Erdbeansprucher Neunzehn schien sich auf unseren Besuch zu freuen. Er war etwas klei- ner als die meisten anderen seiner Rasse, und die schlecht proportionierten Arme hingen ihm bis un- ter die Knie. Die brennende Sonne Agupts hatte sei- ner wachsartigen Haut einen starken Glanz gegeben; aber man konnte nicht sagen, daß er schwitzte. Als das Schweigen peinlich zu werden drohte, mischte sich der Arzt ein. »Ihr könnt ruhig zusagen., In diesem Dorf sind wir alle Brüder.« Wir nahmen die Einladung an. Erdbeansprucher Neunzehn besaß ein Landhaus am Ufer des Mitt- leren Sees; im klaren Licht des Spätnachmittags glaubte ich auf der gegenüberliegenden Seite die Landbrücke und sogar Eyrop zu erkennen. Angehö- rige der Diener-Gilde brachten uns kühle Getränke in den Patio. Der Eroberer hatte viel Personal, alles Erdgeborene; für mich war das ein weiteres Zeichen, daß man sich an die Invasoren gewöhnt hatte und sie akzeptierte. Wir unterhielten uns bis lange nach Einbruch der Dämmerung und beobachteten die farbenprächtigen Nordlichter am Himmel. Bernalt, der Mutant, son- derte sich allerdings ein wenig ab. Vermutlich fühl- te er sich in unserer Gegenwart nicht wohl. Auch Olmayne wirkte schweigsam und zurückgezogen; das Erlebnis im Dorfe hatte sie beeindruckt, und Bernalts Nähe machte sie unsicher. Sie wußte nicht, wie sie den Mutanten behandeln sollte. Unser Gast- geber, der Eroberer, war charmant und aufmerksam und versuchte sie aufzuheitern. Ich hatte schon frü- her charmante Invasoren kennengelernt. Mit einem, der sich als erdgeboren ausgab, war ich sogar in den Tagen vor der Eroberung zusammen gewesen. Erd- beansprucher Neunzehn war auf seiner Heimatwelt Dichter. »Ich verstehe nicht, wie ein Mann von Ih- ren Neigungen zur Besatzungsmacht gehört«, sag- te ich., »Jede neue Erfahrung gibt der Kunst Impulse«, entgegnete Erdbeansprucher Neunzehn. »Zudem bin ich kein Krieger, sondern Verwaltungsbeam- ter. Erscheint es dir so merkwürdig, daß ein Dich- ter zugleich Beamter oder ein Beamter Dichter ist?« Er lachte. »Unter euren vielen Gilden gibt es keine Dichter-Gilde. Weshalb?« »Wir haben die Kommunikanten. Sie dienen den Musen«, erklärte ich. »Aber im rein religiösen Sinn. Sie sind Interpre- ten des Willens und schöpfen nicht aus der eige- nen Seele.« »So etwas läßt sich nicht trennen. Ihre Verse ent- stehen durch göttliche Inspiration, werden aber doch in der Seele der Kommunikanten geformt.« Mein Argument schien Erdbeansprucher Neun- zehn nicht zu überzeugen. »Man könnte sagen, daß die gesamte Dichtkunst religiösen Ursprungs ist. Aber die Werke der Kommunikanten sind vom The- ma her zu beschränkt. Sie befassen sich nur mit der Ergebung in den Willen.« »Ein Paradoxon«, warf Olmayne ein. »Der Wille umfaßt alles, und doch sagen Sie, daß die Thematik der Kommunikanten beschränkt ist.« »Meine Freunde, es gibt andere Dinge als das Auf- gehen im Willen. Die Liebe zwischen zwei Men- schen beispielsweise, der Kampf um das Vaterland, die Bewunderung der Sterne …« Der Eroberer lach- te. »Könnte es sein, daß die Erde so rasch fiel, weil, ihre Poeten die Ergebung in das Geschick predig- ten?« »Die Erde fiel, weil der Wille verlangte, daß wir für die Sünden unserer Vorfahren büßen«, meinte der Arzt. »Das hat wenig mit unseren Dichtern zu tun.« »Der Wille hat also befohlen, daß ihr die Strafe auf euch nehmt, oder? Aber wenn der Wille allmächtig ist, dann hat er auch die Sünde eurer Vorfahren be- fohlen. Nun? Weicht der Wille von seinem eigenen Weg ab? Seht ihr, wie schwer es ist, an eine göttli- che Macht zu glauben, die alle Ereignisse bestimmt? Wo bleibt das Element der freien Entscheidung, wel- ches das Leiden erst sinnvoll macht? Euch zur Sün- de und dann zur Buße zu zwingen, erscheint mir eine hohle Ausrede. Verzeiht meine Lästerung!« »Sie mißverstehen diese Dinge«, erwiderte der Arzt. »Alles, was sich auf diesem Planeten ereignet, ist Teil einer Moralerziehung. Der Wille formt nicht jeden Handlungsablauf bis in die Einzelheiten. Er liefert das Rohmaterial und läßt es zu, daß wir es nach unseren Wünschen gestalten.« »Zum Beispiel?« »Der Wille stattete die Erdgeborenen mit Fähigkei- ten und Kenntnissen aus. Während des Ersten Zy- klus überwanden wir in kurzer Zeit die primitiven Lebensformen. Im Zweiten Zyklus steigerten wir uns zur Größe. Und dann wurden wir stolz und über- schritten die Grenzen, die uns der Wille gesetzt hat-, te. Wir nahmen intelligente Geschöpfe fremder Ras- sen unter dem Vorwand des ›Studiums‹ gefangen, obwohl wir in Wirklichkeit nur Amüsement such- ten. Und wir veränderten das Klima unseres Plane- ten so lange, bis sich die Meere vereinigten, Konti- nente sanken und die Zivilisation zerstört wurde. Auf diese Weise lehrte uns der Wille, daß es Schran- ken für den menschlichen Ehrgeiz gibt.« »Diese düstere Philosophie gefällt mir nicht«, warf Erdbeansprucher Neunzehn ein. »Ich …« »Darf ich mein Beispiel zu Ende führen?« fragte der Arzt. »Der Zusammenbruch des Zweiten Zyklus war unsere Strafe. Die Eroberung der Erde im Drit- ten Zyklus ist eine Vollendung dieser Strafe, aber auch der Beginn einer neuen Phase. Ihr seid die In- strumente unserer Läuterung. Durch die Eroberung habt ihr uns die tiefste Demütigung beigebracht, die es überhaupt gibt; nun werden unsere Seelen erneu- ert, nun können wir uns wieder aus dem Staub er- heben.« Ich starrte den Arzt mit neu erwachtem Interes- se an. Er sprach Gedanken aus, die ich während der Wanderung immer wieder empfunden hatte, Gedan- ken über meine persönliche Läuterung und die der gesamten Erde. Bisher hatte ich zuwenig auf den Arzt geachtet. »Darf ich etwas sagen?« Es war Bernalt, der sich zum erstenmal seit Stunden zu Wort meldete. Wir sahen ihn an. Die Pigmentstreifen in seinem, Gesicht leuchteten, ein Zeichen der großen Erre- gung, in der er sich befand. Er wandte sich an den Arzt: »Mein Freund, wenn du von der Erlösung der Erde sprichst, meinst du dann alle Erdgeborenen oder nur die Gilde-Ange- hörigen?« »Natürlich alle Erdgeborenen«, entgegnete der Arzt sanft. »Sind wir nicht alle besiegt worden?« »Gewiß. Aber das ist unsere einzige Gemeinsam- keit. Kann es Erlösung für einen Planeten geben, der Millionen seiner Geschöpfe zu einem Zustand der Gildelosigkeit zwingt? Ich spreche von meinesglei- chen. Wir haben vor langer Zeit gesündigt, als wir dachten, wir könnten jene bestrafen, die uns als Un- geheuer geschaffen hatten. Wir wollten euch Jorslem entreißen. Dafür wurden wir bestraft, und unsere Strafe hat tausend Jahre lang gedauert. Wir sind im- mer noch Ausgestoßene, oder nicht? Wo bleibt un- sere Hoffnung auf Erlösung? Könnt ihr Gilde-Ange- hörigen Läuterung und Tugendhaftigkeit erreichen, solange ihr uns mit Füßen tretet?« Der Arzt sah ihn traurig an. »Du sprichst unbeson- nen, Bernalt. Ich weiß, daß die Mutanten unter ih- rem Los leiden. Aber dir sollte ebenso klar wie mir sein, daß die Zeit der Erlösung nahe ist. In nicht all- zu ferner Zukunft werdet ihr neben uns stehen und gemeinsam mit uns die Freiheit erringen.« Bernalt starrte zu Boden. »Verzeih mir, Freund. Na- türlich, du sprichst die Wahrheit. Ich ließ mich von, meinen Gefühlen fortreißen. Die Wärme und der herrliche Wein – wie dumm von mir!« Erdbeansprucher Neunzehn wandte sich an den Arzt. »Wollt ihr etwa sagen, daß sich eine Wider- standsbewegung bildet, die uns von der Erde ver- treiben möchte?« »Meine Worte waren abstrakt gemeint«, entgegne- te der Arzt. »Auch eure Widerstandsbewegung wird abstrakt bleiben«, meinte der Eroberer leichthin. »Verzeiht, aber in einem Planeten, der sich in einer Nacht be- siegen läßt, steckt keine Kraft. Wir glauben, daß wir lange auf der Erde weilen können, ohne den gering- sten Widerstand auszulösen. Die Bevölkerung ist uns nicht feindlich gesinnt. Im Gegenteil, sie akzep- tiert uns immer mehr.« »Das gehört mit zur Entwicklung«, sagte der Arzt. »Als Dichter müssen Sie wissen, daß jedes Wort ver- schiedene Deutungen haben kann. Es ist nicht un- bedingt nötig, die Eroberer zu besiegen, um die Frei- heit zu erlangen. Drücke ich mich poetisch genug aus?« »Glänzend«, meinte Erdbeansprucher Neunzehn und erhob sich. »Wollen wir nun essen?« *, Das Thema wurde nicht mehr aufgegriffen. Eine philosophische Unterhaltung läßt sich während des Abendessens nur schwer aufrechterhalten, und un- serem Gastgeber schien die Analyse vom Geschick der Erde nicht zu behagen. Nach kurzer Zeit ent- deckte er, daß Olmayne früher der Historiker-Gilde angehört hatte. Er befragte sie eingehend über die Dichtkunst der Vergangenheit. Wie die meisten In- vasoren besaß er eine unersättliche Neugier, was un- sere Geschichte betraf. Olmayne taute allmählich auf und erzählte ausführlich über ihre Forschungsarbei- ten in Perris. Sie plauderte mit großer Sachkenntnis, und Erdbeansprucher Neunzehn warf gelegentlich eine kluge Frage ein, die verriet, daß er Bildung be- saß. Inzwischen labten wir uns an den Köstlichkei- ten ferner Welten, die vielleicht jener fette, prahleri- sche Kaufmann importiert hatte. Das Landhaus war kühl, und die Diener behandelten uns aufmerksam; das Bauerndorf mit seinen Kranken hätte ebensogut in einer anderen Galaxis liegen können, obwohl es nur eine halbe Stunde Wegs von uns entfernt war. Als wir uns am nächsten Morgen von unserem Gastgeber verabschiedeten, fragte der Arzt, ob er sich uns anschließen dürfe. »Ich kann hier nichts mehr tun«, erklärte er. »Als ich vom Ausbruch der Krankheit hörte, kam ich von meiner Heimatstadt in Nayrub hierher. Ich blieb viele Tage, mehr um zu, trösten, als um zu helfen. Nun werde ich in Jorslem gebraucht. Wenn es aber gegen euer Gesetz geht, in Gesellschaft Fremder zu reisen …« »Bitte, begleite uns«, sagte ich. »Ich habe noch einen Gefährten«, entgegnete der Arzt. Er meinte damit den Fremden, den wir im Dorf an- getroffen hatten, ein überaus rätselhaftes Geschöpf. Auf den gelenkigen drei Beinen saß ein pfahlähnli- cher, nach oben spitz zulaufender Körper; die Haut des Fremden war rauh und knallrot; Augenreihen waren senkrecht an drei Seiten des kegeligen Kop- fes angeordnet. Das Wesen stammte aus der Golde- nen Spirale; ich hatte noch nie zuvor einen Vertre- ter seiner Rasse gesehen. Der Arzt erzählte, daß er auf die Erde gekommen sei, um Informationen zu sammeln und daß er bereits Stralya und Ais durch- streift habe. Nun besichtigte er die Länder am Ran- de des Mittleren Sees; und nach einem kurzen Auf- enthalt in Jorslem wollte er nach Eyrop aufbrechen. Mit seinen starr geöffneten Augen und seinem feier- lichen Gang erinnerte er an eine Maschine oder an einen Gedächtnisspeicher, aber nicht an ein leben- des Geschöpf. Der Arzt verabschiedete sich von seinem Freund, dem Mutanten, der sich allein auf den Weg machte, und stattete den Kranken des nahegelegenen Dorfes noch einen Besuch ab. Wir begleiteten ihn nicht, da es uns sinnlos erschien. Als er zurückkehrte, war, seine Miene düster. »Vier neue Fälle«, sagte er. »Das ganze Dorf wird aussterben. Bisher trat die Krank- heit auf der Erde noch nie so konzentriert auf.« »Wird sie sich weiter ausbreiten?« fragte ich. »Wer weiß? In den angrenzenden Dörfern wur- de niemand davon befallen. Die Leute sehen darin eine göttliche Vergeltungsmaßnahme für irgendwel- che unbekannten Sünden.« »Was könnten diese armseligen Bauern getan ha- ben, um einen so heftigen Zorn des Willens zu ent- fachen?« »Das fragen sie sich auch«, entgegnete der Arzt. Olmayne meinte: »Wenn neue Fälle aufgetreten sind, dann war unser gestriger Besuch umsonst. Wir haben unser Leben riskiert und ihnen keinen Nut- zen gebracht.« »Falsch«, widersprach der Arzt. »Diese Menschen trugen den Krankheitskeim gestern bereits in sich. Wir können hoffen, daß sich die Kristallisierung nicht auf die Gesunden überträgt.« Seine Stimme klang allerdings skeptisch. Olmayne untersuchte sich täglich nach Sympto- men der Krankheit, aber sie entdeckte nichts. Sie belästigte den Arzt wegen echter und eingebilde- ter Rötungen auf der Haut und brachte ihn in Verle- genheit, indem sie ihre Maske abnahm und ihm ein Pünktchen auf ihrer Wange zeigte. Der Arzt war jedoch ein geduldiger, kluger Mann, der alles mit Anstand ertrug. Er stammte aus Afreek, und war bereits bei seiner Geburt in die Ärzte-Gilde eingetragen worden, da die Kunst des Heilens hier als Familientradition gepflegt wurde. Auf seinen Rei- sen hatte er viel von der Welt gesehen, und er besaß ein gutes Gedächtnis. Er erzählte uns von Roum und Perris, von den Frostblumenfeldern in Stralya, von meiner eigenen Heimat auf den Westinseln des Ver- lorenen Kontinents. Er befragte uns taktvoll über die Sternsteine und ihre Wirkung, und als er erfuhr, daß ich früher Wächter gewesen war, wollte er viel über die Instrumente wissen, mit deren Hilfe ich den Himmel abgesucht hatte. Er erkundigte sich, was ich wahrgenommen hatte und wie die Wahrnehmungen meiner Meinung nach zustande gekommen waren. Ich antwortete ausführlich, aber ich wußte selbst sehr wenig über diese Dinge. Gewöhnlich blieben wir auf dem schmalen Strei- fen fruchtbaren Landes, der an den See anschloß, aber einmal überredete uns der Arzt, einen Umweg in die glühende Wüste zu machen. Er wollte uns et- was Interessantes zeigen. Wir reisten zu diesem Zeitpunkt in einem offenen Wagen, den der Arzt gemietet hatte. Heftige Wind- böen bliesen uns Sandkörner ins Gesicht. Auch der Fremde litt unter dem Sand; ich sah, wie er seine Augenreihen immer wieder mit einer blauen Trä- nenflüssigkeit reinwusch. Wir duckten uns so gut wie möglich vor den Windstößen. »Da sind wir«, verkündete der Arzt schließlich., »Ich besuchte diesen Ort einmal vor langer Zeit, als ich mit meinem Vater unterwegs war. Wir gehen hinein, und dann sagt uns Olmayne, wo wir uns be- finden.« Es handelte sich um ein zweistöckiges Gebäude aus weißem Glas. Die Türen wirkten versiegelt, aber sie reagierten auf den leisesten Druck. Licht schim- merte auf. In langen Reihen standen Tische, mit Instrumen- ten bestückt. Ich verstand überhaupt nichts. Da wa- ren Vorrichtungen, die wie Hände aussahen; Leitun- gen führten von sonderbaren Metallhandschuhen zu glänzenden verschlossenen Schränken, und Spiegelanordnungen projizierten Bilder aus diesen Schränken an riesige Deckenschirme. Der Arzt schob seine Finger in einen der Handschuhe und bewegte sie; die Bildschirme leuchteten auf, und ich sah, wie sich winzige Nadeln durch kleine Schläuche beweg- ten. Er ging zu anderen Maschinen, die unbekann- te Flüssigkeiten verströmten; er drückte auf kleine Knöpfe und löste dadurch melodische Klänge aus; er bewegte sich lässig durch dieses alte Labor, das immer noch zu funktionieren schien. Olmayne war erregt. Sie folgte dem Arzt von ei- nem Tisch zum anderen und berührte alles. »Nun, Olmayne?« fragte er schließlich. »Was ist das?« »Ein Operationssaal«, entgegnete sie leise. »Ein Operationssaal aus den Jahren der Magie.«, »Wunderbar! Ganz recht!« Auch der Arzt wirk- te erregt. »Wir könnten hier schillernde Ungeheuer herstellen. Wir könnten Wunder wirken. Schmetter- linge, Schwimmer, Mutanten, Kletterer – alle mögli- chen Gilden entstanden hier.« »Man hat mir diese Operationssäle beschrieben«, sagte Olmayne. »Es gibt insgesamt sechs, nicht wahr? Einen in Nordeyrop, einen in Palash, einen hier, einen tief im Süden von Afreek, einen in West- Ais und einen …« Sie stockte. »In Hind!« half er ihr. »Ja, natürlich in Hind – der Heimat der Schmet- terlinge.« Die Ehrfurcht der beiden war ansteckend. »Hier wurden neue Menschenformen geschaffen?« fragte ich. »Wie ging das vor sich?« Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Wir kennen diese Kunst nicht mehr. Die Jahre der Magie sind längst vorbei, alter Mann.« »Ja, ich weiß. Aber wenn wir die Ausrüstung noch besitzen, könnten wir doch …« »Mit diesen Messern hat man in das Gewebe der Ungeborenen geschnitten«, erklärte der Arzt, »und den menschlichen Samen verändert. Der Chirurg schob seine Hände hier und hier hinein …« Er deu- tete auf die Metallhandschuhe – »und die Messer im Inkubator taten ihre Arbeit. Es entstanden die Schmetterlinge und alle anderen Neuschöpfungen. Sie waren fortpflanzungsfähig. Einige Arten sind, heutzutage ausgestorben, aber unsere Mißgebur- ten und Schmetterlinge haben ihren Ursprung in einem dieser Operationssäle genommen. Die Mu- tanten waren natürlich auf Fehlgriffe der Ärzte zu- rückzuführen. Man hätte sie nicht am Leben las- sen sollen.« »Ich dachte, diese Ungeheuer seien Produkte von teratogenetischen Drogen«, sagte ich. »Und nun be- hauptest du, daß die Mutanten von Chirurgen ins Leben gerufen wurden.« »Beides ist richtig«, entgegnete er. »Die Mutan- ten, die es heutzutage gibt, stammen tatsächlich von Fehlentwicklungen ab. Aber oft genug nehmen werdende Mütter dieser Gruppe teratogenetische Drogen, um die Monstrosität ihrer Kinder noch zu erhöhen. Auf diese Weise lassen sich die armen Ge- schöpfe besser verkaufen. Ja, viele Mutanten haben nicht nur ein häßliches Aussehen, sondern auch eine häßliche Gesinnung. Kein Wunder, daß die Gil- de aufgelöst wurde. Wir …« Etwas Glänzendes flog um Handbreite an seinem Gesicht vorbei. Er ließ sich zu Boden fallen und rief uns zu, in Deckung zu gehen. Während ich mich flach hinwarf, jagte ein zweites Geschoß heran. Der Fremde betrachtete es arglos und neugierig. Eine Se- kunde später lag er zerschmettert am Boden. Es folg- ten weitere Geschosse, die klatschend in die Wand hinter uns schlugen. Ich sah unsere Angreifer: eine Gruppe von wütenden Mutanten. Wir waren unbe-, waffnet, und sie kamen näher. Ich bereitete mich auf den Tod vor. Und dann hörte ich an der Tür eine vertraute Stimme. Sie rief ein paar Sätze in der dumpfen, un- verständlichen Sprache der Mutanten. Sofort wur- de der Angriff eingestellt. Die Mißgeburten, die uns bedroht hatten, wandten sich zum Eingang. Bernalt trat näher. »Ich sah euer Fahrzeug«, sagte er, »und dachte, ihr könntet euch hier befinden. Offenbar kam ich gera- de noch rechtzeitig.« »Zu spät«, korrigierte der Arzt. Er deutete auf den leblosen Fremden. »Aber weshalb wurden wir denn angegriffen?« »Das werden diese Männer euch erklären.« Bernalt deutete auf die fünf Mutanten, die uns überfallen hatten. Sie waren nicht zivilisiert und gebildet wie Bernalt. Keiner hatte Ähnlichkeit mit dem anderen; sie waren Karikaturen der Menschheit, einer mit ei- nem leeren Gesicht, ein anderer mit schlängelnden Tentakeln anstelle des Kinns, ein dritter mit riesi- gen Flügelohren. Der Mann, der uns am nächsten stand, ein Geschöpf mit knolliger Haut, erklärte uns in einem primitiven Dialekt, weshalb wir angegrif- fen worden waren. Die Mutanten betrachteten den Operationssaal als ihr Heiligtum. »Wir betreten Jors- lem auch nicht«, sagte er. »Weshalb müßt ihr hier- herkommen?«, Natürlich hatte er recht. Wir entschuldigten uns, so gut wir konnten, und der Arzt erklärte, daß er das Bauwerk einmal vor langer Zeit besucht habe, als es noch kein Tempel war. Das schien den Mu- tanten zu besänftigen, denn er gab zu, daß sich der Kult erst vor wenigen Jahren entwickelt habe. Und er war vollends versöhnt, als Olmayne aus ihrer Obertasche ein paar Goldmünzen holte und sie ihm anbot. Die grotesken Geschöpfe gaben uns den Weg frei, und wir konnten den Operationssaal der Ver- gangenheit verlassen. Wir hätten den toten Fremden gern mitgenommen, aber während unserer Unterre- dung mit den Mutanten hatte sich der Körper aufge- löst. Auf dem Sandboden war nur ein feiner grauer Belag zurückgeblieben. »Ein Ferment«, erklärte der Arzt. »Sobald der Le- bensprozeß unterbrochen wird, beginnt es zu wir- ken.« Draußen lauerten weitere Mutanten. Es waren ent- setzliche Monstren darunter. Selbst Bernalt, der ja ihr Bruder war, schien erschüttert über solche Häß- lichkeit. Sie betrachteten ihn mit Ehrfurcht. Als sie uns erblickten, wollten sie nach ihren Waffen grei- fen, aber ein scharfer Befehl Bernalts brachte sie zur Vernunft. »Ich bedaure den Tod des Fremdlings und die Be- handlung, die man euch zuteil werden ließ«, sagte er. »Aber es ist immer gefährlich, einen Ort zu betre- ten, der von einem rückständigen, aggressiven Volk, als Heiligtum verehrt wird.« »Wir hatten keine Ahnung«, entgegnete der Arzt. »Wir wären nie hineingegangen, wenn wir gewußt hätten …« »Natürlich, natürlich.« Ich hatte den Eindruck, daß Bernalts weiche Stimme väterlich klang. »Nun, ich sage euch jedenfalls wieder Lebewohl.« »Nein«, stieß ich plötzlich hervor. »Begleite uns nach Jorslem! Es ist lächerlich, getrennt in die glei- che Stadt zu wandern.« Olmayne keuchte. Selbst der Arzt schien erstaunt. Nur Bernalt blieb ruhig. »Freund, du vergißt, daß es sich für Pilger nicht gehört, mit Gildelosen zu rei- sen«, sagte er. »Außerdem kam ich her, um an unse- rem Heiligtum zu beten, und das wird eine Weile in Anspruch nehmen. Ich möchte euch nicht aufhal- ten.« Er reichte mir kurz die Hand. Dann betrat er den alten Operationssaal. Dutzende anderer Mutan- ten folgten ihm. Ich war dankbar, daß sich Bernalt so taktvoll gezeigt hatte; mein impulsives Angebot war zwar ehrlich gemeint gewesen, hätte uns aber in Schwierigkeiten gebracht. Wir bestiegen den Wagen. Einen Augenblick spä- ter hörten wir einen furchtbaren Gesang: die Mutan- ten priesen mit mißtönenden Stimmen irgendeine Gottheit, vermutlich ebenso verzerrt und verbildet wie sie selbst. »Diese Bestien!« murmelte Olmayne. »Ein Heilig- tum! Ein Mutanten-Tempel! Wie abstoßend! Sie hät-, ten uns alle umbringen können, Tomis. Wie ist es möglich, daß solche Ungeheuer eine Religion ha- ben?« Ich gab keine Antwort. Der Arzt sah Olmayne trau- rig an und schüttelte den Kopf, als sei er enttäuscht über ihre Herzlosigkeit. »Sie sind auch Menschen«, sagte er. In der nächsten Ortschaft meldeten wir der Be- hörde den Tod des Fremden. Dann marschierten wir niedergedrückt und schweigend weiter zu der Stel- le, wo die Küstenlinie sich von Osten mehr nach Norden wendet. Wir verließen Agupt und betraten das Grenzgebiet des Landes, in dem Jorslem liegt. *, Die Stadt Jorslem liegt in einiger Entfernung vom Mittleren See auf einer kühlen Hochebene, umringt von einem niedrigen, öden Felsengebirge. Es schien, als sei mein ganzes bisheriges Leben eine Vorberei- tung auf den Anblick dieser goldenen Stadt gewe- sen, deren Bild ich so gut kannte. Als ich daher die Türme und Wälle im Osten aufsteigen sah, hatte ich nicht so sehr ein Gefühl der Ehrfurcht, sondern ein Gefühl der Heimkehr. Eine gewundene Straße führte uns hügelabwärts in die Stadt. Die Außenmauer bestand aus einem herrlichen rosagoldenen Stein. Auch die Häuser und Heiligtümer waren aus diesem Stein gebaut. Kleine Haine säumten die Straße, und ich sah keine Bäu- me von fremden Sternen, sondern nur einheimische Gewächse, wie es sich für diese älteste aller Städte geziemte. Die Invasoren hatten klugerweise nichts an der Verwaltung von Jorslem geändert. Die Stadt wur- de weiterhin vom Gilde-Meister der Pilger regiert, und selbst Invasoren brauchten seine Genehmigung, wenn sie Jorslem betreten wollten. Natürlich han- delte es sich dabei um eine reine Formsache; der Gil- de-Meister war wie der Kanzler der Historiker und ähnliche Verwaltungsbeamte eine Marionette der Er- oberer. Aber diese häßliche Tatsache wurde gut ver- heimlicht. Die Invasoren behandelten Jorslem als, Besonderheit, und man sah nur wenige von ihnen durch die Straßen schlendern. An der Stadtmauer verlangten wir formell Einlaß. Der Wachtposten trug noch die Uniform von früher und untersuchte uns gründlich, obwohl in allen an- deren Städten die Tore offenstanden. Als Pilger durf- ten Olmayne und ich selbstverständlich die Stadt betreten, aber wir mußten zum Zeichen unserer ehr- lichen Absichten die Sternsteine vorweisen. Dann streifte er eine Denker-Kappe über, um unsere Na- men in den Archiven der Pilger-Gilde zu suchen. Nach geraumer Zeit wurde uns der Zutritt ge- währt. Der Arzt, unser Begleiter, hatte es leichter; er hatte sich bereits in Afreek darum beworben, die Stadt besichtigen zu dürfen, und wurde eingelassen, sobald man seine Identität festgestellt hatte. Die Bauwerke innerhalb der Stadtmauer zeugten von großem Alter. Jorslem ist die einzige Stadt der Welt, in der sich viel von der Architektur des Ersten Zyklus erhalten hat; nicht nur zerbrochene Säulen und eingefallene Aquädukte wie in Roum, sondern ganze Straßen, überdachte Arkaden, Türme und Boulevards. Und so wanderten wir, sobald wir das Stadttor hinter uns gelassen hatten, staunend über das Kopfsteinpflaster, durch die schmalen, von Kin- dern und Bettlern bevölkerten Straßen, über Märk- te, die nach tausend Gewürzen dufteten. Nach einer Stunde fanden wir, daß es an der Zeit war, Quartier zu suchen, und so mußten wir uns von dem Arzt, trennen, der natürlich nicht in einer Pilgerherber- ge bleiben konnte. Wir hingegen wollten unser Geld nicht für teure Privatunterkünfte verschleudern. Wir brachten ihn zu dem Gasthof, in dem er ein Zimmer bestellt hatte. Ich dankte ihm für seine angeneh- me Reisebegleitung, und er erwiderte den Dank. Er drückte die Hoffnung aus, daß wir uns in den näch- sten Tagen in Jorslem wiedersehen würden. Dann verabschiedeten wir uns und suchten eine der zahl- reichen Unterkünfte auf, die man für die Pilger be- reitgestellt hat. Die Stadt dient einzig und allein dem Zweck, Pil- ger und gelegentlich Touristen aufzunehmen, und so ist sie im Grunde genommen ein riesiger Beher- bergungsbetrieb. Pilgerkutten sieht man in Jorslem ebenso häufig wie Schmetterlingsgeschöpfe in Hind. Wir ruhten uns eine Weile aus und speisten; dann schlenderten wir über eine breite Straße, die zu Jors- lems heiligem innerem Bezirk führt. Dieser Distrikt ist praktisch eine Stadt innerhalb der Stadt. Der äl- teste Teil, so klein, daß man ihn in einer Stunde zu Fuß durchqueren kann, besitzt eine eigene Schutz- mauer. Hier liegen die Heiligtümer, die von den gro- ßen Religionsgruppen des Altertums – den Chri- stern, Hebrern und Mislams – verehrt wurden. Es heißt, daß sich hier der Ort befindet, an dem der Gott der Christer starb, aber das mag eine Falschin- formation sein, die im Laufe der Zeit entstand, denn welcher Gott stirbt schon? Auf einem erhöhten Platz, in einer Ecke der Alten Stadt steht eine vergoldete Kuppel, die den Mislams geweiht ist. Sie wird von dem einfachen Volk in Jorslem sehr gepflegt. Und im Vordergrund dieses erhöhten Platzes sind die gewal- tigen grauen Blöcke eines Steinwalls, den die Hebrer verehren. Diese Dinge sind geblieben, aber niemand kennt die Gedanken, die dahinterstecken; auch von den Historikern konnte mir niemand erklären, wel- chen Sinn es hat, eine vergoldete Kuppel oder einen Mauerrest anzubeten. Und doch versichern uns die alten Aufzeichnungen, daß die drei Religionen des Ersten Zyklus Tiefe besaßen. In der Alten Stadt befindet sich auch ein Bauwerk aus dem Zweiten Zyklus, das für Olmayne und mich von stärkerer Bedeutung war. Während wir die heili- ge Stadt betrachteten, meinte Olmayne: »Wir sollten uns morgen im Haus der Verjüngung bewerben.« »Gut. Ich möchte schon lange die Bürde meiner Jahre aufgeben.« »Wird man mich akzeptieren, Tomis?« »Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken«, sag- te ich ihr. »Sobald wir uns bewerben, wirst du die Antwort erfahren.« Sie sagte noch etwas, aber ich hörte ihre Wor- te nicht, denn in diesem Augenblick flogen drei Schmetterlingsgeschöpfe an mir vorbei nach Osten. Es waren zwei Mädchen und ein Mann; sie flogen nackt, wie es Gildensitte war; und eines der Mäd- chen bewegte sich mit außergewöhnlicher Grazie., »Avluela!« stieß ich hervor. Die drei Schmetterlinge verschwanden jenseits der Stadtmauer. Ich umklammerte einen Baum. Mei- ne Knie zitterten, und einen Moment lang bekam ich keine Luft. »Tomis!« rief Olmayne. »Fühlst du dich nicht wohl?« »Ich weiß, daß ich eben Avluela gesehen habe. Man sagte mir, sie sei zurück nach Hind geflogen, aber ich habe sie erkannt. Es war keine Täuschung.« »Du hast in jedem Schmetterlingsgeschöpf unter- wegs Avluela gesehen«, entgegnete Olmayne kühl. »Aber diesmal war sie es. Wo ist eine Denker-Kap- pe? Ich muß mich sofort mit dem Übernachtungs- haus der Schmetterlings-Gilde in Verbindung set- zen.« Olmayne legte mir die Hand auf den Arm. »Es ist spät, Tomis. Du handelst überstürzt. Was ist über- haupt mit dem mageren kleinen Schmetterlingsge- schöpf? Was hat sie dir bedeutet?« »Sie …« Ich stockte. Wie sollte ich meine Gefühle in Wor- te kleiden? Olmayne kannte die Geschichte meiner Reise von Agupt nach Roum. Sie wußte, daß ich Avluela gern gehabt hatte, daß der falsche Mutant Gormon sie mir weggenommen hatte und daß sie schließlich die Geliebte des Fürsten von Roum ge- worden war. Aber weshalb erfaßte mich ein Schwin- del, nur wenn ich jemanden erblickte, der Ähnlich-, keit mit Avluela hatte? Ich versuchte die Fragen zu lösen und fand keine Antwort. »Komm zurück in die Herberge und ruh dich aus«, sagte Olmayne. »Morgen müssen wir das Haus der Verjüngung aufsuchen.« Zuerst jedoch streifte ich eine Denker-Kappe über und setzte mich mit dem Gildehaus der Schmetter- linge in Verbindung. Ich erhielt die Antwort, die ich suchte. Avluela lebte nun tatsächlich in Jorslem. »Dann soll ihr folgende Botschaft übermittelt wer- den«, sagte ich. »Der Wächter, der sie nach Roum be- gleitete, befindet sich nun als Pilger in Jorslem und möchte sich morgen mittag mit ihr vor dem Haus der Verjüngung treffen.« Als das geschehen war, begleitete ich Olmayne zu unserem Quartier. Sie wirkte verdrießlich und arro- gant, und als sie in meinem Zimmer die Maske ab- nahm, waren ihre Züge von Eifersucht verzerrt. Ja, ich täuschte mich nicht. Für Olmayne waren alle Männer Vasallen, sogar Greise wie ich; und sie konn- te es nicht ertragen, daß es eine andere Frau fertig- brachte, eine solche Glut in mir zu entfachen. Als ich meinen Sternstein hervorholte, wollte Olmay- ne die Andacht zuerst nicht mitmachen. Erst als ich mit dem Ritual begann, schloß sie sich an. Aber ich war an diesem Abend so verwirrt, daß ich die Ver- einigung mit dem Willen nicht erreichte. Auch ihr gelang es nicht, und so gaben wir nach einer halben Stunde den Versuch auf und trennten uns., Man muß allein das Haus der Verjüngung aufsu- chen. Ich erwachte im Morgengrauen, betete zum Willen und brach ohne Olmayne auf. Nach einer halben Stunde stand ich vor dem goldenen Wall der Alten Stadt; nach einer weiteren halben Stunde hatte ich mein Ziel erreicht. Ich war an der grauen Mauer vorbeigekommen, die den Hebrern so viel be- deutete; ich hatte die vergoldete Kuppel der Mislams passiert; und ich hatte mich dem Strom der Pilger angeschlossen, der bereits zu dieser Stunde auf das Haus der Verjüngung zustrebte. Dieses Bauwerk stammt aus dem Zweiten Zyklus, denn damals entwickelte man den Verjüngungspro- zeß; und von der gesamten Wissenschaft jener Epo- che ist uns nur die Verjüngung geblieben. Das Haus der Verjüngung zeigt wie alle Gebäude des Zweiten Zyklus’ weiche, geschwungene Flächen; es ist fen- sterlos und trägt keinerlei Schmuck. Viele Türen führen ins Innere. Ich stellte mich vor dem Eingang auf, der am weitesten im Osten lag, und nach einer Stunde Wartezeit wurde ich eingelassen. Ein Mann in der grünen Kutte der Verjüngungs- Gilde begrüßte mich. Die Verjüngungs-Gilde setzt sich ausschließlich aus ehemaligen Pilgern zusam- men, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, anderen die Verjüngung zu ermöglichen. Sie unter- stehen der Verwaltung der Pilger-Gilde und haben, keinen eigenen Gilde-Meister. Selbst ihre Kleidung unterscheidet sich nur durch die Farbe. Die Stimme des Mannes klang freundlich. »Will- kommen in diesem Haus, Pilger. Wer bist du, und woher kommst du?« »Ich bin der Pilger Tomis, früher Tomis von den Historikern und noch früher ein Wächter mit dem Geburtsnamen Wuellig. Ich stamme vom Verlorenen Kontinent und bin vor und nach Beginn meines Pil- gertums weit gereist.« »Was suchst du hier?« »Verjüngung und Erlösung.« »Möge der Wille dir beides gewähren«, sagte der Mann. »Komm mit mir.« Ich wurde durch einen engen, schwach beleuchte- ten Korridor in eine kleine Steinzelle gebracht. Der ehemalige Pilger bat mich, die Maske abzunehmen, die Vereinigung mit dem Willen anzustreben und dann zu warten. Ich befreite mich von dem Bron- zegitter und umklammerte den Sternstein. Die ver- trauten Gefühle der Trance überkamen mich, aber die Vereinigung mit dem Willen fand nicht statt; ich spürte vielmehr, daß ich mit der Seele eines ande- ren Menschen verbunden war. Obwohl mich das er- staunte, leistete ich keinen Widerstand. Etwas durchforschte mein Inneres. Alles wur- de ans Licht gezerrt: meine selbstsüchtigen Taten und meine Feigheit, meine Fehler und Sünden, mei- ne Zweifel, meine Ängste und vor allem meine ver-, werflichste Tat, der Verrat des Dokuments an die In- vasoren. Ich wog diese Dinge ab und spürte, daß ich nicht würdig war, die Verjüngung zu empfangen. Ich verharrte lange in der Betrachtung meiner Feh- ler. Dann wurde die Verbindung unterbrochen, und ein anderer Angehöriger der Verjüngungs-Gilde be- trat meine Zelle. »Der Wille ist dir gnädig, Freund«, sagte er, und seine Fingerspitzen berührten die meinen. Als ich die tiefe Stimme hörte und die langen wei- ßen Finger sah, wußte ich, daß ich schon einmal mit diesem Mann zusammengetroffen war – vor den Toren Roums, ein paar Tage vor der Eroberung der Erde durch die Invasoren. Damals war er Pilger ge- wesen, und er hatte mich eingeladen, ihn auf seiner Reise nach Jorslem zu begleiten. »Hattest du eine bequeme Wanderung?« fragte ich. »Sie war sehr lehrreich«, entgegnete er. »Und du? Wie ich sehe, bist du nicht mehr Wächter.« »Ich habe bereits zum drittenmal die Gilde ge- wechselt.« »Das wird nun nicht mehr geschehen«, sagte er. »Bedeutet das, daß ich in Jorslem bleibe – hier in der Verjüngungs-Gilde?« »Das habe ich nicht gemeint, Freund Tomis. Aber wir können uns länger unterhalten, wenn die Last der Jahre von dir genommen ist. Ich kann dir mittei- len, daß man dich zur Verjüngung zugelassen hat.«, »Trotz meiner Sünden?« »Wegen deiner Sünden, soweit man sie als sol- che bezeichnen kann. Morgen früh sollst du den er- sten Verjüngungstank besteigen. Ich werde dir bei der Wiedergeburt helfen. Mein Name ist Talmit. Geh jetzt und frage bei deiner Rückkehr nach mir.« »Eine Frage noch! Ich habe meine Pilgerreise mit einer Frau gemacht; Olmayne heißt sie, und sie ge- hörte zu den Historikern von Perris. Wurde auch sie zugelassen?« »Ich weiß nichts von dieser Olmayne.« »Sie ist keine gute Frau«, sagte ich. »Sie ist eitel, herrisch und grausam. Aber ich glaube, daß man sie dennoch retten könnte. Wäre es möglich, daß du ein gutes Wort für sie einlegst?« »Ich habe keinen Einfluß auf diese Entscheidun- gen«, sagte Talmit. »Sie muß sich wie alle Anwärter einer Befragung unterziehen. Aber ich kann dir ei- nes verraten: Tugend ist nicht das einzige Kriterium bei der Auswahl.« Er brachte mich nach draußen. Kaltes Sonnen- licht lag über der Stadt. Ich fühlte mich leer und er- schöpft, zu ausgehöhlt, um Freude über die bevor- stehende Verjüngung zu empfinden. Es war Mittag; ich erinnerte mich an meine Verabredung mit Av- luela, und mein Herz klopfte schneller. Würde sie zum Haus der Verjüngung kommen? Sie wartete vor dem Gebäude, und ich erkannte sie sofort: die rote Jacke, die Beinkleider aus Samt,, die durchsichtigen Pantoffeln und die verräterischen Höcker am Rücken – das war Avluela. Ich rief ihren Namen. Sie wirbelte herum. Sie sah blaß aus, schmal, noch jünger als damals. Ihre Blicke versuchten die Maske zu durchdringen, und einen Moment lang war sie verwirrt. »Wächter?« fragte sie. »Wächter, bist du das?« »Du kannst mich jetzt Tomis nennen«, entgegne- te ich. »Aber ich bin der gleiche, mit dem du von Agupt nach Roum zogst.« »Wächter! Oh, Wächter! Tomis!« Sie klammerte sich an mich. »Wie lange ist das alles her? So viel hat sich ereignet.« Ihre Augen glänzten, und die Blässe verschwand aus ihren Zügen. »Komm, wir suchen einen Gasthof auf, wo wir plaudern können. Wie hast du mich hier ausfindig gemacht?« »Durch deine Gilde. Ich sah dich gestern abend vorbeifliegen.« »Ich kam im Winter hierher. Ich lebte eine Weile in Fars; eigentlich wollte ich zurück in meine Hei- mat, aber dann änderte ich meinen Entschluß. Die Heimkehr hätte mir keinen Frieden gebracht. Nun lebe ich in der Nähe von Jorslem, und ich helfe …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Statt dessen fuhr sie fort: »Tomis, hat man dich zur Verjüngung zuge- lassen?« Wir hatten einen einfacheren Bezirk der Inneren Stadt erreicht. »Ja«, erwiderte ich. »Man will mir die, Last der Jahre abnehmen. Mein Helfer ist ein Mann namens Talmit – wir trafen ihn als Pilger vor den To- ren von Roum.« Sie hatte diesen Vorfall vergessen. Wir setzten uns in den Patio eines Gasthauses, und Diener brachten uns Wein und etwas zu essen. Avluelas Fröhlich- keit war ansteckend; ich fühlte mich schon durch ihren Anblick verjüngt. Sie erzählte von den letz- ten furchtbaren Stunden in Roum und von dem Au- genblick, als der Mutant Gormon den Fürsten von Roum überwältigte. Mit einem einzigen Streich hat- te er ihm den Thron, die Geliebte und das Augen- licht genommen. »Kam der Fürst ums Leben?« fragte sie. »Ja, aber nicht durch Gormons Hand.« Ich erzähl- te ihr, wie der stolze Mann in Verkleidung eines Pil- gers aus Roum geflohen war und wie ich ihn nach Perris begleitet hatte. Ich erzählte von seiner Affä- re mit Olmayne und von dem Doppelmord, der sich in Elegros Wohnung zugetragen hatte. »In Perris sah ich auch Gormon«, fuhr ich fort. »Er trägt jetzt den Namen Sieger Dreizehn. Er scheint unter den Inva- soren einen hohen Rang einzunehmen.« Avluela lächelte. »Gormon und ich waren nur kur- ze Zeit nach der Invasion zusammen. Er wollte Ey- rop besichtigen; ich flog mit ihm nach Donsk und Sved, und dort verlor er das Interesse an mir. Da- mals entschloß ich mich, in meine Heimat zurück- zukehren, aber später stieß ich den Plan um. Wann, beginnt deine Verjüngung?« »Gleich morgen früh.« »Oh, Tomis, wie wird alles sein, wenn du wieder jung bist? Wußtest du, daß ich dich liebte? Wäh- rend unserer gemeinsamen Reise, selbst während ich mich Gormon und dem Fürsten hingab, dachte ich nur an dich. Aber du warst als Wächter natür- lich unerreichbar. Außerdem warst du so alt. Doch nun existiert deine Gilde nicht mehr, und bald bist du wieder jung, und …« Sie umklammerte meinen Arm. »Ich hätte dich nie verlassen sollen. Uns bei- den wäre viel Leid erspart geblieben.« »Wir lernen aus dem Leid«, erwiderte ich. »Das sehe ich ein. Wie lange wird deine Verjün- gung, dauern?« »Die übliche Zeit, nehme ich an.« »Und was willst du danach tun? Welcher Gilde wirst du dich anschließen? Zu den Wächtern kannst du nicht zurück.« »Nein, auch nicht zu den Historikern. Mein Füh- rer Talmit sprach von einer anderen Gilde, deren Namen er nicht nennen wollte. Ich weiß nur, daß er nicht die Verjüngungs-Gilde meinte.« Avluela beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Die Erlöser-Gilde!« »Erlöser? Davon habe ich noch nichts gehört.« »Es ist eine neu gegründete Gilde.« »Seit ewigen Zeiten ist keine Gilde mehr gegrün- det worden …«, »Aber Talmit hat diese Gilde gemeint. Du wärst ein wertvolles Mitglied. Die Fähigkeiten, die du dir als Wächter angeeignet hast, könnten uns sehr viel nützen.« »Erlöser«, wiederholte ich langsam. »Erlöser. Wel- che Aufgabe hat sich diese Gilde gestellt?« Avluela lächelte heiter. »Sie rettet bedrückte See- len und unglückliche Welten. Aber davon sprechen wir später. Sobald du verjüngt bist, wird sich das Rätsel von selbst lösen.« Wir erhoben uns. Ihre Lip- pen berührten die meinen. »Heute sehe ich dich zum letztenmal als alten Mann. Ein sonderbares Ge- fühl, Tomis!« Sie ging. Gegen Abend kehrte ich zu meinem Quartier zu- rück. Olmayne befand sich nicht in ihrem Zimmer. Ein Diener sagte mir, daß sie den ganzen Tag fort gewesen sei. Ich wartete lange; dann hielt ich mei- ne Andacht und schlief ein. Als ich mich im Mor- gengrauen auf den Weg machte, blieb ich einen Mo- ment vor ihrer Tür stehen. Sie war versiegelt. Ich eilte zum Haus der Verjüngung. *, Talmit erwartete mich am Eingang und führte mich durch einen grüngekachelten Korridor zum ersten Verjüngungstank. »Die Pilgerin Olmayne wird später hier erscheinen«, sagte er. »Man hat sie zugelassen.« Mit diesen Worten wurde ich von der Außenwelt ab- geschnitten. Talmit brachte mich in eine enge, nied- rige Kammer, die von winzigen Sklavenlichtern er- heilt wurde und schwach nach Todesblumen roch. Man nahm mir die Kutte und die Maske ab, und Tal- mit bedeckte meinen Kopf mit einem feinen gold- grünen Drahtgewebe, durch das er Strom schickte; als er das Gebilde wieder entfernte, besaß ich keine Haare mehr; mein Kopf war so blank wie die Wand- fliesen. »Dadurch wird das Anlegen der Elektroden leichter«, erklärte Talmit. »Du kannst jetzt in den Tank steigen.« Eine Rampe führt in den Tank, der an eine mit- telgroße Badewanne erinnerte. Ich spürte weichen, glitschigen Schlamm unter meinen Füßen. Talmit nickte mir zu und sagte, daß es sich um bestrahlten Schlick handelte, der die Zellteilung beschleunigen sollte. Ich streckte mich aus, so daß nur noch mein Kopf aus der schimmernden, dunkelvioletten Flüs- sigkeit ragte. Der Schlamm umhüllte sanft meinen müden Körper. Talmit stand über mir, ein Gewirr von Drähten in der Hand; aber als er sie an meinen glattgeschorenen Kopf hielt, ordneten sie sich von, selbst. Die Spitzen gruben sich durch die Haut und die Schädelknochen in die graue Gehirnmasse. Ich spürte nur ein leichtes Prickeln. »Die Elektroden«, erklärte Talmit, »suchen die ge- alterten Stellen in deinem Gehirn auf; dann über- tragen wir Signale, die den normalen Zerfallprozeß umkehren. Dabei wirst du das Zeitgefühl verlieren, und dein Körper kann sich ganz der Stimulation des Verjüngungstanks hingeben. Schließe die Augen!« Er streifte eine Atemmaske über mein Gesicht. Dann schob er mich vorsichtig vom Rand der Wanne weg. Ich wurde von der Flüssigkeit getragen. Die Wärme nahm zu. Ganz schwach hörte ich ein Blubbern. Ich stellte mir vor, daß vom Schlamm schwarze, schwe- felhaltige Blasen aufstiegen. Ich stellte mir vor, daß die Flüssigkeit die Farbe des Schlamms angenom- men hatte. Ich schwebte in einer gezeitenlosen See und spürte schwach den Strom, der durch die Elek- troden floß, der in meinem Gehirn prickelte. Ich spürte, daß ich von Schlamm umgeben war, und ir- gendwie erinnerte das an die Geborgenheit des Mut- terleibs. Von weit weg hörte ich die dunkle Stimme Tal- mits, der mich in die Jugend zurückrief, der die Zeit in die Gegenrichtung abspulen ließ, der mich durch Jahrzehnte zerrte. Ich hatte einen salzigen Ge- schmack im Mund. Wieder überquerte ich das Erd- meer, gefangen von Piraten, und ich verteidigte mei- ne Wächterausrüstung gegen sie. Wieder stand ich, unter der heißen Sonne Agupts und traf zum er- sten Male mit Avluela zusammen. Wieder lebte ich in Palash. Ich kehrte zu meinem Geburtsort auf den Westinseln des Verlorenen Kontinents zurück, dem früheren Usa-amrik. Ich sah Roum ein zweitesmal fallen. Fragmente von Erinnerungen schwirrten hin und her. Sie kamen nicht der Reihe nach. Ich war ein Kind. Ich war ein müder Greis. Ich befand mich bei den Historikern. Ich besuchte die Somnambu- listen. Ich sah, wie der Fürst von Roum bei einem Kunsthandwerker in Dijon Augen kaufte. Ich ver- handelte mit dem Prokurator von Perris. Ich um- klammerte meine Instrumente und versetzte mich in den Zustand der Aufnahmebereitschaft. Ich aß köstliche Dinge von einer fernen Welt. Ich sog die Frühlingsdüfte von Palash in meine Lungen; ich zitterte, weil ich den Winter in meinen Knochen spürte; ich schwamm fröhlich und unbeschwert in einer stürmischen See; ich sang; ich weinte; ich wi- derstand der Versuchung; ich gab der Versuchung nach; ich stritt mit Olmayne; ich umarmte Avlue- la; ich erlebte die Zeit meiner Vergangenheit in ei- nem sonderbaren Rhythmus, als die Uhr meines Lebens zurückgedreht wurde. Illusionen erfaß- ten mich. Es regnete Feuer vom Himmel; die Zeit stob in verschiedenen Richtungen davon; ich wur- de klein und dann wieder riesig. Ich hörte Stim- men, die in roten und türkisblauen Schattierungen sprachen. Gezackte Musik perlte über Berghän-, ge. Mein Herz pochte hart und feurig. Wie ein Kol- ben hieben die Gedanken auf mich ein, immer wie- der. Die Sterne pulsierten, zogen sich zusammen, schmolzen. Avluela sagte sanft: »Wir erreichen die zweite Jugend durch die Nachsicht und Güte des Willens, nicht durch unsere Werke.« Olmayne sag- te: »Wie schlank ich werde!« Talmit sagte: »Diese schwankenden Wahrnehmungen sind ein Zeichen für die Auflösung des Todeswunsches, der im Kern eines jeden Alterungsprozesses liegt.« Der Prokura- tor Menschenherrscher Sieben sagte: »Wir sind als Werkzeuge eurer Läuterung auf die Erde geschickt worden. Wir sind Instrumente des Willens.« Erd- beansprucher Neunzehn sagte: »Darf ich in diesem Punkt widersprechen? Die Überlagerung unserer Geschicke ist rein zufällig.« Meine Augenlider ver- wandelten sich in Stein. Meine Lungen wucherten. Die Haut löste sich ab und enthüllte Muskelstränge, welche die Knochen umspannten. Olmayne sagte: »Meine Poren werden kleiner. Mein Fleisch festigt sich. Meine Brüste sehen jugendlich aus.« Avluela sagte: »Später wirst du mit uns fliegen, Tomis.« Der Fürst von Roum bedeckte die Augen mit den Hän- den. Die Türme von Roum schwankten im Sonnen- wind. Ich entriß einem vorübergehenden Historiker die Stola. Komiker weinten in den Straßen von Per- ris. Talmit sagte: »Wach jetzt auf, Tomis, löse dich von deinen Träumen! Öffne die Augen!« »Ich bin wieder jung«, rief ich., »Deine Verjüngung hat erst begonnen«, entgegne- te er. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Helfer packten mich und wickelten mich in poröse Hüllen; dann wurde ich mit einer Tragbahre zum nächsten, größeren Tank gebracht, in dem Dutzende von Men- schen schwebten, eingehüllt in ihre Träume. Elek- troden bedeckten ihre kahlen Schädel, und rosa Kle- bebänder nahmen ihnen die Sicht; die Hände hatten sie friedlich über der Brust verschränkt. Ich kam auch in diesen Tank, und hier erlebte ich keine Il- lusionen. Ich schlief lange und traumlos. Diesmal erwachte ich durch ein Rauschen. Ich glitt mit den Füßen voran durch einen schmalen Kanal und lan- dete in einem verschlossenen Tank, wo ich nur Flüs- sigkeit atmete. Ich blieb eine Ewigkeit darin, wäh- rend Schicht um Schicht die Sünden von meiner Seele genommen wurden. Es war eine langsame, mühselige Arbeit. Die Chirurgen standen außerhalb des Tanks. Ihre Hände steckten in Metallhandschu- hen, die kleine Schälmesser kontrollierten, und die- se winzigen Messer befreiten mich von Schuld und Kummer, von Eifersucht und Zorn, von Gier, Lust und Unbeherrschtheit. Als sie fertig waren, öffneten sie den Deckel des Tanks und hoben mich heraus. Ich konnte nicht ste- hen. Sie schlossen Instrumente an meine Beine, wel- che die Muskeln massierten und kneteten. Nach kur- zer Zeit war ich wieder bei Kräften. Ich warf einen, Blick auf meinen neu gestrafften Körper. Talmit trat neben mich und warf eine Handvoll Spiegelstaub in die Luft, so daß ich mich sehen konnte. »Nein«, sagte ich. »das Gesicht stimmt nicht. Ich habe anders ausgesehen. Die Nase war schärfer – der Mund nicht so voll – das Haar heller …« »Wir haben uns an die Aufzeichnungen der Wäch- ter-Gilde gehalten, Tomis. Du siehst genauso aus wie in deiner Jugend. Deine Erinnerung spielt dir einen Streich.« »Ist das möglich?« »Wenn du willst, können wir dich natürlich ent- sprechend deiner Wunschvorstellung verändern. Aber das wäre frivol, und es würde viel Zeit erfor- dern.« »Nein«, entgegnete ich. »Es ist unwichtig.« Er nickte und erklärte mir, daß ich noch eine Wei- le im Haus der Verjüngung bleiben müßte, bis ich mich an meine Jugend gewöhnt hätte. Man gab mir die neutralen Kleider der Gildelosen, denn meine Zugehörigkeit zu den Pilgern war erloschen, als ich das Haus der Verjüngung betrat. Ich konnte mich von jetzt an jeder neuen Gilde anschließen, die mei- ne Bewerbung akzeptierte. »Wie lange dauerte meine Verjüngung?« fragte ich Talmit, während ich mich anzog. Er erwiderte: »Du bist im Sommer hergekommen. Nun ist es Winter. Wir arbeiten langsam und gründ- lich.«, »Wie geht es meiner Reisebegleiterin Olmayne?« »Bei ihr versagte unsere Kunst.« »Das verstehe ich nicht«, meinte ich. »Möchtest du sie sehen?« »Ja«, sagte ich. Ich dachte, er würde mich in Ol- maynes Zimmer bringen. Statt dessen führte er mich zu einem Tank. Ich stand an der Rampe und starrte den geschlossenen Behälter an. Talmit deu- tete auf ein Teleskop, das im Tankdeckel montiert war. Ich beugte mich über das Okular und sah Ol- mayne. Oder das, was nach Talmits Worten Ol- mayne war. Ein nacktes, etwa elfjähriges Mädchen lag im Tank, die Knie an die Brust gezogen, den Daumen im Mund. Erst verstand ich gar nichts. Dann bewegte sich die Kleine, und ich erkannte schwach die Züge der königlichen Olmayne: der volle Mund, das vorspringende Kinn, die beton- ten Wangenknochen. Ein dumpfer Schmerz durch- zuckte mich, und ich wandte mich an Talmit. »Was soll das?« »Wenn die Seele zu sehr befleckt ist, Tomis, müs- sen wir viele Schichten abtragen, um sie zu reini- gen. Diese Olmayne war ein schwieriger Fall. Wir hätten uns nicht auf die Verjüngung einlassen sol- len, aber sie beharrte darauf, und manches wies auf eine Heilung hin. Aber wir hatten uns getäuscht, wie du siehst.« »Aber was geschah mit ihr?« »Die Verjüngung geriet in eine irreversible Stufe,, bevor wir die Frau von ihren Giften befreit hatten«, erklärte Talmit. »Ihr seid zu weit gegangen? Ihr habt sie zu jung gemacht?« »Ja.« »Und nun? Weshalb holt ihr sie nicht aus dem Tank und laßt sie noch einmal erwachsen wer- den?« »Du hast mir nicht genau zugehört, Tomis. Ich sag- te, ihre Verjüngung sei irreversibel.« »Irreversibel?« »Sie ist von ihren Kindheitsträumen umgeben. Mit jedem Tag wird sie ein paar Jahre jünger. Die inne- re Uhr wirbelt weiter. Ihr Körper schrumpft zusam- men; ihre Gehirnmasse wird glatt. In kurzer Zeit wird sie wieder ein Baby sein. Sie wird nie mehr er- wachen.« »Und am Ende …?« Ich wandte mich ab. »Was dann? Ein Samen und ein Ei, die sich trennen?« »So weit gehen wir nicht zurück. Sie wird als Baby sterben. Dieses Los teilen viele mit ihr.« »Sie sprach selbst davon, daß die Verjüngung Ri- siken mit sich bringt«, sagte ich. »Und doch hat sie darauf beharrt, hier aufgenom- men zu werden. Ihre Seele war dunkel, Tomis. Sie hat nur für sich selbst gelebt. Sie kam nach Jorslem, um geläutert zu werden, und nun ist sie geläutert. Sie hat sich mit dem Willen ausgesöhnt. Liebst du sie?«, »Nein. Alles andere als das.« »Was hast du dann verloren?« »Einen Teil meiner Vergangenheit vielleicht.« Ich sah noch einmal durch das Teleskop und beobach- tete Olmayne, die nun geläutert im Tank schwebte – ausgesöhnt mit dem Willen. Ich warf einen Blick auf das sonderbar veränderte und doch so bekannte Gesicht und versuchte ihre Träume zu erforschen. Hatte sie gewußt, daß sie sterben mußte? Hatte sie verzweifelt gekämpft, als sie spürte, daß ihr das Le- ben entglitt? War ihr Egoismus noch einmal aufge- flackert, bevor die endgültige Läuterung einsetzte? Das Kind im Tank lächelte. Der geschmeidige kleine Körper streckte sich und rollte sich dann zu einem Ball zusammen. Olmayne hatte sich mit dem Willen ausgesöhnt. Plötzlich, als hätte Talmit einen neuen Spiegel vor mir ausgebreitet, sah ich mein Inneres. Ich sah, was man für mich getan hatte und daß ich die Pflicht besaß, möglichst viel aus meinem neuen Leben zu machen. Ich fühlte mich beschämt, und ich schwor mir, dem Willen zu dienen. Dann kam die Freude in mächtigen Wogen, wie die Brandung des Erdmeers, und ich bat Talmit, mich fort von Ol- mayne zu bringen. *, Avluela besuchte mich in meinem Zimmer im Haus der Verjüngung, und wir hatten beide Angst vor der Begegnung. Die Jacke, die sie trug, ließ ihre einge- rollten Flügel frei, und sie hatte sie kaum unter Kon- trolle. Immer wieder öffneten sich die zarten Spitzen mit nervösen, zuckenden Bewegungen. Ihre Augen waren sehr ernst; ihr Gesicht wirkte magerer und spitzer als je zuvor. Wir starrten einander eine Zeit- lang schweigend an; mir wurde warm, und vor mei- nen Blicken verschwamm alles. Ich spürte das Wal- len in meinem Innern, und ich hatte Angst davor, obwohl ich es herbeigesehnt hatte. »Tomis?« sagte sie schließlich, und ich nickte. Sie berührte meine Schultern, meine Arme, meine Lippen. Und ich strich über ihre Handgelenke, ihre Hüften und – zögernd – über die winzigen Brüste. Wir ertasteten einander wie zwei, die das Augen- licht verloren haben. Wir waren Fremde. Der aus- gemergelte alte Wächter, den sie gekannt und viel- leicht geliebt hatte, existierte nicht mehr. Er war verbannt für die nächsten fünfzig Jahre. An seine Stelle hatte sich ein geheimnisvoller Unbekannter geschoben. Der alte Wächter war für sie eine Art Va- ter gewesen; welche Rolle sollte der gildelose junge Tomis spielen? Und was bedeutete sie mir, jetzt, da ich sie nicht mehr als Tochter betrachten konnte? Ich war mir selbst fremd. Meine glatte, feste Haut, war mir fremd. Ich hatte vergessen, was es hieß, jung zu sein. »Deine Augen haben sich nicht verändert«, sag- te sie. »Ich würde dich immer an den Augen erken- nen.« »Was hast du in all den Monaten getan, Avluela?« »Ich bin jede Nacht geflogen. Ich flog nach Agupt und tief ins Innere von Afreek. Dann kehrte ich zu- rück und suchte Stanbool auf. Sobald es dunkel wird, steige ich auf. Weißt du, Tomis, ich fühle mich nur wohl, wenn ich am Himmel schwebe.« »Du gehörst zu den Schmetterlingen. Dein Gefühl ist ganz natürlich.« »Eines Tages werden wir Seite an Seite fliegen, To- mis.« Ich lachte über diesen Satz. »Die alten Operations- säle sind geschlossen, Avluela. Und hier kann man mich nicht in ein Schmetterlingsgeschöpf verwan- deln, obwohl die Ärzte Künstler sind. Man muß mit Flügeln geboren sein.« »Man braucht nicht unbedingt Flügel, wenn man fliegen will.« »Ich weiß. Die Invasoren erheben sich ohne Flü- gel in die Lüfte. Ich sah dich, kurz nachdem Roum gefallen war – zusammen mit Gormon.« Ich schüt- telte den Kopf. »Aber ich bin auch keiner der Inva- soren.« »Du wirst an meiner Seite fliegen, Tomis. Wir wer- den uns erheben, und nicht nur nachts, obwohl mei-, ne Flügel zu schwach für die Sonnenstürme sind. Im gleißenden Tageslicht werden wir am Himmel schweben.« Ihre Phantasie gefiel mir. Ich nahm sie in die Arme, und sie war kühl und zerbrechlich. Neue Glu- ten pulsierten in meinem Innern. Eine Zeitlang spra- chen wir nicht mehr vom Fliegen. Ich weiß, daß sie mir ihren Körper anbot, aber ich begnügte mich da- mit, sie in den Armen zu halten und zu streicheln. Ich mußte mich langsam umgewöhnen. Später schlenderten wir durch. die Korridore und trafen mit anderen Verjüngten zusammen. Wir betra- ten den großen Hauptsaal, durch dessen Decke die Wintersonne drang, und betrachteten einander in ih- rem blassen Licht. Dann gingen wir weiter und plau- derten. Ich stützte mich ein wenig auf sie, denn ich hatte meine Kräfte noch nicht vollständig wiederge- wonnen, und so wurden wir ein wenig an die alten Zeiten erinnert, als das junge Mädchen den Greis geführt hatte. Als sie mich zurück in mein Zimmer brachte, sagte ich: »Vor meiner Verjüngung hast du von der Erlöser-Gilde gesprochen. Ich …« »Dafür ist noch lange Zeit«, unterbrach sie mich. Sie umarmte mich, und ich hatte Angst, daß mein Feuer sie verzehren könnte. Aber es weckte nur die Glut in ihr, und ihre Flügel entfalteten sich vor Ek- stase, bis sie mich einhüllten. Und während ich mich ganz der Freude hingab, wußte ich, daß es nie wieder nötig sein würde, Avluelas Unterstützung in, Anspruch zu nehmen. Die Fremdheit zwischen uns war verflogen; wir hatten keine Angst mehr voreinander. Sie besuch- te mich täglich, und wir wanderten durch die Korri- dore, ohne daß ich ermüdete. Und das Feuer in uns brannte immer heller. Talmit sah ebenfalls häufig nach mir. Er brachte mir bei, meinen verjüngten Körper richtig einzuset- zen. Als er mich fragte, ob ich Olmayne noch ein- mal besuchen wollte, lehnte ich ab, und eines Tages erzählte er mir, daß ihr Leben zu Ende gegangen sei. Ich empfand keinen Schmerz darüber, nur eine son- derbare Leere, die rasch verging. »Du kannst unser Haus nun bald verlassen«, sagte Talmit. »Hast du dich darauf vorbereitet?« »Ich glaube ja.« »Hast du schon darüber nachgedacht, was du in Zukunft tun wirst?« »Ich weiß, ich muß mir eine neue Gilde suchen.« »Viele Gilden würden sich über deine Bewerbung freuen, Tomis. Hast du schon etwas Bestimmtes im Sinn?« »Ich suche die Gilde, in der ich der Menschheit am meisten nützen kann«, erwiderte ich. »Ich ver- danke dem Willen mein Leben.« »Hat das Schmetterlingsmädchen von den Mög- lichkeiten gesprochen, die sich dir bieten?« »Sie erwähnte eine neugegründete Gilde.« »Nannte sie einen Namen?«, »Ja. Sie sprach von der Erlöser-Gilde.« »Was weißt du darüber?« »Sehr wenig«, sagte ich. »Möchtest du Näheres erfahren?« »Ja.« »Ich gehöre ebenso zur Erlöser-Gilde wie das Mäd- chen Avluela«, erklärte Talmit »Aber ihr seid doch beide in anderen Gilden eingeschrieben! Wie kann man mehr als einer Gilde angehören? Nur die Herr- scher besaßen diese Freiheit, und sie …« »Tomis, die Erlöser-Gilde nimmt Mitglieder von al- len anderen Gilden an. Sie ist die höchste Gilde, wie einst die Gilde der Herrscher. In ihren Reihen be- finden sich Historiker, Schreiber, Karteibeamte, Die- ner, Schmetterlinge, Landbesitzer, Somnambulisten, Ärzte, Komiker, Kaufleute und Hausierer. Auch Mu- tanten sind zugelassen und …« »Mutanten?« stieß ich hervor. »Sie stehen außer- halb jeder Gilde. Das Gesetz will es so.« »Auch Mutanten können erlöst werden, Tomis.« »Ja, auch Mutanten«, entgegnete ich verlegen. »Aber es muß sich um eine sonderbare Gilde han- deln.« »Würdest du sie verachten, nur weil sie Mutanten aufnimmt?« »Das nicht. Aber ich kann mir eine derartige Gilde schwer vorstellen.« »Wenn die Zeit reif ist, wirst du alles besser ver- stehen.«, »Und wann ist die Zeit reif?« »Am Tage deiner Entlassung«, sagte Talmit. Dieser Tag kam bald heran. Avluela holte mich ab. Ich trat unsicher in den Frühling von Jorslem hin- aus, um das Ritual der Verjüngung zu vollführen. Talmit hatte Avluela Anweisungen gegeben, und sie brachte mich zu den Heiligtümern der Stadt, so daß ich überall meine Andacht halten konnte. Ich kniete vor der Mauer der Hebrer und der vergoldeten Kup- pel der Mislams; dann ging ich in den unteren Teil der Stadt, zu dem grauen, dunklen Bauwerk, das die Christer zur Erinnerung an den Tod ihres Gottes er- richtet haben. Ich suchte die Quelle der Weisheit und den Brunnen des Willens. Ich lieferte im Gilde- haus der Pilger Kutte, Maske und Sternstein ab und begab mich anschließend zum alten Stadtwall. An jedem dieser Plätze bot ich meine Dienste dem Wil- len an. Pilger und Bürger von Jorslem sammelten sich in respektvoller Entfernung; sie wußten, daß ich vor kurzem verjüngt worden war, und hofften, daß die Ausstrahlung meines jugendlichen Körpers ihnen Glück bringen würde. Endlich hatte ich mei- ne Verpflichtungen erfüllt. Ich war ein freier Mann und konnte ein Leben ganz nach meiner Vorstellung führen. »Kommst du jetzt mit mir zur Erlöser-Gilde?« frag- te Avluela. »Wo finden wir sie? In Jorslem?« »Ja, in Jorslem. In einer Stunde findet eine Ver-, sammlung statt, in der man dich als neues Mitglied begrüßen will.« Sie holte aus ihrer Jacke einen glänzenden run- den Gegenstand, den ich verwirrt als Sternstein er- kannte. »Was machst du damit?« fragte ich. »Nur Pil- ger …« »Lege deine Hand über die meine«, sagte sie und streckte mir den Arm entgegen. Ihre Finger umklam- merten den Sternstein. Ich gehorchte. Einen Moment lang war ihr klei- nes Gesicht starr vor Konzentration. Dann entspann- te sie sich. Sie legte den Sternstein weg. »Avluela, was :..« »Ein Signal an die Gilde«, sagte sie sanft. »Ich habe sie verständigt, daß du jetzt unterwegs bist.« »Woher hast du diesen Stein?« »Komm mit!« sagte sie. »Oh, Tomis, wenn wir nur hinfliegen könnten! Aber es ist nicht weit. Komm, Tomis, komm!« *, Der Raum war dunkel. Avluela erklärte mir, daß wir das Gildehaus der Erlöser erreicht hätten, und ließ mich allein. »Rühr dich nicht von der Stelle!« warnte sie mich. Ich spürte die Nähe anderer Menschen. Aber ich hörte und sah nichts. Etwas wurde mir zugeschoben. »Streck die Hände aus«, sagte Avluela. »Was fühlst du?« Ich berührte einen kleinen viereckigen Kasten, der auf einem Metallgestell zu liegen schien. An der Vorderfront befanden sich vertraute Hebel und Knöpfe. Meine tastenden Hände entdeckten Schal- ter an der Oberseite des Kastens. Und es schien, als hätte ich einen Sprung in die Zeit vor der Invasion getan: ich war wieder ein Wächter, und vor mir la- gen die Instrumente, die ich zur Ausübung meines Berufs brauchte. »Es ist nicht meine Wächterausrüstung«, sagte ich. »Aber ich kann keinen wesentlichen Unterschied feststellen.« »Hast du die Handhabung verlernt, Tomis?« »Ich glaube nicht.« »Dann benutze die Instrumente noch einmal«, sag- te Avluela. »Begib dich in Trance und verrate mir, was du siehst.« Leicht und unbeschwert führte ich die geliebten, Handgriffe aus. Ich befreite mein Inneres von Zwei- feln und störenden Gedanken. Es fiel mir überra- schend leicht, den Zustand der Aufnahmebereit- schaft zu erreichen; ich hatte das Ritual seit der Invasion nicht mehr durchgeführt, und doch schien es mir, als sei ich ungewöhnlich rasch ans Ziel ge- kommen. Nun berührte ich die Hebel. Wie sonderbar sie waren! Sie endeten nicht in den Tasten, die ich ge- wohnt war; etwas Kaltes, Hartes ersetzte sie. Eine Art Diamant – vielleicht sogar ein Sternstein. Mei- ne Hände umschlossen die beiden kühlen Sphären. Einen Moment empfand ich primitive Angst. Dann wurde ich wieder ruhig, und meine Seele ergoß sich von neuem in die Instrumente. Ich ergab mich der Trance. Meine Gedanken jagten nicht zu den Sternen wie früher. Ich nahm nur die unmittelbare Umgebung des Raumes wahr, in dem ich mich befand. Mit ge- schlossenen Augen und vorgebeugtem Oberkörper suchte ich und stieß zuerst gegen Avluela, die ganz in meiner Nähe war. Ich sah sie ganz deutlich; sie nickte; sie lächelte mir zu; ihre Augen glänzten. – Ich liebe dich. – Ja, Tomis. Und wir werden immer zusammen sein. – Ich habe mich noch keinem Menschen so nahe gefühlt wie dir. – In dieser Gilde sind wir uns alle nahe, zu jeder, Zeit. Wir sind die Erlöser, Tomis. Wir sind neu. So etwas wie unsere Vereinigung hat es noch nie auf der Erde gegeben. – Wie spreche ich mit dir, Avluela? – Dein Inneres erreicht mich mit Hilfe dieser Ma- schine. Und eines Tages wirst du auch die Maschi- ne nicht mehr brauchen. – Und dann fliegen wir zusammen? – Lange vorher, Tomis. Die Sternsteine in meinen Händen wurden warm. Ich konnte das Instrument jetzt deutlich sehen: die Ausrüstung eines Wächters, aber mit gewissen Ab- änderungen, zu denen auch die Sternsteine gehör- ten. Und ich sah an Avluela vorbei und erspähte an- dere Gesichter – Menschen, die ich kannte. Links von mir stand Talmit und neben mir der Arzt, in dessen Begleitung ich nach Jorslem gekommen war. Ich entdeckte den Mutanten Bernalt, und nun wuß- te ich endlich, was diese Männer von Nayrub in die heilige Stadt getrieben hatte. Die übrigen erkannte ich nicht; aber es waren zwei Schmetterlinge unter ihnen, ein Historiker und eine Dienerin. Und ich sah sie alle in einem inneren Licht, denn der Raum war immer noch dunkel wie bei meiner Ankunft. Ich sah sie nicht nur, ich berührte auch ihr Inneres. Zuerst stieß ich auf Bernalt. Ich zog mich angst- voll zurück, wagte einen neuen Vorstoß, zog mich wieder zurück. Bernalt hieß mich willkommen, und ich erkannte, daß die Erde nur Erlösung finden, konnte, wenn es mir und den anderen gelang, einen Mutanten als Bruder zu betrachten. Denn wie soll- ten wir unser Los überwinden, solange wir nicht als ein Volk dachten und handelten? Ich versuchte in Bernalts Gedanken einzudringen. Aber ich hatte Angst. Wie konnte ich meine Vorur- teile verbergen, meine kleinliche Verachtung, all die Reflexe, die beim Anblick eines Mutanten unwill- kürlich ausgelöst werden? »Verbirg nichts«, riet er mir. »Diese Dinge sind mir nicht fremd. Gib sie jetzt auf, und die Vereinigung kann um so rascher erfolgen.« Ich kämpfte. Ich verdrängte Dämonen. Ich rief mir gewaltsam jenen Augenblick ins Gedächtnis, als Bernalt uns vor den anderen Mutanten geret- tet hatte, als ich ihn eingeladen hatte, die Reise mit uns fortzusetzen. Was hatte ich damals gefühlt? Hat- te ich ihn, wenigstens für Sekunden, als Bruder be- trachtet? Ich verstärkte den Gedanken der Dankbarkeit und Kameradschaft. Ich ließ ihn anschwellen und hell aufflackern, und er überlagerte die Verachtung und Geringschätzung. Und ich sah die menschliche See- le hinter dem grotesken Äußeren des Mutanten und fand den Weg zur Vereinigung. Bernalt nahm mich in die Erlöser-Gilde auf. Durch mein Inneres dröhnte eine Stimme, und sie gehörte zugleich Talmit, dem Arzt, Bernalt und Av- luela. Sie gehörte allen Anwesenden, und sie sagte:, »Wenn die gesamte Menschheit unserer Gilde an- gehört, haben die Eroberer keine Macht mehr über uns. Wenn jeder von uns Teil jedes anderen ist, dann hat unser Leiden ein Ende. Und wir müssen auch nicht gegen die Invasoren ankämpfen, denn wir werden sie in uns aufnehmen, sobald wir alle erlöst sind. Tritt in uns ein, Tomis!« Und ich trat ein. Und ich wurde der Arzt, das Schmetterlingsge- schöpf, der Mutant, der Diener und all die anderen. Und sie wurden ich. Und solange meine Hände die Sternsteine umklammerten, waren wir eine Seele und ein Geist. Das war nicht die anonyme Vereini- gung mit dem Willen, sondern eine Verschmelzung von gleichgestellten Partnern, bei der man seine Un- abhängigkeit nicht aufgab. Ich wußte, daß dies et- was völlig Neues war, nicht nur die Gründung ei- ner neuen Gilde, sondern ein neuer Abschnitt in der Menschheitsgeschichte. Es war die Geburt des Vierten Zyklus. Die Stimme sagte: »Tomis, wir wollen zuerst jene erlösen, die es am nötigsten haben. Wir wollen nach Agupt gehen, in die Wüste, wo armselige Mutanten sich vor einem alten Bauwerk zusammendrängen, das sie verehren. Wir werden sie in uns aufnehmen und reinigen. Wir werden weitergehen, nach We- sten, in ein bemitleidenswertes Dorf, das von der Kristallkrankheit geknechtet wird. Wir werden die Seelen der Dorfbewohner erreichen und sie von der, Sünde freimachen, damit die Krankheit ein Ende nimmt. Und wir werden von Agupt aus in alle Län- der der Erde gehen. Wir werden jene suchen, die ohne Gilde sind, und jene, die die Hoffnung verlo- ren haben, und jene, die kein Morgen kennen. Wir werden ihrem Leben wieder einen Sinn verleihen. Und die Zeit wird kommen, zu der die ganze Erde erlöst ist.« Ich sah einen umgewandelten Planeten vor mir, und die Invasoren baten darum, in unserer Mitte aufgenommen zu werden. Ich sah eine Erde, die von ihren Sünden befreit war. Dann ließ ich die Sternsteine los. Die Vision verblaßte. Der Glanz erlosch. Aber ich war nicht mehr ganz allein. Ich spürte, daß der Kontakt nicht vollkommen abgerissen war. Und der Raum erschien mir mit einemmal nicht mehr dun- kel. »Wie geschah dies alles?« fragte ich. »Wann hat es seinen Anfang genommen?« »In den Tagen nach der Invasion«, erklärte Talmit, »fragten wir uns, weshalb wir so rasch gefallen wa- ren und wie wir uns wieder aus der Knechtschaft er- heben könnten. Wir erkannten, daß die Gilden un- serem Leben nicht den notwendigen Halt gegeben hatten, daß wir stärkere Bindungen brauchten, um die Erlösung zu erlangen. Wir hatten die Sternstei- ne; wir hatten die Wächterinstrumente; wir mußten sie nur zu einem Ganzen vereinigen.«, Der Arzt fügte ein: »Du bist sehr wichtig für uns, Tomis, weil du es verstehst, dich in Trance zu ver- setzen. Wir suchen ehemalige Wächter. Sie sind der Kern unserer Gilde. Früher einmal wanderte deine Seele zu den Sternen, um nach Feinden der Mensch- heit zu suchen; nun soll sie die Erde durchstreifen und die Menschen zur Vereinigung aufrufen.« Avluela sagte: »Du wirst mir helfen, daß ich auch bei Tage fliegen kann, Tomis. Und du wirst an mei- ner Seite fliegen.« »Wann brichst du auf?« fragte ich. »Jetzt«, entgegnete sie. »Ich gehe nach Agupt, zum Tempel der Mutanten, um ihnen die Erlösung anzu- bieten. Und ihr alle werdet euch vereinigen, um mir die nötige Kraft zu geben, und du, Tomis, wirst die Kraft ausstrahlen.« Ihre Hände berührten die mei- nen. Ihre Lippen streiften die meinen. »In diesem Augenblick beginnt der neue Zyklus der Erde. Oh, Tomis, wir sind alle neugeboren.« *, Ich blieb allein im Raum zurück. Die anderen ver- teilten sich. Avluela trat hinaus ins Freie. Ich legte die Hände über die Sternsteine, und ich sah sie so deutlich, als stünde sie neben mir. Sie bereitete sich auf den Flug vor. Zuerst streifte sie ihre Kleider ab, und ihr bloßer Körper schimmerte in der Nachmit- tagssonne. Sie schien unglaublich zart; ich hatte das Gefühl, daß ein Windstoß sie zerbrechen konnte. Dann kniete sie nieder, senkte den Kopf und hielt ihre Andacht. Sie sprach zu sich, aber ich verstand die Worte. Alle Gilden sind in unserer neuen Gilde vereint; wir haben keine Geheimnisse voreinander; wir kennen keine Tabus. Und als sie den Willen um Gnade für sich und ihre Artgenossen anflehte, un- terstützte ich sie durch mein Gebet. Sie erhob sich und entfaltete die Flügel. Einige Passanten warfen ihr fragende Blicke zu, nicht etwa, weil der Anblick eines nackten Schmetterlingsge- schöpfes in den Straßen von Jorslem ungewöhn- lich war, sondern weil die Sonne grell vom Him- mel strahlte und ihre transparenten Flügel mit den zarten Pigmentflecken eindeutig für die Nacht be- stimmt waren. »Ich liebe dich«, sagten wir, und unsere Hände streichelten kurz ihre weiche Haut. Sie atmete tief ein. Ihre kindhaften Brüste bebten. Ihre Schwingen waren jetzt voll entfaltet und glänz-, ten herrlich. »Nun fliegen wir nach Agupt«, mur- melte sie, »um die Mutanten zu erlösen und sie mit uns zu vereinen. Tomis, begleitest du mich?« »Ich begleite dich«, sagten wir, und ich umkrampf- te die Sternsteine und beugte mich über die Instru- mente. »Wir fliegen gemeinsam, Avluela!« »In die Lüfte, also!« sagte sie, und wir wiederhol- ten: »In die Lüfte!« Ihre Flügel schlugen, um den Wind einzufangen; wir spürten, daß sie anfangs zu kämpfen hatte, und wir übermittelten ihr die Stärke, die sie brauchte, und dann stiegen wir auf. Die Türme und Wälle des goldenen Jorslem wurden klein, die Stadt wurde zu einem rosa Fleck zwischen grünen Hügeln, und Av- luelas pulsierende Schwingen brachten uns rasch nach Westen, der untergehenden Sonne entgegen. Ihre Ekstase durchflutete uns alle. »Siehst du, To- mis, wie herrlich es hier oben ist? Spürst du es?« »Ich spüre es«, flüsterte ich. »Der kühle Wind ge- gen die Haut – der Wind in meinem Haar – wir trei- ben mit der Strömung, wir schweben, Avluela, wir schweben!« Nach Agupt. Dem Sonnenuntergang entgegen. Wir sahen hinunter auf den glitzernden Mittleren See. Irgendwo in der Ferne lag die Landbrücke. Im Norden war Eyrop, im Süden Afreek. Weit vorne, jenseits des Erdmeers, befand sich meine Heimat. Später einmal würde ich sie besuchen, zusammen mit Avluela. Ich würde ihr die Nachricht von der, Umwandlung der Erde bringen. Von dieser Höhe aus konnte man nicht erkennen, daß die Erde besiegt war. Man sah nur die herrli- chen Farben von Land und Meer, nicht die Kontroll- punkte der Invasoren. Die Kontrollpunkte würden bald zusammenbre- chen. Wir würden unsere Eroberer erobern, nicht mit Waffen, sondern durch Liebe; und die erlösten Erdbewohner würden die Fremdlinge in ihre Ge- meinschaft aufnehmen. »Ich wußte, daß du eines Tages neben mir fliegen würdest, Tomis«, sagte Avluela. Ich kauerte in meinem dunklen Raum und schick- te neue Kraft durch ihre Flügel. Sie kreiste über der Wüste. Bald würde der Ope- rationssaal, das Heiligtum der Mutanten, in Sicht kommen. Ich bedauerte, daß wir landen mußten. Ich wäre am liebsten für immer in den Lüften geblieben. Mit Avluela. »Auch das kommt noch, Tomis«, rief sie mir zu. »Nichts kann uns mehr trennen. Das glaubst du doch, Tomis, oder nicht?« »Ja«, sagten wir, »ich glaube es.« Und wir geleite- ten sie durch den Abendhimmel nach unten. ***,

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