Herunterladen: Thomas Gifford Aquila
Thomas Gifford Aquila s&p 2006 Ein über zweihundert Jahre altes Dokument kommt überraschend ans Tageslicht. Der Student, der es entdeckt hat, wird ermordet aufgefunden. Eine junge, forsche Fernsehreporterin lässt nicht locker. Und ein harmloser Geschichtsprofessor aus Harvard, Massachusetts, findet sich plötzlich im Kreuzfeuer der Geheimdienste. Gemeinsam versuchen die beiden ungleichen Verbündeten, das Geheimnis zu lüften. Sie stoßen dabei auf eine Verschwörung, welche die Grundfesten der Nation erschüttern könnte. ISBN: 3-404-15118-6 Original: The Glendower Legacy Aus dem Amerikanischen von ...
Autor
Anonym
Downloads: 0 Abrufe 1
Dokumentinhalt
Thomas Gifford Aquila
s&p 2006 Ein über zweihundert Jahre altes Dokument kommt überraschend ans Tageslicht. Der Student, der es entdeckt hat, wird ermordet aufgefunden. Eine junge, forsche Fernsehreporterin lässt nicht locker. Und ein harmloser Geschichtsprofessor aus Harvard, Massachusetts, findet sich plötzlich im Kreuzfeuer der Geheimdienste. Gemeinsam versuchen die beiden ungleichen Verbündeten, das Geheimnis zu lüften. Sie stoßen dabei auf eine Verschwörung, welche die Grundfesten der Nation erschüttern könnte. ISBN: 3-404-15118-6 Original: The Glendower Legacy Aus dem Amerikanischen von Vera Mansfeldt Verlag: Lübbe GmbH & Co. KG Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, KölnDieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
, Von Thomas Gifford erschien bei Bastei Lübbe: 13509 Assassini 13985 Gomorrha 14249 Protector 14432 Komplott 14578 Intrige 14957 Skandal, Über den Autor: Thomas Gifford erzielte seinen internationalen Durchbruch mit dem Vatikanthriller ASSASSINI, gefolgt von Romanen wie GOMORRHA und PROTECTOR. Doch dem amerikanischen Publikum war er seit den Siebzigerjahren bekannt als »Autor von AQUILA«, einem Buch, das seine besten Qualitäten als Erzähler zeigt und nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt., Für Rachel und Tom, Ich bin nicht ich; er ist nicht er; sie sind nicht sie., Schau auf ins Aug der Sonne und gebe, Was hoffnungsfroh ein Herz dem Guten zollt, Dass einst ein neuer Tag das Beste zeuge, Weil du gegeben, nicht was sie gewollt, Sondern für Adlers Nest die rechten Zweige. William Butler Yeats,PROLOG
Valley Forge Januar 1778, Wiliam Davis stand knöcheltief im verharschten Schnee auf Wache. Er beobachtete den Mond, der gerade lange genug hinter den Wolken hervorglitt, um die Hänge über dem Schuylkill River in ein geisterhaftes metallisches Grau zu tauchen – ein heller, überirdischer Farbton, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf. Eine Farbe ließ sich nicht anfassen, wie er wusste, aber dieses Grau war etwas Besonderes: Es lebte. Verrückt war das. Der Hunger spielte ihm übel mit, nicht nur in seinen Eingeweiden, auch im Kopf. Er hörte seinen Magen grollen, der leer war bis auf den grässlichen Flammkuchen mit Reis … Flammkuchen, in der Hölle erfunden und durch persönlichen Boten nach Valley Forge geschickt: ein bisschen Mehl und viel Wasser, auf flachen heißen Steinen kross gebacken und unverdaulich wie ein Kieselstein, der über das Wasser hüpft. Ein wenig Reis, mit Essig gewürzt, um den Skorbut fernzuhalten. Doch er wusste, dass er zu den Glücklichen gehörte: Er besaß Schuhe, seine Füße waren noch keine blutigen Klumpen, an dürren Knöcheln baumelnd, von Erfrierungen und vom Faulbrand schwarz geworden. Er besaß einen ordentlichen warmen Mantel, eher neu als alt, den ihm sein Vater aus Cambridge geschickt hatte. Er seufzte und spürte, wie sich sein Atem als Reif in seinem Schnauzbart und in den Härchen seiner Nasenlöcher festsetzte. Wenn er sein Gesicht berührte, fühlte es sich an wie Glas. In dem dicken Mantel, verziert mit soliden Messingknöpfen, konnte er gut und gern als bestgekleideter gemeiner Soldat des Lagers gelten, wenngleich das Kleidungsstück schon eine Menge Rauch eingefangen hatte – Rauch, der undurchdringlich in allen Hütten hing, die seit ihrer Ankunft in den Baumgruppen über dem Schuylkill gebaut worden waren … Er krallte seine Zehennägel in die Stiefelsohlen, bis er vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen musste. Gott, wie er den Rauch und die Kälte und die Flammkuchen, hasste! Tausend Hütten hatten sie gebaut, mit Äxten als einzigem Werkzeug. Die Strohdächer ließen den Regen durch, der Lehmboden wurde nicht warm, das grüne Holz, das sie zum Feuermachen verwendeten, qualmte, als hätten die Rotjacken in jede Hütte einen Rußeimer geworfen … Trotz allem war er nicht so übel dran. Sein Freund Ben Edwards, zweiundzwanzig wie er, hatte keine Schuhe besessen, hatte Wache geschoben mit den blanken Füßen im Hut. Er hatte die Ruhr bekommen, und vor einer Woche war er gestorben … Kurz vor seinem Tod hatte man ihm noch die schwarz gefrorenen Beine amputiert, mehr oder weniger zur Übung. Der arme alte Ben hätte es niemals geschafft. Mit der Ruhr war es ganz schlimm, sie grassierte überall; die Hütten stanken von der scheußlichen wässerigen Scheiße der Burschen, aus deren Körpern das Leben so einfach und ekelhaft herausrann. Der Mond war wieder verschwunden, und plötzlich sah die Wolkendecke dichter, dauerhafter aus und machte die Nacht sehr dunkel. Nur der Wind pfiff an der Baumgrenze. William spürte einen Druck auf der Blase. Er sah zu der dichten Baumgruppe hin. Draußen im Wind würde er bestimmt nicht pinkeln, verdammt noch mal. Er hatte nämlich gehört, einem Mann sei sein Ding erfroren, einfach abgefallen, hatte er gehört. Er konnte nicht sagen, ob die Geschichte erfunden war, aber er hielt es auch nicht für nötig, das durch einen Selbstversuch zu klären. Nein, es könnte schlimmer sein; überall rings um ihn war es schlimmer. Allerdings hatte er die Krätze, und wenn er sich kratzte, betrachtete er sein Leiden als Kriegsverletzung. Das einzige Mittel dagegen war, sich den Körper von einem Freund mit einer stinkenden Mischung aus Schwefel und Talg einreiben zu lassen. Heiland! Ob er je wieder nackt bei einem Mädchen liegen würde? Es schien ganz unmöglich, wenn man da draußen in der Kälte stand und spürte, wie Talg und Schwefel auf Brust, und Rücken festfroren. Trotz allem lächelte er, dass sein Bart knisterte: Er war besser dran als die meisten. Daran musste er sich stets erinnern, auch wenn das manchmal nicht leicht war. Teufel noch mal, bei Germantown hatte es Momente gegeben, in denen er mit Sicherheit glaubte draufzugehen … Aber unter General Washington zu dienen machte viele Qualen wett. Dieser Gedanke hatte ihn manche schwere Nacht und manch heikle Lage überstehen lassen – Geschichten, die er eines Tages seinen Enkeln erzählen würde. Geschichten aus der Zeit, in der er in Washingtons Armee gedient hatte. Was war der alte George doch für ein Mann! William war ihm zum ersten Mal auf dem Gemeindeanger von Cambridge begegnet – einem großen, kräftigen Kerl mit breitem Hintern, dem Musterbild eines Soldaten. Jemand, der dich auffordern durfte, ihm in die Schlacht zu folgen … Jemand, hinter dem du dich notfalls verstecken konntest, wenn es zu brenzlig wurde. Schließlich stapfte er auf die schwarze Masse der Bäume zu, wobei er bei jedem Schritt durch die harsche Schneekruste brach. Der Wind jammerte stärker, als er näher herankam. Er erinnerte sich, dass der dunkle Wald ihm als Jungen in Massachusetts immer Angst eingejagt hatte. Jetzt war er für ihn nur noch ein Ort, der ihm Schutz bot vor dem Wind und wo er sich erleichtern konnte. Er lächelte in der Erinnerung an seine Knabenzeit, und wieder hörte er seinen Bart knistern wie splitterndes Glas. Verdammt, er wusste, was einige seiner Kameraden über Washington sagten; er kannte die Sticheleien und Beleidigungen, die unanständigen verhohlenen Gesten und die böswillige Kritik. Er hatte alles gehört, und er hätte gern gesehen, wie sie es dem alten George ins Gesicht sagten! Sollten sie doch murren, diese verdammten Narren … Er hatte andere, weisere Männer sagen hören, dass keine Armee der Welt sich so gut geschlagen hätte wie Washington und seine Leute. Sie hätten sich den Respekt der Welt verdient. Jemine, das sagte, doch alles über George Washington, was man wissen musste. Er erledigte sein Geschäft und fühlte, wie sich sein Körper im Windschatten entspannte. Der Schnee wehte über den Harsch, prasselnd in der Nacht, und zerstob zwischen den Bäumen. Nichts bewegte sich entlang der Baumgrenze. William trat gegen einen Baumstamm, um seine Blutzirkulation in Gang zu halten. Hier unter den Bäumen war er besser vor dem Wind geschützt. Er tastete in seiner Tasche nach der Pfeife, und als ihm einfiel, dass er keinen Tabak mehr hatte, starrte er ins Dunkel des kleinen Wäldchens, das ihm sehr groß erschien. Seine Augen gewöhnten sich an das tiefere Blauschwarz. Vielleicht war ein kurzer Erkundungsgang durch das einladende, schützende Gehölz angebracht. Ihm war nicht ganz klar, gegen wen er hier draußen in der Kälte auf Posten stand, aber wer es auch sein mochte – würden sie sich nicht eher im Wald sammeln? William griff nach seiner Muskete, die an einem Baum lehnte. Es kam ihm vor, als stiege er in eine Höhle hinab; das tiefe Blauschwarz trug nur den Geruch von Kälte mit sich, und rings um ihn war nichts als Schnee. Nach ungefähr dreißig Metern blickte er zurück, aber es war nichts zu erkennen außer der Düsternis. Die Wolken über ihm, die er durch die Baumwipfel erspähte, gingen nur ein bis zwei Schattierungen ins Graue. Ihn überraschte die Angst in seiner Brust. Er blieb stehen, wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und blinzelte. Er hatte von Menschen gehört, die sich im Dickicht verirrten, sich zu Tode liefen, die wild und atemlos im Kreis rannten, bis sie stürzten und erfroren … Doch Panik lag nicht in seiner Natur. Er wusste, er war zehn Minuten vom Waldrand entfernt und konnte gelassen den Weg entlang seiner Fußstapfen zurückverfolgen. Er holte tief Luft und sah sich um. In dem Moment roch er zum ersten Mal den Rauch. Kam er vom Lager? Nein, es war zu weit entfernt … Er schnupperte mit geschlossenen Augen. Der Wind, der durch den Wald wehte,, trug den Geruch mit sich. Als William sich umwandte, um die Richtung zu orten, blies er heftiger. Ohne Zweifel kam der Geruch aus dem Innern des Waldes. Williams Neugier erwachte wie eine nachtblütige Blume. Wer zum Kuckuck konnte das sein? Vielleicht war einer der Jungs losgezogen, hatte sich verlaufen und brauchte Hilfe. Unvorstellbar – aber auch Valley Forge war unvorstellbar. Er bewegte sich auf den Geruch zu. Seine Furcht von soeben war vergessen. Nachdem er weitere zehn Minuten langsam vorwärts gegangen war, blieb er noch einmal stehen. Der Geruch war viel intensiver geworden, und Williams Müdigkeit hatte zugenommen. Einen Augenblick lang ruhte er sich aus, dann spähte er, so scharf er konnte, in Richtung der mutmaßlichen Quelle des Geruchs. Zwischen den Baumreihen blitzte für einen kurzen Augenblick ein flackerndes Licht auf, winzig und fast nicht zu erkennen, aber es war ohne Zweifel da gewesen. William schonte seine Kräfte, sah keinen Grund zu einem Anruf. Außerdem war er noch zu weit entfernt, und der Wind hatte aufgefrischt. Er stapfte vorwärts. Seine Muskete wurde mit jedem Schritt schwerer. Als er näher kam, erkannte er Schatten zwischen den Bäumen, wenn kleine Windstöße das Feuer aufflackern ließen. Als er sich seinen Weg durch den Schnee bahnte, der im Wald weicher und feiner war und nicht so tief, trug ihm der scharfe Wind zu seiner Überraschung als nächstes Gesprächsfetzen zu, Stimmen, die verstummten und wiederkamen … Doch kein armes Schwein, das sich verlaufen hatte! Verschiedene Stimmen und Gelächter waren zu hören, dann drehte sich der Wind und hinterließ Stille. Aber der Feuerschein wurde heller und die Bäume spärlicher. Vor ihm lag eine Lichtung. William stapfte näher heran; er bewegte sich ganz vorsichtig, obwohl er nicht genau sagen konnte, warum. Noch in der Dunkelheit verborgen, blieb er schließlich am Rand der Lichtung stehen. Er sah drei – nein, vier – stattliche, Männer in Mänteln, die im Schutz einer großen Hütte um ein Feuer saßen oder standen. Ihre Gesichter lagen im Schatten. Sie schienen in ein Gespräch vertieft zu sein. Während William sie beobachtete, fühlte er, wie der Schweiß seine langen Unterhosen durchtränkte. Er spürte sie nass und kalt auf der Haut, und die verfluchte Krätze juckte wie Insektenstiche. Er wusste nicht, was er tun sollte, aber zweierlei war ihm klar: Er empfand unerklärliche Furcht, und es interessierte ihn brennend, wer die Männer waren … Alle vier hatten sich gesetzt. Einer von ihnen warf ein Holzscheit ins Feuer. Unerwartet legte sich der Wind. Die Stille brachte ihre Stimmen näher, doch William machte sich nur Sorgen um seinen eigenen Atem, der ihm ohrenbetäubend laut vorkam. Er hielt sich einen Handschuh vor den Mund und grub seine Zähne hinein, bis er glaubte, ersticken zu müssen. Er hörte die Männer reden, hörte Worte, deren Bedeutung er nicht erfasste. Er konnte keine Farben und Rangabzeichen an den Mänteln erkennen. Im ständig wechselnden flackernden Licht des Lagerfeuers sah auf die Entfernung alles einheitlich schwarz aus. Außerdem war es nicht nötig, ihre Mäntel zu sehen. Voller Angst, mit klopfendem Herzen, verbiss er sich heftiger in seinen Handschuh. Sie waren Engländer, darauf hätte er sein Leben verwettet. Er kannte den Tonfall. Gewiss, die Kolonialherren sprachen ähnlich, und viele waren so loyal wie er selbst; aber die echten Engländer hatten einen anderen Tonfall. Unmöglich, dass er sich irrte: In Boston hatte er sie sein Leben lang gehört. Er erkannte eine englische Stimme. Mindestens drei von ihnen waren Engländer, doch der vierte, eine imposante, untersetzte Gestalt, die am Feuer hockte und William den Rücken zukehrte, war nicht einzuordnen. Soweit William sagen konnte, hatte der Mann weder gesprochen noch sich bewegt, außer, um im Feuer zu stochern. Er starrte angespannt in die Flammen und schien zuzuhören, während die anderen sich unterhielten., Heiland, worauf war er hier gestoßen? Den Beginn eines überraschenden Winterangriffs? Man hatte den Männern gesagt, so etwas sei unmöglich, der Winter mache den Rotjacken genauso zu schaffen wie ihnen … Aber was wusste ein zweiundzwanzigjähriger Infanterist schon davon? Nichts als Gerüchte, erfundene Geschichten und ausgemachte Lügen. Vielleicht ging es jetzt los, und er war das erste Opfer … Er verstand die Frage nicht, aber der hockende Mann sagte etwas, ohne den Blick vom Feuer zu wenden. Die anderen drei standen oder saßen und beobachteten ihn. Der Feuerschein flackerte auf ihren ausdruckslosen Gesichtern. Er war Amerikaner. »Und in welchem Zustand ist die Armee Ihrer Meinung nach? Was ist mit der Kälte, dem Hunger, dem Sterben an der Ruhr, der Angst? Selbst ich habe Angst, wenn ich mit Leuten wie Ihnen zu tun habe … Ein Messer im Rücken als Belohnung. Das ist es, was mir Angst macht, Sir!« Seine kraftvolle Stimme tönte über die Lichtung. Er schien seine Frustration und seinen Groll gerade noch im Zaum zu halten. »Sie verlangen Informationen und Einzelheiten – der Himmel behüte uns! Sehen Sie sich um! General Winter, Sir … Eine Armee unausgebildeter Bürger, nicht die mindeste Versorgung –« Einer der Engländer sagte etwas, worauf ein anderer lachte. Es steckte Sympathie in seinem Lachen, als habe er Angst, den Amerikaner noch mehr in Rage zu bringen. »Nein, verdammt noch mal«, sagte der Hockende. »Glauben Sie, ich bin verrückt? Die Armee ausliefern! Bin ich so weit gesunken, dass ich mit Idioten verhandeln muss?« Er warf mit der linken Hand ein Holzscheit ins Feuer. Funken stoben auf und verglühten. »Nein, ich kann und werde die kontinentale Armee nicht ausliefern! Wie kann ein Einzelner eine Armee ausliefern, selbst eine wie unsere? Es sind große und aufrechte Männer dabei, die bis zum Tode kämpfen würden. Tapfere Männer. Männer, die daran glauben, dass wir Sie überdauern, können. Und Sie, meine Herren, geben mir das Gefühl, sie könnten vielleicht Recht haben …« »Und Sie, guter Mann«, erwiderte einer der Engländer scharf, »stecken zu tief in der Patsche, um solche Gedanken zu hegen! Denken Sie bitte an Ihre Rolle in diesem Spiel!« »Weshalb versuchen Sie mich einzuschüchtern? Über diesen Punkt bin ich längst hinaus … Das Einzige, was mir Bange macht, ist Ihre Treulosigkeit. Ein Messer im Dunkeln wäre mir fast willkommen, Sir, denn es würde manches klären. Und glauben Sie mir, ich bin nicht leicht umzubringen! Ich würde Sie überwältigen, Sir. Sie wären früher tot als ich!« »Sachte, sachte«, warf ein Friedensstifter ein. »Das ist sinnlos …« »Denken Sie daran: Ich mache keine Scherze«, sagte der Amerikaner. »Es ist ein ernstes Geschäft.« Er schwieg, ohne seine Stellung zu verändern. »Was Sie auch von mir halten mögen: Ich versuche, das Land zu retten – vor der Niederlage, vor Schurken und Aasgeiern. Sie verstehen mich nicht … Meine Motive sind Ihnen fremd. Wir können einander benutzen, das ertrage ich. Mehr nicht.« »Die Armee können Sie nicht ausliefern«, erklärte der Friedensstifter. »Das verstehen wir … Nicht einmal – klar, niemand kann eine Armee ausliefern.« »Es hätte auch keinen Sinn, sehen Sie das denn nicht? Damit würden Sie Ihre Probleme nur vergrößern. Es muss so aussehen, als würden wir bis zu einem ehrenhaften Frieden kämpfen. Keine echte Kapitulation, sondern ein Frieden zu Ihren Bedingungen – Ihren großzügigen Bedingungen. Dann kann der gute alte König George wieder ruhig schlafen. Vorher nicht …« »Von Ihrem ruhigen Schlaf gar nicht erst zu reden …« Der bissigste der drei Engländer stand neben der hockenden Gestalt. »Sie werden eine Belohnung erhalten, wie Sie sehr wohl wissen –« »Es ist ein Würfelspiel. Ihr Wort bedeutet mir nichts – mein, Lohn ist, das Land wieder vereint zu sehen, im Frieden mit dem König … einem König, der seine Kinder versteht …« »Ich wage zu behaupten, dass Sie unser Angebot nicht ausschlagen werden.« Er stakste auf die Bäume zu, hinter denen William stand. Der Soldat verharrte regungslos und sah zu, wie der Mann stehen blieb, abrupt kehrtmachte und wieder zum Feuer zurückging. William war geschockt von der Ungeheuerlichkeit dessen, was er beobachtete. Verrat … Er musste die Gestalt, die da vor dem Feuer hockte, irgendwie zu Gesicht bekommen. Die Armee und Washington persönlich wurden von diesem Mann verkauft, dieser Gestalt ohne Gesicht, deren Stimme vom unsteten Wind auf der verschneiten Lichtung verzerrt wurde. Er fühlte sich hin und her gerissen: Einerseits wollte er weg von diesem Ort, andererseits wollte er den Verräter sehen. »Sie müssen die Papiere unterschreiben«, forderte der wieder hinzu gekommene Engländer. »Wir brauchen sie als Sicherheit – « »Erpressung ist wohl das passende Wort, Sir!« »Wie Sie wollen. Unterschreiben müssen Sie.« Er legte die Papiere auf einen Feldstuhl und zog eine Schreibschatulle aus den Falten seines Mantels. Seine Körperwärme musste verhindert haben, dass die Tinte einfror. »Ihr Codename – das hier bestätigt Ihren Codenamen. Aquila. Unterzeichnen Sie einfach. Sie haben ja Übung darin.« Er lachte verächtlich, als er Tinte und Feder auf den Feldstuhl stellte. William setzte seinen ganzen Willen ein, um den Amerikaner dazu zu bewegen, sich umzudrehen, sein Gesicht zu zeigen, obwohl das in dem diffusen Licht vielleicht gar nicht zu erkennen gewesen wäre. Der Mann verharrte jedoch in seiner kauernden Haltung. Genau in dem Moment, als er die Feder dem streitsüchtigen Engländer zurückgab, hörten William und die vier Männer auf der Lichtung das Geräusch von brechenden Zweigen und, schweren Tritten. William wirbelte herum, um zu sehen, was los war. Er stolperte über seine Muskete und fiel mit einem Japser auf die Knie. Der stattliche Amerikaner wandte sich um, als William fiel, und die Engländer blickten nach rechts, von wo die anderen Geräusche zu kommen schienen. Aus den Reihen der Neuankömmlinge, die durch das Gehölz brachen, rief jemand: »He! Wer da? Bist du das, Harry?« Aus Williams Sicht ergab es keinen Sinn, als der Amerikaner aus seinem Mantel eine große Pistole hervorzog. Er richtete sie auf William, der seine Muskete packte, den Handschuh ausspuckte, und sich umständlich hinter einem Baum verkroch. »Verdammt noch mal, wir sind umzingelt!« Während der Amerikaner sprach, feuerte er einen Schuss ab, den William ungefähr dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in den Baum einschlagen hörte. Holzsplitter flogen durch die Gegend. Das aggressive Mündungsfeuer der Pistole beleuchtete kurz das Gesicht des Mannes, aber William duckte sich gerade und sah nur die rosa Farbe seines Gesichts, nicht dessen Züge. Er fühlte, wie sich seine fast leere Blase in die Hose entleerte. Der Mann lud wieder nach und kam auf ihn zu, aber die Rufe der anderen ließen ihn innehalten. Zwei Männer stürmten auf die Lichtung. Ein Engländer feuerte einem von ihnen aus kürzester Entfernung ins Gesicht, und ein grässlicher Schrei durchdrang die lastende Stille. Der Mann taumelte stöhnend zurück, hob die Hände dorthin, wo soeben noch sein Gesicht gewesen war, und fiel mit zuckenden Beinen tot in den Schnee. Der Engländer und der Verräter zertraten die Glut im Schnee zu Asche und flohen quer über die Lichtung. Schreiend und unbeholfen, behindert von ihren Musketen, die im Nahkampf wenig nützten, stolperten die Soldaten hinterher. Ein weiterer Pistolenschuss knallte, als die Verschwörer den Waldrand hinter der Lichtung erreichten. Keiner fiel, und die Geräusche von mehreren Männern, die durchs Unterholz hasteten, erfüllten die Nacht. Wie durch Zauberei war die, Lichtung plötzlich leer – bis auf den toten Soldaten der Kontinentalen. Von seinem Instinkt getrieben, stürzte William die knapp zehn Meter über die offene Lichtung zum ersterbenden Lagerfeuer und griff sich das Blatt Papier auf dem Feldstuhl, das an einem Span hängen blieb und zerriss. Aus Angst vor Verzögerung stopfte er das, was er hatte, in die Tasche, wirbelte herum und blieb mit seinem Mantel an einem unregelmäßig behauenen Stamm der Hütte hängen. Von Furcht getrieben, machte er sich mit einem Ruck los und hörte den Mantel reißen, bevor er wieder ins schützende Dunkel der Bäume flüchtete. Er konnte die Muskete nicht finden. Offenbar hatte er seinen Standort verfehlt. Aus der Dunkelheit ertönte eine weitere Explosion, gefolgt von einem erstickten Schrei und dem Ruf: »Hierher! Hierher!« Die Stimme wurde von einer neuen Explosion zugedeckt und brutal und abrupt vom Leben getrennt. Sämtliche Schüsse waren aus Pistolen gefallen. Die Kontinentale Armee zählte drei Soldaten weniger, und nicht eine Muskete war abgefeuert worden. Er wusste nicht, wie viele sie waren. Aber die Suche nach Harry – wer immer er gewesen sein mochte – hatte sie das Leben gekostet. Aus Angst, sich zu bewegen, lehnte er sich an einen Baum und spürte, wie die nasse Vorderseite seiner Hose steif fror. Er hörte kein weiteres Scharmützel, nur schwächer werdende Geräusche von der Flucht seiner vermeintlichen Kameraden – so weit sie überlebt hatten. Was ging ihnen wohl durch den Kopf, fragte er sich. Drei Tote – mein Gott, was war da zu machen? Wie konnte eine ruhige Nacht so ausarten? Er zitterte unkontrolliert, wie im Fieber. Waren die Männer, die er heimlich beobachtet hatte, endgültig verschwunden? Er glaubte es nicht so recht; bei ihrer Flucht hatten sie nichts mitgenommen. Aber wo steckten sie? Er musste warten, denn er konnte nicht riskieren, ihnen im Dunkeln über den Weg zu laufen. Anscheinend machten sie beim Töten, kein großes Federlesen … Er durfte nicht einschlafen, sonst wäre er erfroren. Er durfte sich nicht bewegen, sonst hätte er seine Position verraten. Schließlich setzte er sich nieder und wartete. Ungefähr eine Stunde musste vergangen sein, als er sie von jenseits der Lichtung zurückkehren hörte. Bei den ersten Geräuschen begann er seinen eigenen vorsichtigen Rückzug. Er hatte sich auf seinen Ärmel erbrochen. Er stank. Muskete weg, Mantel zerrissen, ein Stück Papier in der Tasche, die Hosen steif von gefrorener Pisse – außerdem war er Zeuge von drei Morden und von Hochverrat. Seine Furcht hatte jedoch gerade erst begonnen. Am folgenden Tag fragte niemand William Davis nach der verschwundenen Muskete. Das Lager war groß und aufs Überleben ausgerichtet, nicht aufs Kämpfen. Er hörte Gerüchte über drei Vermisste, aber keine offizielle Bestätigung, nur vage Gerüchte, um die sich kaum jemand kümmerte. Man hatte keine Leichen gefunden. William vermutete, dass die drei Toten als Deserteure abgeschrieben wurden. Genau das, was aus ihren zu Tode erschrockenen Kameraden geworden war: Deserteure, die aus Valley Forge in Richtung Heimat geflohen waren. William überlegte, was er tun sollte. Konnte er sich irgendjemandem anvertrauen, ohne Beweise? Dann kam ihm das Blatt Papier in den Sinn, das noch in seiner Hosentasche steckte. Als er allein war, entfaltete er es und blickte auf die verschmierten und verdreckten Worte, die aber noch lesbar waren. Nur die obere Ecke des Blattes war auf der Strecke geblieben. Er las mit verschwommenem Blick, an dem sein ständiges Schwindelgefühl schuld war, und spürte, wie er vor Schwäche weiche Knie bekam. Die Sache überforderte ihn. Er konnte das Papier keinem Menschen zeigen. Er konnte damit nicht zu General Washington ins Hauptquartier gehen und auch nicht zu Captain Whittaker. Er wagte nicht, mit irgendjemandem darüber zu reden – nicht,, bis er gründlich darüber nachgedacht hatte. Es konnte einfach nicht wahr sein … doch er hatte alles miterlebt, und, bei Gott, nun kannte er auch die Gestalt, die mit gezogener Pistole auf ihn zu gekommen war. Immer, wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht ohne erkennbare Züge im Mündungsfeuer der Pistole vor sich. Erschöpft und verwirrt band er das Blatt Papier zusammen mit Briefen seiner Mutter unter ein gerahmtes Bild von ihr, das ganz unten in seinem Tornister steckte. Er wusste sonst keinen Ort, um etwas zu verbergen. Dann sagte er seinem Bettnachbarn John Higgins, er möge dafür sorgen, dass seine wenigen persönlichen Habseligkeiten seiner Familie in Cambridge übergeben würden, sollte er der gefürchteten Ruhr zum Opfer fallen oder auf andere Weise umkommen. Überall rings um ihn war der Tod. Im Laufe des Tages wurde er immer bedrückter und konnte nichts essen. Er fühlte sich, als würde eine Ratte an seinen Eingeweiden nagen. Was sollte er anfangen mit seinem unglaublichen Wissen? In jener Nacht konnte er nicht schlafen. Nach Mitternacht, als seine Eingeweide revoltierten, wickelte er den zerrissenen Mantel um seinen fröstelnden Körper, tappte an seinen Kameraden vorbei, die überall in der Hütte ausgestreckt lagen und schliefen, und kam hustend im allgegenwärtigen Qualm nach draußen. Er wischte sich den Ruß aus den Augen und spürte, wie Talg und Schwefel sofort auf seiner Haut erstarrten, als er die Hütte verließ. Im Dunkeln lief er benommen durch die schmalen Gänge aus zerfurchtem, gefrorenem Morast und Schnee zur Latrine. Ein scharfer Wind nahm ihm den Atem, als er sich dagegen anstemmte. Zunächst sah er die beiden Männer nicht, die aus dem Schatten traten und sich ihm in den Weg stellten. »Soldat«, sagte einer der beiden, ein Kamerad, den er am Tag neben sich bemerkt hatte. »Soldat, bleib stehen!«, befahl der Mann leise und nachdrücklich. Der zweite Mann trat zu ihm. Er, hielt etwas Flatterndes in der ausgestreckten Hand. »Was?«, sagte William Davis. »Ich muss zur Latrine –« »Sag uns, Soldat: Ist das deins?« Der zweite Mann hielt ihm den abgerissenen Fetzen eines schweren Stoffes hin. Der Messingknopf blitzte im Licht einer Fackel auf der anderen Seite des Durchgangs. »Sieh richtig hin, Soldat …« »Es ist meins – ich habe mir den Mantel zerrissen …« Er hatte Mühe, seine Augen auf einen Punkt zu konzentrieren. Es ekelte ihn an, doch er glaubte zu wissen, was in seinem Körper vorging: das Fieber, die Unfähigkeit zu essen, ein halbes Dutzend Mal am Tag zur Latrine. Was der zerrissene Mantel für ihn bedeutete, entging ihm, bis es zu spät war. Er spürte die Hand, die seinen Arm fest wie ein Schraubstock umklammerte, und konnte keinen Widerstand leisten, als er ins Dunkel gezerrt wurde. William Davis’ Leiche wurde erst im Frühjahr gefunden, als in den tiefen Wäldern der Schnee schmolz. Im Grunde interessierte es keinen; zu viele Männer waren gestorben. Niemand entdeckte je die Stichwunden in dem aufgedunsenen, unförmigen Leichnam. Nur die Offiziere, die in jenem Winter in Farmhäusern aus Stein das Kommando führten, kannten die Wahrheit. Sie wussten, dass William Davis ein überführter Verräter gewesen war, dass er sich mit britischen Spionen im Wald getroffen hatte und dass ihn ein Stück Stoff überführt hatte, das bei seiner Flucht vom Ort des Verrats hängen geblieben war. Nur die kommandierenden Offiziere wussten, dass man seine rasche Exekution angeordnet hatte, um die Moral der Truppe nicht zu untergraben, was vielleicht zu ihrer endgültigen Auflösung geführt hätte. Und ein Offizier – nur ein einziger – kannte die echte Wahrheit, die mit den gräulichen Überresten des jungen William Davis für immer begraben bliebe., Bukarest Dezember 1975, Nat Underhill hatte nie ernsthaft damit gerechnet, Bukarest wiederzusehen, nicht nach fünfzig Jahren. Aber nun ging er hart auf die Achtzig zu, und er war hier, und die alte Stadt lag unter seinem Hotelfenster, von trockenem Schnee bestäubt, der wie ein Rauchschleier im Grau des späten Nachmittags wehte. Nein, er konnte es noch immer nicht fassen, dass er das noch erlebte. Er steckte seine alte schwarze Pfeife an, mit der Louisburg- Square-Mischung, wie er sie seit Jahren rauchte, und seufzte abgrundtief vor Erleichterung und Zufriedenheit. Er ließ seine Hosenträger schnalzen und die Gedanken in die Vergangenheit driften, weit hinaus über sein Spiegelbild in der verschmierten Fensterscheibe. Wie eine Jalousie, die man mit einem Ruck herabzog, um die Intimsphäre zu sichern, brach plötzlich die Nacht herein. Es hätte noch die Stadt von vor fünfzig Jahren sein können. Zu jener Zeit war er Student gewesen. Er hatte die Geschichte von Siebenbürgen erforscht und sich in die Stadt Bukarest verliebt, in das nächtliche Leben der Cafes, die Mahlzeiten um Mitternacht, das beinahe spanische Flair der Stadt, dem jedoch die unterschwellige Grausamkeit fehlte, die er in Spanien empfunden hatte. Aber eigentlich faszinierte ihn nicht nur die Stadt, sondern auch ein bezauberndes rumänisches Mädchen aus wohlhabender und entfernt aristokratischer Familie. Der Krieg und die Russen hatten sie ausgelöscht wie unwichtige Zeichen auf einer Wandtafel, und Nat Underhill blieb zurück mit gebrochenem Herzen und einer unbefriedigenden Lebenserfahrung, die ihm zu jener Zeit sehr wichtig erschien. Aber der Krieg hatte die Gedanken an das Mädchen verdrängt. Er war in London stationiert gewesen, wohin es auch viele andere Rumänen verschlagen hatte. Sie schworen, Kontakt zu pflegen, wenn alles vorbei war, wenn die Welt frei war, wie Vera Lynn sang. Natürlich kam es nicht dazu. Die Geschichte hatte es mit den Rumänen nie gut gemeint, und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war das auch nicht anders. Boston und, Bukarest schienen auf verschiedenen Planeten zu liegen. Mit der Zeit änderte sich das. Im Laufe seiner historischen Forschungen hatte Nat die Welt der Bücher und Briefe, der Zeitschriften, Dokumente und Tagebücher entdeckt. Es ging ihm nicht so sehr ums Lesen – obwohl er das auch tat –, sondern ums Kaufen, Verkaufen und Sammeln. Der Zufall brachte seine Hand ins Spiel, und fünfzig Jahre später hatten sich zwei besondere Ereignisse miteinander verschworen, um ihn zu einem bittersüßen Abschied nach Bukarest zurückzubringen. Zunächst kam die Ankündigung, dass der Kongress der Antiquare über die Weihnachtsfeiertage nach Bukarest einberufen wurde – ein Zeichen für Rumäniens angestrebte Beziehungen zum Westen. Aber er brauchte einen Vorwand für seine Teilnahme; nur die Stadt wiederzusehen, das reichte nicht für seine sparsame neuenglische Seele. Dann war der junge Davis in sein elegantes, überladenes kleines Geschäft gekommen, das versteckt auf dem Beacon Hill lag, buchstäblich einen Steinwurf vom State House entfernt. Bill Davis, Harvard-Student mit langem strähnigem Haar und vergoldeter Nickelbrille, kam Nat Underhills Faible für die Eleganz der Brooks-Brothers kein bisschen entgegen. Trotz seiner entsetzlich vergammelten Erscheinung trug der junge Davis ein so unglaubliches Stück Papier bei sich, dass Nat Unterhill sofort einen Stuhl und eine Tasse frisch aufgebrühten Englischen Frühstückstee brauchte. War es echt, wollte der Junge wissen. Gab es Mittel und Wege, das herauszufinden? Was das Alter des Dokuments anging, ja, das konnte man bestimmen. Die Echtheit des Inhalts – historisch gesehen – stand auf einem ganz anderen Blatt; sie fiel in den Arbeitsbereich eines erfahrenen Historikers und Schriftsachverständigen. In seinem altmodischen kleinen Büro herrschte an jenem Morgen eine Atmosphäre, die sich völlig von dem unterschied, was er in seinem Beruf bisher erlebt hatte. Er bekam eigenartiges, Herzklopfen. Seine trockenen, faltigen Hände hatten gezittert, als er das Dokument berührte. Sein Mund war wie ausgedörrt. In all den Jahren, die er in Gesellschaft antiker Papiere verbracht hatte, war ihm nie etwas Ähnliches begegnet. Nie … Nachdem er dem Jungen eingeschärft hatte, das Juwel in einem Bankschließfach zu verwahren, sobald er es dem Professor seines Vertrauens gezeigt hatte – Colin Chandler von der Harvard-Universität war eine Kapazität auf dem Gebiet –, lehnte Nat sich in seinem quietschenden Drehstuhl zurück und sah zu, wie der spätherbstliche Wind an den Politikern zerrte, die ihre Tage damit zu verbringen schienen, vor seinem Bürofenster hin und her zu laufen und dabei die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu regeln. Von diesem Moment an war Bukarest ein äußerst vernünftiges Reiseziel. So ein Dokument, datiert vom Winter 1778, konnte man fast nicht mit Geld aufwiegen … aber eine Zahl musste genannt werden. Schon seine pure Existenz würde ein ungeheures Interesse und unzählige Diskussionen hervorrufen. Dazu kam noch Nats eigene Genugtuung, die Gelegenheit, seine Karriere mit einem Schlussstein zu versehen. Unschätzbar. Sein Name als Fußnote in den Geschichtsbüchern – nein, viel mehr als das. Er lächelte. Beim Pfeiferauchen, während der Rauch seinen Kopf umwölkte, buchte er den Flug nach Basel und die Weiterfahrt mit dem Zug und reservierte ein Zimmer im Athénée-Palace in Bukarest. Nat hatte sich überlegt, wann er seinen spektakulären Fund präsentieren sollte: Er brauchte den passenden Rahmen für diesen Höhepunkt der Woche. Die Europäer waren nicht leicht zu beeindrucken, wenn es um historische Dokumente ging; ihre eigene Geschichte war sehr viel länger und reicher als Nat Underhills. Aber sie kannten die amerikanische Geschichte, und die Fotokopie des Dokuments, die er bei sich trug, würde sie in Erstaunen versetzen, selbst wenn es keine tausend Jahre alt war. So etwas aufzutreiben war der Traum all seiner Kollegen, doch, meistens träumten sie ihr Leben lang vergebens. Das Dokument, als dessen Hüter er sich betrachtete, war nicht nur ein netter hieb- und stichfester historischer Beweis, nein, es veränderte die Geschichte! Die letzte Nacht seines Aufenthalts in Bukarest war wohl der geeignete Zeitpunkt. Er lud eine Gruppe von alten Freunden in ein warmes, dunkles, von Wohlgerüchen erfülltes Kellerrestaurant ein, das sich seiner Erinnerung nach seit den dreißiger Jahren nicht verändert hatte. Sie waren zu sechst, dazu kam ein junger Rumäne namens Grigorescu, der sich während der Woche bei den älteren Herren als Führer durch das neue Bukarest beliebt gemacht hatte. Grigorescu war noch unter dreißig. Er hatte ein volles blasses Gesicht und schien immer zu warm angezogen zu sein mit seinem Pullover und dem Sakko, das fast aus den Nähten platzte. Sein Teint ging ins Teigige, und die tief in den Höhlen liegenden, überschatteten Augen erinnerten Nat Underhill an einen Blinden. Er war zurückhaltend, hilfsbereit, rastlos und stets bemüht, einen guten Eindruck zu machen und die Weisheit der älteren Westler in sich aufzunehmen. Schulter an Schulter um einen großen Ecktisch gruppiert, durch die Wärme und die gehaltvollen rumänischen Weine in besonders gesellige Stimmung versetzt, rauchten sie, ließen die Vergangenheit wieder aufleben und aßen mamaliga und mititei, winzige Fleischbällchen am Spieß, und Wurst und Steak und saure Suppe, und den verheerend fetten Schmortopf. Erschöpft von Obst und Käse und tzuica lehnten sie sich zurück. Sie brachten einen Toast auf Nat Underhill aus und neckten ihn wegen seines hohen Alters, obwohl drei aus ihrer Runde auch schon die Siebzig überschritten hatten. Grigorescu lächelte verlegen, schwitzte, wischte sich die Stirn, hörte zu, übersetzte für den Kellner. Schließlich zündeten sie ihre Pfeifen und Zigarren an, und Nat Underhill sah ihnen ins Gesicht. Dann zog er einen einfachen Umschlag aus der Tasche und warf ihn auf, das mit Weinflecken verzierte Tischtuch. Die Kerzen waren heruntergebrannt. Wachs lief in fantastischen Mustern zusammen. »Meine Herren«, sagte Nat Underhill, »ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen … Sie ist ein Beispiel für die Wunder, die sich in unserem Beruf hinter jeder Ecke verbergen können. Grigorescu, Sie wissen nie, was morgen passieren kann. Sie fangen erst an … ich nähere mich dem Ende. Aber das Schicksal kann jederzeit einen von uns bei der Hand nehmen.« Der korpulente junge Mann nickte mit ernstem Gesicht. »Vor weniger als einem Monat spielte mir das Schicksal das bemerkenswerteste Dokument meines Lebens zu …« Er wedelte gemächlich mit dem Umschlag wie ein Zauberer, der gerade dabei ist, ein Kaninchen aus einem Ohr zu zaubern. »Es kam aus heiterem Himmel, und es wird dafür sorgen, dass die Geschichte des amerikanischen Revolutionskrieges neu geschrieben werden muss! Nichts weniger … Sie kennen mich, ich neige nicht zu Übertreibungen. Lassen Sie mich erklären …« Als er mit seiner Geschichte am Ende war, ließ er die Fotokopie um den Tisch gehen. Er erkannte echte Bewunderung in ihren Gesichtern: Männer wie sie zeigten sie nicht oft, und wenn sie es taten, gab es keinen Zweifel. Er lächelte, während er sie beobachtete. Das war der Lohn: das ehrliche, unausgesprochene Lob seiner Kollegen. Näher konnte ein Antiquar dem Nobelpreis nicht kommen. Sie verabschiedeten sich in der großen Lobby des Athénée- Palace. Nat machte sich am frühen Morgen auf den Weg. Einige seiner Kollegen würde er im kommenden Frühjahr in New York treffen, andere – besonders den jungen Grigorescu – bestimmt nie wieder. Er klopfte dem Rumänen auf den Rücken, schüttelte ihm mehrmals die feuchte Hand und wankte ins Bett. Nat Underhill war bestimmt nie in seinem Leben glücklicher gewesen als in jener Winternacht in Bukarest, während der Wind an den Fenstern rüttelte und die Heizkörper rumorten., Moskau Februar 1976, Maxim Petrow, Direktor des KGB, des sowjetischen Geheimdienstes, kam wohlgelaunt an seinem Arbeitsplatz an. Das Vergaserproblem seiner schwarzen Fünfundsiebzigtausend- Dollar-Limousine, von der er bei jeder Temperatur einwandfreies Fahrverhalten erwartete, hatte man endlich in den Griff bekommen. Sein Chauffeur war zufällig einmal halbwegs erträglicher Laune, und seine Frau war in ausgezeichneter Stimmung. Sie wollte in Nummer 2 Granowskya, dem Passamt, einkaufen gehen, und hatte versprochen, ihm einen Karton Courvoisier und einen neuen Louis-Vuitton-Terminkalender mitzubringen. Am späten Sonntagabend fühlten sich alle drei entspannt und fit nach dem langen Wochenende, das sie auf der Datscha ungefähr sechzig Kilometer von Moskau entfernt verbracht hatten. Obwohl Moskau mehr unter dem Winter litt als gewöhnlich, war Petrow mit seinen Gedanken weit weg. Es war immer das Gleiche zu dieser Jahreszeit, und die Amerikaner waren schuld. Er pfiff »Oh what a beautiful morning«, als er sein Büro betrat, das ihm Ausblick auf den schneebedeckten Roten Platz gewährte. Auf seinem Schreibtisch lag die New York Times neben den Sporting News. Als Leiter des KGB war er nur sehr wenigen Leuten Rechenschaft schuldig; keiner von ihnen wusste etwas von den Sporting News. Pfeifend setzte er sich hinter seinen noch neuen, sterilen, mit einer Glasplatte bedeckten Schreibtisch. Er nippte an dem Pappbecher mit heißem Kaffee und schlug die Sportseite der Times auf. In Gedanken war er weit weg von Moskau … er war in Orten wie St. Petersburg, Orlando, Vero Beach, Tampa. Das Frühjahrstraining hatte begonnen; die Werfer und Fänger und Läufer waren schon im Trainingslager. O Gott, wie lange hatte er schon kein Spiel mehr gesehen! Wenn er die Augen schloss, konnte er den Ball verfolgen, der hoch in den karibisch blauen Himmel stieg, während das Spieler-As in seiner Haltung verharrte wie ein Gewehrschuss, der sich in einem Canyon, gefangen hatte. Baseball. In den Dreißigern hatte es begonnen, in Harvard und später in New York, als er an der Columbia-Universität seinen Doktor machte. Die Red Sox im winzigen Fenway Park, dann die Yankees, die Giants und die Dodgers. Das Stadion, Ebbets Field, das Polofeld … Ein Spiel, wann immer es sein Studium oder seine Lehrverpflichtungen erlaubten. Baseball – das war der eigentliche Grund, weshalb ihm Fidel Castro so sympathisch war; der Mann hatte selbst gespielt, er kannte sich aus. Petrow gab sich in Bezug auf seine eigene Person keinen Illusionen hin: Er war ein vergleichsweise fauler Bürokrat, der in erster Linie nicht auf spektakuläre Spionagecoups erpicht war, sondern darauf, seinen Job zu behalten. Zum in- und ausländischen Agentendienst war er während des Zweiten Weltkriegs gestoßen, um so den Unannehmlichkeiten im Westen, im Einsatz gegen die Deutschen, so weit wie möglich aus dem Weg gehen zu können. Beria hatte ihn geschätzt. Er hielt Petrow zu Unrecht für loyal, für einfallslos und für ungefährlich. Petrow dagegen hielt Beria für eine Bestie und half, ihn aus dem Sattel zu hebeln. Im Großen und Ganzen sah er das ganze Spionagesystem in Ost und West selbst im günstigsten Fall als ziemlich trübseliges Geschäft. Distanziert und erheitert beobachtete er, wie es zum Ballon anschwoll und dabei im umgekehrten Verhältnis zu seiner Größe an Effizienz einbüßte. Es war einfach unmöglich, irgendetwas geheim zu halten, was die Gegenseite wirklich wissen wollte. In der Hälfte aller Länder der Welt traten sich die Spione gegenseitig auf die Füße. Oft wurden kleine Nullen und häufig auch unerwünschte Dünnbrettbohrer deshalb eliminiert, weil der eine oder andere Spionagering seine Existenzberechtigung nachweisen wollte. Aber der Spion kam außer Mode. An seine Stelle traten Techniker und Beamte: Leute mit hoch empfindlichen Mikrofonen und Teleobjektiven; Wissenschaftler, die Satelliten ins All schickten; Leute, die Zeitungsausschnitte, sammelten – langweilige Typen in sicheren, ungefährlichen Jobs. Sie spielten jetzt die Rolle der wichtigsten Agenten. Der KGB war für so viele Bereiche zuständig, dass Petrow sich manchmal fragte, ob es einen gab, der wirklich glaubte, das sei alles zu schaffen – selbst mit einer halben Million Beschäftigten. Er wusste auch nicht genau, welche Aufgabe schwieriger war: die Bürger innerhalb der Grenzen zu halten oder den Rest der Welt zu beobachten. Zudem war die Bewachung von siebenundsechzigtausend Kilometern sowjetischer Grenzen von vornherein eine fragwürdige Aufgabe. Nun, zumindest mussten sie nicht mehr über die nuklearen Sprengköpfe Buch führen … Er seufzte und sah aus dem großen Thermoglasfenster auf die lächerliche Menschenschlange, die sich über den Platz wand, Tausende, unscharf zu erkennen durch den Schnee, der wie ein Vorhang aus den tiefen grauen Wolken zu hängen schien. Jeden Tag war die Schlange da. Die Leute vom KGB sorgten dafür, dass alles ruhig und zivilisiert ablief, und filzten sie nach Bomben. Ihn überlief es kalt bei dem Gedanken, dass irgendein Verrückter Lenin mitsamt seinem Grab in die Luft jagen könnte. Wenn das kein Problem öffentlicher Kontaktpflege war! Entnervend daran war, dass die Filzer ungefähr einmal im Monat tatsächlich eine Bombe entdeckten. Andererseits vermutete Petrow, dass er nur mit Hilfe eines durchgedrehten Bombenlegers mit Sicherheit herausfinden konnte, ob nicht statt Lenin eine Wachspuppe dort aufgebahrt lag … Es sah wie Wachs aus, aber man konnte nie wissen. Und er hatte nie den Mut gehabt, jemanden direkt zu fragen, der es vielleicht wusste. Er las Red Smiths Kolumne zu Ende und blätterte zurück zur Unterhaltungsseite. Er brannte darauf, A Chorus Line zu sehen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er nicht mit den hochnäsigen Laffen des Kulturreferats über ein Austauschprogramm sprechen sollte. Er nippte an seinem Kaffee, der langsam kalt wurde und nach Pappkarton schmeckte. Es war Montagmorgen. Er sah auf seine goldene, Rolex und runzelte die Stirn. Noch fünfzehn Minuten. Es war eine langweilige Zeit, und die Montagskonferenzen steigerten seine Langeweile ins Unermessliche. Seine Gedanken wanderten zurück zum Frühjahrstraining. Arden Sanger, Chef der Central Intelligence Agency, war ein guter Freund von ihm, doch Baseball reizte ihn nicht. Eine Einstellung, die Petrow bedauerte. Während der Football-Saison tauschten sie sich gelegentlich aus, da Arden erwartungsgemäß zu den treuen Anhängern der Washington Redskins gehörte. Wie alte Kumpel überall auf der Welt spielten sie sich manchmal Streiche. Es passte zu ihnen. Auf dem Weg zum Konferenzraum fragte sich Petrow, welche neuen Absurditäten auf ihn warteten wie scharfe Schläge zur dritten Base. Und genauso fühlte er sich jetzt: ein alter Third Sacker, der die Hauptaufgabe hatte, vor den scharfen Schlägen entlang der Linie zu rennen wie Red Rolfe im Yankee-Stadion vor so langer Zeit. Gott sei Mütterchen Russland gnädig, wenn er je einen verfehlte! Petrow versuchte immer – und meistens mit beachtlichem Erfolg –, seinen Sinn für Geschichte, Perspektive und Humor nicht zu verlieren. Aber die Belegschaftskonferenz am Montagmorgen betrachtete er als echten Härtetest. Langweilige, ernsthafte Männer, die alle einen Krümel mit sich brachten und die aufrichtige Hoffnung, von Petrow dafür einen beifälligen Blick oder ein beifälliges Wort zu erhaschen. Er versuchte, sein Wohlwollen gleichmäßig zu verteilen und eine interessierte Miene zur Schau zu stellen, die sie ein paar Stunden anstarren und aus der sie vielleicht ein wenig Kraft schöpfen konnten. Doch es war glatter Mord, wie man in Brooklyn zu sagen pflegte – glatter Mord. Als es auf die dritte Konferenzstunde zuging, erregte ein Beamter seine Aufmerksamkeit durch den Bericht eines Außendienstmitarbeiters aus Bukarest namens Grigorescu., »Ich zermartere mir den Kopf«, sagte Petrow, und rollte eine gut ausgereifte Zigarre zwischen seinen breiten spatelförmigen Fingerspitzen, »aber ich komme nicht auf diesen Grigorescu.« »Nein, nein, Genosse Direktor. Es ist ein neuer Mann, ein Anfänger. Ein blutiger Anfänger, genau gesagt.« »Mein Gott, gibt’s das auch noch heutzutage?« Er sah in das ernste Gesicht des Stenografen, der in sein Heft kritzelte. »Nein, Sekretär, würden Sie das bitte streichen … Danke. Nun, Genosse, was hat uns der kleine Grigorescu zu erzählen?« Der kahlköpfige, untersetzte Mann im braunen Anzug schürzte die dicken Lippen und bewegte seinen Zeigefinger vor dem Gesicht wie ein Metronom. »Bitte erlauben Sie, dass ich meinen Bemerkungen einen Kommentar zu diesem Bericht voranstelle. Genosse Direktor, ich bezweifle sehr, dass Sie auch nur ein Wort davon glauben werden –« »Finden Sie das erstaunlich?« Petrow lächelte ungewollt. »Sie nehmen doch nicht an, dass ich dieses Zeug je glaube?« Er lächelte als Einziger im Raum. »Nein«, sagte er zum Sekretär, »nein, das brauchen Sie auch nicht aufzunehmen. Also, Rogoschin, erzählen Sie Ihre unglaubwürdige Geschichte. Und gestatten Sie, dass ich mich korrigiere: Zurzeit bin ich geneigt, beinahe alles zu glauben. Also los …« »Nun, ich erzähle von Anfang an.« Rogoschin runzelte die Stirn. »Der junge Grigorescu geht leider sehr ins Detail. Die Geschichte beginnt mit einem Amerikaner aus Boston namens Underhill und einem weiteren Amerikaner, der vor zweihundert Jahren an dem Ort Valley Forge gestorben ist …« Eine Stunde später stand Maxim Petrow wieder in seinem sterilen Büro am Fenster und starrte auf die Menschenschlange auf dem Roten Platz. Die Schlange schien immer die gleiche zu sein, aber Petrow merkte, dass sich seine Stimmung verändert hatte. Er lächelte und staunte, wie absurd die Quellen der Heiterkeit manchmal sein konnten. Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Harvard College in Cambridge,, Massachusetts. Das College gab ihm im Allgemeinen keinen Anlass zum Frohsinn, aber in diesem Moment war es die reinste Inspiration. Auf seinem linierten gelben Block standen drei Worte, sorgfältig doppelt unterstrichen. Er lachte sich eins, als er dem Fenster den Rücken zukehrte. Er würde gleich loslegen. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein … Er klingelte nach seinem Privatsekretär und heftete den Blick auf seinen gelben Block. JUX FÜR ARDEN! Laut lachend stand der große Petrow hinter seinem makellosen Schreibtisch., Boston März 1976,MONTAG
Bill Davis saß an der Theke des Restaurants Zum Zum, am Harvard Square um die Ecke. Er lutschte an einer Lucky Strike und schob den eiverschmierten Frühstücksteller aus der Reichweite der Manschette seines schwarz-rot karierten Holzfällerhemdes. Er versuchte, das Gesicht des Mannes am nächsten Tisch unterzubringen. Dem Typen war er schon mal begegnet, aber er konnte sich nicht erinnern, wann und wo. Doch sein flacher schwarz-weißer Pepitahut war schwer zu übersehen. Im Hutband steckte eine kleine grüne Feder, und das Pepitamuster setzte sich auf seinem grauen Regenmantel fort. Seit seiner Kindheit, als sein Vater in einem ähnlichen Aufzug herumlief, hatte er nie mehr jemanden in solcher Verkleidung gesehen. Der Mann nippte an seinem dampfenden Kaffee und beschrieb mit einem Kugelschreiber einen kleinen braunen Spiralblock. Bill fixierte ihn, wobei er ein paar baumelnde Würstchen ausblenden musste, die vermutlich zu Dekorationszwecken zwischen ihnen hingen. Als hätte Bills Neugier ihn dazu gebracht, sah der Mann von seinen Notizen auf und lächelte, offen und naiv wie ein Versicherungsvertreter am Rande der Midlife-Krise. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein besorgter, freundlicher und nicht ganz Vertrauen erweckender Ausdruck, besonders um die Augen und um die starren, nach oben gezogenen Mundwinkel. Über die Distanz von fünf Metern lächelte er Bill noch einmal an und nickte ihm vage zu, wie Fremde es zu tun pflegen, wenn sich ihre Blicke zufällig kreuzen. Sicher hätte er von einem näheren Platz aus eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Bill erwiderte sein Lächeln, zog noch einmal an der Lucky Strike und rutschte von seinem Hocker. Seine Cordjacke war noch feucht. Er band sich den braun-weiß karierten Schal um, den Hals. Der Mann nippte immer noch an seinem Kaffee und starrte hinaus auf den Mittagsverkehr. Mit eingeschalteten Scheinwerfern rollten die Autos durch den kalten Regen. Bill schätzte, dass der Mann für Nixon gestimmt hätte. Er nahm seine Büchertasche aus grünem Fries und ging zum Adams House, wo er im obersten Stockwerk wohnte, mit seitlichem Blick auf das Lampoon-Gebäude. Er saß an seinem Schreibtisch unter dem Escher-Poster, auf dem die Vögel irgendwie in beide Richtungen gleichzeitig flogen, und steckte sich eine neue Lucky Strike an. Im runden Lichtschein der alten Schwanenhals-Lampe schnitt er sorgfältig Kreppband-Klebestreifen zurecht, klebte die Pappe auf die Rückseite des antiquierten Porträts einer seiner Vorfahren, einer jungen, schüchtern wirkenden Frau, die lange vor dem Revolutionskrieg gelebt hatte. Der Inhalt des Rahmens beulte sich aus, und die Klebeaktion ging nur langsam vonstatten, begleitet von leisen Flüchen. Er kniff vor dem Rauch die Augen zusammen. Schließlich fuhr er mit den Daumen über die Rückseite des Rahmens und prüfte, ob die Klebestreifen fest saßen. Er drückte die Zigarette aus und riss das Zellophan von einer Packung einfachen braunen Packpapiers. Mit äußerster Sorgfalt wickelte er das gerahmte Bild in mehrere Papierlagen, klebte die gefalteten Ecken fest und verschnürte das Ganze am Schluss mit einer festen weißen Schnur. Er hob das Päckchen auf, ließ es flach auf die Schreibtischplatte fallen, um die Polsterung zu überprüfen, und seufzte zufrieden. Er sah auf die Uhr. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, zum Platz vor zu laufen, im Co-op etwas zu besorgen und vor Büroschluss Chandler im Historischen Seminar zu erreichen. Als er nach der Hektik und dem Gedränge des Co-op unter dem weiten Portal gegenüber vom Zeitungskiosk und vom Eingang zur U-Bahn stand, dem Regen zusah und seinen Schal, enger um den Hals zog, bemerkte er den Mann wieder. Den dämlichen Hut mit dazu passendem Regenmantel konnte man nicht übersehen. Der Mann lehnte an einem Pfeiler am Gehsteig und las Zeitung. Jetzt stand ein zweiter bei ihm, ein wuchtiger Zwei-Zentner-Mann, über eins achtzig groß, der eines dieser beigen Regenkäppis mit kariertem Band und rundum heruntergeklappter Krempe trug. Hutfans … Vielleicht ein neues Erkennungszeichen unter Schwulen, wie der Siegelring am kleinen Finger und die Schlüssel an der Gesäßtasche. Mit seiner Büchertasche über der Schulter bahnte sich Bill einen Weg durch die anderen Schutzsuchenden, vorbei an den beiden mit den komischen Hüten. Der Große fing diesmal seinen Blick auf, sah rasch weg, gähnte nervös und hielt sich die Hand vor den riesigen Mund. David zuckte die Achseln. Er rannte über die regennasse Straße zum Kiosk in Richtung Yard, vorbei an schmutzigen Schneehaufen, die sich am Straßenrand türmten wie Abfall. Hinter der Milchglastür war Professor Chandlers Büro dunkel. Die Bürostunden auf dem Schild wurden strikt eingehalten: Er war zwei Minuten zu spät dran. Mist … Wütend stand er an der Tür und überlegte, ob er nicht einen Kraftausdruck auf das oft befingerte Schild schreiben sollte. Dann ging er durch den muffig riechenden, überheizten Korridor zurück zum Büro der Sekretärin. Sie saß an ihrem Holzschreibtisch, kaute an einem blauen Stift und kopierte dabei ein getipptes Manuskript. »Chandler ist nicht mehr da?«, sagte er. »Richtig«, meinte sie, ohne aufzublicken. »Kann ich für ihn eine Nachricht hinterlassen?« »Warum rufen Sie ihn morgen nicht einfach an?« Sie sah ihm fragend ins Gesicht. »Er fragt hier vielleicht nicht nach.« »Es ist wichtig, wissen Sie. Haben Sie mal ’n Kuli?« Sie verzog das Gesicht wegen seines Ansinnens, gab ihm aber ihren Stift. Er schrieb: Prof. Chandler, bitte rufen Sie mich so, bald wie möglich unter KL-5-8786 an. Riesensache! Bill Davis. Er reichte dem Mädchen den Zettel. »Falls er vorbeischaut«, meinte er. Sie las die Nachricht. »Riesensache für Sie, nicht für ihn«, erklärte sie und schüttelte den Kopf. »Keine Werturteile, okay? Kämpfe wacker, Harvard!« »Was Sie nicht sagen.« Sie befasste sich schon wieder mit ihrem Manuskript. Er verließ sie kopfschüttelnd. Der Winter hatte viel zu lange gedauert, und alle litten unter Kabinenkoller. Fehlte bloß noch, dass er sich auch so ein flottes Pepitahütchen aufsetzte. Von dem Gebäude aus lief er durch den dünner werdenden Nieselregen in Richtung Harvard Square, vorbei an Matthews Hall, und kam noch vor Rot über die Ampel. Dabei bemerkte er nicht den Mann mit dem Pepitahut und den anderen mit dem Regenkäppi, die vom Verkehr auf der anderen Seite aufgehalten wurden. Am Kiosk kaufte er sich den Christian Science Monitor, dann sprang er die Treppe hinunter. Die Büchertasche schlug gegen seinen Rücken. Als er durch das Drehkreuz hastete, stand der Zug Richtung Park Street schon da. Er sprang auf, während sich die Türen schlossen, und als er sich umdrehte, sah er sie. Der Pepitahut fiel auf in der Menge. Sie standen in der Schlange vor dem Fahrkartenschalter. Bill Davis rieselte es unangenehm kalt den Rücken hinunter. Pepitahut wandte sich Regenkäppi zu, als sie vom Schalter zurücktraten. Regenkäppi zog eine Tiparillo mit Kirscharoma aus der Pappschachtel, schnupperte daran und zündete sie mit einem Streichholz an, das er an seinem Daumennagel angestrichen hatte. Hustend wedelte Pepitahut den Rauch weg. »Brookline«, sagte er. Auf den Gläsern der schwarzen Hornbrille, die er jetzt trug, perlten Regentropfen. Er blickte zu seinem Begleiter auf. »Wir können in Brookline auf den Jungen warten … Das Ding ist in der verdammten Büchertasche, das, weiß ich. Deshalb hat er seinen Professor bei den Historikern aufgesucht, diesen Chandler.« »Du weißt überhaupt nichts.« Die Stimme des Großen war tiefer als Ivan Rebroffs. Er hatte ein ständig gerötetes rundes Gesicht mit fettem Kinn, und unter dem kleinen Hut sah er aus wie ein x-beliebiger Golfer an einem bewölkten und regnerischen Nachmittag. Doch während Thorny den Rauchkringeln nachsah, bemerkte er mit einem Fünkchen Sorge, dass die Lippen des Großen zitterten, und auch seine Hände. Thorny hatte so etwas bei Leuten in diesem Geschäft schon vorher beobachtet. Schwache Nerven, das Alter, der Alk, eine zerbrochene Ehe: Ozzies Zukunft sah alles andere als rosig aus. Aber er musste einen Dreh finden, sein gereiztes Wesen unter Kontrolle zu halten, damit er diesen einen Auftrag noch durchstand … »Glaub mir, Ozzie, es ist in der Büchertasche.« »Ich hab zu viel Kohldampf, um dir zu glauben.« »Das ergibt keinen Sinn.« »Eben. Ich bin wahnsinnig hungrig.« »Wir machen einen Stopp bei McDonalds. Auf dem Weg nach Brookline. Er fährt dienstagabends immer zu seinen Eltern. Jede Woche.« Durch den Nieselregen liefen sie zur Brattle Street. Zu ihrer Überraschung hatten sie in der Nähe vom Institut für Designforschung einen Parkplatz gefunden. Nun steckte ein aufgeweichter Strafzettel unter dem Scheibenwischer, den der kleinere Mann in der Mitte durchriss und in den Rinnstein warf. Ozzie quetschte sich mühsam in den roten Pinto. »Hör mal, Oz, weißt du was ich denke?« »Ja, weiß ich.« »Was? Du Klugscheißer-« »Ich soll nachgucken, ob ich die Zange habe.« »Manchmal erstaunst du mich.« Er putzte seine Brille mit einem Kleenex aus der winzigen Packung auf dem, Armaturenbrett. »Du bist ein verdammt guter Partner …« Lüge oder Erinnerung? Er war wirklich ein guter Mann gewesen, und damals hatte sich ihre Freundschaft entwickelt. Jetzt ging es darum, den Job durchzustehen, einen Tag nach dem anderen. »Dann kannst du die Big Macs spendieren, Thorny.« Bill Davis hatte Angst, aber er wusste nicht, warum. Es waren dieselben Männer – na und? Was war daran so beängstigend? Harmlose Leute im mittleren Alter. Ohne die Hüte hätte er sie nicht mal bemerkt. Sie waren ihm an dem Tag auf dem Square bestimmt nicht öfter begegnet als zwanzig andere, aber sie waren ihm eben im Gedächtnis geblieben. Wieso sollte er sich von zwei Typen mit komischen Hüten ins Bockshorn jagen lassen? Am Bahnhof Park Street stürzte er die Treppe hinauf, bahnte sich einen Weg durch die gewohnte Taubenversammlung an der Ecke Park Street/Tremont Street und ging in Richtung Beacon Street die Straße hoch. Kurz vor dem State House bog er rechts ab und betrat den schmalen Eingang neben einem Schaufenster, das mit vornehmen Goldbuchstaben beschriftet war. Eine zweite Tür aus poliertem Holz, mit einem Messingschild, führte in den gemütlichen Ausstellungsraum und in das Büro des alten Mannes. Dort fand er zwei dunkelgrüne lederne Ohrensessel vor, ein Tischchen, ein elektrisches Kaminfeuer, und eine Frau mittleren Alters, die ein Kostüm à la Rosalind Russel, Jahrgang neununddreißig, und dazu einen ergrauenden Haarknoten trug. Sie blickte auf und stutzte zunächst, als sie die langen blonden Haare und den struppigen Bart sah. Bei seinen früheren Besuchen war sie nicht im Laden gewesen. Um ein Lächeln bemüht, brachte sie heraus: »Ja? Was gibt es denn?« »Ist Mr. Underhill da?« Er roch die Zigarre des alten Mannes, was aber nicht hieß, dass dieser anwesend war. Bevor sie antworten konnte, tauchte Nat Underhill im, Türrahmen auf. Er hatte die Daumen in den Westentaschen verhakt und lächelte. Die wässrigen blauen Augen des drahtigen kleinen Mannes blinzelten. »Bill! Wie geht’s dir?« Er bat den Jungen in sein kleines Privatbüro, in dem es heiß war und trocken und das mit Memorabilien voll gestopft war: Versatzstücken eines Lebens, das erfüllt war vom Wühlen in der Vergangenheit. »Sie können jetzt abschließen und nach Hause gehen, Miss Thompson. Mieses Wetter. Vergessen Sie Ihren Paraplü nicht, Mädchen … So, nun setz dich, Bill. Erzähl mir nicht, dass du wieder einen Schatz ausgegraben hast!« Er machte es sich in seinem Leder bezogenen Drehstuhl hinter dem polierten Schreibtisch gemütlich. »Nee. Immer noch dasselbe, Sir. Aber ehrlich gesagt, es macht mich ein bisschen nervös, es durch die Gegend zu tragen.« Er schluckte. »Sie wissen, was ich meine? Ich könnte es verlieren oder so, das Glas könnte zerbrechen und es zerschneiden … Und in meinem Zimmer möchte ich es auch nicht lassen. Da verschwindet öfter mal was, verstehen Sie?« Er legte die Tasche auf den Tisch und zog das Päckchen heraus. »Sehen Sie, ich weiß nicht, ob es so wertvoll ist, wie Sie sagen – ich hoffe, Sie sind mir da nicht böse, Mr. Underhill …« »Ich bin dir bestimmt nicht böse. Also weiter.« »Der Wert, das ist Ihre Sache. Meine ist das Historische, was es für unser Fachwissen bedeutet, wenn es stimmt …« Er hob die Schultern. »Kann ich es bei Ihnen lassen? Haben Sie ein Versteck einen Safe oder so?« »Natürlich.« Nat Underhill schenkte Tee aus einer Porzellankanne ein, doch Bill schüttelte den Kopf. Sorgfältig fügte er Sahne hinzu und einen winzigen Löffel Zucker. »Hast du es Professor Chandler gezeigt?« »Nein. Ich war heute dort, aber ich hab ihn verpasst. Er kann auf jeden Fall hierher kommen, und Sie untersuchen es gemeinsam. Sie sind ja beide Experten. Ich fände das sinnvoll, …« »Gut, Bill. Wir machen uns gemeinsam drüber. Kein Problem.« Sie unterhielten sich einige Minuten, während die schwere Uhr aus Goldbronze laut tickte und dunkle Wolken sich über dem Beacon Hill zusammenzogen. Beide kannten das Dokument in dem Bilderrahmen in- und auswendig; es gab nichts mehr zu sagen. Allerdings wussten beide nicht, was sie damit anfangen sollten. An seine überwältigende Bedeutung hatten sie sich gewöhnt, aber man konnte so etwas nicht einfach auf einer Pressekonferenz hinausposaunen … Der Gedanke war absurd. Aber was sonst? Vielleicht wusste Chandler einen Rat. Draußen im kalten Sprühregen, der den steil abfallenden Gehsteig glitschig machte, fühlte sich Bill Davis erleichtert. Das verdammte Ding loszuwerden war das Beste, was er hatte tun können. Nun hatte Underhill den Schwarzen Peter. Am Zeitungsstand zwischen den Tauben kaufte er den Playboy, das Penthouse, die Time, die Newsweek und die Village Voice. Er stopfte die Zeitschriften in die grüne Tasche und freute sich darauf, zu Hause in sein altes Bett zu kriechen und das Playoff-Spiel der Celtics im Radio zu hören. Mittwoch hatte er bis Mittag keine Vorlesung. Wenn er Glück hatte, würde Chandler ihn am Nachmittag im Adams House anrufen. Seitdem er das Bild aus der Hand gegeben hatte, waren die beiden Männer mit den lächerlichen Hüten vergessen. Im Pinto roch es nach Big Macs und Pommes. Ozzie verschlimmerte den Dunst noch, indem er sich wieder eine Tiparillo mit Kirscharoma anzündete. Er kaute nervös auf dem Mundstück und konnte seine Hände nicht still halten. Die regennassen Bäume in der Wohngegend an der Brookline Street standen nackt und schwarz im Schein der Straßenlampen. Thorny hatte das Fenster zum Lüften ein paar Zentimeter heruntergekurbelt. Ozzie musste husten. »Heiland, diese Dinger, schmecken beschissen. Schau, da kommt er.« Er schwitzte. »Okay.« Thorny kniff ein Eselsohr in die Seite und verstaute das Buch in der Tasche seines Regenmantels. »Wir fragen ihn erst mal nach der blöden Büchertasche. Höflich …« »Na gut.« Ozzie stieß die Tür auf und begann, sich aus dem engen Sitz zu hieven. Es gelang ihm nicht so recht. Der Junge erkannte sie gleich. Ozzies Hut blieb am Türrahmen hängen, als er sich hinauskämpfte, und rollte auf den Gehsteig, zwischen den Jungen und den Rasen vor seinem Elternhaus. »Bill Davis?«, fragte Thorny höflich. »Entschuldige, Bill –« »Sie?« Bill blieb stehen. »Wer sind Sie, verdammt noch mal? Ich sehe Sie den ganzen Tag …« Ozzie griff nach seinem Hut, und als er sich aufrichtete, spürte er das Gewicht der Zange in seiner Manteltasche. Heute Abend würde sie nichts bringen. Sein Kopf brummte. Der aromatisierte Tabak war widerlich. Er konzentrierte sich auf den Jungen. Thorny ging einen Schritt auf ihn zu. »Hör gut zu, mein Junge. Wir sind von der Polizei. Wir müssen mit dir reden, Bill.« »Worüber?« Bill trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Über deine Büchertasche«, erklärte Ozzie. Er stand gerade. Das Regenkäppi hatte er tief in sein feistes Gesicht gezogen. Man konnte ihm geradezu ansehen, was er dachte: Harvard- Klugscheißer … Homo … »Hab ich’s nicht gewusst!« Bill starrte die beiden Männer an. »Aber wieso? Was hat die Polizei –« Thorny kam an ihn heran. »Wir brauchen deine Tasche, Junge … du musst uns helfen.« Um Ozzie nicht aufzuregen, griff er betont ruhig und langsam nach der Tasche. »Sei vernünftig, Junge.« »Da sind nur ein paar Zeitschriften drin, Schnüffler!« »Komm schon, Junge. Rück sie einfach raus –« Bill Davis nahm Karatestellung ein. »Rühr mich nicht an, du Arsch! Ich brech dir das Genick!« »Du willst die Tasche also nicht rausrücken?« Ozzie stand, drohend hinter Thorny. »Ist das so, Bill?« Seine tiefe Stimme war tonlos geworden. Bis auf eine Hand in seiner Manteltasche bewegte er sich nicht. »Darauf kannst du Gift nehmen. Kauf dir dein Penthouse doch selber …« Langsam zog Bill sich auf den Rasen zurück. Seine Hände standen wie Hackbeile in die Höhe. Geistesgestörte, mitten in Brookline! »Scheiße«, sagte Thorny. »Sei doch vernünftig …« Ozzie zog eine Automatik mit aufgeschraubtem Schalldämpfer aus der Tasche und schoss Bill Davis ins Herz. Während der Junge nach hinten fiel, erwischte ihn eine zweite Kugel an der Schläfe und streckte ihn seitwärts ins Gras. Er blieb auf dem Gesicht liegen. Ozzie zerrte die Tasche aus seiner schlaffen Hand. Er glotzte Thorny finster an. »Immer läuft was schief …« Sein Partner sah ihm erstarrt zu. Er hatte ihn nicht aufhalten können. Heiliger Strohsack … Er brauchte einen Drink. In der verlassenen Straße stieg Bodennebel auf wie ein schnellwüchsiges Gebüsch. Sie kletterten wieder in den Pinto und fuhren langsam davon. In der Straße blieb alles ruhig. Thorny fand keine Worte, und Ozzie stellte Zufriedenheit zur Schau, während sich seine Finger rhythmisch um die Zange in seiner Tasche schlossen. Manchmal war die Zange einfach zu langsam … »Tatsache ist, Thorny, alter Kumpel, du hast die Sache vermasselt.« Sie saßen in einer durchgehend geöffneten Cafeteria. Ein scheintoter Säufer wischte eine Ecke des schlauchähnlichen weiß gekachelten Bodens. Das Neonlicht an der Decke flackerte nervtötend. Der Fußboden war mit hereingetragenem Matsch bekleckert. In der Ecke hinter der Theke rief der Mann zum zwanzigsten Mal in zehn Minuten: »Ein Hoch auf die Engländer!« Thorny starrte seinen getoasteten Muffin an., »Du hast ihn umgebracht«, sagte er verstört. »Dieses Harvard-Bübchen … Du kamst an ihn nicht ran, so viel steht fest.« »Ich bin immer noch überzeugt, dass es in der Büchertasche war. Hundertprozentig. Also muss er es irgendwo deponiert haben, nachdem er uns entwischt ist. Aber wo?« Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln. »Jammere nicht, Thorny«, mahnte Ozzie. »Wir kriegen es. Wie einst im Mai: Wir zeigen’s ihnen.« »Mir tun die Augen weh. Ich krieg ’ne Erkältung.« »Ich glaube, die sind auf uns stinksauer.« Ozzies Laune verdüsterte sich zu rasch. Thorny kannte die Anzeichen. Er fragte sich, was er tun sollte. Konnte er sich Ozzies Stimmung zu Nutze machen? Mein Gott, was für ein Gedanke … »Würde mich nicht überraschen, Oz.« Er trank einen Schluck Kaffee und spülte drei Excedrin mit einem Glas Eiswasser runter. »Bloß ein Haufen Schweinkram«, meinte er grübelnd. »Sonst nichts. Vielleicht hat er es an jemanden geschickt, oder an jemanden in Boston übergeben. Er ist in Richtung Park Street gefahren …« »Was nicht heißt, dass er dort ausgestiegen ist.« »Alles ist möglich, Oz.« »Auch möglich, dass er es bei Chandler gelassen hat … Wenn er da schon die Wichsblätter in der Tasche hatte, konnten wir nicht merken, dass das Bild weg war.« Schweigend starrten sie auf die fast menschenleere, abweisend kalte und dreckige Straße jenseits des riesigen kahlen Fensters. Ein Lastwagen holperte vorbei und übergoß den Pinto mit klebriger grauer Brühe. Thorny trommelte mit den Fingern auf den Stapel Zeitschriften. »Weißt du«, sagte er, »manchmal frage ich mich, was so wichtig ist an dem Bild … wieso die das haben wollen.« »Und ich frag mich, wer das Geld für uns rausrückt. Zehn, Riesen für ein bisschen Zappzarapp.« Er seufzte tief aus seiner breiten Brust. »Und jetzt haben wir einen Toten und kein Bild.« »Ich weiß nicht, wie’s dir geht – aber ich habe Schiss, es ihnen zu sagen.« Thorny schien immer kleiner zu werden in seinem Mantel. Er schnäuzte sich und starrte in sein Kleenex. »Was wollen wir sonst machen?« Er bettelte mit den Augen wie ein Hund. »Ich brauch den Zaster, Thorny.« »Wir denken uns was aus …« »Wie sauer werden die sein?« »Stinksauer. Aber sie verschmerzen es bestimmt, wenn wir das Ding finden … Aber wir müssen vorsichtig sein, Ozzie. Kapiert? Verdammt vorsichtig …« In den oberen Gefilden des John Hancock Building, das den vornehmen alten Copley Square überragte wie eine Säule aus silberblauem Eis, saßen drei Männer um einen leeren Tisch, der perfekt zum Stil des Gebäudes passte. Die gläserne Tischplatte war drei Zentimeter dick und vier Meter lang. Sie lagerte asymmetrisch auf einem wuchtigen flachen Marmorzylinder. Die Stühle waren aus Chrom und Leder, und den drei kultivierten Herren, die darauf saßen, sah man an, dass sie sich im Harvard Club in der Commonwealth Avenue vermutlich wohler gefühlt hätten. Das Zimmer war leer bis auf eine Chromleuchte, deren konisch geformter Reflektor die Szene widerspiegelte, und einige Holzreste, ein paar verstreute Sägespäne sowie zwei große Sperrholzplatten. Nur eine einzige vom Boden bis zur Decke reichende Fensterscheibe war noch intakt, die übrigen waren vom Wind eingedrückt und durch Sperrholz ersetzt worden, wie überall in den zweiundsechzig Stockwerken. Von draußen erinnerte das Gebäude an einen zahnlückigen Dorftrottel. Der älteste der Herren rieb seine Hände an einer hellen Dunhill-Bruyere, um sie zu wärmen. In dem kahlen Raum war es kalt. Atemwölkchen hingen zwischen ihnen in der Luft., »Haben Sie eine Ahnung, was hier vorgeht?« »Zwangsläufig, Andrew. Ich habe das Treffen organisiert.« »Kommen Sie, was ist los? Ich muss heute noch zurück nach Washington. Wir arbeiten dort nämlich für unser Geld.« »Das wird nichts heute Abend. Ich habe was zu tun für Sie – und Logan liegt im Nebel. Sehen Sie mal …« Er deutete zum einzigen Fenster hinaus. Der Mond stand hell am teilweise bewölkten Himmel. »Da oben ist es klar … aber unten am Boden gibt’s Regen und dichten Nebel. Wir besorgen Ihnen im Ritz ein Zimmer.« Er paffte und ließ dabei den Pfeifenstiel an seine Zähne klicken. »Ihnen auch, Liam.« »Einverstanden.« Liam hatte einst volles rotes Haar gehabt, doch nun hing nur noch ein rostiggrauer Kranz dicht über seinen Ohren wie Staubflusen. »Nun sagen Sie uns, was los ist …« »Ich weiß natürlich nicht genau, was los ist. Aber es gibt beunruhigende Alarmzeichen an seltsamen Orten … merkwürdigerweise hier in Boston. Vor ein paar Tagen trafen am Logan Airport zwei Profis ein – Söldner, ohne feste Bindung, die für Geld Aufträge ausführen. Zufällig wurden sie von einem unserer Leute am Flughafen erkannt. Er gab uns Bescheid, und wir ließen die beiden beschatten. Anscheinend haben sie nichts davon bemerkt …« Er stopfte die Pfeife mit einem winzig kleinen Mr. Pickwick aus Bronze und sog schlabbernd daran. »Für wen arbeiten sie? Was tun sie hier, zum Kuckuck?« Andrew machte eine Kunstpause; er formte ein O mit seinem gepflegten kleinen Mund und blinzelte hinter seiner Nickelbrille. »Ich kann beide Fragen nicht beantworten. Was mir am meisten Sorge macht: Unsere Oberen halten sich bedeckt. Sie geben weder zu, dass die beiden für sie tätig sind, noch streiten sie es ab. Das bedeutet, die beiden Typen könnten auch für uns, arbeiten … Jetzt habe ich den ganzen Tag herumtelefoniert und mir den Mund fusselig geredet. Ich wollte ein einfaches Ja oder Nein hören, aber sie gönnten mir nicht mal einen leisen Rülpser. Sie sagen nichts!« Er seufzte tief und zog den Schal enger um den Hals. Er war alles andere als jung, und er war alles andere als gesund, doch damit konnte er sich später befassen. »Wer immer ihre Auftraggeber sein mögen – die beiden wohnen jedenfalls im Harvard Motor Hotel –« Andrew stieß ein langes Stöhnen durch das winzige O seines Mundes. »Es sieht nach einem Fall von Landesverrat aus … jemand von Harvard oder MIT.« Er pfiff leise durch die Zähne. »Ich hasse so was. Der Fall von damals geht mir nicht aus dem Kopf –« »Man inszeniert nicht alle Tage auf der hundertachtundzwanzig einen tödlichen Autounfall.« Liam schauderte bei der Erinnerung. »Was für eine Sauerei.« »Wir sollten nicht gleich zum letzten Mittel greifen«, meinte der Alte. »Die Leute arbeiten vielleicht für uns, das dürfen Sie nicht vergessen. Irgendwie müssen wir’s herausfinden …« »›Nobelpreisträger als Spion‹«, sagte Andrew. »Ich sehe schon die Schlagzeilen …« »Aber wie sollen wir’s rausfinden?«, murrte Liam. »Wenn unsere Seite mauert?« Mit der Pfeife zwischen den Zähnen stand der alte Herr langsam auf und steckte die knotigen, blau geäderten Fäuste in die Taschen seines grauen Fischgrät-Sakkos. Er trat an das Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Unter ihm lag Boston rötlichgelb verwaschen im Bodennebel. »Zwei Dinge wissen wir: Erstens, sie haben einen Harvard- Studenten namens Bill Davis verfolgt. Zweitens, sie haben ihn vor drei Stunden umgebracht und seine Büchertasche gestohlen …« »Ihn umgebracht?« Liams Stimme klang erstaunlich gefühllos. »Ja, Liam. Und mir ist jetzt scheißegal, welches Spiel die, Bosse spielen … Ich will wissen, warum diese Idioten Bill Davis umgebracht haben. Mit wem der Junge an der Uni zu tun hatte. Hören Sie sich um und beobachten Sie die beiden Männer … Ich will alles wissen. Klar?« Liam und Andrew nickten. Liam klopfte ein Klümpchen Asche aus dem dick verklebten Kopf seiner alten schwarzen Pfeife. »Andrew, Sie werden nach Washington zurückfliegen können, wenn wir hier fertig sind.« Der alte Herr schlüpfte in einen schweren Burberry-Mantel und nahm seinen Schirm. »Ich melde mich wieder. Viel Spaß im Ritz, meine Herren.«,MITTWOCH
Matschig vom letzten Schnee lag Harvard Yard jenseits der streifigen Fensterscheiben des überheizten Seminarraums. Der kalte Regen machte die Dinge auch nicht besser. Das war Professor Colin Chandler die liebste Zeit im Jahr. Das Wetter lockte den Stubenhocker nicht weg von seinem Kamin und seinen Büchern und von der Flut seiner Gedanken. Auch seine Studenten schienen weniger abgelenkt zu sein als zu anderen, lebhafteren Jahreszeiten. Während er die Spätausgabe des Boston Globe zusammenfaltete und sie säuberlich neben Handschuhe und Schal auf seinen einfachen Holzschreibtisch legte, schlurften sie herein. Sie schnäuzten sich, lehnten ihre schäbigen Rucksäcke an die Wand und stampften den Matsch von ihren Stiefeln. Bei seiner Größe von über eins neunzig sah er auf sie herab. Mit fünfundvierzig fühlte er sich körperlich weniger präsent als seine Studenten, und sein fortschreitendes Alter machte ihm Kopfzerbrechen. Der Gedanke, dass sie mehr Zeit vor sich hatten als er, stimmte ihn nicht gerade heiter. Während er darauf wartete, dass Ruhe einkehrte, betrachtete er einen Augenblick lang sein Spiegelbild in einem der Fenster. Im Großen und Ganzen sah er nicht anders aus als vor zwanzig Jahren: groß und kräftig, leicht vornüber gebeugt, braunes Tweed-Sakko aus der Zeit, wo man so etwas noch trug, Halstuch, blau gestreiftes Hemd mit geknöpftem Kragen, schwere braune Hornbrille, leicht gewelltes dunkles Haar, eine Hakennase zwischen dunkelbraunen Augen, dichte Augenbrauen, bla bla bla. Er verlor das Interesse. Da stand er, die verkörperte Tradition in den Vierzigern, ein treuer alter Kämpfer gegen den Fortschritt. Gregory Peck in Der Scharfschütze mit einem lauernden Skip Homeier, den Frisbee hinterm Rücken … Er lächelte mit leicht zusammengekniffenen, Augen und nahm die Brille ab. Er wusste, dass er ziemlich gut aussah, und dieses Wissen befreite ihn und erhöhte die Freude an seinen Vorlesungen. Es war zwar alles nur eine Illusion, aber man musste mit seinem Pfunde wuchern. »Guten Tag!« Er nickte seinen Studenten zu. Es schienen ungefähr fünfundzwanzig da zu sein, beinahe alle, die sich für seinen Lieblingskurs eingeschrieben hatten: Geschichte, Oberkurs, ausschließlich für Studenten mit Geschichte als Hauptfach (sonstige Interessierte nach Rücksprache mit dem Dozenten). »Die singenden Heizkörper und die Tatsache, dass es hier bald wie in einem Umkleideraum riechen wird, zeigt Ihnen, dass Harvard nicht an Engergieknappheit leidet … im Gegensatz zu seinen Bediensteten. Ich werde nun die Energie liefern, und Sie können sich einfach zurücklehnen und sie in sich aufnehmen. Ich brauche nicht zu betonen, dass Sie später auch mal dran sind.« »Hatten Sie das auswendig gelernt?« Sheila, eine von neun Radcliffe-Studentinnen, war bekennendes Mitglied der Frisbee-, Rucksack- und Sandalen-Generation. »Ich meine, es klang, als hätten Sie auf die Lacher vom Band gewartet.« Sie wirkte besorgt. »Nein, meine Beste, das ist mir eben eingefallen. So was kommt öfter vor im richtigen Leben: denken und sprechen, denken und sprechen. Man könnte sagen, die meisten von uns schreiben ihr eigenes Skript.« »Es war ganz sicher nicht komisch. Vielleicht sollten Sie jemanden anheuern, der für Sie schreibt.« Ihm gefiel dieser Haufen; er ließ sich auf den scherzhaften Ton ein. Während er zuhörte, bemerkte er hinten im Raum eine Frau – eindeutig keine Studentin, obwohl ihm ihr Gesicht seltsam bekannt vorkam. Riesengroße Augen, ein französisch geschnittener Mund, hohe Backenknochen, kurzes Haar, nasser Regenmantel. Aufmerksam saß sie in der Nähe der Tür, die Hände auf dem Tischpult gefaltet. Sie hatte ein Kleenex aus, ihrer Vuitton-Tasche gezogen und tupfte sich die Nase. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er ihr zu, dann nahm er Haltung an und trat hinter das Rednerpult. Er löste seine Rolex vom Handgelenk und legte sie aufs Pult, bevor er anfing, über Illusion und Wirklichkeit zu reden. Die beschlagenen Fenster löschten den grauen Tag draußen aus. »Wir leben in einer Zeit der einfachen Lösungen und der schnellen Erklärungen«, sagte er. »Innerhalb von Sekunden wird aus der Gegenwart Geschichte. Die leichtgewichtigen, mit Transistoren bestückten Handkameras des Farbfernsehens bringen uns genau an den Punkt, an dem es abgeht. Hören Sie mir gut zu: ›an dem es abgeht‹. Das ist Fernsehjargon, meine jungen Freunde.« Er lächelte gequält. »Der untersetzte Muskelprotz mit seiner Schickse im Krimi redet so, und nun rede ich wie er, und ich bin weder Polizist noch aus der Gosse. Man wird im Nu unterschwellig beeinflusst, und dabei spielt es keine Rolle, ob es Gassenjargon in einem Krimi ist oder John Dean in seiner aktuellen Stunde oder der Bestechungsskandal bei Lockheed oder Nixons Chinareise … Wir lösen uns kurz vom Alltagsgeschehen und konsumieren eine knappe halbe Minute lang die komprimierte Geschichte der amerikanischen Beziehungen zu China oder die Korruption in der Regierung oder die Rolle des Spions in der westlichen Welt. Das Leben wird zu einem endlosen Strom von Minutenhäppchen, die uns von Shell Oil präsentiert werden und die in immer kürzerer Folge durch die Zeit jagen.« Er hielt inne und sah in sein Publikum. Sie gehörten alle zur Fernsehgeneration, zur ersten, die mit dem Medium aufgewachsen war, und er fragte sich zum hundertsten Mal, ob sie ihn wirklich verstanden. Sie waren das Produkt dessen, was sie ihr Leben lang konsumiert hatten. Konnte man sie dafür verantwortlich machen? Konnte Harvard in vier kurzen Jahren den Schaden wieder gutmachen? »Ich sage ja nicht, dass das alles schlecht ist.« Er schüttelte, den Kopf. »Keineswegs. Aber es reicht nicht aus. Diese eine Sicht auf unser Dasein und unsere Herkunft reicht einfach nicht. Fernsehzeit ist teuer, und deshalb müssen Informationen und Analysen knapp, prägnant und unterhaltsam sein. Knapp, prägnant, unterhaltsam … nicht unbedingt intelligent oder tief schürfend oder korrekt. Das Fernsehen schafft eine Illusion – ein großes gemeinsames Wohnzimmer, in dem wir alle um die elektronischen Weisen herumsitzen und das gleiche Zeug konsumieren – alle das Gleiche, ob richtig oder falsch. Und wir Konsumenten haben die Macht, das Gesehene zur Realität werden zu lassen – zur Wahrheit, wie sie von CBS und NBC und ABC gesehen wird. Aber das ist nicht die Wahrheit. Es ist nur ein Teil davon, ein Quäntchen der Wahrheit … Wo finden wir nun die Wahrheit? In der New York Times? Ja, etwas davon steht in der New York Times. Und etwas in Newsweek und wieder etwas im Rolling Stone, und es gibt Bruchstücke davon in diversen Memoiren, die jeweils an den Verlag verhökert werden, der das höchste Gebot abgibt.« Er lehnte sich vor und versuchte, einigen seiner Hörer in die Augen zu sehen. »Aber das meiste, was wir über uns und unsere Vorfahren heutzutage lesen und sehen, ist Teil der verkäuflichen Illusion, die sich ›Geschichte‹ nennt. Und nur ein geringer Teil davon hat etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Es ist maßgeschneiderte Geschichte, zugeschnitten auf die verschiedensten gängigen Theorien, die gerade im Trend sind … Und beim amerikanischen Revolutionskrieg geht es wieder um das Thema Illusion und Wirklichkeit. Sie müssen sich in die Menschen jener Zeit hineinversetzen, die Dinge so sehen wie sie, Sie müssen erkennen, was sie wussten und wie viel ihnen entgangen ist, was sie für wirklich hielten … Das Etikett, das wir gern Menschen aufdrücken, die den Gang der Geschichte ändern, passt nur selten.« Er ließ seinen Ideen freien Lauf – Ideen, die er sich im Lauf der Jahre sorgsam erarbeitet hatte. Er trug sie beinahe, automatisch vor, jedenfalls an dem Tag. Er sprach über große Männer und über Schurken und wie sie zu dem einen oder dem anderen geworden waren, und er betrachtete die Frau in der letzten Reihe. Ein vertrautes Gesicht … kannte er sie? Nein, das nicht … aber irgendwie vertraut. Immer, wenn er zu ihr hinsah, hatte sie den Blick auf ihn gerichtet. Warum auch nicht? Er war ja der Dozent. Er schlenderte zum Heizkörper und trat mit dem Fuß dagegen, denn er hatte schon vor Wochen erkennen müssen, dass kein Versuch, das Ding auf vernünftige Art zu beeinflussen, auch nur den geringsten Erfolg zeigte. Er steckte die Hände in die Taschen seines Tweed-Sakkos, ertastete Fusseln, Tabakkrümel und abgerissene Kinokarten, und wartete. Sie sollten Gelegenheit haben, das Wesentliche einer Sache klar zu erkennen, bevor er ins Detail ging. Komisch, sie starrte ihn immer noch an. Wieso hatte er das Gefühl, ihr Name läge ihm fast auf der Zunge? »Nun kommen wir zum Kern dieser Veranstaltung, zur amerikanischen Revolution. Bevor wir uns mit Einzelheiten befassen, möchte ich kurz über die Bedeutung von zwei noch wichtigeren Wörtern sprechen: Revolution und Verrat. Der allgemeine Sprachgebrauch wird ihnen nicht gerecht. So hat zum Beispiel eine Umfrage vor nicht allzu langer Zeit ergeben, dass die Amerikaner sich weder in der Geografie noch in der Geschichte auskennen – obwohl sie glauben, sie wüssten Bescheid.« Chandler nahm die Brille von der gebogenen Nase und akzentuierte mit ihr seine Worte: »Und ihr Wissen über die amerikanische Revolution ist noch geringer als über irgendeinen anderen Zeitraum unserer Geschichte. Sie hier sind vermutlich besser informiert als der Durchschnitt der Bevölkerung. Doch ich möchte Ihnen Folgendes erklären: Die grundlegende Idee, welche die amerikanische Revolution auslöste, wird häufig missverstanden. Im Sommer 1773 schrieb Ben Franklin einen Brief an John Winthrop hier in Harvard, und ich zitiere –«, Chandler öffnete sein Ringbuch, doch er brauchte den Text fast nicht abzulesen: »›Wie unter Freunden nicht jeder Affront ein Duell wert ist und zwischen den Völkern nicht jede Verletzung einen Krieg, so ist auch zwischen den Regierten und der Regierung nicht jeder Fehler der Regierung, jede Beschneidung von Rechten, eine Rebellion wert.‹« Chandler lehnte sich mit der baumelnden Brille in den verschränkten Händen über das Pult und ließ seine Worte nachwirken. »Genau so war es mit Franklin und Jefferson und John Adams. Keiner von ihnen wollte einen Krieg … oder die Unabhängigkeit. Siebzehnhundertfünfundsiebzig erklärte Adams, die Idee der Unabhängigkeit werde diesseits des Atlantiks allgemein abgelehnt. Er legte Wert auf diesen Punkt und betonte, dass sowohl die amerikanischen Whigs als auch die Tories von strikter Loyalität gegenüber der Krone geprägt waren. Als es dann zum Krieg kam, so seine Worte, war es ein Krieg der Whigs, die um ihre Rechte als Engländer kämpften. Das sind entscheidende Tatsache, die Sie im Auge behalten sollten, wenn Sie sich mit der amerikanischen Revolution befassen. Das Wort ›Revolution‹ hat mehr als eine Bedeutung.« Er setzte seine Brille wieder auf und schob die Hände so heftig in die Jackentaschen, dass er die Knöpfe strapazierte. Er sah zur Tafel. »Nun das zweite Wort: Verrat. Aus unserer neuen Sicht auf die Revolution ergibt sich logischerweise auch eine andere Sicht auf den Begriff ›Verrat‹. Außerdem ist Verrat ein völlig subjektiver Begriff – des einen Verräter ist fast immer des anderen Held. Man kann dem Wort Verrat nicht trauen, doch die amerikanische Revolutionsgeschichte ist voll von selbstgerechten Beschuldigungen des Verrats. Was ist nun irreführend und was wahr? Überlegen Sie: Als das Drama begann, war es weit von einer Revolution entfernt. Nur ein Geistesgestörter konnte sich doch einen Krieg gegen die Übermacht Englands vorstellen! Diese Männer betrachteten sich, als Engländer, als loyale Untertanen, und sie waren stolz darauf. Aber die Ereignisse verschworen sich gegen sie, wie das manchmal so ist, und drängten die loyalen Untertanen in einen Krieg – einen Krieg, den sie nicht wollten. Selbst als der Geist der Unabhängigkeit wuchs, selbst nach dem 4. Juli 1776, stand die Bevölkerung keineswegs einstimmig hinter dieser Erklärung. In allen Ecken des Landes, in jeder Stadt, gab es Tausende, Zehntausende, die gegen den voreiligen Akt der Auflehnung, dieses selbstmörderische Drängen zum Krieg, vehement protestierten. Vergessen Sie nicht: Sie alle hielten sich für Patrioten … Und als die Revolution in vollem Gange war, als der Krieg über sie herein brach, verstärkten sich Pro und Kontra. Eine politische Kontroverse hatte sich in einen kriegerischen Schlagabtausch verwandelt. Die politischen Standpunkte reduzierten sich auf zwei, die Bevölkerung war zweigeteilt: Man war entweder Patriot oder Loyalist. Für die Patrioten hieß das, jemand war entweder bereit, für die Rechte und Freiheiten der Amerikaner zu kämpfen, oder eben nicht. Für die Loyalisten war das alles Humbug; man war entweder für oder gegen die rechtmäßige Regierung. Selbstverständlich gab es viele intelligente, weiter denkende Menschen, die über den Tellerrand hinaus blickten und die krasse Schwarz-Weiß-Sicht nicht akzeptieren konnten. Sie könnten wir als Realisten bezeichnen. Sie waren einfach nicht überzeugt von der Richtigkeit der einen oder anderen Ansicht, sie konnten nicht unwiderruflich der einen oder anderen Seite beipflichten. Sie sahen immer auch den Standpunkt der Gegenseite. Deshalb waren viele große und mächtige Männer fähig, die Seiten zu wechseln. Machte sie das zu Verrätern? Die Seiten wechseln – halten Sie das fest. Sie würden wirklich staunen, wer sich alles bemüßigt fühlte, die Seiten zu wechseln.« Er seufzte und legte sich die Rolex wieder ums Handgelenk. »Sie haben die Literaturliste. Informieren Sie sich.« Er lächelte und nahm seinen Schal. »Das wär’s für heute.«, Die Frau mit den großen Augen und den hohen Backenknochen kam mit flottem Schritt auf ihn zu, während er ungeschickt in den schäbigen Burberry mit den ausgefransten Ärmelrändern, dem lappigen Karofutter und den vereinzelten Flecken schlüpfte, die sich anscheinend von ihm angezogen fühlten. Er betrachtete sie, als sie sich ihren Weg durch die Studenten bahnte, und versuchte, ihrem Gesicht einen Namen zuzuordnen: Außer Audrey Hepburn fiel ihm aber nichts ein, und weil er nicht das große Los gezogen hatte, war sie wohl kaum Audrey Hepburn. Sie sprach ihn an und streckte ihm die Hand hin, die er linkisch ergriff. »Ich bin Polly Bishop von Kanal 3 Aktuell –« »Natürlich«, sagte er und schlug sich an die Stirn. »Ich habe Sie schon hundertmal gesehen, aber –« »Typisch für das Fernsehen. Wir sind den Leuten so vertraut wie ihre Möbel …« Sie lächelte gewinnend. »Und genauso nebensächlich.« »So ähnlich wie Geschichtsprofessoren.« Er fing an, sich mit seinem Schal zu erwürgen, und fragte sich dabei, wie es kam, dass er bei den einfachsten Dingen solche Schwierigkeiten hatte. »Sie haben sich in der kleinen Schlaufe verheddert«, meinte sie, während sie ihn vor seinem Schal rettete. »Haben Sie immer solche Schwierigkeiten?« Sie lächelte breit, mit nach oben gewölbten Mundwinkeln. »Immer Gott sei Dank nicht, aber immer öfter. Was kann ich für Sie tun, Miss Bishop?« Sie ignorierte seine Frage. »Sie sind ziemlich hart mit uns Fernsehleuten ins Gericht gegangen, Professor. Hier, vergessen Sie nicht Ihren Schirm.« »Bestimmt nicht härter, als Sie es verdienen. Das Fernsehen ist an vielem schuld.« »Ach, das Gute und das Schlechte hält sich wohl die Waage.« Immer noch lächelnd musterte sie ihn von oben bis unten., »Vielleicht überwiegt sogar das Gute.« Ihr Lächeln ergötzte ihn nicht übermäßig, genauso wenig wie die heitere Nachsicht, die sie zur Schau stellte. »Rechtfertigen Sie Ihre Existenz, wie immer Sie wollen …« »Oje, jetzt wird sogar meine ganze Existenz in Frage gestellt!« »Hören Sie, Miss Bishop, ich weiß nicht, weshalb Sie hier sind. Aber bestimmt nicht, um mich wegen meiner Kritik am Fernsehen zu nerven … Sie hatten Ihren Spaß, als Sie meinen Kampf mit Schal und Mantel verfolgten. Das sehe ich an Ihrem Gesicht. Warum kommen wir nicht zur Sache oder lassen das Ganze.« Er stopfte Unterlagen und Bücher in seine Aktentasche. Als er nach seinem Boston Globe griff, tippte sie mit ihrem wohl manikürten Finger darauf. »Deshalb bin ich hier.« Das Lächeln war verschwunden. »Tut mir leid, Professor, dass wir so einen schlechten Start hatten …« »Der Mord an Bill Davis«, sagte er leise. Das jungenhafte Gesicht mit dem langen Haar – ein typisches Jahrgangsfoto – blickte ihn von der Zeitungsseite an. Einen Augenblick lang zitterte seine Hand. Dann schob er die Zeitung in seine voll gestopfte Tasche. »Sinnlos und entsetzlich …« Er schloss die Aktentasche und sah herab auf die Frau. »Ich berichte über den Mord. Eine große Sache, ›Der Harvard- Mord‹. Deshalb bin ich hier.« Sie ließ den Blick durch den Hörsaal schweifen, dann sah sie wieder ihn an und zuckte verlegen die Achseln. »Sie waren mitten in der Vorlesung. Ich bin dageblieben.« »Ich verstehe nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Wie kommen Sie auf mich? Ich habe ihn kaum gekannt.« »Sie waren sein Tutor, Professor, sein Studienberater. Wie können Sie da sagen, Sie kannten ihn kaum?« »Ich habe ihn erst dieses Semester übernommen. Wir haben uns nur ein-, zweimal getroffen. Er kam mir ziemlich selbstständig vor. Hatte wohl etwas in Arbeit, das ich noch nicht, sehen sollte. Sein früherer Tutor gab Bill den Anstoß, und für mich war bis jetzt nicht viel zu tun …« Er schüttelte erneut den Kopf, als sei er zu keiner anderen Bewegung fähig. Auf wie viele Arten konnte man Sinnlosigkeit und Trauer ausdrücken? »Ich weiß nichts über … das, was Bill passiert ist.« »Aber außer Ihnen haben wir nichts, Professor. Nicht einen Anhaltspunkt. Die Polizei hat schon mit Ihnen gesprochen, aber sie rückt nichts raus. Das macht Sie für uns interessant. Anscheinend sind Sie der Einzige in Harvard, mit dem sie geredet haben, die einzige Verbindung zu Harvard. Und offen gesagt, der Mord gewinnt erst durch Harvard an Interesse. Verstehen Sie? Es sollte nicht so abgebrüht klingen …« »Ihre Art schäbiger Sensationshascherei finde ich Ekel erregend, Miss Bishop. Ihr Eingriff in meine Privatsphäre ist schlimm genug. Aber dass das Leben des Jungen erst durch Harvard –« »Nicht sein Leben! Wir sprechen von seinem Tod, und Boston ist voll von Leichen – tagtäglich«, erklärte sie aufbrausend und mit gerötetem Gesicht. »Der Harvard-Mord – heiliger Strohsack!« Er versuchte, an ihr vorbei zu kommen, aber sie machte keinen Platz. Es war entsetzlich heiß. Sein Hemd unter den vielen Kleidungsstücken war durchweicht. Polly Bishop fixierte ihn ungerührt. »Ihr Name stand auf einem Zettel in seiner Tasche, dazu Ihre Sprechstunden. Die Sekretärin hat gesehen, wie er ein paar Stunden vor seinem Tod Ihr Büro verließ.« »Denken Sie, ich habe ihn ermordet? Wollen Sie wissen, was ich zu der Zeit getan habe? Na gut. Ich war im University-Kino am Harvard Square und habe mir ein Remake von Charade angesehen mit Cary Grant und Audrey Hepburn.« Er räusperte sich verlegen. »Nein, ich war nicht mit Cary und Audrey zusammen. Sie waren auf der Leinwand. Und ich habe einen Zeugen namens, Brennan. Auch er hat Bill Davis nicht ermordet. Und nun Schluss mit dem Verhör, Miss Bishop. Mir reicht’s.« »Was wollte Bill Davis vor seinem Tod bei Ihnen, Professor?« »Hören Sie«, sagte er verärgert, »was ist los mit Ihnen? Sie wissen, weshalb mein Name und meine Sprechstunden auf seinem Zettel standen. Ich war sein Tutor. Ja, er wollte mich sprechen. Aber er kam zu spät! Wir haben uns verfehlt!« Er spürte, wie der Muskel an seinem Kinn zuckte. Verdammtes Weib … »War wohl nicht sein Tag, wie?« »Sehr komisch«, bemerkte er säuerlich. »Wirklich.« »Weshalb wollte er Sie sprechen? Weshalb hat er bei der Sekretärin hinterlassen, dass Sie ihn anrufen sollten? Was war denn so wichtig?« Chandler hob die Hände und schaute in den Saal. »Jetzt hören Sie mal, Miss Bishop! Ich weiß nicht, was er von mir wollte. Ich habe ihn nicht gesprochen. Geht das in Ihren Kopf nicht rein?« »Ich glaube, Sie wissen etwas und wollen es nicht sagen.« Sie nickte bekräftigend mit dem Kopf. »Sie sind genau der Typ …« »Heiland!« Er stürmte an ihr vorbei und durch die Tür. Warum musste Gott eine so attraktive Frau schaffen, die derartig ätzend war? Warum bloß? Er hörte ihre gestiefelten Schritte hinter sich. Als sie näher kam, erhaschte er einen Hauch ihres Parfüms. Gardenia oder so was. Sie hatte zarte kleine Krähenfüße in den Augenwinkeln und einen selbstsicheren Zug um den Mund. Fünfunddreißig? Wieso interessierte ihn das? »Vielleicht ist Ihnen gar nicht klar, dass Sie etwas wissen«, meinte sie versöhnlich. »Doch ich wette, es gibt etwas, eine Kleinigkeit …« »Ein Schuss in den Ofen, werte Dame!« »Elegant ausgedrückt«, meinte sie. »Wirklich elegant. Ihr Harvard-Leute …« Er trat durch die Eingangstür auf die Eingangstreppe und war, momentan wie von einem Blitzstrahl geblendet. Man hatte einen starken Reflektor eingeschaltet, und Chandler erkannte zu spät, dass er hinters Licht geführt worden war. Ein Kameramann war da, ein Beleuchter, ein Typ, der das Mikrofon und irgendein anderes Gerät hielt. Auf jedem Gerät prangte eine große grüne 3 in einem schokoladebraunen Rechteck. Jemand hielt einen Schirm über die Kamera und den Reflektor. Als Chandler sich erstaunt zu Polly Bishop umdrehte, fiel ihm der Schirm aus der Hand und rollte die Treppe hinunter. »Wenn das nicht mein Glückstag ist«, brummte er. Sie ergriff das Mikrofon, stellte sich in Positur und fing auf ein Signal hin an zu sprechen. Chandler sah in die Kamera und wollte flüchten, doch er spürte eine Bewegung an seinem Ärmel und stellte fest, dass sie sich bei ihm eingehängt hatte. Er war gefangen. Und weil er dieser erstaunlichen Frau nicht gut eine überbraten konnte, musste er wohl ein Fernsehinterview über sich ergehen lassen. Während der Regen aus den schwammigen grauen Wolken tröpfelte, hörte er sie reden. »Wir stehen hier im ehrwürdigen alten Harvard Yard, in Rufweite des geschäftigen Harvard Square – überschattet vom gewaltsamen Tod von Bill Davis, des jungen Harvard- Studenten, der vor weniger als achtundvierzig Stunden auf dem Rasen vor dem Vorstadthaus seiner Eltern in Brookline brutal niedergeschossen wurde. Wir sprechen mit Bill Davis’ Studienberater, Harvards bekanntem Historiker und Autor Professor Colin Chandler.« Mit offenem, ernstem Blick sah sie ihm in die Augen, ganz die seriöse Reporterin, deren Aussehen er schon oft während der Abendnachrichten bewundert hatte: scharf geschnittenes Gesicht, sanfte braune Augen, ein paar kunstvoll drapierte graue Strähnen in dem üppigen kastanienbraunen Haar, das – nach hinten gebunden – ihre Ohren bedeckte. Fast musste er lächeln; dann hörte er ihre Frage. Er wünschte ihr alles Mögliche an den Hals. »Stimmt es, Professor Chandler, dass Sie der Letzte waren, der, Bill Davis an der Universität lebend gesehen hat?« »Nein, das ist schlicht und einfach falsch, Miss Bishop – wie ich Ihnen gerade ausführlich erklärt habe. Bill wollte am Nachmittag zu mir ins Büro kommen, aber ich war nicht da und er ging wieder.« »Haben Sie eine Ahnung, warum er so verzweifelt versuchte, mit Ihnen zu reden?« »Die Verzweiflung ist auf Ihrem Mist gewachsen, Miss Bishop. So weit ich weiß, war nichts Verzweifeltes an seiner Nachricht. Ich sollte ihn einfach anrufen. Bei mir hinterlassen viele eine Nachricht, ohne dass sie danach ermordet werden. Ich hätte ihn bestimmt angerufen, wenn er noch am Leben gewesen wäre.« Ein Grüppchen Studenten blieb stehen. Sie deuteten auf ihn und grinsten. Er konnte es ihnen nicht übel nehmen. Unter einem kahlen Baum standen zwei Männer mit ungemütlich hochgezogenen Schultern im Regen. Sie wirkten seltsam altmodisch und fehl am Platz, besonders der kleinere in seinem Pepita-Regenmantel und dem dazu passenden Hut. Er hörte kaum, was sie sagte: Ärger und Frust über ihr Vorgehen halfen ihm, ihre Stimme auszublenden. Die Studenten verloren das Interesse und gingen weiter. Die beiden Männer stampften mit den Füßen und taten so, als würden sie sich wegen ihrer Neugier genieren. Chandlers Blick wanderte über den Yard. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, dass einer seiner Kollegen zufällig auf dieses lächerlichen Schauspiel aufmerksam werden könnte. Im Aufgang zu Matthews Hall, wo Chandler als Erstsemester gewohnt hatte, standen noch zwei Männer, die ihn zum Glück nicht beobachteten. Aus irgendeinem unverständlichen Grund schienen sie die beiden unter dem Baum im Visier zu haben. Chandler registrierte einen Kahlköpfigen mit grauen Flusen über den Ohren, der sich mit einem weißen Taschentuch über die Glatze wischte. »Damit vertieft sich das Geheimnis um den Tod von Bill, Davis«, sagte sie mit der gespielten Dramatik derjenigen im Tonfall, die jeden Tag neue Horrormeldungen verbreiten. »Es bleibt die Frage: Warum wollte er Professor Chandler so dringend sprechen? Das ist nicht sehr ergiebig, aber es ist alles, was wir im Augenblick haben …« Es folgte eine bedeutsame Pause, während der Chandler sein eigenes Zähneknirschen hörte. »Polly Bishop von Kanal 3 Aktuell aus Harvard Yard.« Das Licht erlosch. Sie ließ seinen Arm los und reichte das Mikrofon dem Helfer, der es ihr gegeben hatte. Dann wischte sie sich den Regen vom Gesicht und lächelte Chandler zu, als sei nichts geschehen. »Miss Bishop, in den letzten beiden Minuten haben Sie mir demonstriert, wie vernünftig ein Mord sein kann …« Er spürte, wie er ungewollt mit den Zähnen knirschte. »Das gehört zum Showgeschäft, Professor. Knapp, prägnant, unterhaltsam … nicht unbedingt intelligent oder tief schürfend oder korrekt. Sie sollten sich freuen über Ihre kleine Theorie.« Sie griff nach der Vuitton-Tasche, schlüpfte mit ihren eleganten, schlanken, ringlosen Händen in schmale braune Lederhandschuhe und sah ihm keck in die Augen. »Aber wir sind die Nummer eins im Nachrichtengeschäft. Wir sind Reporter, keine Sprachgenies … Wir schwärmen aus und dokumentieren die Ereignisse. Und wir berichten nicht nur über Mord und Korruption in der Stadt oder über Skandale oder über den Mob. Wir versuchen, etwas dagegen zu tun. In diesem Fall wollen wir herausfinden, wer Bill Davis getötet hat.« Sie stand unten an der Treppe und schaute hinauf. Ihre sanften Augen blitzten wütend. »Hier ist Ihr blöder Schirm.« Er griff danach und revanchierte sich: »Na, jedenfalls teilen Sie meine Theorie über das Fernsehen. Sie sind Ihr Geld wert, Miss Bishop, Nummer eins in Boston … Was immer das bedeuten mag.« Er hielt sich an seinem Regenschirm und seiner Aktenmappe fest und ging. Regentropfen sprenkelten seine Brille., »Vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben, Professor.« Sie stellte sich erstaunlich rasch um, ignorierte einfach die Meinungsverschiedenheit. So etwas war ihm noch nicht begegnet. »Und wenn Ihnen zu Bill Davis noch etwas Wichtiges einfällt, wenn irgendwas passiert – und glauben Sie mir, in Mordfällen passiert immer was …« Wieder lief sie ihm nach. »Rufen Sie mich an, zu Hause oder im Studio.« Sie hielt ihm ihre Karte hin. Automatisch griff er danach und starrte das kleine weiße Rechteck an. »An Ihrer Stelle würde ich keine Informationen von mir erwarten.« Sie lächelte unbeeindruckt. »Na, jedenfalls vielen Dank. Und regen Sie sich nicht auf. Davon kriegen Sie höchstens ein Magengeschwür, so wie ich.« Sie winkte ihm spitzbübisch zu und ging wieder zu ihrem Team. Vor dem Tor zur Mass Avenue sah er einen grün-braunen Kombi mit einer 3 an der Tür stehen. Motor und Scheibenwischer liefen. Frustriert zerknüllte er das Kärtchen und warf es weg. Rasch drehte er sich um und eilte an dem Mann mit dem Pepitahut vorbei, um so schnell wie möglich aus ihrer Reichweite zu kommen. Sie ging ihm heftig auf die Nerven. Aber in einem hatte sie Recht: Seine Meinung über das Fernsehen hatte sich bestätigt. Hugh Brennan rief Chandler etwas zu, als er an dem dunkelroten Ziegelklotz entlang lief, der sich Matthews Hall nannte. Chandler hatte den Blick zuvor starr auf den Boden gerichtet, in der Hoffnung, unbemerkt den Schauplatz verlassen zu können. Der untersetzte, ziemlich kleine Mann trat auf ihn zu. Sein Aussehen passte zu seiner Persönlichkeit: Er hatte etwas von einem gutmütigen Haustier, einen Hang zur Passivität, die aber nur so lange anhielt, bis er Tritt fasste und sich ins Zeug legte, bereit, bis zum Letzten zu kämpfen. Er lehrte Englisch. Sein Spezialgebiet war der Roman des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere die Werke Trollopes., Er verzog das runde Gesicht zu seinem gewohnten Grinsen. Sein rotblondes lockiges Haar klebte nass am Kopf, »Ich hoffe nur, du hast dieses Schmierentheater nicht mit erlebt«, knurrte Chandler. »Doch. Von Licht umflutet hast du da gestanden, mit grantigem Gesicht, aber resolut. Ein neuer Stern am Fernsehhimmel, wie Galbraith und Schlesinger. Und erst die Lady – einsame Klasse!« Er bemerkte Chandlers saure Miene. »Worum ging’s denn eigentlich?« Sein Doppelkinn quoll aus dem schweren maschinengestrickten Rollkragenpullover. Es sah aus, als säße sein Kopf direkt auf den Schultern. Einträchtig nebeneinander schlenderten sie aus dem Universitätsgelände. Die Autos fuhren nun mit Licht. Es regnete eintönig vor sich hin. Chandler beschrieb seinen Fernsehauftritt und meinte zum Schluss: »Sie hat einfach ignoriert, was ich ihr vorher erzählt hatte, damit sie mir am Anfang eine gute Frage stellen konnte. Ob ich der Letzte war, der Bill Davis lebend gesehen hat? Scheiß-Showgeschäft!« Brennans Grinsen verschwand. »Du hast den Jungen tatsächlich gekannt?« »Eigentlich nicht. Du weißt ja, wie das so ist. Er kam mir gewieft vor und ein bisschen introvertiert. Ich habe ein paar Mal mit ihm gesprochen. Aber gekannt habe ich ihn nicht.« Brennan nickte. »Warum wollte er denn mit dir sprechen? Am Tag, als er ermordet wurde, meine ich.« »Keine Ahnung. Er wollte mir was zeigen. Aber er hat nicht gesagt, was.« »Hat die Polizei mit dir gesprochen?« »Klar. Sie haben meinen Namen bei ihm gefunden. Aber es war keine große Sache. Zehn Minuten Routinefragen, danke für die Hilfe – das war’s.« »Dann vergiss es doch.«, »Es geht um diese Bishop. Sie hat mich gelinkt. Bei ihr sah es so aus, als wäre ich irgendwie beteiligt. Sie ist unaufrichtig und rücksichtslos. Und heute Abend sieht jeder in Boston das dämliche Interview und fragt sich, warum der Junge mich so dringend sprechen wollte.« Sie überquerten den Square und blieben einen Moment lang unter der Markise des Universitätstheaters stehen. Brennan steckte sich eine Zigarette an, sog daran und hustete. Chandler war noch immer in Fahrt: »Die Frau hat was Destruktives. Manche Frauen können einfach nicht anders. Das liegt in ihrer Natur.« »Ja, ja«, brummte Brennan. Er hatte zwei Ehen überlebt: die erste mit einer englischen Schauspielerin, die nächste mit einer Schönen aus Charlottesville. »Hast du Robin und Marian gesehen?« »Audrey Hepburn«, meinte Chandler genervt. »Ich weiß, ich weiß …« »Eine Frau wie die hätte bei mir jede Menge Kredit. Sie ist zäh, unabhängig, intelligent und schön –« »Wer sagt, dass sie intelligent ist?« »Herrgott, das sieht man doch! Sie macht einen guten Eindruck, und sie verdient gut, wie meine verehrte irische Mutter gesagt hätte – gesagt hat, in Bezug auf meine unsterbliche erste Frau Brenda, den Star.« Er knuffte Chandler in den Arm. »Lass dich nicht von ihr kleinkriegen. Kopf hoch!« Chandler zuckte frustriert die Achseln. »Komm«, sagte Brennan, »wir gehen zu Chez Dreyfus essen und einen trinken. Das richtet dich wieder auf. Ich erzähl dir einen neuen Witz.« »Nein. Ich bin nicht in Stimmung. Ich nehm mir zu Hause den Playboy vor und geh dann ins Bett.« Chandler seufzte und starrte in den Dauerregen, der mit zunehmender Dunkelheit heftiger wurde. »Übrigens schreibe ich neuerdings auch für den Playboy.« »Solange du nicht posierst …«, »Nein, ich habe einen Auftrag angenommen, für einen Artikel … ›Die echte amerikanische Revolution‹ ist der Arbeitstitel. Dubiose Wissenschaft zwischen Titten und Schamhaar.« »Prominente Akademiker sind mir ein Gräuel«, erklärte Brennan. Sie gingen an der Kirche um die Ecke und drängelten sich auf dem Weg ins Restaurant unter dem Schirm. »Weißt du«, sagte Chandler, »ich wäre gern da gewesen, als er in mein Büro kam. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Er hat letzte Woche was gesagt, aber ich kann mich nicht genau erinnern. Nichts Großartiges. Aber er ist nach der Vorlesung zu mir gekommen. Er hat mich durch seine Hippie-Brille angeguckt und gesagt, er wolle mir was zeigen. Er war ziemlich zurückhaltend. Er sagte – warte mal – er sagte, ich würde es nicht glauben, aber er brauchte eine Verifizierung.« Er hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. »Stimmt. Er wollte, dass ich etwas begutachte. Hugh, das ist komisch. Was hätte ich dem Jungen begutachten sollen?« »Vielleicht ein Dokument? Irgendwas Historisches?« »Etwas Altes – oder etwas von zweifelhafter Herkunft … eventuell eine Fälschung? Herrgott, es ist richtig unheimlich, dass ich mich jetzt daran erinnere.« »Polly Bishop ist also doch nicht so dumm, mein Lieber. Sie meinte, du wüsstest etwas, und das stimmt.« »Aber mit dem Mord hat es nichts zu tun …« »Wer weiß?« Vor dem Chez Dreyfus sagte Brennan zu ihm: »Lass dich aufheitern.« »Du erzählst mir einen Witz.« »Ein Professor für Englisch stürzt sich mit drei seiner Examenskandidaten ins Nachtleben. Sie sehen vor sich leichte Mädchen – Huren, im Klartext. Der Professor stellt eine Frage: Eine Ansammlung von Gänsen ist eine Gänseschar, eine Ansammlung von Löwen ein Rudel, eine Ansammlung von Schafen eine Herde. Was ist dann der Terminus für eine Gruppe, von leichten Mädchen? Die Jungen sind helle und geübt im Umgang mit literarischen Fachbegriffen. Sie geben flotte Antworten. Der erste schüttelt den Kopf und fasst sich ans Kinn: ›Eine Materialsammlung.‹ Nicht schlecht! Aber Nummer zwei übertrifft ihn mit: ›Eine Kollektion.‹ Der dritte hört die Vorgaben und verkündet triumphierend: ›Eine Kompilation!‹ Der Professor muss sie loben. Sie haben Old Harvards Ehre gerettet, doch keiner hat die richtige Antwort gegeben. Für Studenten der englischen Literatur gibt es nur eine einzige Antwort, nämlich –« »Eine Anthologie«, sagte Chandler. Seine Laune wurde besser. Er musste lachen. Brennans Miene verdüsterte sich. »Du hast ihn gekannt. Ich hab ihn schon mal erzählt.« »Nein, nein. Es war eine Eingebung.« »Erzähl keine Märchen. Jemand hat’s dir erzählt …« Chandler winkte ihm zu, während er allein weiterging. In dem kleinen Supermarkt an der Ecke Brattle Street deckte er sich mit Kaffee und Brie und einem frischem Krustenbrot ein. Doch eines ging ihm die ganze Zeit nicht aus dem Kopf: Was mochte es gewesen sein, das er für Bill Davis hätte verifizieren sollen? Selbst nach einem lausigen Tag fand Chandler abends Geborgenheit und Freude in seinen vier Wänden, unter all den Dingen, die er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte. Seine Veröffentlichungen und sein gut bezahlter Job an der Harvard-Universität brachten ihm eine gute Stange Geld. Eines seiner Bücher war sogar unter den Bestsellern des Monats gewesen. Er hatte nie anderswo als in Harvard gelehrt; mit achtzehn hatte er dort zu studieren begonnen und war nach dem Studium geblieben. Klar, es war ein behütetes Leben, aber genau so hatte er es sich vorgestellt. Der Ehe war er zwar gelegentlich ziemlich nahe gekommen, aber so ganz hatte es nie gereicht. Das ließ ihn kalt, und er dachte nicht darüber nach:, Entweder würde er heiraten – oder eben nicht. Im Augenblick gab es keine Favoritin in seinem Leben. Egal. Er verschwendete keinen Gedanken daran. Weil er der Meinung war, einen Leckerbissen verdient zu haben, hatte er sich eine Pizza mit Pepperoni, Champignons und Anchovis ins Haus bestellt, die nun zerfleddert auf dem Beistelltisch vor seinem bequemen, dick gepolsterten Sessel lag. Die Schonbezüge auf den Armlehnen wurden fadenscheinig, doch es war sehr unwahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit ersetzt würden. In seiner voll gestopften Bibliothek, wo er die meiste Zeit verbrachte, stand ein Schwarzweißfernseher aus der Zeit der McCarthy-Ära, außerdem fanden sich da ein paar Farne, die seit fünf Jahren dahinsiechten, ein offener Kamin, aus Ziegelsteinen gebaut und mit schwärzlicher Asche, und eine imposante Nachbildung von Houdons Washington-Büste. Trotz allem war es ein ordentliches Zimmer – so ordentlich wie das ganze Haus, das er fünfzehn Jahre zuvor gekauft hatte. Er reckte sich genüsslich und ging in die blitzsaubere Küche, wo er sich aus seiner Kaffeemaschine eine frische Tasse eingoss. Er verwendete nur selbst gemahlenen Kaffee. Dann setzte er sich wieder in die Bibliothek. Zwei leere Bierdosen, die er dort vorfand, warf er in den Papierkorb. Sein Leben gefiel ihm. Gut, er war Junggeselle – war vielleicht dazu geworden, ohne viel darüber nachzudenken. Schluckweise trank er den dampfenden Kaffee und sah dabei dummerweise auf die Uhr. Mist! Zeit für die Spätnachrichten … Um sechs hatte er dem Impuls widerstanden, Polly Bishops Sendung zu sehen. Nun wurde er schwach. Er stand seufzend auf und schaltete den Fernseher ein, dem die Worte »Transistoren« und »Farbe« fremd waren und der eine Ewigkeit brauchte, um ans Laufen zu kommen. Schemenhaft erschien der geföhnte Moderator, wurde klarer und lächelte salbungsvoll. »Nun unterhält sich Polly Bishop mit dem Harvard-Historiker, der vielleicht der Letzte war, der Bill, Davis lebend gesehen hat.« Nach einigen Minuten Werbung kam Polly Bishop ins Bild: kompetent und seriös, eine hervorragende Medienpräsenz (das musste er ihr zugestehen), die sich über den ehrwürdigen alten Harvard Yard und den bekannten Harvard-Professor ausließ … Mein Gott, sah er verärgert aus und unsagbar arrogant und bieder! Es störte Chandler, sich als schnoddrigen Spießer zu erleben, der dieser schönen, seriösen Dame über den Mund fuhr, die nicht nur ihr Bestes gab, sondern auch im Vorspann des Senders als »Kämpferin gegen das Verbrechen« angekündigt worden war. Schließlich konnte er nicht länger hinsehen und fragte sich, ob Bill Davis’ Mörder wohl auch zusah und fand, dass dieser neunmalkluge Professor ebenfalls über die Klinge springen sollte. Er starrte aus dem Fenster auf die Veranda, von deren Geländer der Regen flüsternd auf die Büsche tropfte. Als sie vom Bildschirm verschwunden war, wandte er sich an den Fernseher: »Gnädigste, Sie sind mit verantwortlich für den Fortbestand des Chauvinismus.« Er schaltete das Gerät aus, stopfte sich eine Pfeife, zündete sie an und ging auf die Veranda, um frische Luft zu schnappen. Auf der anderen Straßenseite gingen zwei Männer im Regen spazieren. Sie hielten die Köpfe gesenkt und die Hände in den Taschen ihrer Regenmäntel vergraben. Der kleinere trug einen Pepitahut, der zu seinem Regenmantel passte. Chandler betrachtete sie durch den Regen und lächelte. Das gibt’s doch nicht! Zweimal das gleiche Outfit! Er schüttelte den Kopf. Vielleicht waren es neue Nachbarn. Er ging zurück ins Haus und schloss ab. Dann warf er ein paar Holzscheite ins Feuer und konzentrierte sich auf seine Lektüre.,DONNERSTAG
Am nächsten Morgen wachte er auf mit dem Gedanken an Bill, Davis und Polly Bishop und die Polizei. Sie hatte Recht gehabt: Er wusste etwas, was er ihr nicht gesagt hatte. Verifizierung… Polly Bishop würde er hundertprozentig nicht anrufen, aber er musste es jemandem sagen. Den beiden Polizisten, die ihn vor zwei Tagen aufgesucht hatten. Den Beamten aus Brookline. Brennan kam zur Kaffeezeit kurz nach zehn in Chandlers Büro vorbei. Die Kaffeemaschine auf dem Bücherregal schnaufte. Chandler lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und starrte aus dem Fenster in den Sonnenschein. Es hatte etwa Frühlingshaftes in der Luft gelegen, als er in sein Büro gegangen war. Es versprach ein schöner Tag zu werden. »Hast du den Aufguss von gestern benutzt?« Brennan verzog das Gesicht. »Gib’s zu …« »Mach dich nicht lächerlich. Ich habe den Kaffee aus ganz besonderen Bohnen gebraut, die ich gestern gekauft und heute früh zu Hause gemahlen habe. Teures Zeug.« »Schmeckt komisch. Besondere Bohnen?« »Kona Java Supreme, glaube ich. Mit einer Spur Zimt. Für Feinschmecker, und daher völlig an dich verschwendet. Mir haben schon etliche gesagt, dass es ihnen schmeckt.« »Ich nicht«, seufzte Brennan und ließ sich in dem bequemen Ledersessel nieder, der noch aus den Zeiten von John Harvard stammte. »Ich habe gestern Abend die Polly-und-Colin-Show gesehen.« Er nippte an seinem Kaffee, runzelte die Stirn und schnüffelte an der Tasse wie ein wachsamer Hund. »Ich auch. Ziemlich deprimierend. Die Frau ist eine Katastrophe.« »Sie ist umwerfend. Die Katastrophe bist du! Was für ein Spießer! Das Mädchen macht nur seine Arbeit.«, »Mädchen? Dass ich nicht lache! Und Arbeit? Ha, ha …« »Hast du ihr erzählt, was du über Davis weißt?« »Du machst wohl Witze. Das geht sie nichts an – denk mal nach.« »Du kannst es jedenfalls nicht für dich behalten. Zimt? Das Zeug schmeckt nach Majoran. Oder Salbei. Oder nach etwas, das normalerweise nicht in Kaffee gehört.« »Ich rufe die Polizei von Brookline an, die Jungs, die mich hier befragt haben.« Er gähnte. »Ich habe bis drei gelesen.« »Du brauchst ’ne Frau.« »Hat dir wahnsinnig viel gebracht.« »Zeitweilig.« »Natürlich …« Es klopfte. »Herein«, sagte Chandler. Zwei Männer traten ein und schauten sich neugierig um. Der eine blinzelte kurzsichtig hinter seiner Nickelbrille. Er sah aus wie fünfzig und hatte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck. »Professor Chandler, haben Sie einen Augenblick Zeit?« »Worum geht’s denn?« »Polizei«, erklärte er. »Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« Er sah Brennan an. »Wenn wir Sie vielleicht bitten dürften …« »Bleib da, Hugh. Wenn es um Bill Davis geht, sind Sie ein bisschen spät dran. Ich habe neulich schon mit Ihren Leuten –« »Genau darum geht’s, Professor.« Die beiden standen nun in dem kleinen Arbeitszimmer, und die Tür war zu. Es wurde eng. »Wir sind neue Leute, verstehen Sie? Mordkommission Boston.« Der andere schlenderte am Bücherregal entlang und kaute auf einer alten schwarzen Pfeife herum. Bis auf einen Tuff gräulicher Haare über den Ohren und um die Schädelbasis war er kahl. Glatze und Gesicht waren mit Sommersprossen gesprenkelt. »Wissen Sie, die Jungs von Brookline sind solche Fälle nicht gewöhnt – sie haben uns um Beistand gebeten.« Er, lächelte wie ein Troll aus Der goldene Regenbogen. Wenn er an seiner Pfeife sog, machte es ein dumpfes, feuchtes Geräusch. »Man könnte auch sagen, sie gehen auf Nummer sicher. Wenn’s schiefgeht, können sie uns die Schuld in die Schuhe schieben …« Er und sein Kollege grinsten sich an bei dieser Bemerkung. »Was wissen die schon von Mord?« Wohlwollend lächelnd lehnte er sich mit verschränkten Armen an das Bücherregal. »Ich hätte gern Ihre Ausweise gesehen«, meinte Chandler. »Das geht nicht gegen Sie …« »Natürlich nicht«, bestätigte der erste und zückte seine Brieftasche. Er hielt sie ihm offen hin. Chandler beugte sich vor und inspizierte den Ausweis. »Fennerty? Andrew Fennerty …« Er nickte. »Und Sie …« Der Troll reichte ihm seine Brieftasche. »McGonigle? Ihr macht wohl Witze, wie? Zwei Beamte aus Boston, und beide Iren? Fennerty und McGonigle?« »Sehen Sie’s doch so«, schlug McGonigle vor: »Für ’ne Fälschung ist es einfach zu schön. Wir müssen uns einiges anhören, Fennerty und ich.« Er lachte wieder von Herzen. Alle schienen sich zu amüsieren. Brennan grinste. »Sagt mal, Jungs: Trinkt ihr eine Tasse Zimtkaffee mit?« »Sind Sie überzeugt, Professor?« Fennerty steckte seinen Ausweis ein. »Ich trinke gern eine Tasse mit, Mister …« »Brennan.« Er blies den Staub aus zwei Tassen und schenkte ein. »Natürlich bin ich überzeugt.« Chandler lehnte sich wieder zurück. »Was kann ich für Sie tun?« »Erzählen Sie uns einfach von Ihrem letzten Treffen mit Bill Davis.« McGonigle nahm Brennan die Tasse ab. Er schnüffelte misstrauisch daran und stellte sie ins Regal. »O Gott!« stöhnte Chandler. Er sagte seinen Spruch auf. Fennerty und McGonigle hörten gut zu und nickten gewichtig. Chandler kam zum Ende: »Im Gegensatz zu dem, was diese Fernsehdame gestern Abend unterstellte, habe ich Bill Davis an, seinem letzten Tag nicht gesehen. Verstehen Sie? Nicht gesehen … Mir ist aber etwas eingefallen.« Er erzählte die Sache mit der Verifizierung und seine Vermutungen. »Ach ja.« McGonigle nickte mit dem Kopf und spitzte die Lippen. »Das könnte äußerst wichtig sein«, sagte McGonigle, »oder völlig belanglos … Dürfte ich mir vielleicht eine Pfeife stopfen?« Chandler schob ihm die Tabaksdose hin. »Wir werden das herausfinden«, meinte Fennerty. »Gut. Ich hoffe, das war’s dann so weit. Mehr weiß ich nicht. Niente.« McGonigle steckte seine Pfeife an und hüllte sein Haupt in Rauchwolken. »Erst die Polizei von Brookline, dann dieses verdammte Fernsehweib, jetzt die Bostoner Mordkommission … Wissen Sie, ich bin kein Idiot. Der Zinnober muss aufhören.« »Sachte, Professor. Keiner hat behauptet, Sie sind ein Idiot.« »Ihr Typen habt gestern drüben bei Matthews Hall gestanden und beobachtet, wie ich mich zum Narren gemacht habe, verdammt noch mal …« Fennerty sah plötzlich in seine Tasse, als hätte er darin eine Schlange entdeckt, und stellte sie auf Chandlers Schreibtisch. »Jetzt muss Schluss sein!« »Wir tun nur unsere Arbeit, Sir«, versuchte McGonigle ihn zu besänftigen. »Wir stellen Ihnen bloß ein paar Fragen.« »Wir möchten Ihnen keinen Ärger machen«, sagte Fennerty. »Macht sich blendend – mein ganzes Büro voll Polizei. Ich lenke Aufmerksamkeit auf das College, und genau das will ich vermeiden … Ich halte viel von der Universität und möchte nicht, dass sie in den Dreck gezogen wird.« Brennan lächelte. »Kämpfe wacker, Harvard!« Es war der alte Wahlspruch der Universität. »Das tun Sie keineswegs, Professor«, versicherte Fennerty. »Niemand liebt Harvard mehr als ich – hab’ ja selbst die Uni hier durchlaufen.«, »Tatsächlich?« Chandler war überrascht. »Klar. Jeden Morgen auf dem Weg ins Gymnasium.« Brennan lachte schallend. »Brennan mag lausige Witze«, erklärte Chandler kurz angebunden. »Sinn für Humor ist ein Gottesgeschenk«, meinte Fennerty. »Sie sollten für den Ihren etwas tun, Professor.« »Mein Sinn für Humor ist intakt«, sagte Chandler. McGonigle füllte einen Wachstuchbeutel mit Chandlers Balkan-Sobranie- Mischung. »Was mir fehlt, ist Geduld.« Die sommersprossigen Wurstfinger gruben sich in den schwarzbraunen Tabak. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, murmelte Chandler. »Bestimmt nicht, mein Lieber. Prima Tabak. Meine Frau kauft mir ein schreckliches Kraut im Supermarkt. Kirscharoma. Nun zum letzten Mal, Professor: Sind Sie sicher, dass Davis Ihnen nichts übergeben hat, was Sie begutachten sollten? Vielleicht hat er’s mit der Post geschickt oder bei Ihrer Haushälterin hinterlegt …« »Vielleicht wissen Sie gar nicht, dass Sie es haben«, fügte Fennerty bedeutsam an. »Quatsch. Er hat mir nichts übergeben, nichts hinterlegt, nichts an mich geschickt.« Die beiden wandten sich zum Gehen. »Ihr Leute seid noch schlimmer als Polly Bishop!« Chandler stand auf. »Bemühen Sie sich nicht, wir finden selbst hinaus.« Fennerty blinzelte rasch hinter seinen dicken Gläsern und schürzte die winzigen Lippen. Seine Hand lag auf dem Türgriff. »Übrigens, Professor«, sagte McGonigle, während er an der alten schwarzen Pfeife sog, »Sie sollten sich Miss Bishops Sendung anschauen. Wir dürfen nicht darüber reden, aber ich glaube ihr Bericht wird Sie interessieren … Und falls Ihnen noch was zu Bill Davis einfällt, lassen Sie’s uns wissen. Oder noch besser, behalten Sie’s für sich. Sie hören von uns. Wir, wollen nicht, dass der Fall breitgetreten wird. Wir melden uns.« Sie nickten Brennan zu und verschwanden. Fennerty steckte den Kopf noch mal ins Zimmer. »Vergessen Sie die Abendnachrichten nicht, Professor.« Die Tür fiel sanft ins Schloss. Brennan stand auf und goss Kaffee ein. »Wie Abbott und Costello.« Er fischte in der Jackentasche nach seinem Pfeifenstummel. »Hast du was dagegen? Vielleicht kriege ich damit den Kaffeegeschmack los.« Er griff nach der Tabaksdose – einer glänzend weißen Gipskopie der Washington-Büste, dem Geschenk einer alten Freundin – und hob die als Deckel funktionierende Schädelplatte. »So eine Zeitverschwendung!« räsonierte Chandler. Brennan sah mit einem seltsamen Ausdruck in seinem breiten Gesicht auf. Seine Hand steckte noch in Washingtons Kopf. »Was ist das?« Er fummelte in der Dose herum und verstreute überall auf dem Schreibtisch Tabakkrümel, als er die Hand mit einer kleinen schwarzen Scheibe zwischen den Fingern herauszog. »Sieht nicht nach Tabak aus.« »Warum steckt es dann in Washingtons Kopf?« Brennan musterte das Ding, das auf seiner Fingerspitze balancierte. »Plastik.« Er legte es auf ein Blatt Papier. Chandler starrte mit zusammengekniffenen Augen darauf: ein flaches Scheibchen, etwas kleiner als ein Zehn-Cent-Stück. »Eine Wanze«, erklärte Brennan schließlich. »Ein elektronisches Abhörgerät.« »Das ist nicht dein Ernst!« »Und ob. Vor kurzem habe ich genau so ein Teil in einer Zeitschrift gesehen. Haargenau das Gleiche. Kostet um die tausend Dollar.« »McGonigle.« Chandler konnte es noch nicht ganz glauben. »McGonigle.« Brennan klatschte in die Hände. »Heiliger Bimbam! Direkt vor unserer Nase versteckt der Kerl eine Wanze, in Washingtons Kopf! Wahnsinn!« »Das geht wirklich zu weit«, sagte Chandler leise. Er nahm die Wanze in die Hand und zischte hinein: »Zu weit, ihr verdammten Idioten.« Stirnrunzelnd fragte er Brennan: »Was denken die sich dabei?« Brennan zuckte die Achseln, trat ans Fenster und machte es auf. Er deutete auf den Blumenkasten, in dem Unkraut und abgestorbene Pflanzen vor sich hin kümmerten. Chandler lehnte sich über den Heizkörper und grub ein Loch in die Erde, die noch feucht war vom geschmolzenen Schnee und vom Regen. Als er ungefähr in der Mitte des Kastens angelangt war, ließ er das winzige Mikrofon hineinfallen und bedeckte es wieder mit Erde. Brennan schloss das Fenster. »Denkst du, dass es nun nicht mehr funktioniert?« flüsterte Chandler. »Keine Ahnung. Aber es wird ihnen nichts bringen. Wir hätten es im Klo runterspülen können.« »Ja. Aber dann wäre der Beweis weg gewesen. Außerdem ist es egal. Ich habe nichts Belastendes über Bill Davis zu sagen … Es geht mir ums Prinzip. Gott, ich habe das Gefühl, ich drehe durch –« Er grinste in Richtung Blumenkasten, dann in Richtung Brennan. »Warum flüstern wir eigentlich?« »Für dich müsste die Sache ausgestanden sein. Du hast ihnen von dem Gutachten erzählt, das reicht.« Er zuckte seine massigen Schultern. »Ich finde, sie haben dich genug ausgequetscht.« Er beschäftigte sich wieder mit seiner Pfeife. »Weshalb sollten sie dich beschatten?« »Eine komische Geschichte. Ich bin mir sicher, dass sie mir gestern nicht nachspioniert haben … das wurde mir sofort klar, als ich damit rausrückte. Sie haben die beiden anderen beobachtet, beschattet, im Auge behalten, was auch immer … den Kerl mit dem lächerlichen Hut und seinen großen Freund …«, »Wovon redest du überhaupt?« Chandler erzählte ihm von den beiden Männern. »Und gestern Abend«, schloss er, »habe ich die Kerle dann vor meinem Haus gesehen. Im Regen.« Mit hochgezogenen Brauen sah Brennan seinen Freund über den Rand der Kaffeetasse an. Die Ereignisse vom Morgen gingen Chandler auch während der Mittagspause und in den Nachmittagsstunden nicht aus dem Kopf. Extrem ungeschickt, die Wanze in so einer kleinen Tabaksdose zu verbergen. Einfallslos und unprofessionell. Aber möglicherweise hätte er sie überhaupt nicht gefunden: Sein Tabak war ausgetrocknet, weil er selten während der Arbeit rauchte. Das Ding war rein zufällig ans Tageslicht gekommen. Mehr zu schaffen als die Sache mit der Wanze machte ihm jedoch die Frage, welche Geheimnisse sie bei ihm vermuteten. Gehörten so teure Utensilien bei der Mordkommission eigentlich zu den üblichen Mitteln – ganz zu schweigen davon, ob ihr Einsatz überhaupt legal war? Und welcher Bostoner Polizist würde das Vokabular dieser beiden benutzen? Chandler konnte ihre Ausdrucksweise nicht platzieren. Einer vagen Eingebung folgend, rief er am späten Nachmittag die Mordkommission an. Ohne im Geringsten zu zögern, bestätigte die Vermittlung, dass Fennerty und McGonigle existierten. McGonigle hatte ja auch gesagt, es sei für eine Fälschung einfach zu schön. Wieder so eine seltsame Ausdrucksweise. Unterwegs holte er sich Krabben-Chow-Mien und eine Frühlingsrolle fürs Abendessen. Die Sonne stand zu tief, um zu wärmen, und ihn fröstelte, als er die Stufen zu seiner Eingangstür hinaufstieg. Er warf die Post auf den Schreibtisch, zog sich eine dicke Wolljacke über und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Im Kamin zündete er zusammengerollte Zeitungen unter den aufgeschichteten Holzscheiten an. Langsam wurde es warm in der Bibliothek., Während er seinen Haushaltspflichten nachkam, plauderte er zerstreut mit der George-Washington-Büste. George war der perfekte Gesellschafter: Er brauchte nichts zu essen und keine umständlichen Verrichtungen vor dem Schlafengehen, er bewohnte keine Kiste, die sauber gemacht und desinfiziert werden musste, bei ihm lag keine dreckige Zeitung auf dem Käfigboden. Er gab keine störenden Geräusche von sich, hörte aufmerksam zu, diente als gutes Vorbild und war unzweifelhaft das Größte, was Amerika je hervorgebracht hatte. Was hätte George von Polizisten gehalten, die Wanzen in Tabaksdosen schmuggelten? Er kaute sich durch sein Chow Mien, das er mit einem Schuss Sojasoße verfeinert hatte. Es wurde Zeit für die ersten Nachrichten. Kein Grund, McGonigles Hinweis zu ignorieren. Er steckte sich den letzten Bissen Frühlingsrolle in den Mund und schaltete den Fernseher ein. Fast umgehend erhielt der Rat des Polizisten einen gespenstischen Sinn: »Leider müssen wir von einem neuen Mord berichten«, verkündete der Sprecher. »Wir übergeben an Polly Bishop von Kanal 3 auf Beacon Hill …« Chandler wurde plötzlich flau im Magen. Er lehnte sich vor und spürte die Spannung in seinem Körper. Die Kamera schwenkte von der glänzenden Kuppel des Parlaments mit dem leuchtend klaren Himmel herab. Sie blieb an Polly Bishop haften und begleitete sie, als sie langsam eine der Seitenstraßen der Park Street entlangging. »Heute Nachmittag gab es eine neue tragische Entwicklung im Mordfall Bill Davis, der sich vor 72 Stunden ereignete.« Chandler sah am Licht, dass die Sendung früher aufgezeichnet worden war. Sie hatte die Zeitspanne ungefähr auf den Termin der Ausstrahlung abgestimmt. Wann genau hatten McGonigle und Fennerty davon gehört? Sie waren am Vormittag bei ihm aufgekreuzt … Pollys sanfte Rehaugen blickten direkt in die Kamera. Ihre, Stimme war fest und sicher. Unter den Backenknochen lagen Schatten, ebenso wie in den Grübchen ihres blassen, eleganten Gesichts. Zum Schutz gegen die Windböen hatte sie ihr Haar mit einem breiten Band zusammengehalten. »Wir haben einen zweiten brutalen Mord zu beklagen: den Mord an einem Antiquar, dem neunundsiebzigjährigen Nat Underhill. Mr. Underhill handelte mit seltenen Büchern und galt weltweit als Experte auf seinem Gebiet. Er wurde im Büro hinter seinem Laden in der Beacon Street erschossen aufgefunden, dort, wo seine illustren Kunden seit dreißig Jahren sowohl seltene Bücher und Dokumente als auch seine einzigartige Expertise gesucht hatten.« Chandler kannte den Namen: Underhill war vielleicht kein Antiquar von Weltklasse, aber ein geachteter Mann. Chandler war ihm ein- oder zweimal begegnet. Was hatte er mit Bill Davis zu tun? Das Wort »Verifizierung« hing in der Luft, fügte sich in das Mosaik ein. Polly Bishop war stehen geblieben und sah nun den Zuschauern entgegen. Ihr Mantelkragen war hochgeschlagen. Ihre Hände in den engen Handschuhen umfassten das Mikrofon. »Anscheinend besuchten die unbekannten Mörder Mr. Underhill während der Nacht oder heute früh in seinem Büro. Zur Zeitfrage müssen wir den Bericht des Gerichtsmediziners abwarten. Mr. Underhill wurde von zwei Kugeln tödlich getroffen. Lieutenant Anthony Lascalle erklärte, dass Underhills Sekretärin Nora Thompson das Verbrechen entdeckte, als sie mittags den Laden öffnen wollte. Zum Zeitpunkt seines Todes katalogisierte Underhill Neuerwerbungen.« Nora Thompson entdeckte das Verbrechen am Mittag! Mein Gott … McGonigle und Fennerty hatten schon vorher davon gewusst! »Kanal 3 hat von der Bostoner Mordkommission erfahren, dass der Name Bill Davis in Underhills Handschrift auf einem, Block stand, der auf seinem Schreibtisch gefunden wurde.« Sie machte eine Kunstpause. »In diesem seltsamen Fall sind nun drei Namen im Gespräch: Bill Davis, sein Studienberater an der Harvard-Universität, Professor Colin Chandler, und Nat Underhill … Was verbindet sie? Wurde Davis mit der gleichen Waffe getötet wie Underhill?« Sie ging mit Hunderttausenden in Blickkontakt. »Diese Fragen stellt sich die Bostoner Polizei heute Abend … Bis jetzt zeichnet sich noch keine Lösung ab. Vom Ort des Verbrechens auf dem Beacon Hill sahen Sie Polly Bishop von 3 Aktuell.« Die Kamera schwenkte von ihrem Gesicht zu dem eleganten Firmennamen auf Underhills Schaufenster und verweilte dort bis zur Werbung. Chandler zitterten die Knie. Ihm blieb fast die Luft weg. Wie zum Teufel konnten die beiden Clowns von dem Mord an Underhill gewusst haben, bevor die Leiche entdeckt wurde? Eine Antwort drängte sich auf, die Chandler nicht ignorieren konnte: McGonigle und Fennerty selbst waren die unbekannten Mörder; sie hatten Underhill umgebracht. Es musste doch eine andere Erklärung dafür geben. Oder nicht? Die Vermittlung hatte bestätigt, dass es einen McGonigle und einen Fennerty gab. Vielleicht wollte die Polizei aus irgendeinem Grund, dass Nora Soundso die Leiche entdeckte. Aber weshalb? Konnte McGonigle etwas anderes gemeint haben, als er Chandler drängte, die Nachrichten einzuschalten? Ziemlich unwahrscheinlich. Aber wenn man alles Unwahrscheinliche außer Acht ließ dann würden Bill Davis und Nat Underhill noch leben, und kein Mensch hätte je das Wort »Verifizierung« erwähnt. Polly Bishop wäre noch ein unpersönlicher Teil seines Fernsehapparats, und niemand hätte George Washington eine Wanze in den Kopf gesetzt. Die Nachrichten gingen noch weiter, aber er hörte sie nicht. Auch ohne das Problem von McGonigle und Fennerty ärgerte, und ängstigte ihn, dass Polly Bishop ständig seinen Namen im Mund führte – im Zusammenhang mit zwei Mordopfern. Unmöglich! Was damit unterstellt wurde … Und diese Frau hörte einfach nicht auf, ihn mit hineinzuziehen. Sie hörte einfach nicht auf! Kein Wunder, dass sie ein Magengeschwür hatte. Schuldgefühle, reine Schuldgefühle. »George«, sagte er heiser, als er mühsam auf die Füße gekommen war, »was sollen wir bloß mit der Frau machen? Sitz nicht einfach da, George, sag was …« Er ging in den ersten Stock, um sich den Schlafanzug und den Bademantel überzuziehen. Als er noch mit dem Gürtel beschäftigt war, klingelte das Telefon. Rasch schlüpfte er in seine Hausschuhe und rannte hinunter. Die Stimme in der Leitung klang angespannt und leicht hysterisch. »Professor Chandler, ich bin Nora Thompson. Sie kennen mich nicht, aber …« »Ich habe gerade Ihren Namen gehört, Miss Thompson«, erwiderte er. »Im Fernsehen. Kann ich Ihnen helfen?« Er fürchtete, sich durch ein Zittern in der Stimme verraten zu haben. »Ich muss mit Ihnen reden. Nicht am Telefon. Ich traue mich nicht. Heutzutage werden so viele Gespräche mitgehört, vielleicht auch unseres.« »Haben Sie jemanden in Verdacht?« »Mr. Underhill wurde ermordet.« Hastig umging sie seine Frage. »Ich habe fünfundzwanzig Jahre für ihn gearbeitet, er war ein wunderbarer alter Herr, untadelig und liebenswert, und er wurde umgebracht. Genau wie der junge Davis. Sie oder ich könnten die nächsten sein …« »Vielleicht war es Zufall. Man kann nicht alles glauben, was das Fernsehen bringt.« »Denken Sie an meine Worte«, flüsterte sie. »Es ist kein Zufall. Ich weiß es. Es sind dieselben Mörder, glauben Sie mir., Alles hängt zusammen. Ich muss so bald wie möglich mit Ihnen reden. Ich wohne in Lexington. Können Sie morgen hier raus kommen?« »Sicher.« Ihr drängender Ton und das Prickeln in seinem Nacken machten ihn nervös. »Sagen Sie mir Ihre Adresse.« »Nein! Sie bewachen mein Haus.« »Wer?« »Wie soll ich das wissen?« rief sie ungeduldig. »Die Mörder oder die Polizei. Ich weiß nicht, ich habe so ein Gefühl … Ich muss einfach mit Ihnen reden. Wir treffen uns um elf in Kennedy’s Drugstore, in der Stadtmitte. Bitte kommen Sie nicht zu spät!« Die Leitung war tot, bevor er etwas erwidern konnte. Er legte den Hörer auf, griff nach dem kalten Kaffee und nippte daran. Was wollte sie ihm sagen? Oder geben – was der Himmel verhüten möge. Bitte nicht das ominöse Etwas, das anscheinend jeder haben wollte! Das, was er verifizieren sollte … Er musste die Verabredung mit der Frau einhalten. Sie war außer sich vor Angst. Offensichtlich paranoid. Offensichtlich? Was erlaubte er sich? In seinem Tabak war eine Wanze versteckt gewesen, und er nannte Nora paranoid! Verdammt noch mal, er wurde immer tiefer in den Sumpf gezogen, aber er konnte nichts dagegen tun. Wie kam er bloß da raus? Wieder klingelte das Telefon. Es war Brennan. »Ich habe nachgedacht, Colin. Meinst du nicht, du solltest Prosser von der Geschichte erzählen? Als Dekan der Fakultät hat er ziemlichen Einfluss. Er hat Verbindungen, wie du weißt. Wenn er die Sache mit der Wanze erfährt, kann er vielleicht ein paar Hebel in Bewegung setzen. Mir gefällt die ganze Geschichte immer weniger, je mehr ich darüber nachdenke. Es ist wirklich kein Scherz.« Er lachte nervös. »Mag sein«, meinte Chandler. »Aber Prosser ist total abgehoben. Er lebt in einer anderen Welt. Im Augenblick berät, er vielleicht gerade Kissinger in Washington.« »Na gut. Aber behalte es im Hinterkopf. Soll ich dir einen Witz erzählen?« »Ich könnte einen vertragen.« »Im Ernst?« »Klar. Erzähl mir einen.« »Also gut: Zwei vornehme Engländer treffen sich bei Boodles, einem Clubraum voll von alten Knackern. Sie dösen neben gefüllten Sherrygläsern im Rauch teurer Zigarren hinter ihrer Times und ihrem Economist vor sich hin. ›Sag mal, Binkie‹, fragt der eine den andern, ›hast du schon das Neueste von Favisham gehört?‹« Brennan trug den britischen Tonfall unheimlich dick auf – für Chandler ein Zeichen, dass die Welt noch nicht ganz beim Teufel war. »›Favisham?‹ sagt der andere, ›nicht, dass ich wüsste.‹ – ›Er soll nach Äquatorial-Afrika gegangen sein. Hat seine Frau verlassen.‹ – ›Tatsächlich? Dämlicher Kerl, dieser Favisham!‹ – ›Aber das ist noch nicht alles, Binkie … Er lebt mit einem Gorilla auf einem Baum!‹ – ›Favisham? Auf einem Baum? Mit einem Gorilla?‹ – ›So ist es. Der alte Favisham lebt mit einem Gorilla auf einem Baum in Äquatorial-Afrika!‹ – ›Sag mal, dieser Gorilla, ist das ein Männchen oder ein Weibchen?‹ – ›Ein Weibchen, natürlich. Favisham ist doch normal …‹« Für den Rest des Abends befasste sich Chandler möglichst nur mit alltäglichen Dingen. Er machte in der Küche Kaffee, trug ihn in die Bibliothek und stellte ihn mit Zucker und Sahne neben seinen bequemen Sessel auf die Wärmeplatte. Er legte Die Zauberflöte auf seinen Macintosh-Plattenspieler und lehnte sich zurück. Mit geschlossenen Augen genoss er die Musik, als es an der Tür läutete. Er zog den Bademantel fester um sich und blieb einen Augenblick stocksteif stehen: McGonigle und Fennerty? War ihnen aufgegangen, dass er ihr Geheimnis inzwischen kannte? Wollten sie ihn jetzt fertig machen? Nein, das war, Unsinn. Er ging gereizt zur Tür. Als Erstes sah er den Pepitahut, dann die dicke Brille auf der riesigen Nase, dann den Umriss des Großen, den das Licht aus der Diele nicht mehr ganz erreichte. Einen Moment lang dachte er, er müsste sein Chow Mien wieder hergeben. Trotzdem dankte er Gott, dass es nicht die irische Mafia war. Er schluckte und biss im Reflex die Zähne zusammen. »Professor Chandler?« Der Kleine sprach mit hoher, nasaler Stimme, in der etwas Weinerliches mitschwang. »Ja.« Er nickte. Unter dem Bademantel zitterte er unwillkürlich. »Wir sind von der hiesigen Staatsanwaltschaft, Professor. Sonderermittler im Fall Bill Davis.« Er roch nach Atemfrisch Pfefferminz. Der Große hinter ihm atmete schwer durch den Mund – wohl wegen seiner Polypen. »Von der Staatsanwaltschaft«, wiederholte Chandler. »Dürfen wir reinkommen? Es wird nicht lange dauern, aber es ist wichtig, äußerst wichtig.« »Man könnte sagen, die Zeit drängt.« Der Große trat mit einem höflichen Lächeln in den Lichtkreis. Sein Mund zuckte nervös. »Wir haben noch die ganze Nacht vor uns, Professor. Wir belästigen Sie nur ein paar Minuten.« Ein Goldzahn blitzte im Licht wie der letzte Hoffnungsstrahl. »Bitte«, sagte Chandler müde. Er hatte Angst und schämte sich dafür. »Ich habe Sie beide schon gestern Abend bemerkt Kommen Sie doch rein.« Er wollte die Typen keinesfalls im Hause haben, aber er fühlte sich ausgelaugt. Was sollte er machen? »Sie passen aber auf!«, sagte der Große leise. Sie folgten ihm in die Bibliothek. »Nehmen Sie Platz, Professor.« Sie deuteten auf den bequemen Sessel. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« Chandler spürte wie ihn eine große Tatze sanft in den Sessel drückte. Er sah, hoch um zu protestieren, aber das Gesicht mit dem offenem Mund und dem starren Blick hielt ihn davon ab. »Der Staatsanwalt beschwert sich über Sie, Professor«, klagte der Kleine. »Er sagt, Sie behindern die Ermittlungen. Wir haben jetzt zwei Leichen, und er meint, zumindest der alte Mann geht auf Ihr Konto –« »Wie das? Was meint er damit?« »Spielen Sie uns nichts vor. Der Junge hat vor seinem Tod noch ausgepackt.« »Stimmt«, meldete sich die andere Stimme hinter seinem Sessel. »Er sagte: ›Chandler hat es‹ – dann war er hinüber. ›Chandler hat es!‹ Das sind Sie, Professor.« Der Mann hinter ihm bewegte sich und kam links in sein Blickfeld. »Ich glaube nicht, dass er so was gesagt hat.« In Chandlers Stirn und in seinem Hals zog sich etwas zusammen. Er sah nicht, wie er das Gespräch beenden könnte. »Jedenfalls habe ich nichts. Er hat mir nichts gegeben.« Die Zauberflöte, vielleicht das Edelste, was der menschliche Geist hervorgebracht hatte, verfehlte ihre Wirkung. Die Kerle hörten nicht zu. George Washington blieb stumm und blind, hatte keinen Rat auf Lager. »Lassen Sie den Scheiß«, knurrte der Große drohend. Chandler hörte seinen Atem beinahe wie ein Stöhnen. Alles hatte sich verändert. Mit der Freundlichkeit war es vorbei. »Wir sind mit unserer Geduld am Ende. Also: Wo ist es? Zwei sind schon tot; wollen Sie riskieren, der dritte zu sein? Wir können Sie nicht beschützen, wenn Sie uns nicht helfen. Verdammt noch mal, der Staatsanwalt will Erfolge sehen! Sofort!« Er glotzte auf Chandler herab, dessen Furcht verschwand. Er wurde nun ärgerlich. »Sagt dem Staatsanwalt, er kann mich mal«, raunzte er zurück. »Schert euch doch zur Hölle, und nehmt gleich die Reporter und die Polizei mit! Sagt mir, was ich angeblich haben soll. Ich weiß von nichts. Von nichts! Fragt doch eure Kollegen von der Mordkommission. Die kennen die Geschichte mit der, Verifizierung –« Er wollte aufstehen, doch diesmal lehnte sich der Große, der nun vor ihm war, über den Tisch und stieß ihn zurück wie ein Kind, das in seinem Hochstuhl sitzen bleiben soll. Ohne Anstrengung. Ohne eine Regung im Gesicht. Mit offenem Mund. Chandler blickte auf. Das Blut rauschte in seinem Kopf. »Das reicht«, sagte er, so ruhig er konnte. »Ich will eure Ausweise sehen. Jetzt sofort – her damit.« Ihm brach am ganzen Körper der Schweiß aus. »Scheiß auf die Ausweise …« Der Große wirbelte plötzlich herum wie von der Tarantel gestochen, hob Washingtons Büste vom Sockel und knallte sie auf den Boden. Gipssplitter flogen Chandler ins Gesicht, während der Kopf in einer weißen Staubwolke explodierte. George war in tausend Stücke zersprungen. Chandlers Augen brannten vor Tränen. Sein Herz schlug wie wild. Panik überkam ihn. Der Große ging um den niedrigen Tisch herum und beugte sich von links über ihn. Sein Atem roch nach Pommes und Salz. »Rücken Sie das Bild raus, Professor. Wir wissen, dass es um ein Bild geht, mit Rahmen.« »Ein Bild?«, ächzte Chandler. »Ein Dokument«, meinte der Kleine. »Vielleicht ein Dokument.« »Bill Davis hat mir nichts gebracht«, rief Chandler. »Nichts! Und jetzt zeigt ihr mir eure Ausweise oder schert euch raus …« Er deutete auf den Scherbenhaufen. »Und über das hier reden wir noch« Er wies zur Tür, obwohl seine Hand zitterte und er wusste, sie würden ihn nicht aus dem Sessel lassen. »Ausweis oder raus hier!« Die Faust des Großen schoss auf ihn zu wie aus einem Automaten, schneller, als Chandler schauen konnte. Er spürte, einen Hammerschlag gegen sein Gesicht. Schmerz durchfuhr seine Nase, und sofort liefen ihm die Tränen aus den Augen. Seine Oberlippe war innen aufgerissen. Er fühlte, dass er Blut auf dem Gesicht hatte, schmeckte es im Hals, als seine Nase innen und außen nass und matschig wurde. Seine Wangen waren nass von Tränen, doch seine Brille saß merkwürdigerweise noch auf der Nase. Der Schock dieser unverblümten Gewalt hatte seinen Körper und seinen Geist lahm gelegt. Mit geschlossenen Augen wartete er auf die Fortsetzung. Ein Schlag, räsonierte ein Teil seines Gehirns, ein kurzer, gezielter Schlag von einem Profi, und die Maschine fällt auseinander, die schützende Festung der Zivilisation stürzt ein, die Barbaren sind eingedrungen. Und man sitzt erschöpft und blutend da und schnappt nach Luft … Pepitahut räusperte sich. »Das sollte uns nur Ihre Aufmerksamkeit sichern, Professor. Lassen wir’s dabei bewenden.« Er lehnte sich gegen den Großen und hielt ihn zurück. Chandler stöhnte leise. Seine Lippe blutete. Er schluckte Blut und Speichel und spuckte irgendetwas auf den Boden. Warum hatte der Schweinehund George zerstört? Er blinzelte zu dem Großen hin, der immer noch links von ihm stand. Warum George? »Haben Sie was gesagt, Professor?« »Wer seid ihr?« »Staatsanwaltschaft. Taktische Einsatzgruppe – die mit den harten Bandagen. Wenn’s kritisch wird, müssen wir ran. Für uns gibt’s keine Grenzen.« »Quatsch!« Chandler hatte nicht aufgepasst. Der Große war hinter ihn getreten und verpasste ihm eine ans linke Ohr. Er hörte etwas knacken, hörte sich vor Schmerzen aufschreien, bevor er zur Seite fiel und sein Gesicht fast gegen die Kaffeekanne auf der Wärmenlatte prallte. Er kam mit der Hand drauf und verbrannte, sich die Finger, fuhr zurück und hing über der Sessellehne. Sein Blick ging über die Scherben von Washingtons edlem Kopf auf dem Parkett. Verdammte Schweine! Er rang nach Luft. Hoffentlich war sein Trommelfell noch intakt. Sein Ohrinneres fühlte sich feucht an. Er hatte sich noch mal auf die verletzte Lippe gebissen. »Das Bild, Professor«, mahnte Pepitahut. Er schützte sein Ohr mit der Hand und stöhnte: »Bei Gott, ich weiß von nichts. Ihr glaubt doch nicht, ich würde das hier mitmachen, wenn ich bloß das verdammte Ding rausrücken müsste. Ich weiß von nichts!« Er nestelte an seiner Brille herum, um sie auf der lädierten Nase zurechtzurücken. Pepitahut starrte auf ihn herab und schüttelte mit tiefem Bedauern den Kopf. »Das wird Ihnen leidtun, Professor«, sagte er. Er sah den Großen an. Sie wirkten beide völlig unbeteiligt. »Hol die Zange.« Pepitahut trat hinter ihn, und Chandler fühlte seine festen Hände auf den Schultern, die ihn in den Sitz drückten. Sie wussten, wie ihrem Opfer zu Mute war: Es war geschwächt, verängstigt und angeschlagen. Der Große nahm seine Pranke aus der Tasche und kniete sich neben den Sessel. Sein Goldzahn blitzte im offenen Mund. Chandler hörte seinen angestrengten, rasselnden Atem. Plötzlich nagelte die riesige Pranke Chandlers linke Hand mit flach gespreizten Fingern auf die Armlehne. Chandler wehrte sich. Ihm wurde speiübel. Ohne die geringste Regung sah der Große ihm ins Gesicht. Er hielt eine einfache Zange in der Hand. »Es wird wehtun«, sagte er leise. Chandler bemerkte tiefe Lachfalten in dem freundlichen Gesicht. Der andere lockte neben seinem Ohr: »Sie wissen bestimmt nicht, wo es ist? Es würde Ihnen vieles ersparen …« Chandlers Schmerz wurde von heilloser Furcht überdeckt. Sein Atem ging in verzweifelten Stößen. Plötzlich spürte er die, Arme des Kleinen wie Fassreifen um seinen Hals. Eine seiner Hände, die nach Big Mac roch, legte sich so fest auf seinen Mund, dass er nicht zubeißen konnte. »Bevor Sie alle Ihre Fingernägel los sind, haben wir entweder das gottverdammte Ding, oder wir sind sicher, dass Sie’s nicht haben«, meinte der Große philosophisch. Chandler verfolgte, wie die Zange sich auf seine Fingerspitzen zubewegte. Das Metall blitzte kalt im Lampenlicht und kündigte weitere Schmerzen an. Das war doch alles nicht möglich! Es konnte nicht wirklich passieren … Frust und Ärger tobten in seiner Brust und in seinem Kopf. Er spürte die erste Berührung der Zange am kleinen Fingernagel. Der Große sah ihn an. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Auf seinem breiten, teigigen Gesicht lag ein leichtes Lächeln. »Ihre letzte Chance, Professor. Sie werden gleich kotzen –« Im allerletzten Moment, als die Zange zupackte und der brennende Schmerz wie ein Blitz Hand und Arm durchzuckte, als er wusste, dass er es weder aushalten noch verhindern konnte, schnappte Chandler mit der rechten Hand die Kanne und schüttete dem Großen den heißen Kaffee voll ins Gesicht. Der brüllte laut auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen, während die Zange zu Boden fiel. Der Griff des Kleinen löste sich überrascht. Chandler sprang auf und schob dabei den Großen aus der Hocke nach hinten gegen die Kante des Beistelltischs. Als Chandler um den Tisch herumlief, erwischte ihn Pepitahut knapp hinten am Morgenmantel. Voller Verzweiflung riss Chandler den alten Fernsehapparat vom Ständer und schwenkte ihn in einem knappen, gefährlichen Bogen, der dort endete, wo er auf den Kopf des Kleinen traf. Der Bildschirm zersplitterte und die Röhre exolodierte, während der Mann im Glasregen zurücktaumelte. Pepitahut fiel über den Sessel. Die Bildröhre war zerplatzt wie ein Feuerwerkskörper und hatte das Zimmer mit einem üblen Geruch verpestet. Chandler, schnappte sich den Sockel, auf dem der arme George gestanden hatte, riss ihn nach oben und ließ ihn quer über die Brust des Großen niedersausen, der versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Sein Gesicht und sein Regenmantel waren braun und tropfnass vom Kaffee. Er jaulte auf, als ihn der Sockel traf, und griff sich im Zurückfallen an die Brust. Chandler drehte sich um und rammte dem Kleinen den Fuß des Sockels ins Brustbein. Er spürte, wie etwas zerbrach. Er dachte nicht nach: Er handelte automatisch, wie eine Maschine, die ihr Überlebensprogramm abspult. Es kam ihm so vor, als hätte er sich nie so schnell bewegt. Seine Füße in den Hausschuhen berührten kaum den Boden. Sein Herz war eine mit Volldampf arbeitende Maschine. Sein Adrenalinausstoß versorgte ihn mit einem Energieschub, von dem er im Leben nie geträumt hätte. Im Nu war er aus dem Zimmer, durch die Eingangstür und an dem Baum vorbei durch den Vorgarten gelaufen. Mit blutigem Gesicht, mit offenem Bademantel und dem Schlafanzug darunter rannte er wie der Teufel rechts die Hawthorne Street entlang. Erst zwei Querstraßen weiter lief er langsamer, weil er schmerzhaftes Seitenstechen bekam. Schließlich blieb er, an einen Briefkasten gelehnt, im gelben Schein der Straßenlampen stehen. Der Gehsteig war leer. Langsam fuhr ein Auto in Gegenrichtung an ihm vorbei. Er sah auf seine Rolex. Seine Beine zitterten, sein Blick war verschwommen, sein Mund trocken und voller Blutgeschmack. Das Blut gerann ihm auf dem Gesicht. Als er zurückblickte, sah er keinen Menschen. Vergeblich versuchte er, wieder zu Atem zu kommen. Ihm wurde klar, dass sie ihn nicht verfolgten – nicht verfolgen konnten. Er grinste unter Schmerzen in sich hinein, denn er war zufrieden mit sich und mit seinem Werk. Dann stolperte er die Brattle Street hinunter, bog nach links in die Mason Street ein und hielt auf die diffuse Beleuchtung des Radcliffe Courtyard zu. Er stieg die Treppe zwischen den weißen Säulen hinauf,, dann wieder hinab in den dunklen Klosterhof, um den sich die Universitätsgebäude gruppierten. Mit einem letzten Rest an Würde zog er den Gürtel des alten Bademantels fester und marschierte entschlossen aus dem Schutz der Büsche ins Freie. Die leicht diesige Nachtluft war nasskalt. Man konnte seine Atemwolken sehen. Er fand ein benutztes Kleenex in der Tasche und tupfte sich damit vorsichtig die Nase ab. Als er über die Oberlippe leckte, spürte er eine dünne Blutkruste unter den Nasenlöchern. Er wurde immer noch von seinem Adrenalinschub getrieben. Seine Beine bewegten sich automatisch, das Herz klopfte wie wild. Inzwischen war es fast Mitternacht. Für Uneingeweihte war er ein Mann voller Blut im Gesicht, der im Bademantel im Radcliffe Courtyard umherwankte. Sein Ohr brannte wie Feuer. In seinem Haus in der Acacia Street sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Mein Gott … Er fing wieder an zu zittern, aber diesmal nicht vor Angst oder Schmerzen, sondern vor Wut. Vor so immenser Wut, dass er sich kaum wiedererkannte. In einer Mordsache passiert immer etwas – so hatte sie es ausgedrückt. Aus ihrer Erfahrung heraus konnte man fast meinen, sie wollte ihn warnen. Er kam an einem eng umschlungenen jungen Pärchen vorbei, das sich überhaupt nicht um ihn kümmerte. Chandler war nicht mehr der Jüngste: Das Stechen in seiner Seite hörte nicht auf, und er atmete immer noch schwer. Das alles war nichts für ihn. Als er sich mitten im Innenhof befand, hörte er es Mitternacht schlagen. Er setzte sich auf eine Bank und ließ den Kopf eine Weile zwischen den Knien hängen. Dann lehnte er sich zurück, atmete tief die Nachtluft ein und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. Er betete, dass ihn kein Wachmann finden würde. Er brauchte Ruhe … Die verfluchten Scheißkerle, dachte er, als er die zerschmetterte George-Washington-Büste vor sich sah. Ich hab’s ihnen heimgezahlt. Wie durch ein Wunder zog er sich keine tödliche, Lungenentzündung zu, während er auf der schmalen Bank saß, die sich um einen Baumstamm wand, welchen er aufgrund eines Schilds – datierend von 1923 – als einen dem Andenken der Eltern einer gewissen Miriam H. Kramer gewidmeten Ahorn identifizierte. Nachdem er die Inschrift im trüben Schein der Innenhoflampen entziffert hatte, zog er den Bademantel enger um seinen klammen, schnell auskühlenden Körper. Später konnte er sich nicht entsinnen, eingenickt zu sein, aber irgendwie schlug es plötzlich eins. Hatte er wirklich wie ein Idiot eine Stunde lang zähneklappernd dagesessen? Anscheinend. Vielleicht war er ohnmächtig geworden. Er war nicht an sportliches Training gewöhnt – ganz zu schweigen von nacktem Terror. Als er wieder bei vollem Bewusstsein war, bedachte er seine Lage. Es wurde ihm klar, dass er keine Lust hatte, den sicheren Bereich des Innenhofs zu verlassen. Die beiden Monster, die ihn überfallen hatten, würden sicher nicht untätig bleiben und bis zum Morgen ihre Wunden lecken. Der Große musste seine Brandwunden bestimmt im Krankenhaus versorgen lassen, und der andere hatte vielleicht ein bis zwei Rippen gebrochen, vielleicht noch eine verletzte Lunge. Chandler schämte sich ein bisschen, als er bemerkte, dass ihn der Gedanke befriedigte. Aber möglicherweise waren sie doch nicht so schwer verletzt, wie er es hoffte. Möglich, dass sie sich zusammengerissen hatten und schon jetzt wieder nach ihm Ausschau hielten. Es war ein Uhr morgens. Er riskierte eine Lungenentzündung und Gott-weiß-was: Er musste handeln. Er stand auf und ging langsam hinüber zum Harvard Square Dort war es heller – was von Vorteil oder von Nachteil sein konnte. Falls sie nach ihm suchten, war er jetzt zu sehen. Doch er fand dort vielleicht auch Hilfe. Der Platz war feucht und ziemlich verlassen. Aus Brigham’s Eisdiele drang Licht. Wer waren die Leute die sich zu dieser späten Stunde dort aufhielten?, Was, zum Kuckuck, sollte er bloß tun? Wie durch göttliche Fügung fand er ein Zehn-Cent-Stück in der Tasche seines Bademantels. Er hatte keine Ahnung, wie es dort hingekommen war, aber es war da. Er blieb unter der Markise des Universitätstheaters stehen und lehnte sich im Schatten an die Wand. Eigentlich müsste er die Polizei anrufen und erzählen, was passiert war. Bei dieser Vorgehensweise gab es jedoch ein Problem: Er wusste nicht, auf wessen Seite die Polizei stand. Am Ende fand er auf halbem Weg zur nächsten Querstraße eine Telefonzelle und rief Hugh Brennan an. Keine Antwort. Er ließ es zwanzigmal läuten – ohne Erfolg. Brennan war vermutlich auf der Pirsch und blieb die Nacht über weg. Es war Viertel nach eins. Es war kalt. Er rieb sich die Hände. Wen konnte er anrufen? Er hatte einen Geistesblitz: die unsägliche Polly Bishop! Sie war schuld an dem Desaster, sie hatte ihn mit hineingezogen. Es war nur recht und billig, wenn sie ihn rauspaukte. Was hatte sie gesagt, als sie am Fuß der Treppe standen? Wenn irgendwas passiert – und glauben Sie mir, in Mordfällen passiert immer was … Rufen Sie mich an, zu Hause oder im Studio. Na gut, Polly. Du hast es so gewollt! Deine sehnlichsten Wünsche haben sich erfüllt. Den ganzen Tag ist was passiert. Leider stand sie nicht im Telefonbuch. Auch bei der Auskunft war sie nicht registriert. Fluchend rieb er sich die Nase und spürte, wie ihm warmes Blut in den Hals und über die Oberlippe rann. Er schniefte. Scheiße! Weil ihm nichts Besseres einfiel, rief er Kanal 3 an. Eine jüngere Stimme, der man die Müdigkeit und den Zigarettenkonsum anhörte, antwortete. Chandler bemühte sich, überzeugend zu wirken: Er sei ein alter Freund Pollys von der Küste, er sei gerade am Flughafen angekommen, er habe ihre Telefonnummer vergessen. »Polly Bishops Nummer? Moment mal. Ein alter Freund sind Sie? Aus ihrer Heimatstadt Biloxi?«, »Ja, aus Biloxi.« »Dass ich nicht lache! Hören Sie, großer Junge aus Biloxi; haben Sie eine Ahnung, wie viele Kerle Polly Bishops Nummer von uns wollen? Hunderte, buchstäblich Hunderte jeden Monat! Jeder zweite Hengst in Boston will sie, und jeder ist ein alter Freund … Biloxi! Damit kaufe ich sie mir immer. Pech gehabt, mein Lieber. Ich habe ihre Nummer gar nicht. Und wissen Sie, was ich machen würde, wenn ich sie hätte? Ich würde sie selber anrufen!« Wütend und deprimiert schlug er mit der Faust gegen die Scheibe der Telefonzelle. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sagte er laut. »Die Frau hat es verdient. Hoffentlich kann ich ihr noch eins auswischen!« Alles war ihre Schuld. Ohne sie wäre das alles nicht passiert. Plötzlich hatte er einen Einfall. Etwas weit hergeholt, aber besser als gar nichts. Alles war jetzt besser als gar nichts. Er hielt sich den Bademantel zu und lief rasch über die nasse Straße zum Yard, wobei ihm wieder sein erstes Zusammentreffen mit Bostons Antwort auf … auf … Heiland, jemand wie sie war ihm noch nie begegnet. Er drückte sich an der Matthews Hall entlang zu der Stelle, an der sie ihn interviewt hatte und blieb am Fuß der Treppe stehen. Schritte kamen näher. Mit klopfendem Herzen sah er sich vorsichtig um. Ein Student ging vorüber. Er pfiff leise vor sich hin und nahm keine Notiz von dem sonderbaren Vogel im Bademantel. Als er wieder allein war, kniete er sich schniefend auf den Gehsteig und tastete unter den Büschen herum. Seine Finger wühlten im Dreck zwischen den Wurzeln und den nassen verrotteten Blättern vom vergangenen Herbst. Sie musste einfach hier sein! Aber natürlich musste sie überhaupt nicht. Sie konnte Gott-weiß-wohin geflogen sein. Oder er suchte zwanzig Zentimeter daneben, oder sie fiel ihm vielleicht in die Hände, und er erkannte sie nicht. Eigentlich wäre es ein Wunder, wenn er sie finden würde. Das Wunder geschah: Er hielt sie zwischen, seinen dreckigen, klebrigen Fingern. Nass, zerknüllt und schmutzig: die Visitenkarte, die er angewidert weggeworfen hatte. Er glättete sie mit zittrigen Händen. Die eisige Nachtluft umhüllte ihn wie ein Leichentuch. Polly Bishop. Ihre Telefonnummern im Studio und zu Hause, ihre Anschrift. Beacon Hill – wo sonst? Er eilte zurück über die Mass Avenue und schlich sich vor der Bank an ein Taxi heran. Bevor der ahnungslose Fahrer seine seltsame Kostümierung erkennen und ihn rausschmeißen konnte, sprang er rasch auf den Rücksitz. Wozu der Mensch nicht alles fähig war! In seinem Fall dazu, sich in die Chestnut Street auf Beacon Hill kutschieren zu lassen. Chestnut Street. Eine der geschichtsträchtigsten Straßen Bostons, in der er immer wieder herumgewandert war. Bullfinch, Jim Curley, John Marquand – lauter berühmte Namen, die damit in Verbindung standen. Er kauerte sich auf dem Rücksitz zusammen und wünschte, es wäre wärmer. Inzwischen war es zwei. Er hatte keinen Pfennig Geld, und er konnte nicht aufhören zu zittern. Er war einfach zu alt für solche Eskapaden. Als wäre er je im passenden Alter für so etwas gewesen! Die Straßenlampen glitzerten und spiegelten sich in der Nässe. Er kam sich vor wie in einem Film, was ihn freilich nur kurzfristig trösten konnte. Das Taxi bog von der Beacon Street ab und drang durch den Nebel in die Chestnut Street ein. Der Fahrer suchte nach der Hausnummer und hielt schließlich an. Chandler verließ das Fahrzeug so rasch wie möglich. Er präsentierte sich in Schlafanzug und Bademantel. »Scheiße«, meinte der Fahrer, nachdem er zweimal hingesehen hatte. »Kommen Sie. Kein Grund zur Aufregung. Lassen Sie sich nicht davon verdrießen, dass ich im Augenblick nicht flüssig bin. Bitte, gedulden Sie sich einen Moment –« Er deutete auf, den schmalen zurückgesetzten Eingang und auf das erleuchtete Erkerfenster im zweiten Stock. »Warum gerade ich«, räsonierte der Fahrer verzweifelt. Mit seinem üppigen Bart, der an den Mundwinkeln eine fallende Tendenz zeigte, erinnerte er Chandler an einen Komiker aus dem Fernsehen. »Scheiße …« Chandler stolperte über den Bordstein und fing sich wieder. Im Dunkeln tastete er nach dem Klingelknopf. Na komm schon, Polly-Mädchen … Er ließ seinen Finger länger darauf ruhen. Es roch nach nasser Erde aus Blumenkästen. Von einer nahen Dachkante tropfte es in gleichmäßigen Abständen. Er schrie unterdrückt auf, als etwas an seinem Knöchel vorbeistrich. Eine Katze miaute. Er nahm den Finger nicht vom Klingelknopf. »Beeilen Sie sich, Mann. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.« »Es geht um Ihr Geld, Sie Blödmann«, erboste sich Chandler. »Hauen Sie doch ab, wenn Sie wollen! Kein Wunder, dass Sie Taxifahrer sind!« »Werden Sie nicht persönlich, Sie Arschloch!« Er machte die Tür auf. »Was sind Sie denn, hä? Mit dem Kleid? ’Ne Tunte oder was?« »Miss Bishop!«, brüllte Chandler. »Schauen Sie runter! Ich bin’s!« Er trat zurück auf den Gehsteig, wo sie ihn hoffentlich sehen konnte. »Colin Chandler von Harvard – hier unten!« »Hätt’s mir denken können. Hahvert. Oh, Mist!« »Miss Bishop!«, schrie er. »Machen Sie die gottverdammte Tür auf!« Wie durch ein Wunder ging die schmale Tür auf, und sie stand im Flurlicht da. Er nahm an, dass sie es war, denn das Licht kam von hinten. Sie trug einen Bademantel. Unerklärlicherweise kniete sie sich hin. Anscheinend redete sie in irgendeinem Code. »Ezzard«, gurrte sie, »du kleiner Räuber … Mein frecher kleiner Draufgänger!« Der Kater sprang auf ihren Arm. »Miss Bishop –« »Ja, Professor Chandler«, sagte sie ruhig, während sie der, Katze über das dichte feuchte Fell strich. »Ich habe sie schreien hören. Warum bezahlen Sie den jungen Mann nicht und lassen ihn wegfahren? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Ezzard wieder da ist. Er war fast eine Woche verschollen. Haben Sie ihn gefunden?« »Lady«, meinte der Taxichauffeur, der nun neben Chandler auf dem Gehsteig stand, »schauen Sie sich den Mann an. Er trägt so was wie einen Bademantel.« »Man nennt das Hausmantel, Bruder«, sagte Chandler. »Der Typ hat keine Knete, Lady«, erklärte der Fahrer geduldig. »Ich glaube, er will die Fahrt von Ihnen schnorren. Sechs achtzig. Sechs achtzig, und ich bin weg. Sie können sich dann mit dem Kerl im Hausmantel einigen.« »Ach ja.« Mit Ezzard im Arm stand sie auf. »Ich bin gleich wieder da.« Sie verschwand im Haus und schloss die Tür. Nach einer knappen Minute war sie zurück. Während dieser Zeit hatte der Taxifahrer »Hello, Dolly« vor sich hin gepfiffen. »Acht Dollar«, sagte sie. »Und seien Sie vorsichtig, wenn Sie nachts Leute im Hausmantel einsteigen lassen. Gute Nacht.« »He, Sie sind die vom Fernsehen …« »Gute Nacht.« Sie lächelte mit blitzenden weißen Zähnen. »Und vielen Dank.« Als das Taxi davonfuhr, winkte sie Chandler mit dem Zeigefinger. »Kommen Sie schon, Professor. Offenbar brauchen Sie etwas.« »Hilfe, Miss Bishop. Man nennt das Hilfe.« »Ezzard hat seinen Namen von einem früheren Schwergewichtsmeister. Und ich bin auch nicht von schlechten Eltern.« Sie führte ihn zum Eingang. Ezzard gähnte innen auf der warmen Treppe und entblößte seine kleinen blanken Raubtierzähne. »Bei uns sind Sie genau richtig.« Im Licht an der Treppe sah Polly ihn sich genauer an. »Sie brauchen tatsächlich Hilfe.« Auf Zehenspitzen inspizierte sie seine Nase. »Sie bluten. Sie sind voller Dreck.« Sie unterdrückte, ein Kichern und lächelte. »Aber Sie leben …« »Lachen Sie nicht«, brummelte er. »Sie sollten die andern Kerle sehen.« Sein Ohr pulsierte. Es fühlte sich an, als sei es mit einem Korken zugestopft. Ihm zitterten die Knie, und er kam sich alt und ausgepumpt vor. Es gelang ihm nicht, auf Polly Bishop richtig böse zu sein. »Macho-Gehabe!« Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn langsam die Treppe hinauf. »Ich merke aber, dass Sie eine üble Nacht hinter sich haben. Erinnert mich an Starsky und Hutch. Kommen Sie rauf, dann sehen wir, dass wir Sie wieder hinkriegen.« Der Kater sprang nach oben und sah ihm neugierig zu, als er sich am Geländer hochzog. »Ich bin ein bisschen zittrig und friere wie ein Hund.« Sie platzierte ihn auf einem Stuhl am Küchentisch und ließ Wasser ins Waschbecken laufen. Er beobachtete, wie ruhig und sicher sie sich bewegte. Sie legte ein Geschirrtuch und eine Schachtel Kleenex auf den Tisch und stellte eine Metallschüssel und eine Flasche Courvoisier dazu. »Lehnen Sie den Kopf zurück und machen Sie Ihre Augen zu. Wollen mal sehen, was hier nicht stimmt.« Er spürte ihre weichen Fingerspitzen auf seinem Nasenrücken. »Tut’s weh?« »Nein«, krächzte er, »aber meine Nase ist verstopft!« »Blut.« Er schloss die Augen und hörte, wie sie das Tuch auswand. »Ich glaube nicht, dass Ihre Nase gebrochen ist. Da haben Sie Glück. Während der Schulzeit habe ich mir mal die Nase gebrochen, beim Feldhockey. Es ist wahnsinnig lästig, durch den Mund zu atmen. Man kann auch schlecht essen. Ich weiß das noch so genau, weil ich kurz vorher meine erste Pizza gegessen habe, und mit der eingedrückten Nase hatte ich das Gefühl, ich müsste ersticken. Dabei war ich so gierig nach Pizza …« Er spürte, wie sie ihm mit lauwarmem Wasser und sanften Bewegungen das Blut unter der Nase abwischte. Er hörte ihre sanfte, beruhigende Stimme. O Gott – alles würde wieder gut, werden. Sie tupfte das geronnene Blut aus seinen Mundwinkeln, von der aufgeplatzten Lippe und von seinem Kinn. Es tat nicht weh. Sie ging sehr zart mit ihm um. »Schauen Sie sich mein Ohr an«, bat er. Er öffnete die Augen. Ihr Gesicht war dicht vor ihm. Er konnte die Poren ihrer Haut sehen, die Fältchen in den Mundwinkeln, die schmale Linie ihrer Lippen. Aus zusammengekniffenen Augen sah sie ihn durch ihre runde Nickelbrille an und tupfte ihm sorgsam das Wasser vom Kinn. Auf dem Tisch lagen ein paar nasse Zellstofftücher mit rosa Flecken. »Können Sie mich hören?«, flüsterte sie in sein verletztes Ohr. Er nickte. »Schön. Dem Ohr fehlt wohl nichts. Ich wische das Blut ab.« Sie tastete vorsichtig mit einem Finger. »Oh, Sie haben einen kleinen Riss in Ihrem Ohrläppchen.« »Sie nehmen das unnatürlich gelassen auf«, sagte er. »Wenn einem mitten in der Nacht ein blutüberströmter Typ ins Haus schneit, würden die meisten Frauen –« »Stopp! Sie wissen gar nichts über die meisten Frauen. Sie kennen bloß die längst überholten Klischees – das sollten Sie in Zukunft berücksichtigen.« »Bitte halten Sie mir keine Vorlesung«, protestierte er leise, während ihre Fingerspitzen seine Ohrmuschel abtupften. Sanft und schmerzlos. »Sie riskieren, noch mal eins auf die Nase zu kriegen. Ich hoffe nur, dass sich die Schmerzen für Ihren sexistischen Schwachsinn lohnen. Können Sie sich schnäuzen?« »Sie machen wohl Witze! Ich würde mir das Gehirn rauspusten!« »Ich bin keine übergeschnappte Feministin. Ich lese nicht die Schundromane mieser Autorinnen oder den Schrott über sexuelle Nahkampftechniken. Und masturbieren kann ich schon seit meinem vierzehnten Lebensjahr.« Sie trat zurück, zog den Gürtel ihres Designer-Bademantels enger und betrachtete ihr, Werk. Sie schnalzte mit der Zunge. »Aber ich kann Männer nicht ausstehen, die Frauen pauschal runtermachen. Werden bestimmte Frauen gezielt angegriffen, dann ist das kein Problem für mich. Kapiert? Wir wollen doch Freunde werden. Versuchen wir es. Waschen Sie jetzt hier in der Schüssel den Dreck von Ihren Händen.« Der Kater hockte in der Ecke des Arbeitstisches, hinter der Schüssel und der Kleenex-Schachtel, und beobachtete ihn. »Sagen Sie Ezzard, Starren ist taktlos.« Während er sich die Hände wusch, setzte sie Kaffee auf und stellte großzügig gefüllte Cognacschwenker auf den Tisch. Der Kater reckte den Hals. Als er den Courvoisier roch, rümpfte er die Nase. »Wie fühlen Sie sich? Trinken Sie aus.« Sie schob sich die Haare aus der Stirn. Mit leisem Seufzen zündete sie sich eine Pall Mall an. »Mir geht’s gut.« Er kippte einen Schluck Cognac hinunter und schüttelte sich innerlich, als der Alkohol in seiner Brust brannte. »Sie haben mich wunderbar zusammengeflickt. Ein Feldsanitäter hätte es nicht besser machen können. Ich bin sprachlos …« »Ein Erbe der Sechziger. Bürgerrechtsmärsche, Friedensmärsche – ich habe alles mitgemacht. In der ersten Welle bin ich mit marschiert, in der zweiten habe ich darüber berichtet. Man wurde immer auf den Kopf geschlagen und niedergeknüppelt. Wir haben alle gelernt, die Schäden zu reparieren …« Sie sah ihm in die Augen. »Sind Sie wirklich so unbeliebt?« »Wie meinen Sie das?« »Na ja. Die meisten Leute – Leute, wohlgemerkt –, die zusammengeschlagen werden, flüchten sich zu ihren besten Freunden. Zur Freundin, zum Freund, zum Kumpel. Sie nehmen ein Taxi, das Sie nicht mal bezahlen können, und fahren zu, jemandem, den sie nicht kennen.« Sie hob eine Hand. »Ich beschwere mich nicht – ich bin nur neugierig. Aufregung finde ich herrlich. Aber mein Magengeschwür protestiert.« Sie holte eine Familienflasche Maalox aus dem Schrank und füllte ein drittes Cognacglas. Sie nahm einen Schluck und betrachtete ihn über den Rand hinweg. Er hatte noch nie so große braune Augen gesehen. »Wer starrt denn jetzt?« »Tut mir leid. Ich reagiere ein bisschen langsam.« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben Maalox im Bart.« »Sehen Sie, das ist eine nette persönliche Attacke. Damit kann ich umgehen.« Sie nahm noch einen Schluck. »Warum ich?« »Weil Sie es am meisten verdienen – wegen Ihrer erquickenden Fürsorge für mich. Sie haben mich in Bostons heißeste Mordserie reingezogen. Es kam mir irgendwie passend vor.« Er trank noch einen Schluck und zuckte zusammen, als der Brandy in der Wunde auf seiner Lippe brannte. »Sieh an.« Ihre dichten Brauen hoben sich und formten einen Bogen über den großen Augen. »Jeder zweite Hengst in Boston …«, sagte er. »Wie bitte?« »Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen durcheinander.« Sie winkte ihm mit dem Finger. »Setzen wir uns ans Feuer. Komm, Ezzard.« Kater und Professor folgten. Eine alte Leselampe mit grünem Glasschirm warf warmes Licht auf den schweren antiken Schreibtisch und die dort gestapelten Bücher. Im Erkerfenster, neben einem Ohrensessel, stand ein Tischchen mit einer weiteren Lampe aus bräunlichem Keramik. Die cremefarbenen Vorhänge waren lang und dicht. Zu beiden Seiten des Kamins standen Sofas mit Blumenmustern in Blau- und Brauntönen, über dem Kaminsims hing ein runder Spiegel im nachgedunkelten vergoldeten Rahmen. In Ampeln neben den Fenstern wuchsen Farne und russischer Wein. Das Feuer war, heruntergebrannt. Ein UKW-Sender brachte melodischen Jazz, der gedämpft aus versteckten Lautsprechern tönte. Chandler fand den Gedanken, in diesem Zimmer sterben zu müssen, nicht unangenehm. Sie setzte sich mit untergezogenen Beinen aufs Sofa, fing Ezzard im Sprung auf und trank ihr Maalox fast aus. Dann zog sie an ihrer Zigarette und schnippte den Rest ins Feuer. »Erzählen Sie mir alles«, forderte sie ihn auf. »Ich glaube, es wird spannend.« »Wie schon gesagt, Miss Bishop: Es ist ganz allein Ihre Schuld.« Er saß dicht vor dem Kamin, ihr gegenüber. »Es war unglaublich … Der Kerl im Pepitahut hat zu dem Großen mit der tiefen Stimme gesagt, er soll mir eine verpassen. Der hat mir mit der Faust ins Gesicht und aufs Ohr geschlagen. George Washington hatte er auch schon zertrümmert.« »George Washington. Aha.« »Dann wollte er mir mit der Zange die Fingernägel rausreißen …« »Was hat ihn dran gehindert?« »Na ja, ich war inzwischen ziemlich in Rage, und natürlich hatte ich eine Heidenangst –« »Natürlich. Kann man verstehen.« »Und ich war sauer wegen George. Dann spürte ich das kalte Metall der Zange auf meinen Fingern …« Während er erzählte, spürte er es wieder – und den Ruck an seinem Nagel. »Und dann habe ich ihm den heißen Kaffee ins Gesicht gekippt und den Kleinen mit George Washingtons Sockel eins übergebraten und bin weggerannt.« »Wo war das? Und wann?« »In Cambridge. In meinem Haus.« Er schluckte. »Vorhin, bevor ich zu Ihnen kam.« »Wer waren die beiden? Haben Sie sie gekannt? Was wollten die von Ihnen? Waren es Einbrecher?«, »Einbrecher! Die ziehen doch nicht die Nummer mit den Fingernägeln ab! Es waren ganz sicher keine. Was für eine Reporterin!« »Jetzt erklären Sie mir noch mal, wieso das alles meine Schuld sein soll. Ich möchte hier klar sehen.« Sie streichelte Ezzard, der zufrieden schnurrte. Anscheinend war er von seinen Amouren erschöpft. »Ich will Ihnen eins sagen: Bis letzten Mittwoch war ich ein vollkommen unbedarfter Universitätsprofessor. Abgeschirmt von den unangenehmen Realitäten des Lebens. Sicher, Bill Davis tat mir leid, aber ich war nicht persönlich betroffen: Ich hatte ihn nicht gekannt. Dann tauchen Sie in meiner Vorlesung auf und fallen über mich her wie eine Furie. Sie lassen Ihre weißen Zähne blitzen und stellen mir eine Falle! Sie haben mit Tricks und Unterstellungen gearbeitet und waren mit Fernsehkameras bewaffnet. Das alles benutzten Sie, um mich mit dem Mord an Bill Davis in Verbindung zu bringen – völlig zu Unrecht, versteht sich. Eine Menge Leute hat die Übertragung gesehen, darunter auch der Mörder. Weshalb wollte er Professor Chandler unbedingt sprechen? Das waren Ihre Worte, glaube ich. Damit hatten Sie mich in wenigen Minuten aus der Geborgenheit Harvards mitten in einen Mordfall katapultiert.« »Sie waren der Betreuer des Jungen.« Ezzards Augen lächelten, als sie ihm mit dem Finger über den Hals strich. »Unmittelbar vor seinem Tod wollte er Sie sprechen. Aber ich möchte nicht mit Ihnen streiten.« Sie biss sich auf den Daumennagel und starrte gedankenverloren in die Glut. Schatten spielten auf ihrem Gesicht. »Ich frage mich, was er bis zu seinem Tod gemacht hat, nachdem er Ihr Büro verlassen hatte. War er wirklich in Underhills Laden? Sein Name stand auf Underhills Notizblock. Bill könnte dort gewesen sein. Aber weshalb?« Sie blickte rasch auf. »Wie auch immer: Sie sind zweifellos Teil des Falls.«, »Guter Gott! Mit Ihnen lässt sich nicht argumentieren«, seufzte Chandler. »Sagen Sie mir einfach, was passiert ist – ohne Umschweife. Denken Sie dran, dass Sie hergekommen sind –« »Weil Sie an meiner ganzen Misere schuld sind.« »Weiter«, sagte sie geduldig. Und nachsichtig. Offenbar ließ sie sich weniger von Gewalt und Gefahr beeindrucken als er. »Also gut. Von Anfang an. Ich erinnerte mich an etwas, das Bill Davis zu mir gesagt hatte: Er habe etwas Sensationelles, das ich für ihn verifizieren solle. Aber er verriet mir nicht, worum es ging. Ein Schriftstück? Ein alter Gegenstand? Etwas anderes kann ich von Berufs wegen nicht begutachten. Das könnte jedoch erklären, weshalb er den armen alten Underhill aufsuchte.« Er hörte seinen Atem hässlich durch die verengte Nasenpassage pfeifen. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. »Muss etwas aus der Revolutionszeit sein«, meinte sie. »Warum kam er sonst gerade zu Ihnen?« »Am gleichen Abend sah ich Ihr Interview mit mir im Fernsehen: Polly Bishop, unerschrocken im Kampf gegen das Verbrechen. Ich habe die Reklame für die Sendung gesehen. Nichts ist Ihnen zu schäbig, um auch noch den letzten trübäugigen und unentschlossenen Zuschauer zu ködern. Also, ich verfolgte das verdammte Interview und war am Kochen –« »Sie kriegen ein Magengeschwür«, unterbrach sie ihn »Kommt davon, dass man sich über Dinge aufregt, gegen die man nichts tun kann. Weiß ich von mir.« »Ich bin raus auf die Veranda, um tief durchzuatmen und mich zu beruhigen. Da sah ich die beiden Gestalten auf der anderen Straßenseite im Regen stehen. Die Acacia Street ist zwar keine Durchgangsstraße, aber ich dachte an nichts Böses. Ich fand es nur seltsam, dass mir die beiden am gleichen Tag schon mal begegnet waren: der mit dem blöden Pepitahut und das Riesenbaby mit seinem kleinen beigen Regenkäppi.« »Zweimal am gleichen Tag?«, »Zweimal. Sie standen im Yard und haben mich während des Interviews beobachtet. Mit ihren dämlichen Hüten. Und dann wieder draußen im Regen vor meinem Haus.« »Die beiden hatten einen ätzenden Tag! Und Ihnen kam nichts verdächtig vor? Da würde sich jeder wundern.« »Quatsch! Ich führe ein ganz normales Leben. Für mich hat nicht alles einen kriminellen Hintergrund.« Sie nickte widerstrebend und runzelte die Stirn. Ezzard stand auf, reckte sich und gähnte. »Und nun zum Donnerstag. Da ist alles eskaliert.« Er holte tief Luft, beugte sich vornüber und rieb sich im Feuerschein die Hände. »Zwei Komiker namens Fennerty und McGonigle tauchen in meinem Büro auf und behaupten, sie gehören zur Bostoner Mordkommission. Brennan war gerade bei mir im Büro. Ich habe einen verlässlichen Zeugen … Also: Fennerty und McGonigle verhören mich und benehmen sich dabei ziemlich eigenartig. Ich erzähle ihnen von Davis und dass ich ihm was verifizieren sollte, und langsam gehen sie mir auf den Geist. Als ich ihnen sage, ich hätte sie am Tag zuvor im Yard gesehen, beim Interview –« »Moment mal«, sagte sie, »Sie wurden von mehreren Männern beobachtet? Von Pepitahut und Regenkäppi und den beiden Komikern? Und alle sind später wieder aufgetaucht? Kaum zu glauben …« »Oh, jetzt geht’s erst richtig los. Das mit der Verifizierung beeindruckt diese irischen Typen nicht weiter, aber sie raten mir, die Abendnachrichten anzuschauen, es gäbe was Interessantes. Ich bin drauf und dran, die beiden zu vergessen, als Brennan sich die Pfeife stopfen will, um den Kaffeegeschmack loszuwerden. In George Washingtons Kopf –« »Was soll das wieder heißen?« »Ich habe einen Humidor in Form von Houdons Washington- Büste.« »Ja, und der ist jetzt kaputt.«, »Nein, nein! Ich habe noch eine große Büste zu Hause – hatte, sollte ich wohl sagen.« »Ah, ja.« »Brennan greift also in Washingtons Kopf und findet was ganz anderes als Tabak: eine Wanze, ein winziges Mikrofon, das dieser hinterfotzige McGonigle dort versteckt hat, als er meinen Tabak in seinen Tabaksbeutel abfüllte.« »Du meine Güte«, rief sie amüsiert. »So ein augenfälliges Versteck. Sie hätten es beim nächsten Pfeifestopfen gefunden!« »Die Kerle waren sowieso keine Spionagekünstler – eher Lachttummern. Wenn sie sich nicht gerade an meinem Tabak zu schaffen gemacht hätten, würde ich die ganze Chose irrsinnig komisch finden. Aber es war eben meiner …« »Ihr McGonigle ist ein Idiot.« »Na, jedenfalls haben wir die Wanze in meinem Blumenkasten vergraben.« Polly lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Furchtbar komisch«, sagte er. »Als ich mir alles noch mal durch den Kopf gehen ließ, bin ich aber auf etwas Eigenartiges gestoßen: Fennerty und McGonigle haben im Harvard Yard nicht mich beobachtet, sondern Pepitahut und Regenkäppi.« Das Holz im Kamin war heruntergebrannt. Heftiger Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, und über Beacon Hill ging ein Gewitter nieder. Chandler fuhr zusammen, als irgendwo ein Auspuff knallte. Zum Glück hatte der Regen gewartet, bis er sicher in Pollys Haus war. Sie legte drei weitere Birkenscheite ins Feuer. Unter den Flammen löste sich die Rinde. Sie verließ das Zimmer und kam einige Minuten später mit einer Decke und frischem Kaffee wieder. »Sie zittern ja. Bitte spielen Sie nicht den wohlerzogenen Gast.« Sie deckte ihn zu. »Füße hoch!« Nachsichtig lächelnd trat sie zurück. »Bequem? Sie können heute hier schlafen … Möchten Sie noch Kaffee? Der hält Sie wach bis zum Ende der Story.«, »Ja, gern. Also weiter –« »Schön langsam! Ich bemuttere Sie erst ein bisschen.« Sie schenkte Kaffee ein und reichte ihm die lila Tasse. »Scheinbar wissen Sie gar nicht, wie lädiert Sie sind. Sie sind auch nicht mehr der Jüngste.« »Können Sie nicht einfach den Mund halten und sich hinsetzen? Es ist Viertel nach drei, und die Geschichte ist noch nicht zu Ende.« »Ich bin gespannt auf die Schreckensszenen.« »Schluss mit den Witzen.« Er zog die schwere Decke fester um seine bloßen Füße, nippte an dem Kaffee und konzentrierte seine müden Augen auf Polly Bishops Gesicht, das immer häufiger vor ihm verschwamm. »Donnerstagabend konnte ich nicht widerstehen. Ich sah mir Ihre Sendung an.« »Wie der Mungo die Kobra.« »Sehr passender Vergleich. Sie berichteten vom Mord an Nat Underhill. Während ich zusah, kam mir ein grässlicher Gedanke: McGonigle und Fennerty hatten mir geraten, die Sendung anzusehen, bevor Nora Thompson zur Arbeit ging und Underhills Leiche entdeckte! Irre, Miss Bishop! Ihr Gesichtsausdruck entschädigt mich für manches.« »Wie konnten sie denn –« »Eben. Jedenfalls können Sie sich meine Überraschung vorstellen.« Er bemühte sich um einen ironischen Ton. »Und ich hätte Sie liebend gern mit dem Hackebeil besucht. Sie wollten mich einfach nicht in Ruhe lassen. Mich mit zwei Ermordeten in Verbindung zu bringen! Als wären Sie drauf aus, meinen eigenen Mord zu inszenieren.« Sie ignorierte seinen Ton und fragte: »Und das war vor neun Stunden?« »Kommt mir vor wie gestern«, grummelte er. Durch seine Schilderung fühlte er die Mauer zwischen ihnen abbröckeln. Er merkte, wie seine Wut langsam verrauchte. Während er mit ihr sprach, ihr Gesicht beobachtete, sich von ihr zudecken ließ und, ihre Gastfreundschaft genoss, spürte er, wie sich eine gewisse Nähe entwickelte, eine Verbundenheit. Er war nicht bei der Sache und riss sich zusammen. »Mir schwirrt noch der Kopf, weil McGonigle und Fennerty Dinge wussten, die sie nicht wissen durften, da klingelt das Telefon. Es ist Nora Thompson.« »Nicht zu fassen«, meinte sie. »Was wollte sie?« Er sah sie verdrießlich an. »Mich unbedingt sprechen.« Er sah auf die Uhr. »In jetzt gut sieben Stunden in Lexington … Sie will mir etwas Wichtiges erzählen. Fragen Sie mich nicht: Ich weiß nicht, worum es geht, aber bestimmt nicht um ein Rezept für Apfelkuchen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt kann nicht mehr viel kommen. Wenig später haben Sie doch schon an meine Tür geklopft.« »Es kommen nur noch Pepitahut und Regenkäppi. Die tauchen bei mir auf und stellen sich als Sonderermittler der Staatsanwaltschaft vor. Der Kleine riecht nach Mundspray Marke Pfefferminz, der Große hat Polypen, eine abgrundtiefe Stimme und einen Goldzahn. Sie behaupten, der Staatsanwalt sei sauer auf mich, weil ich die Ermittlungen behindere. Wegen mir habe es schon zwei Tote gegeben. Und Bill Davis habe im Sterben den verdammten Satz gesagt: ›Chandler hat es.‹ Es geht offenbar um ein gerahmtes Bild. Ich frage Sie: Wie zum Kuckuck soll jemand ein Bild verifizieren? Der Große zerschmettert dann jedenfalls George. Die Büste, meine ich. Knallt ihn einfach auf den Boden! Der Kleine fordert den Großen auf, mir eine zu verpassen – was der auch mit Hingabe tut. Als er mit der Zange loslegt, raste ich aus. Ich schütte dem einen heißen Kaffee ins Gesicht und haue dem anderen den Fernseher um die Ohren. Dann verpasse ich ihm noch eins mit Washingtons Sockel und mach mich aus dem Staub …« »Zu mir.« Sie sah ihn hinter gesenkten Wimpern an. Er nickte achselzuckend. »Ich bin froh darüber … Stellen Sie sich vor, Sie hätten das jemand anders erzählen müssen!« Sie lächelte sanft., »Was immer Sie von mir halten mögen, Professor, und egal, ob Sie glauben, Sie müssten mich hassen: Sie haben sich heute gut geschlagen. Schade, dass wir Feinde sind; sonst wäre ich sehr stolz auf Sie.« »Vielleicht sind Sie ja ein ganz netter Mensch –« »Ein Mensch. Jetzt kommen Sie der Sache schon näher. Aber ich bin kein ›netter Mensch‹. Ich bin zielstrebig, egozentrisch, egoistisch, eigensinnig – wie mein Mann immer behauptet hat. Ich hab’s auswendig gelernt, wie den Pfadfinderspruch: zuverlässig, treu, hilfsbereit, freundlich, höflich, gehorsam, heiter, sparsam, tapfer, reinlich und ehrfurchtsvoll.« »Erstaunlich!« »Mein Bruder war bei den Pfadfindern. Ich habe ihm beim Auswendiglernen geholfen. Ich behalte alles. Wollen Sie die Aufstellung der Chicago White Sox von 1919 hören – damals Black Sox genannt, weil sie die World Series geschmissen haben? Oder die Oscar-Preisträger?« »Das alles ist für mich schwer zu fassen.« Er gähnte. »Armer Kerl! Sie brauchen wirklich Schlaf.« Sie erhob sich und trat ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zurück und spähte hinaus in den Regen. Ezzard sprang durch den Spalt aufs Fensterbrett. Die Uhr tickte. Chandler streckte sich in voller Länge auf dem Sofa aus und kuschelte sich in die Kissen. Er hatte gerade die Augen geschlossen, als sie anfing zu reden. Er blinzelte mit einem Auge. Sie stand über ihm. Der Donner grollte. »Professor, Sie müssen sich über eins im Klaren sein: Sie stehen auf der schwarzen Liste. Ich will nicht melodramatisch werden; aber ich habe mehr Erfahrung mit der Wirklichkeit als Sie.« Er schloss das Auge. »Sie müssen aus der Schusslinie. Bleiben Sie Ihrem Haus und Harvard fern.« »Aber ich muss mich morgen mit Nora treffen.«, »In Ordnung.« »Und ich habe nichts anzuziehen.« »Darum kümmern wir uns morgen früh. Was mir Sorgen macht, sind diese vier Kerle. Nennen wir sie einfach die Wanzen und die Schläger … Ich kann mich bei der Mordkommission nach Fennerty und McGonigle erkundigen. Ich rufe Tony Lascalle an. Und wegen der beiden andern bei der Staatsanwaltschaft. Aber ganz offensichtlich sind sie keine Sonderermittler. Bill und Underhill wurden umgebracht, und Pepitahut und Zange stehen ziemlich weit oben auf der Verdächtigenliste. Aufwachen, Professor!« »Ich bin wach. Und bitte nennen Sie mich Colin. Ich lasse meine Augen nur ein bisschen ausruhen.« »Sie sinken gleich ins Nirwana.« »Ich bin eben nicht mehr der Jüngste.« »Dann schlafen Sie. Wir besprechen die Einzelheiten morgen früh.« »Danke fürs Quartier, Miss Bishop.« »Polly.« Als sie gegangen war, hörte Chandler dem Regen und dem Knistern der Holzscheite zu. Er spürte den sanften Luftzug vom Fenster her und versuchte, sich auf die Pfandfindertugenden zu besinnen. Obwohl er selbst Mitglied gewesen war, konnte er sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern … Zunächst dachte der alte Herr, ihn habe ein Donnerschlag geweckt. Er erwachte mit einem schmerzhaften Stechen auf der linken Brustseite und überging es mit ärgerlich gerunzelter Stirn. Als er die Nachttischlampe anknipste, hörte er den Donner krachen und den Regen auf das Schieferdach trommeln. Aber es war nicht das Gewitter, das ihn aus seinem üblichen leichten, unruhigen Schlaf gerissen hatte, sondern das Telefon. Er hasste es, mitten in der Nacht geweckt zu werden. Drei bis vier Stunden nächtlicher Ruhe waren alles, was ihm sein schwaches, Herz gewährte, und sie waren ihm lieb und teuer. In seinem Job wurde er jedoch relativ oft nachts angerufen. Eine Menge Leute arbeitete für ihn, und er konnte nichts dagegen tun, dass regelmäßig einige von ihnen ausgerechnet in den Stunden nach Mitternacht in eine kritische Lage gerieten. Der Anruf kam über den grünen Apparat. Die Farben – rot, grün und weiß – sagten ihm, wer am anderen Ende war, bevor er abhob. Es war genau vier Uhr. Er bedachte das grüne Telefon mit einem vernichtenden Blick, bevor er sich die Brille auf die Nase setzte und seine klauenhafte, von Altersflecken und hervortretenden Adern gezeichnete Hand nach dem Hörer griff. Obwohl er genau wusste, dass es ein Problem gegeben hatte, kehrte seine äußerliche Ruhe sofort wieder zurück. Im Fall Chandler war etwas schief gelaufen. Das grüne Telefon sagte ihm, dass es nicht um Andrew und Liam ging, sondern um die beiden von auswärts. Er schürzte die Lippen und strich sich mit einem durch die pergamentdünne Haut schimmernden Fingerknöchel über den weißen Schnurrbart. Dann nahm er den Hörer ab. Um halb fünf fuhr sein Rolls-Royce am Dienstboteneingang des John-Hancock-Gebäudes vor. Die Ampeln am Copley Square blinkten in leere regennasse Straßen. Er schaltete die Scheinwerfer aus, huschte aus dem Wagen, schloss die Metalltür auf und nahm den Fahrstuhl zum sechzigsten Stock. Die Heizungs- und Klimaanlagen in den beiden darüber liegenden Stockwerken wummerten in der nächtlichen Stille. Während er allein an einem Glastisch wartete, stopfte er seine Dunhill-Pfeife und fing an zu rauchen. In der Ecke der halb fertigen Aussichtsplattform, wo er sich mit seinen Untergebenen traf, war es feucht, kalt und zugig. Er paffte Rauchwolken in die Luft, als könnten sie ihn wärmen. Dann hüllte er sich fester in Schal und Regenmantel und fragte sich, ob sich das Ganze noch lohnte. Er war alt, seine Pumpe machte nicht mehr mit, sein Blut wurde dünner, er fand nur wenig Schlaf. Eigentlich müsste er, sich in die dürre Wüstenlandschaft von Arizona zurückziehen oder in ein Apartment in Florida. Aber er konnte nicht gegen seine Natur an: Das Spiel machte ihm immer noch Spaß. Es hatte ihm von jeher Spaß gemacht, dreißig Jahre lang, und er war für seine Anstrengungen gut belohnt worden. Er zwang sich, wieder an den aktuellen Fall zu denken. Über Ozzie und Thorny wusste er weniger, als ihm recht war. Er musste wohl oder übel mit den Leuten Vorlieb nehmen, die man ihm schickte. Aber ihr Vorgehen war schlampig und ohne Finesse. Sie lagen ihm gar nicht. Andrew und Liam hatte er deshalb überzeugt, weil seine Empörung zum größten Teil echt war. Der Mord an Bill Davis war nicht nur niederträchtig, sondern auch absurd und widerlich. Ein sinnloser Mord war Verschwendung und machte auf Dinge aufmerksam, die besser im Verborgenen blieben. Ihm war noch nicht ganz klar, welche Linie er bei seinen beiden Handlangern verfolgen sollte … O Gott, wozu ein Gentleman sich manchmal herablassen musste! Wie man sich bettet … Das rote Licht über der Fahrstuhltür kündigte ihr Kommen an. Ihr Aussehen schockierte ihn. Sie schienen einer Horde wilder Teufel in die Hände gefallen zu sein. Ozzie, der Große, war mit unerklärlichen braunen Flecken übersät; sein feistes Gesicht war zum Teil unter einer weißen Binde versteckt. Er roch nach einer fettigen Salbe. Thorny sprach so keuchend, dass man ihn kaum verstehen konnte. Sein Gesicht verzog sich schmerzhaft beim Reden, sein Atem ging in kurzen Stößen. Voller Staunen hörte der alte Herr ihren Bericht. Dass Chandler ihnen so übel zugesetzt haben sollte, konnte er kaum begreifen. Ozzie saß da wie ein Häufchen Elend. Seine Augen waren halb geschlossen, die nicht verbundene Seite seines Gesichts rot und geschwollen. Vom Reden erschöpft, lehnte sich Thorny in den lederbezogenen Chromstuhl. Er verlagerte vorsichtig sein Gewicht und hielt sich die Brust. Die beiden, schien das unverhohlene Missfallen des alten Herrn zu bedrücken. »Und was haben Sie unternommen, nachdem Chandler Sie fertig gemacht hatte und abgehauen war? Haben Sie im Buschwerk von ganz Cambridge eine Schneise hinterlassen?« Der Pfeifenstiel schlug klickend gegen seine Zähne. »Wir sind zur Notaufnahme ins General Hospital gegangen«, krächzte Thorny. »Wir dachten, dort ist so viel Betrieb, dass wir nicht auffallen … Mit falschen Ausweisen und Versicherungskarten –« »Nicht auffallen? Ein Gorilla, mit heißem Kaffee überschüttet, und nicht auffallen?« »Waren Sie dort schon mal in der Notaufnahme? Sie brauchen sich bestimmt keine Sorgen zu machen.« Mit dem winzigen Mr. Pickwick drückte der alte Herr die Asche im Pfeifenkopf hinunter. »Ich bin entsetzt über Ihr Verhalten«, erklärte er schließlich. »So eine Stümperei habe ich noch nie erlebt … Sie haben zwei unschuldige Menschen umgebracht und sich von einem Geschichtsprofessor verprügeln lassen, der noch nie Neigung zu Gewalt gezeigt hat. Ihre Ermittlungen sind bisher ergebnislos verlaufen. Haben Sie eine Vorstellung, wie Sie unseren Fall voranbringen können?« Er sah von einem zum anderen. »Los, los! Raus damit!« In die Stille krachte der Donner. Regen schlug gegen das Gebäude. »Ach ja«, sagte der alte Herr. »Wir wissen immer noch nicht, wo das Päckchen ist – stimmt’s? Wir sind nicht mal sicher, wann und wo es verschwunden ist … Underhills Name stand auf einem Block in Bill Davis’ Büchertasche. Sie sind Mittwochabend zu Underhill gegangen und haben ihn in Panik getötet, als er nach einer antiken Pistole griff, die mehr Dekorationsstück als Waffe war … Und nichts in Erfahrung gebracht. Falls die Polizei es nicht schon weiß, wird sie sicher, bald feststellen, dass der Junge und der arme alte Underhill mit der gleichen Waffe getötet wurden. Überall hinterlassen Sie Ihre Spuren … Chandlers Haus ist vermutlich voll von Ihren Fingerabdrücken. Wenn ich Sie so anschaue, bin ich mir da ganz sicher.« Er zog den Schal fester und schaute auf die Uhr. »Soweit ich sagen kann, bleiben jetzt zwei Personen, die etwas wissen könnten, nämlich Chandler, wo immer er sein mag, und Underhills Sekretärin, Nora Thompson. Wenn Bill Davis das Päckchen bei Underhill gelassen hat, dann weiß sie vielleicht, was damit passiert ist. Sollte es irgendwie zu Chandler gelangt sein, dann müssen wir ihn finden und im Auge behalten. Kapieren Sie das, meine Herren?« Thorny grunzte. »Halten Sie also Chandlers Haus unter Beobachtung. Denken Sie, Sie kriegen das hin?« Er seufzte hörbar. »Und reden Sie mit Nora Thompson … Die Masche mit der Staatsanwaltschaft dürfte bei ihr verfangen. Zeigen Sie Ihre Ausweise. Und bringen Sie sie um Himmels willen nicht um. Reißen Sie ihr nicht die Fingernägel aus. Denken Sie dran: Wir sind alle Geschöpfe Gottes. Sogar Sie beide.« Er stand auf. »Gehen Sie jetzt. Sie wissen, wie Sie mich erreichen.« Er trat an das riesige Fenster und drehte ihnen den Rücken zu. Schwer atmend, keuchend und stöhnend traten sie den Rückzug zum Fahrstuhl an. Der alte Herr stand still in der etwas unheimlichen Finsternis und überlegte, was in den vergangenen Tagen alles schief gelaufen war. Vielleicht ließ seine geistige Beweglichkeit nach. Zwischen einem Einsatzteam und dem anderen hin und her zu springen machte ihm nicht mehr so viel Vergnügen wie einst. Er hatte sich manchmal sogar darauf gefreut, in Würde alt zu werden. Ein Jux! Viele Dinge entwickelten sich eben anders als geplant. Er sah zu, wie der Himmel über dem Atlantik heller wurde und die noch dunkle Stadt in ein muffiges, feuchtes Grau hüllte. Immer noch spritzten Regentropfen auf die riesige Scheibe. Er, klopfte seine Pfeife auf dem Zementboden aus und steckte sie in seinen Regenmantel. Bevor er ging, sah er noch durch das Teleskop, das einmal Touristen anlocken sollte, wenn die Besucherplattform fertig war. Boston zeigte sich ihm in allen Feinheiten. Irgendwo da draußen in der regennassen Stadt versteckte sich Chandler. Hatte er durch die unerwartete Konfrontation mit einer besonders üblen Form von Gewalt einen Schock erlitten? Irgendwo musste er müde und durchnässt in seinem Bademantel herumirren. Bestimmt fühlte er sich in die Enge getrieben. Was konnte er tun? Wohin konnte er gehen? Das Teleskop richtete sich auf die weißen Türme von Harvard, die Privathäuser der Commonwealth Avenue, das riesenhafte Reiterstandbild von George Washington im Park, direkt unter ihm. Er schwenkte auf Beacon Hill und die goldene Kuppel, die der Regen und das düstere Morgenlicht stumpf gemacht hatten. Irgendwo da draußen war Chandler. Wusste er, wo das verdammte Päckchen zu finden war? Er ließ das Teleskop sinken und drückte den Fahrstuhlknopf. Während er wartete, stopfte er sich aus seinem Wildlederbeutel ein Pfeifchen. Chandler war wohl der Schlüssel. Das Päckchen konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Chandler musste ihn hinführen, nachdem Davis und Underhill ausgeschieden waren. Und wenn Chandler die Nase voll hatte? Er betrat den Aufzug. Gab es eine Möglichkeit, den Mann zu provozieren? Wenn er das Päckchen fand, waren sie aus dem Schneider … Dann brauchte er bloß noch Andrew und Liam einerseits und Thorny und Ozzie andererseits an der Kandare zu halten. Kein Kinderspiel für einen müden alten Mann! Im Rolls-Royce zündete er sich die Pfeife an. Er sagte sich im Stillen, dass er bislang immer noch auf die Füße gefallen war. Vielleicht klappte es auch diesmal. Als Chandler aufwachte, leckte sich Ezzard wie ein Unschuldslamm auf seiner Brust die Pfoten und pflegte seine, Schnurrbarthaare. Es war halb acht, und es regnete. Aus der Küche kamen Frühstücksgeräusche. Es roch nach Kaffee. »Hau ab, Kater«, stöhnte er. Er fühlte sich steif und hatte Schmerzen in der Nase und im Ohr. Er hatte mit offenem Mund geschlafen, weil er durch die Nase keine Luft bekam. Seine Zunge erinnerte ihn an ein Katzenklo. Polly aß gerade einen Muffin und las dabei den Globe, als er in die Küche taumelte. Über den Rand ihrer Kaffeetasse nickte sie ihm zu. Sie trug einen dicken blauen Pullover und Jeans. »Schreiben Sie auf, was Sie an Kleidung brauchen«, sagte sie. »Ich fahre zuerst zu Ihrem Haus.« »Machen Sie Witze? Vielleicht beobachten sie das Haus.« »Keine Angst. Ich fahre vorbei, und wenn ich etwas bemerke, rufe ich Sie an und hole ein paar Sachen aus dem Co-op. Sie können sich auf mich verlassen. Sie sehen ziemlich verkatert aus. Essen Sie was, damit Sie zu Kräften kommen.« Sie legte die Zeitung weg und fing auf Schmierpapier eine Liste an. »Wie fühlen Sie sich?« »Ganz prima für einen Mann in meinem Alter, der mitten in der Nacht zusammengeschlagen und durch halb Boston gejagt wurde. Ein paar Muffins dürften mich wieder auf die Beine bringen.« Er zerteilte einen Muffin und steckte die beiden Hälften in den Toaster. »Na gut. Was brauchen Sie von Ihren Sachen?« »Regenmantel, Hemden, Pullover, meine grauen Hosen, die weichen Lederschuhe, Socken, den braunen Tweedmantel. Das wär’s.« »Professor –« »Colin.« »Colin, haben Sie nicht was vergessen?« »Ich glaube nicht.« »Hmmm. Kleiner Sexprotz.« »Ich verstehe nicht –« »Keine Unterwäsche. Ziemlich aufreizend.« Sie blinzelte ihm, zu und lächelte ihn strahlend an. »Na klar, bringen Sie Unterwäsche mit. Und einen Campingbeutel. Wer weiß, wann ich zurückkomme.« Er erklärte ihr, wo die Sachen zu finden waren. »Alles klar. Danach gehe ich in Ihr Büro und grabe die Wanze aus. Brauch ich einen Schlüssel?« »In der Tasche meiner braunen Jacke. Wieso?« »Beweismaterial. Ich möchte das Ding auch überprüfen lassen. Wo es hergestellt wurde. Man weiß nie, was dabei herauskommt. Drittens überprüfe ich McGonigle und Fennerty.« »Ich sage Ihnen doch, die sind echt. Ich habe ihre Papiere gesehen …« »Trotzdem. Ich lasse sie überprüfen.« Sie stand auf, während er seinen Muffin mit Butter bestrich. Kauend folgte er ihr ins Wohnzimmer. »Würden Sie Ezzard bitte eine Untertasse mit Milch hinstellen? Und eine halbe Dose Katzenfutter … Ich habe eine Menge zu erledigen.« Sie warf einen Blick auf ihre Cartier- Uhr mit dem Saphir. »Bis zehn bin ich zurück. Dann können wir bis elf draußen in Lexington sein.« Sie schlüpfte in ihre Lammfelljacke und zog sich die engen braunen Lederhandschuhe an. »Machen Sie sich bitte inzwischen fertig. Ich warte nicht gern.« Er sah aus dem Fenster, als sie zu ihrem Wagen ging. Das Wasser gurgelte im Rinnstein und tropfte stetig von der durchweichten Markise. Sie schaute zu ihm hoch und winkte. Sie fuhr einen dunkelgrünen Jaguar XKE, vielleicht fünf Jahre alt. Was sonst? Um Viertel nach zehn zwängten sie sich in die Vordersitze des Jaguars. Nachdem er geduscht und seinen schäbigen alten Bademantel abgelegt hatte, fühlte sich Chandler wieder wie ein Mensch. Die drei synchron laufenden Wischerblätter fuhren hektisch über die kleine Windschutzscheibe, während Polly den Wagen durch den Verkehr Richtung Lexington lenkte. Seufzend, gewöhnte er sich daran, seine langen Beine beinahe voll ausgestreckt zu halten. Er betrachtete ihr Profil, während sie konzentriert chauffierte. Umwerfend gut sah sie aus – daran gab’s nichts zu deuteln; er wurde langsam neugierig auf sie. Im Medizinschränkchen in ihrem Bad hatte er zum Beispiel alles gefunden, was man zum Rasieren so braucht, dazu eine Menge Medikamente, Kosmetika, Hustensaft, Tampons, Zahnseide und Zahnbürsten in verschiedenen Farben. Als er ihr sagte, er habe den Rasierapparat, die Rasierseife und das Rasierwasser mit Limonenduft benutzt, hatte er betont, er hoffe, der Besitzer habe nichts dagegen. Trotz seiner sorgfältig gewählten Worte war er sich seiner Schnüffelei voll bewusst. Doch er konnte nicht anders. »Keine Sorge – der Besitzer bin ich«, erwiderte sie spitzbübisch. »Man muss für alle Eventualitäten gerüstet sein.« Er ließ es dabei bewenden. Seine Neugier wuchs, doch er fühlte sich zu gehemmt, um weiter zu fragen. Während er sie beobachtete, stellte er sich vor, wie beharrlich ihr die Männer wohl den Hof machten. Das war bei Frauen der Haken: Immer lief es auf Sex und Eifersucht hinaus – und auf die eigene empfindsame Männlichkeit und ihre verflixten weiblichen Spielchen. Allerdings hatte er mit der Ausfragerei angefangen, nicht Polly. Egal. Sie bedeutete ihm nichts. Es war alles nur ein Zufall. Sie wollte ihre Story, weiter nichts. Das sollte er sich immer vor Augen halten. »Was war denn nun los in Cambridge?«, fragte er. Sie schürzte die Lippen, als würde gleich die Videoaufnahme laufen. »Ich bin an Ihrem Haus vorbeigefahren. Alles schien still und verlassen. Dann habe ich den Wagen um die Ecke geparkt, in der Ash –« »Sagen Sie Windmühlengasse, so hieß sie früher; es ist viel hübscher.« »Durch ein paar Hinterhöfe und über Ihre Hintertreppe bin ich ins Haus geschlichen. Ich habe Ihre Sachen geschnappt – Sie, sollten Ihre Hintertür abschließen …« »Tut mir leid, ich hatte es eilig.« »Stimmt. Als ich wieder runterkam, habe ich mir das Chaos angesehen und einen Blick durchs Fenster geworfen. Raten Sie, was ich sah.« »Bitte …« »Schräg gegenüber Richtung Hawthorn stand ein roter Pinto. Wahrscheinlich mit den beiden Gorillas, denen Sie’s gestern gegeben haben. Ein Großer mit verbundenem Kopf und ein Kleiner mit Pepitahut. Sie stiegen aus und kamen auf das Haus zu.« Mit großen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an. »Was haben Sie gemacht? Mir wird speiübel.« »Mir ist auch ganz schlecht geworden, und ich bin ziemlich tapfer. Aber ich konnte aus der Hintertür schlüpfen, als sie über die Veranda stapften. Ich glaube nicht, dass sie mich gesehen haben. Ich hab mich durch die Hinterhöfe verdrückt. Mit Ihrem Kleiderbündel unterm Arm.« »Die geben nicht auf«, sinnierte er und zupfte an seiner Lippe. »Sie sind das Risiko eingegangen, auf die Polizei zu treffen.« »Als ich nicht mehr mit Angsthaben beschäftigt war, habe ich mich auch gewundert. Na, jedenfalls bin ich in Ihr Büro gegangen und habe die Wanze aus dem Blumenkasten gebuddelt. Dort gab’s keine Probleme. Die Wanze habe ich direkt zu Lascalle von der Mordkommission gebracht. Ohne zu sagen, woher sie stammt. Der ist ein echter Kumpel. Er ruft mich an, wenn sie mehr darüber wissen – aber es kann dauern.« Der Regen trommelte weiter aufs Autodach. Durch die Kälte hatte er sich in Schneeregen verwandelt. Vom Pflaster spritzte Matsch auf. Der Jaguar lag so tief auf der Straße, dass man bei der hohen Geschwindigkeit meinte, durch einen grauen Tunnel zu pflügen. »Und die Iren?« »Lascalle hat sie überprüft. Es gibt keinen Fennerty oder McGonigle – weder bei der Bostoner Polizei noch bei der, Staatsanwaltschaft, noch unter den Sonderermittlern.« Sie steuerte die Ausfahrt Lexington an und setzte den Blinker. »Passen Sie auf den Cadillac auf!« »Mein Gott, Colin …« Sie bremste an der Ausfahrt, schaltete weich wie Butter und fädelte sich elegant ein. »Wir hatten schon vermutet, dass sie nicht echt sind. Aber wer sind sie?« »Keine Ahnung.« »Ja, und wegen der beiden Schwerbeschädigten habe ich bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt. Sie hat niemanden zu Ihnen geschickt. Dort arbeitet überhaupt keiner an der Davis/Underhill-Sache.« Sie hielt an einer Ampel und orientierte sich. »Und diese vier Typen machen nicht nur mir die Hölle heiß. Sie spionieren sich auch gegenseitig nach, wie Konkurrenten.« Er verzog angewidert das Gesicht und kurbelte das Fenster herunter, um frische Luft zu schnappen. Sie fuhren über die breite Einfallstraße nach Lexington hinein. Chandler kam die Gegend vertraut vor: Durch den Regenschleier erkannte er ein italienisches Restaurant, in dem er mal mit einer Freundin gegessen hatte. »Vielleicht kriegen wir die Antworten von Nora«, meinte Polly. »Vielleicht auch nicht.« »Da ist der Kennedy Drugstore.« Er schaute auf seine Rolex. »Pünktlich auf die Minute.« Sie nickte lächelnd. »Auf mich können Sie bauen, Professor.« Durch und durch zuverlässig wirkte auch Nora Thompson – vom Scheitel ihrer grauen, in einem straffen Dutt gefangenen Haare bis zur Sohle ihrer flachen Gesundheitsschuhe. Nora begrüßte sie zwischen hoch aufgeschichteten Regalen mit einem flüchtigen Lächeln und einem festen Händedruck. Sie trug ein Tweedkostüm und einen gefütterten Regenmantel. Nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, suchten sie sich eine Nische und bestellten Kaffee. »Also, Miss Thompson«, sagte, Chandler, der sich in der Wärme, während der Regen ans Fenster platschte, seltsam geborgen fühlte. »Was kann ich für Sie tun?« Nora wurde jünger, als sie erzählte. Leben kam in ihr Gesicht, ihre Augen glänzten, die Jahre fielen von ihr ab. Sie hatte Angst. Sie misstraute den Behörden. Sie wurde wütend und traurig, wenn die Sprache auf Nat Underhill kam. Wie sich herausstellte, war sie eine aufmerksame Beobachterin. Rasch führte sie sie gedanklich zum Montag zurück – eine Ewigkeit, bevor alles aus den Fugen geriet. »Am späten Montagnachmittag sah der Himmel nach Gewitter aus. Bill Davis wollte Mr. Underhill sprechen. Er kam mit seiner grünen Harvard-Tasche. Die beiden kannten sich seit ein paar Monaten, seit dem letzten Herbst. Mehr weiß ich nicht über den Montag. Mr. Underhill sagte, ich solle den Laden schließen, bevor das Gewitter losging …« Sie schwieg einen Augenblick und starrte in ihre dampfende Kaffeetasse, als würde sie sich die kleinen Freundlichkeiten ihres Arbeitgebers ins Gedächtnis rufen. »Aber Dienstag kam Nat früher als sonst, so gegen halb zehn. Mir fiel gleich auf, dass es ihm nicht gut ging … Sein Gesicht war rot und fleckig. Er litt unter hohem Blutdruck, wissen Sie; der schoss immer in die Höhe, wenn er aufgeregt war. Er bat mich in sein Büro. Während ich Tee aufgoss, sackte er in seinen Sessel und erzählte mir, sie hätten gerade im Radio gemeldet, dass Bill Davis auf der Straße ermordet worden sei.« Ihre dunkelblauen Augen hefteten sich auf Chandlers Gesicht, als könne er sich die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens erklären: Sie waren sein Professor, schien sie zu sagen, Sie müssen doch den Grund kennen … Chandler schüttelte den Kopf. »Nat war ganz außer sich. Er sagte, Bill habe einen Tag zuvor ein wertvolles Päckchen bei ihm hinterlegt. Er wollte mit Ihnen darüber reden, Professor Chandler. Er sprach von einem Dokument. Ich war erschrocken, als ich ihn halb im, Selbstgespräch sagen hörte, er habe so eine Ahnung, dass es bei dem Mord an Bill eine Rolle spielte.« Die Erinnerung ließ sie schaudern. »Wissen Sie etwas Näheres über das Dokument?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Nat sprach von Anfang an nur sehr zurückhaltend darüber.« »Und wann war das?«, warf Polly ein. »Na ja, Nat wusste seit dem Herbst davon. Seit Bill ihn zum ersten Mal besuchte. Er war ganz aufgeregt, als er mit mir darüber sprach. Im Winter hat er’s sogar zu einem Kongress der Antiquare nach Bukarest mitgenommen. Ja, er war wirklich stolz darauf.« Sie überlegte einen Moment. »Ich glaube jedenfalls, dass er es mitgenommen hat. Wenn nicht, plante er zumindest, ein paar alten Freunden davon zu erzählen. Als er aus Bukarest zurückkam, gab er Bill den Rat, das Dokument offiziell von Ihnen verifizieren zu lassen, Professor Chandler. Aber Sie wissen, wie die Studenten sind: Er hat’s nicht gleich erledigt … und jetzt sind beide tot …« Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie die Fassung verlieren. Doch ihre robuste neuenglische Natur setzte sich durch, wie Chandler dankbar vermerkte. Im Drugstore ging es zu wie auf dem Jahrmarkt – er hatte so etwas noch nie gesehen. Anscheinend diente das Geschäft den Leuten aus Lexington als Supermarkt. Man meinte, alle könnten ihr Gespräch mithören; doch in Wirklichkeit machten sie selbst zu viel Lärm, und jeder war mit sich beschäftigt. Nora sprach inzwischen weiter. »Als Nat von dem Mord gehört hatte, wollte er das Päckchen nicht mehr behalten. Bills Eltern wollte er es nicht geben. Er hätte ihnen zu viel erklären müssen, mitten in ihrer Trauer. Deshalb beschloss er, es jemandem zu schicken. Ich musste ihm Verpackungsmaterial und Aufkleber besorgen. Er hat es in seinem Büro verpackt und selbst zur Post gebracht. Ich habe das, Päckchen nicht mehr gesehen. Das war Dienstagnachmittag … Am Mittwoch war er nicht besonders gesprächig, vielleicht sogar geistesabwesend. Am Abend bin ich gegangen –« Sie kämpfte mit ihren Gefühlen und sah hinaus auf die vom Regen verwischte Straße. »Am nächsten Tag habe ich ihn gefunden …« Polly nickte tröstend und tätschelte ihre Hand. Nora klopfte fordernd mit dem Finger auf die Tischplatte. »Ich will wissen, wem er das Dokument geschickt hat – was es auch sein mag. Es muss der Grund für den Mord sein … seine Verbindung zu Bill Davis. Ich dachte, er hätte es Ihnen geschickt. Sie sollten es begutachten, das weiß ich.« Sie schaute Chandler forschend an – keine Spur graue Maus oder alte Jungfer, wie er zunächst erwartet hatte; eher eine Frau, mit der nicht gut Kirschen essen war, falls man sie zur Gegnerin hatte. »Nein, tut mir leid«, sagte er. »Bis gestern habe ich nichts bekommen.« »Aber sonst fällt mir keiner ein. Ich war mir so sicher … Wem hätte er es noch schicken können? Er hat nur Ihren Namen erwähnt …« »Warten wir’s ab«, meinte Polly. »Bei der schleppenden Postzustellung heutzutage … Das Päckchen könnte noch kommen.« »Klar«, sagte Chandler. »Ich rufe Hugh an, er soll nachsehen. Wissen Sie, ich muss ein paar Tage untertauchen …« Rasch fasste er die Ereignisse nach Noras Anruf zusammen. Ihn überraschte die Entschlossenheit, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Da haben wir’s«, erklärte sie. »Die Kerle meinen auch, dass es bei Ihnen zu finden ist. Und ich wette, sie haben Nat umgebracht. Sie hatten Glück gestern Abend, Professor … Hier geht etwas Teuflisches vor.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Klingt albern, ›etwas Teuflisches‹.« »Irgendwas passt da nicht ins Bild.« Polly zog Nora ins, Vertrauen. »Es gibt noch zwei Männer, die über den Mord an Nat Bescheid wussten, bevor Sie ihn fanden.« Nach weiteren fünf Minuten kannte Nora die ganze Geschichte. Danach saßen alle drei da und starrten sich an. Sie suchten nach Erklärungen. »Es ist wie bei einem Puzzle mit zu vielen Teilen«, meinte Chandler. »Wo bringen wir die unter?« Polly blieb am Ball: »Sie sagten, Nat ist nach Bukarest gefahren. Nach Rumänien. Wenn er das Schriftstück mitgenommen hat oder wenn es ihn auch nur in Gedanken stark beschäftigte, dann hat er es doch sicher herumgezeigt oder mit jemandem darüber geredet. Wer könnte das gewesen sein? Alte Freunde. Leute aus der Branche. Wir brauchen Namen. Finden wir die in einem Tagebuch? In seiner Korrespondenz? Vielleicht im Terminkalender …« Nora nickte. »Können Sie das überprüfen? Gibt es Unterlagen?« »Nat hat seine Korrespondenz selbst erledigt«, sagte Nora langsam. »Aber er war pedantisch. Er hat die Durchschläge aufbewahrt … Ja, ich kann nachschauen.« Sie schob ihre Tasse zurück. »Und zwar gleich!« Sie rutschte aus der Nische und knöpfte sich den Mantel zu. »Wir kommen mit.« Polly gab Chandler einen Schubs. »Dann lassen Sie mich nur erst meinen Wagen holen. Wenn Sie mich vor meinem Haus absetzen würden …« Zu dritt quetschten sie sich in den Jaguar. Chandler hatte keine freie Sicht mehr. Weil dazu noch sein rechtes Bein eingeschlafen war, entging ihm, was als Nächstes geschah. Polly war Noras Anweisungen gefolgt und fuhr durch Seitenstraßen in ein gemütliches Wohngebiet. Aus den Augenwinkeln sah er hinter Noras Schulter weiße Holzhäuser und hohe kahle Bäume vorbeihuschen. »Links, ungefähr in der Mitte des Straßenzugs«, hörte er Nora in ihrem ruhigen, kompetenten Ton sagen. In dem Moment schrie Polly überrascht auf- ein spitzer Schrei, wie ihn Chandler, nur aus einer bestimmten Sorte englischer Filmkomödien kannte. »Heiliger!« »Was ist denn?«, hörte er Nora sagen. »Sie sind an meinem Haus vorbeigefahren!« »Der rote Pinto.« Polly war etwas atemlos. »Schauen Sie rein!« Chandler registrierte ihre Aufregung, konnte aber nichts erkennen. »Der Bandagierte!«, rief Nora aus. »Ich glaube es nicht!« »Was, zum Kuckuck!«, rief Chandler und reckte erfolglos den Hals. »Mein Bandagierter? Er ist hier?« Ihm drehte sich der Magen um. Polly fuhr um die Ecke und gab Gas. »Meine Damen«, brüllte er, »erfahre ich, was hier los ist?« »Ja, Colin«, erklärte Polly betont ruhig. »Es war der rote Pinto, der gleiche, den ich heute früh vor Ihrem Haus gesehen habe … Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann mit bandagiertem Kopf, deshalb denke ich, es ist der gleiche.« Ohne zu bremsen, raste sie um eine weitere Ecke. Seltsamerweise überschlug sich der Wagen dabei nicht. »Mein Gott, verfolgen die uns?« »Nein. Sie haben Noras Haus beobachtet.« »Dann fahren Sie doch langsam!« »Sie brauchen nicht zu schreien«, meinte sie pikiert und ging vom Gas. »Es war ein Adrenalin-Reflex. Die Angst … Ich könnte schwören, dass ich einen Soundtrack gehört habe!« Sie lachte verhalten. »Nicht zu fassen«, sagte Nora. »Die wagen sich an mein Haus! Was erlauben sich diese Gangster!« In der Stille hörte man die drei Scheibenwischer surren. »Wie können sie sich erdreisten …« Ihre Stimme sank in sich zusammen. »Sie sollten mit uns fahren«, bestimmte Polly. »Wir fahren in Nats Büro.«, Die Polizei hatte ihre Untersuchungen beendet, aber der Schock der Tragödie war immer noch zu spüren. Als sie durch den dunklen Eingang traten, konnte man den Hauch des Verbrechens beinahe greifen. Nora machte Licht und zögerte. Dann fasste sie sich ein Herz und führte sie in Nats Privatbüro. Chandler wusste, dass es ihr nicht leicht fiel. Zu seiner maßlosen Überraschung bemerkte er, dass Polly seine Hand hielt. Als er sie ansah, lächelte sie. In der Korrespondenz fand Nora genug Unterlagen, um sich ein Bild zu machen, auf wen sich der alte Mann gefreut hatte: einen Belgier, zwei Franzosen, einen Deutschen, zwei Engländer. Sie alle hatte er gebeten, den letzten Abend des Kongresses für eine Wiedersehensfeier frei zu halten. Er versprach ihnen eine Überraschung, etwas, das die Reise nach Bukarest lohnte, selbst wenn sich sonst nichts ergeben würde. Es gab keinen Zweifel: Die sechs kannten mit Sicherheit den Inhalt des Schriftstücks. »Diesen Teil überlassen wir Ihnen, Miss Thompson«, sagte Chandler. Die Liste mit den sechs Namen lag auf dem hochglanzpolierten alten Schreibtisch, hinter dem Nat Underhill ermordet worden war. »Ich erledige das per Telefon, von Nats Schreibtisch aus«, erwiderte sie. »Als ausgleichende Gerechtigkeit, sozusagen.« Colin lächelte auf sie hinab. »Miss Thompson, Sie haben sich als wunderbare Überraschung entpuppt. Sie waren –« »Krisenzeiten bringen oft das Beste im Menschen hervor«, sagte sie. »Wir kriegen raus, was hier läuft, und warum.« Sie zogen ihre Mäntel über, als Polly sagte: »Noch eins, Nora. Sie können heute Abend nicht nach Hause gehen. Nicht, wenn der rote Pinto dort herumkurvt. Die haben Sie gesucht und suchen Sie jetzt noch … Wir wissen, wie sie Colin behandelt haben. Ich sehe keinen Grund, weshalb sie mit Ihnen sanfter umgehen sollten.« »Hört, hört«, unterbrach Colin ihre Rede. »Sie wohnen im, guten alten Parker House. Und da Kanal 3 offensichtlich von Ihren Nachforschungen profitiert, nehme ich an, es ist im Sinn von Miss Bishop, dass der Sender Ihre Auslagen übernimmt.« Er strahlte Polly an. »Selbstverständlich.« Polly strahlte zurück. »Kommt nicht in Frage!« »Keine Widerrede«, bestimmte Polly. »Wir kommen so gut miteinander aus. Ich bestehe darauf, und damit basta. Führen Sie bitte Ihre Überseegespräche. Kaufen Sie, was Sie übers Wochenende brauchen, und heben Sie die Quittungen auf.« Sie lächelte der grauhaarigen Nora liebenswürdig zu, die mit ihrer Brille nun wirklich wie eine sechzigjährige alte Jungfer aussah – aber wie eine Sechzigjährige voller Elan, die drauf und dran war, jemandem auf unspektakuläre Art die Hölle heiß zu machen. Es war nach drei, als sie Nora ihren Nachforschungen überließen und in Pollys Wohnung zurückkehrten. Der Regen war einem kalten Nebel gewichen, mit schweren Wolken am Himmel, die es frühzeitig dunkel werden ließen. Polly knipste in Küche und Wohnzimmer das Licht an und kniete vor dem Kamin, um ein paar Scheite auf die Asche vom letzten Abend zu schichten. Als Chandler sich auf das weiche Sofa fallen ließ, fühlte er sich müde und geborgen. Er sah, wie sich die Jeans über ihren Schenkeln spannten. »Ich fühle mich wie zu Hause«, bekannte er, während das zusammengeknüllte Papier Feuer fing und die Flammen durch die Holzscheite züngelten. »Kommt mir vor, als käme ich schon jahrelang zu Besuch.« »Machen Sie’s sich ruhig bequem. Entspannen Sie sich. Ich muss zur Arbeit – co-moderieren in der ersten Schicht. Heute geht’s nur ums Reden. Keine Reportage. Falls sie mich für die Spätausgabe brauchen, bleibe ich wahrscheinlich einfach im Studio und esse dort eine Kleinigkeit …« »Rufen Sie mich an, falls Sie bleiben.« Sein Anflug von Sorge, überraschte ihn. »Ich meine …« »Ja?« Sie lächelte ihn von der Seite an. »Naja. Wie Sie schon sagten: Der rote Pinto kurvt da draußen herum. Ich möchte nicht hier sitzen und mir Sorgen machen, weil Sie vielleicht gekidnappt und zusammengeschlagen werden, während Sie sich den Bauch vollschlagen und Schabernack treiben …« »Schabernack treiben?« »Jemand, der bei Stress ›Heiliger!‹ schreit, ist zu allem fähig.« »Ich dusche mich und ziehe mich für die Sendung um«, sagte sie lachend, als sie aus dem Zimmer ging. »Machen Sie ein Nickerchen.« Er musste dringend Brennan anrufen, aber bevor er zum Apparat greifen konnte, war er schon eingeschlafen. Als er um fünf aufwachte, war es dunkel, und sie war gegangen. Er ging ins Bad, Zähne putzen, und überlegte, wer wohl der oder die Benutzer des Rasierwassers sein könnten. Dann telefonierte er von der Küche aus. Brennan war außer Atem. »Wo bist du gewesen? Ich hab in ganz Cambridge nach dir gesucht. Ich bin sogar zu deinem Haus gelaufen, weil ich dachte, dich hätte im Bad der Schlag getroffen.« »Hugh, halt die Luft an –« »Was war denn bei dir los? George zerdeppert am Boden, der Fernseher explodiert, die Kaffeemaschine im Eimer und alles voller Kaffeeflecken … Ich wusste vor Schreck nicht, was ich machen sollte.« »Und was hast du gemacht?« »Gar nichts. Ich wollte erst mal einen Tag abwarten. Was hätte ich denn tun sollen?« Er schnaufte beleidigt. »Heute haben sich Reporter bei uns rumgetrieben, die haben dich gesucht. Und ob du’s glaubst oder nicht: Jemand hat die Wanze aus dem Blumenkasten geklaut! Ich wollte sie mir noch mal ansehen – da war sie weg! Was geht hier eigentlich vor?« Chandler brauchte fast eine Viertelstunde für seinen Bericht., Bei jedem neuen Abenteuer hielt sein Freund die Luft an – was Chandler mit Zufriedenheit registrierte. »Jetzt beantworte mir eine Frage«, sagte er zum Schluss. »Ist heute ein Päckchen für mich gekommen?« Er konnte Brennans Achselzucken beinahe hören. »Keine Ahnung, Colin. Ich habe deine Post nicht durchgesehen. Auf deinem Schreibtisch lag meines Wissens nichts.« »Du warst auch bei mir zu Hause.« »Es hätte auf der Veranda liegen müssen – oder? Da lag nichts, sonst hätte ich’s bemerkt. Ich habe dort gewartet, bis mir klar wurde, dass es nicht aufhören würde zu regnen.« »Ich hab ja nur gefragt. Wir wissen also immer noch nicht, wohin Nat das Päckchen geschickt hat. Es ist der Schlüssel zu allem anderen, Hugh.« »Was wirst du jetzt tun? Weißt du, was ich denke?« »Was denn?« »Du solltest Prosser einweihen. Ich will nicht unken, aber die Sache zieht Kreise. Als Dekan der Fakultät ist er dein Chef, außerdem vertritt er das College. Ehrlich, Colin, du solltest ihn um Rat fragen. An der Uni weiß jeder, dass er im Krieg für den Secret Service gearbeitet hat – Spionagesachen und so was …« Brennan nieste. »Ich weiß, ich weiß. Ich werd’s mir überlegen. Prosser ist aber nicht der Typ, mit dem man Pferde stehlen kann. Er würde nur glauben, ich sei nicht vertrauenswürdig. Man kann nicht sagen, dass er seine Leute verhätschelt.« »Denk einfach mal darüber nach. Er kennt sich aus mit brenzligen Situationen. Wie geht’s denn nun weiter?« »Ich weiß es wirklich nicht. Hoffen wir, dass Nora Thompson etwas findet. Sieht aus, als wäre es die einzige Möglichkeit, zu entdecken, was Nat und Bill Davis im Schilde führten. Ich muss abwarten, wann ich mich wieder nach Hause traue.« »Du wohnst also bei Polly Bishop«, meinte Brennan vieldeutig., »So kann man das nicht sagen …« »Das ist doch ein guter Ausgleich für den Zangenkerl – selbst wenn er sich mit Rasputin abwechseln würde. Und wie ist Polly Bishop nun wirklich?« »Du bist unmöglich, Hugh! Sie ist einfach eine charmante junge Frau.« Brennan platzte fast vor Lachen. »Charmant! Gestern war sie noch ein Monster! Oh, Colin, du korruptes Schwein! Ein Lächeln, ein sanftes Lecken deiner Wunden …« »Halt die Klappe!« »Wie kann ich dich erreichen?« Chandler gab ihm Pollys Adresse und Telefonnummer. »Und, Hugh«, warnte er ihn noch, »sei vorsichtig, wenn du einen roten Pinto siehst.« Chandler sah sich Pollys Nachrichtensendung an, in der sie die Zuschauer informierte, dass es in den Mordfällen Bill Davis und Nat Underhill nichts Neues gab. Endlich einmal blieb sein Name unerwähnt. Als ihm einfiel, dass er nichts zu Mittag gegessen hatte, durchstöberte er ihren Kühlschrank und fand eine tiefgefrorene Pizza, einige tiefgefrorene Steaks, einen Topf Hühnerbrühe, ein Sechserpack Carlsberg, ungefähr zehn verschiedene Käsesorten und ein Ende Leberwurst. Er versuchte so ziemlich von allem. Verflixt, er hatte vergessen, Hugh zu fragen, ob sich in seinem Büro Reporter herumtrieben. Das Telefon klingelte. »Haben Sie meine Sendung gesehen? Oder haben Sie durchgepennt?« »Werte Dame, ich würde niemals schlafen, wenn Sie sich präsentieren!« Es überraschte ihn, dass er so froh war, ihre Stimme zu hören. »Wenn ich nicht wüsste, dass Sie mich hassen, würde ich sagen, das war eine billige lüsterne Zweideutigkeit –« »Wir Harvard-Männer sind nicht lüstern. Manchmal brauchen wir allerdings Energienachschub – was mir leider gerade, zustieß, als ich in Ihrer Küche war.« »Oh-oh«, sagte sie. »Tut mir leid. Wahrscheinlich war alles tiefgefroren.« »Außer der Leberwurst«, bestätigte er nüchtern. »Armer Kerl!« »Ich bin knapp über die Runden gekommen.« »Denken Sie sich einfach, der Preis hat gestimmt.« »Wunderbarer Trost. Ich stehe hier mit knurrendem Magen und warte auf Sie.« »Sie brauchen mich für die Spätausgabe.« Sie machte eine Pause. »Tut mir wirklich leid. Außerdem sind mir Entschuldigungen zuwider. Legen Sie sich doch einfach schlafen auf Ihrem kleinen Sofa. Sie müssen völlig kaputt sein.« »Mach ich vielleicht. Noch was Geschäftliches: Brennan sagt, es ist kein Päckchen für mich angekommen – weder zu Hause noch im Büro. Pech gehabt.« »Hat Nora sich gemeldet?« »Nein.« Sie war ganz aus seinem Gedächtnis entschwunden. »Rufen Sie sie an.« »Mach ich. Wann sind Sie zurück?« »Um Mitternacht. Aber legen Sie sich lieber schlafen, Colin. Sie brauchen nicht auf mich zu warten.« »Polly, alte Kumpeline! Mir fällt’s nicht leicht, das zu sagen, aber ich vermisse Sie.« »Wir sehen uns später«, erwiderte sie nach kurzem Zögern. Chandler grübelte noch über seine Bemerkung nach, als das Telefon erneut klingelte und ihn fast zu Tode erschreckte. Es war Brennan. »Colin«, sagte er sachlich, »du hast dich in was Saublödes reingeritten. Ich meine es ernst. Was ganz Verrücktes …« »Du hast Neuigkeiten, nehme ich an?« »Erraten.« Er holte tief Luft. »Ich musste an das Päckchen denken. Vielleicht war es ja ausgeliefert worden, als ich schon zu Hause war. Ich also zurück ins Büro. Ganz schön, gespenstisch, so ohne eine Menschenseele. Ich schaue mich um, finde aber nichts. Plötzlich läutet das Telefon. Könnte wichtig sein, sage ich mir, und hebe ab. Da ruft doch ein alter Mann aus Maine an, aus Kennebunkport. Er sagt, er heißt Percy Davis, und seine Stimme klingt wie in den Werbespots für Pepperidge Farm. Klar, dass der Name Davis mich stutzig macht, aber der Alte ist raffiniert. Er reagiert nicht auf meinen Vorstoß. Er sagt bloß, dass du ihn so rasch wie möglich anrufen sollst. Im Seafoam Inn. Er hat mir die Nummer gegeben. Ich frage ihn, ob er was hinterlassen will. Du sollst ihn anrufen – nichts weiter. Was hältst du davon?« Vor Aufregung und wegen seiner verstopften Nase atmete er wieder schwer. »Ich rufe ihn mal an. Er muss irgendwie mit Bill Davis verwandt sein, sonst ergibt das keinen Sinn. Es muss aber einen logischen Zusammenhang geben. Ich erkenne ihn nur nicht, und das macht mir Angst.« Er spürte ein Kribbeln im Nacken. In letzter Zeit machte ihm vieles Angst. »Du hast was von Reportern erzählt, Hugh. Was wollten die?« »Das war heute früh, dann wieder am Nachmittag. Zeitungsleute. Die haben dich heute früh im Büro gesucht und sind dann zu deinem Haus gefahren. Am Nachmittag kamen sie zurück. Inzwischen hatten sie gemerkt, dass an der Sache etwas faul war. Sie haben zwar nichts gesagt, aber ich wette, die waren bei dir im Haus und haben den Schlamassel gesehen. Bestimmt dachten sie, du bist tot oder in der Klapsmühle.« »Was haben sie gemacht?« »Na ja, die haben mich ausgequetscht, wo du bist. Das wusste ich ja nicht. Als sie zu penetrant wurden, schnappte ich mir den Spazierstock aus Schwarzdorn und klopfte damit vielsagend auf den Schreibtisch. Dann sind sie abgehauen. Aber ich konnte sie nicht zum Narren halten. Sie haben Witterung aufgenommen. Ein Typ vom Globe meinte, du seist vermisst. Nachdem sie auch Nora Thompson nicht finden konnten, tippten sie auf eine Verschwörung.«, »Haben sie sich wie echte Reporter benommen?« »Sie haben sich wie Arschlöcher benommen, was für sie spricht.« »Nicht wie Fennerty und McGonigle, die von Anfang an unecht wirkten?« »Sie hatten keinen Presseausweis und keine auffallenden Federn im Hutband. Sie klopften keine Sprüche und imitierten nicht Lee Tracy – wenn du das als Beweis gelten lässt. Es waren junge Leute mit Bart, die aufgetreten sind wie Woodward und Bernstein. Meines Erachtens waren sie echt.« »Na gut.« Er hörte Brennan niesen. »Hast du keinen neuen Witz auf Lager?« »So schlimm steht’s mit dir?« »Ja.« »Erinnerst du dich noch an meinen Fortsetzungshelden, Sir Redvers Redvers?« »Klar.« »Also, eines Abends streckte sich Sir Redvers auf seinem Landsitz genüsslich im warmen Badewasser aus, betreut von seinem treuen Kammerdiener Hotchkiss. Nachdem der alte Knacker ausgiebig mit seinen Bötchen und seiner Ente gespielt hatte, die ihn an seine Kindheit erinnerten, in die er ständig zurückzugleiten drohte, bemerkten Hotchkiss und er mit heller Aufregung, dass Sir Redvers’ Glied aus dem Seifenschaum emporstieg wie ein Schiffsmast. ›Gestatten Sie, Sir, dass ich die gnädige Frau Gemahlin hole?‹ – ›Nein, Hotchkiss‹, sagte der alte Knabe, ›holen Sie meine weiten Tweedhosen. Wir schmuggeln den hier ins Dorf!‹« Dem Himmel sei Dank für Brennan. »Noch etwas«, sagte Hugh, nachdem er die Nummer aus Kennebunkport wiederholt hatte. »Ein roter Pinto ist auf dem Heimweg hinter mir hergefahren. Als ich ins Haus ging, fuhr er weiter. Als ich aus dem Vorderfenster sah, fuhr er wieder vorbei – in entgegengesetzter Richtung. Ein feuerroter Pinto. Ich wollte, es dir bloß sagen. Ist vielleicht nur Zufall …« Chandler lief es kalt den Rücken hinunter. Es war kein Zufall. »Gib auf dich Acht.« »Wenn die sich mit mir anlegen, werden sie’s bereuen. Ich habe jetzt immer meinen Spazierstock dabei. Patentierter irischer Schädelspalter, mein Junge. Mach dir keine Sorgen um mich. Wir Brennans sind zäh.« Chandler zweifelte nicht daran. Er hatte ihn vor langer Zeit einmal bei einer Keilerei in einer Kneipe erlebt. Nun trat er ans Fenster und suchte die ganze Länge der Chestnut Street mit den Augen ab. Die Straße lag verlassen in der feuchtkalten Witterung. Unter der Straßenbeleuchtung nahmen die Autos eine unnatürliche Farbe an. Seine Augen blieben etwa dreißig Meter Hügel abwärts an einem Pinto hängen, aber er war gelb oder auf alle Fälle hell. Er ließ die Gardine los und ging zum Telefon, um die Nummer in Kennebunkport anzurufen. An die zwanzig Mal ließ er es läuten: keiner zu Hause. In diesem Küstenbereich mit seinen eisigen Winden und den atlantischen Stürmen war zu der Jahreszeit kein Lokal geöffnet. Percy Davis musste also der Eigentümer sein. Er sah sich den alten Film Laura an, mit Dana Andrews und Gene Tierney, als er Polly die Treppe hochkommen hörte. »Nicht schießen, Colin – ich bin’s!«, rief sie beim Öffnen der Küchentür. Er freute sich wie ein König, als er sie dort stehen sah in ihrem Hosenanzug und dem Schaffellmantel. Lächelnd zwinkerte sie ihm zu. »Ekelhaftes Wetter!« Sie zog Handschuhe und Mantel aus und setzte Kaffee auf. »Was gibt’s Neues?« Während er erzählte, empfand er wieder die Bedrohung: Brennan von Reportern gejagt, der Pinto hinter ihm her, die Nachricht von Percy Davis … Sie verzog das Gesicht. Als er seinen Bericht beendet hatte, war der Kaffee fertig. Sie brachte ihn an den Kamin und stellte eine bauchige Flasche Boggs Preiselbeerlikör dazu. »Vielleicht sollte ich die Pizza in den, Ofen schieben. Angst macht mich hungrig.« Sie ging lachend in die Küche, während er im Kamin stocherte und Feuer machte. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und wärmte ihre Hände an der Tasse. »Ja«, seufzte sie, »Sie sind jetzt Teil der Geschichte, Professor. Denn darauf läuft es hinaus, es geht um Geschichte … und wir sind darin gefangen. Ein altes Erinnerungsstück taucht auf, nach wer weiß wie vielen Jahren, und plötzlich werden Menschen getötet.« »Moment mal«, protestierte er, »Geschichte ist mein Metier, nicht Ihres. Als Absolventin der Journalistenschule haben Sie Momentaufnahmen zu beurteilen. Ihre Zunft betrachtet jede Kleinigkeit als Geschichte. Es sind aber nicht mal Fußnoten. Geschichte besitzt Würde, Tiefe, Bedeutung.« Dana Andrews war spät nachts allein in Laura Hunts Wohnung. Am Fenster rann der Regen hinab, und er verliebte sich gerade in ihr Porträt. »Hier geht es um einen zufälligen Akt der Gewalt, nicht um Geschichte. Das sollten Sie nicht durcheinander bringen.« Aber eine innere Logik, die er bis jetzt noch nicht deuten konnte, widersprach ihm. Über die Vase mit den Trockenblumen hinweg sah sie ihn ungläubig an. »Diesen Albtraum nennen Sie einen zufälligen Akt der Gewalt? Sie wissen genau, dass es dafür einen Grund gibt, eine bestimmte Struktur. Und was immer es auch sein mag, hat mit dem Dokument zu tun, dessen Herkunft Sie – der berühmte Historiker – verifizieren sollten.« Natürlich hatte sie damit Recht. Er hörte ihre Worte als Echo seiner Unterhaltung mit Brennan. Er wollte die Diskussion fortsetzten, als Ezzard aus dem Schlafzimmer kam und sie von der Diele aus müde anstarrte, als wollte er sagen, dass vehement geführte abstrakte Diskussionen mitten in der Nacht ein bisschen zu weit gingen. Er entblößte seine Zähne und leckte sich die Lippen. »Übrigens habe ich nicht die Journalistenschule absolviert, Colin. Ich habe in Wellesley studiert, und Geschichte war mein, Hauptfach.« Sie stand auf. »Ich zieh mir was Bequemeres an. Könnten Sie die Pizza aus dem Ofen holen und sie in Stücke schneiden? Stellen Sie sich vor, es wäre ich.« Als er mit Pizza und Bier zurückkam und ihm schon bei dem Gedanken an seinen Mageninhalt leicht übel wurde, war sich Gene Tierney gerade nicht schlüssig, ob sie sich an Vincent Price wegwerfen sollte. Clifton Webb riet ihr davon ab. Das war ein guter Rat; denn abgesehen von seinen übrigen Defiziten hätte Vincents Südstaatenakzent ihr das Zusammenleben auf Dauer unmöglich gemacht. Polly saß wieder auf dem Sofa und roch fantastisch. Sie griff nach einem Stück Pizza und kühlte es durch Pusten. Sie griff das Thema wieder auf. »Klar wollte ich Historikerin werden. Aber dann holte mich die Wirklichkeit ein – im Gegensatz zu dem Fantasiefach, das ich studiert hatte. Mir wurde klar, dass ich viel lieber im Chaos der Geschichte leben wollte, statt sie zu betrachten, nachdem kein Leben mehr in ihr war. Dieser Entschluss hat mein Dasein verändert. Schauen Sie sich das an.« Sie sprang auf und nahm ein kleines gerahmtes Objekt von der Wand. »Sehen Sie: Es ist eine handgeschriebene quittierte Rechnung für einen Fingerhut und eine Cremedose. Gemacht und verkauft von Paul Revere, der auch die Rechnung geschrieben hat. Das Stück Papier kostet zweitausend Dollar, und es ist jeden einzelnen Cent wert … Für mich. Paul Revere hat sich täglich mit solchen Dingen beschäftigt …« Sie schwieg, um in dem Gedanken zu schwelgen. Dann umfasste sie mit einer Armbewegung das Zimmer. »Bei meinem Hezekiah-Stoddard- Haus empfinde ich ähnlich. Deshalb wollte ich auch nie als Korrespondentin arbeiten. Boston liegt mir im Blut. Hier lebe ich mitten in der amerikanischen Geschichte. Die Geschichte von heute ist meine Arbeit, die Vergangenheit um mich herum.« Sie sah auf ihn hinab. »Eine wundervolle Sache, finden Sie nicht? Sich vorzustellen, dass Paul Revere das hier in der Hand, hielt, die Zahlen notierte … Für mich ist das die amerikanische Revolution. Das meine ich, wenn ich sage, ich lebe mitten in der Geschichte und Sie betrachten sie. Washingtons großartige Strategie und die Grundsätze der Revolution interessieren mich wahrscheinlich weniger als die Belege, die Einzelheiten.« »Jedenfalls ist es ein sehr schönes Stück«, sagte er leise. Ihr Enthusiasmus bewegte ihn auf unerwartete Weise. Lächelnd leckte sie sich Pizzareste von den Lippen. Sie hatte so viel Spaß an ihrer Arbeit. Ihm kamen dabei nächtelange Gespräche mit Studienfreunden im Hayes Bickford auf dem Square in den Sinn. Sie hatten literweise Kaffee getrunken und sich mit den ersten großen Fragen ihres Lebens auseinander gesetzt. Meistens war eine Radcliffe-Studentin dabei. Sie trug ein Halstuch und saß schniefend mit einem zerknüllten Taschentuch auf der anderen Tischseite. Das Wetter war immer scheußlich. Fünfundzwanzig Jahre später betrachtete er diese kluge Frau, deren Geist eigenen Wegen folgte, die keine Angst vor Diskussionen hatte und zur gleichen Zeit lachen konnte, und er fragte sich, wie stark er sich verändert hatte. Hatte er in den fünfundzwanzig Jahren etwas dazugelernt? Oder hatte er die Zeit einfach in der warmen, schützenden Obhut der Universität verbracht, die immer da war, um ihn zu trösten und ihm die Sicherheit des Beständigen zu geben? »Ihre Theorien über eine geordnete Form der Geschichte kann ich jedenfalls nicht mittragen«, meinte sie heiter. Mitternacht war längst vorüber, und Clifton Webb lauerte vor Gene Tierneys Wohnung im Dunkel, als Dana Andrews die Wunderbare, Verletzliche allein ließ. »Sicher ist alles nur Zufall.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit ihren schlanken Fingern durch das dichte Haar. »Wer immer den Lauf der Geschichte bestimmt, hat nicht mehr Einfluss auf das Edle im Schicksal der Menschheit und auf ihren unvermeidlichen Fortschritt als ein Regiment von, Kürbisköpfen.« »Das mag richtig sein«, erwiderte er, »aber es gibt eine ganze Reihe von äußeren Faktoren, die das Rad der Geschichte bewegen: politische Gegebenheiten, Einflusssphären, der technische Fortschritt. Ich kann mir nicht helfen: Ich glaube, unsere Geschichte hat Größe. Der Mensch entwickelt sich in die richtige Richtung, denn seine Instinkte sind auf Vernunft, Harmonie und Frieden gerichtet, ganz gleich, auf welchen Umwegen er sein Ziel erreicht.« Er empfand die Wärme ihrer Debatte. Es war, als würden sie den Puls des Lebens spüren. Über Dinge zu reden, die einem etwas bedeuten, ist eine unter die Haut gehende Erfahrung. Als sie ihm die Augen sah, fühlte er sich wie elektrisiert, so, als hätten sie sich geliebt. »Ich behaupte, die Geschichte ist ein einziger Witz.« Sie stand auf und kam zu ihm. »Aber nehmen Sie’s nicht so schwer, Professor.« Sie nahm seine Hand und strich mit ihrem Daumen darüber. »Ich habe Sie gern, weil Sie das Beste daraus machen – das Beste aus einem schlechten Scherz … Hoffentlich haben Sie Recht. Gut, dass Sie die jungen Leute unterrichten und nicht ich. Vielleicht sind sie unsere allerletzte Hoffnung. Wenn sie schlucken, was Sie Ihnen erzählen, und wenn die Vernunft siegt, könnte sich Ihre Prophezeiung erfüllen. Dann habe ich Gott sei Dank das Nachsehen.« Sie kniete sich kurz vor ihn hin und küsste ihn. Ihr Kuss war weder flüchtig noch leidenschaftlich – wie nach dem Liebesakt. Genau so fühlte sich Chandler, als er sie ins Schlafzimmer gehen sah. Seltsam …,SAMSTAG
Als Chandler am nächsten Morgen aufwachte, saß Polly auf seinem Sofa. Sie trommelte mit einer zusammengerollten Zeitung auf den Tisch und rief ständig seinen Namen. »O Gott«, murmelte er, »seien Sie still!« »Ich konnte nicht warten, bis Sie von selbst aufwachen«, erklärte sie zur Entschuldigung. Hübsch und ausgeruht sah sie aus in ihrem Bademantel. Das Haar trug sie nach hinten gebürstet, ihre Augen glänzten. Er selbst kam sich vor wie eine alte Tennissocke. »Ich dachte, Sie würden das hier ganz gern sehen.« Sie hielt ihm Seite 3 der Morgenzeitung vor die Nase. HARVARD-PROFESSOR VERSCHWUNDEN? GESUCHT ZUR AUSSAGE IN ZWEI MORDFÄLLEN Neben der Schlagzeile starrte ihn sein eigenes Gesicht ziemlich verschwommen und hochmütig an. Sie gab ihm die Brille, während er sich mühsam aufrichtete und die Decke bis unters Kinn zog. »Wer sucht mich, verdammt noch mal? Klingt, als würde ich verdächtigt.« Er konnte sein Grinsen nicht verbergen. »Es klingt irreführend. Sie werden nicht von der Polizei gesucht, sondern von den Reportern.« »Mehr als irreführend, würde ich sagen.« Der Artikel enthielt nichts Unerwartetes: Spekulationen, Chandlers Verschwinden, eine Verbindung zu Hugh Brennan. »Du lieber Himmel, sie sind sogar zu Prosser gegangen«, murmelte er und erinnerte sich daran, wie Brennan auf ihn eingeredet hatte, den Dekan anzurufen. Prosser hatte den Reportern gesagt: »Professor Chandler ist ein erwachsener Mann. Vielleicht ist er übers Wochenende verreist, um Verletzungen seiner Privatsphäre zu entgehen. So weit ich sagen kann, ist Professor Chandlers, Verwicklung in diese unangenehme Affäre einzig und allein das Resultat unverantwortlicher Spekulationen der Medien. Ich bin von Herzen froh, dass er nicht erreichbar ist.« Ganz der alte Prosser. Polly folgte ihm ins Bad und sah ihm von der Türschwelle aus beim Rasieren zu. Schließlich schob er sie raus und schloss die Tür, weil er duschen wollte. Kaum zu glauben: Sie wuchs ihm ans Herz. Die Stimme am andern Ende war trocken und zerbrechlich – wie Kreide. Und geschäftsmäßig. Percy Davis stammte aus Maine, wo man schnell zur Sache kam. Chandler nannte seinen Namen und sagte, dass er am Abend zuvor schon angerufen hatte. Er fragte, worum es ging. »Ich bin Bill Davis’ Großvater«, erklärte die herbstliche Stimme. »Es gibt keinen Anlass, mich zu trösten, Professor – keinen. Bill ist tot, und sicher tut es Ihnen leid. Ich rufe wegen eines Päckchens an, das ein gewisser Underhill hier ins Gasthaus geschickt hat. Der ist jetzt auch tot. Ziemlich unbefriedigend, würde ich sagen. Ich habe das Päckchen nicht aufgemacht, aber es lag ein Brief bei. Wenn Sie nichts dagegen haben, lese ich Ihnen den vor.« »Bitte«, sagte Chandler. Das Geheimnis lüftete sich, und ihm wurde flau im Magen. Polly saß am Küchentisch und starrte ihn an. »›Ich glaube, dass Ihr Enkel Bill, ein netter junger Mann und ein Freund von mir, ermordet wurde, weil er ein so seltsames und wertvolles Dokument besaß, dass für diejenigen, die es unter allen Umständen in ihren Besitz bringen wollten, ein Menschenleben nur ein zeitweiliges Hindernis darstellte. Im Augenblick erscheint es mir das Beste, das Dokument aus dem Verkehr zu ziehen, weil es einfach zu risikoreich ist, es zu behalten. Niemand weiß, dass ich es Ihnen schicke. Zwangsläufig werden die, die es haben wollen und bereit sind,, dafür zu morden, noch gefährlicher, wenn sie entdecken, dass ihre Beute verschwunden ist. Aber ich bin in einer Zwangslage, und ich kann es nicht direkt an die Person schicken, die es früher oder später verifizieren muss: Professor Colin Chandler von der Harvard-Universität. Er ist ganz offensichtlich der logische Empfänger; ich muss auf seine Sicherheit Rücksicht nehmen. Sein Gutachten über die Echtheit des Dokuments ist unbedingt erforderlich. Ich werde Ihnen demnächst sagen, was mit dem Päckchen geschehen soll. Bitte unternehmen Sie nichts, bevor Sie von mir hören. Sollte mir jedoch etwas zustoßen, so versuchen Sie bitte, sich so diskret wie möglich mit Chandler in Verbindung zu setzen.‹« Percy Davis schwieg einen Augenblick. »Eigenartig, nicht? Klingt wie ein Testament. Das wäre alles, Professor. Ich habe mich diskret mit Ihnen in Verbindung gesetzt.« »Wo ist das Päckchen jetzt?« »Hier, mitten auf dem Küchentisch. Es liegt direkt vor mir.« »Ich schau’s mir mal an, Mr. Davis.« »Vorsicht, junger Mann. Nat Underhill ist etwas zugestoßen – als hätte er’s erwartet. Schätze, Sie können das als Warnung nehmen. Ich zumindest –« »Ja, ist mir klar. Ich hatte schon Besuch von den Kerlen, die meines Erachtens Bill und vielleicht auch Nat Underhill auf dem Gewissen haben.« »Tatsächlich?«, meinte er trocken. »Und Sie leben noch. Sind wohl nicht von gestern, wie?« »Ich bin untergetaucht, wie man zu John Buchans Zeiten sagte«, erwiderte Chandler. »Ich will nicht wissen, wo Sie sind. Mit dem Päckchen hier auf dem Tisch habe ich genug am Hals.« Er lachte bitter. »Ihren Hinweis auf John Buchan habe ich übrigens verstanden. Die Neununddreißig Stufen … Mr. Memory vergesse ich nie. Hab mal so einen Gedächtniskünstler auf der Bühne gesehen, oben in Neuschottland, in Halifax … Wie geht’s denn jetzt weiter?«, »Wir kommen nach Kennebunkport –« »Wir?« »Eine Freundin. Wir fahren zusammen rauf.« Er sah Polly an. Sie nickte mit einem breiten Lächeln, als wollte sie einem begriffsstutzigen Studenten zeigen, na, endlich hast du’s kapiert. »Je früher, desto besser«, sagte Percy Davis kurz. »Sie wollen sich ja nicht dort in Boston umbringen lassen. Könnte durchaus passieren …« »Wir versuchen, heute Abend bei Ihnen zu sein. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen.« Die Leitung war tot. »Sagen Sie, was los ist!« Polly sprang auf. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und lief im Kreis um den Tisch. Chandler erzählte von Nats Brief. »Wunderbar!« Sie packte ihn am Arm. »Wir haben’s beinahe geschafft! Großer Gott, heute Abend wissen wir, worum es geht …« Sie warf ihm einen beunruhigten Blick zu. »Kommen Sie mit.« Sie zog ihn ins Wohnzimmer. »Ich wollte Ihnen das Frühstück nicht verderben.« Vorsichtig öffnete sie den Vorhang einen Spalt breit. »Ich habe sie entdeckt, während Sie unter der Dusche standen.« Am Ende der Straße stand ein roter Pinto. Er spürte, wie sich eine seltsame Starre unterhalb seines Zwerchfells ausbreitete. »Kommen Sie, wir können nicht wegen jedes kleinen roten Autos die Panik kriegen. In Boston müssen Tausende roter Pintos herumfahren.« »Aber nur einer mit dieser Nummer.« »Sie haben sie überprüft? Sie hatten wirklich den Nerv –« »Egal, was ich hatte oder nicht«, meinte sie ungeduldig. »Es ist die gleiche Nummer, glauben Sie mir.« »Mein Gott«, murmelte er und fuchtelte mit den Armen wie ein Verkehrspolizist oder ein Applaus-Dirigent, »bis Sie gestern, zu meinem Haus fuhren, hatten wir nicht mal was von dem verdammten Pinto gehört … Ja, das ist es! Das muss es sein!«, rief er plötzlich. »Was meinen Sie?« »Wie die uns hier gefunden haben! Kommt Ihnen das nicht komisch vor, dass die uns so rasch aufgestöbert haben?« O ja, langsam blickte er durch bei diesen Mantel-und-Degen- Geschichten – oder wie man das jetzt nannte. Auf jeden Fall hatte er dazugelernt. »Ja, irgendwie schon. Hören Sie doch auf herumzufuchteln!« »Die haben Sie nämlich gestern früh vor meinem Haus gesehen! Ihr berühmtes Gesicht, Schätzchen. Sie müssen Sie erkannt haben. Wahrscheinlich haben sie sich jeden Abend Ihre Kommentare zu ihrer Arbeit angehört.« »O je«, seufzte sie, »das ist die Strafe für hohe Einschaltquoten. Grässlich, auf Schritt und Tritt erkannt zu werden.« »Ich meine es ernst, Sie Quatschkopf.« Er spähte noch einmal aus dem Fenster. Der Himmel war grau, ab und zu zeigte sich ein blaues Fleckchen, das rasch wieder hinter den Wolken verschwand. Auf der Straße war alles ruhig – ein verschlafener Morgen. Kalt und wie dafür geschaffen, zu Hause am Feuer zu sitzen. So weit er sehen konnte, saß niemand im Pinto. Aber er hatte einen schlechten Blickwinkel: In der Windschutzscheibe spiegelten sich die Platanen an der Bordsteinkante, die Ziegelfassaden und ein Stückchen grauer Himmel. »Sie wissen jetzt, dass Sie mit mir gemeinsame Sache machen. Sie stecken also genauso tief in der Tinte wie ich. Mitgefangen, mitgehangen, verstehen Sie? Ich könnte Ihnen verraten haben, wo das Dokument ist, oder es Ihnen gegeben haben. Sie sind als Mitwisserin verdächtigt … Ich weiß nicht, ob ich darüber froh sein soll. Geschieht Ihnen zwar recht, weil Sie mich mit reingezogen haben, aber mir geht es gegen den Strich, jemanden in Gefahr zu bringen –«, »Sie denken an den Mann mit der Zange –« »Genau.« »Auch, wenn die betreffende Person es verdient hat und das Letzte ist. Mehr oder weniger.« »Ziehen Sie sich lieber an, statt sich über mich lustig zu machen. Wenn die Banditen nicht im Auto sitzen, wo sind sie dann? Auf dem Weg hierher? Überlegen Sie mal …« Aber sie war schon auf dem Weg ins Schlafzimmer. Was nun? Er machte ein paar Schritte in Richtung Fenster. Nein. Man muss sich ein kleines rotes Auto nicht ständig von Neuem anschauen. Die Frage war, wie ging es weiter? Sie mussten hier raus, aber mit dem Jaguar konnten sie nicht weg, ohne gesehen zu werden. Außerdem durften sie nicht das Risiko eingehen, den roten Pinto zu Percy Davis in Kennebunkport zu führen. Als Polly in französischen Patchwork-Jeans und einem marineblauen Pullover mit V-Ausschnitt und dunkelbraunen Paspeln wieder kam, betrachtete er sie wohlgefällig und pfiff durch die Zähne. »Sie wollen mich bloß ärgern«, sagte sie auf dem Weg in die Küche. »Ich ignoriere es einfach.« »Sie haben aber auch einen tollen Hintern.« Er lief ihr bewundernd hinterher. »Yes, Sir. So sagen wir Harvard-Leute, wenn wir uns wünschen, wir könnten lüstern gaffen wie das gemeine Volk.« »Sie haben ja absolut Recht, was meinen Arsch angeht«, erklärte sie. »Das weiß jeder.« Sie holte ein Gießkännchen aus dem Schrank und fing an, ihren Pflanzen Wasser zu geben. »Wir müssen uns jetzt überlegen, wie wir hier rauskommen«, sagte er. »Und nach Kennebunkport. Der Jaguar fällt flach. Zu auffällig und leicht zu verfolgen. Wir können auch nicht einfach zur Tür rausspazieren.« Er folgte ihr in die Küche. Sie stellte den Gießer in den Schrank mit der blauen Tür und nahm eine dicke Glas-, Sprühflasche heraus, die sie mit Leitungswasser füllte. »Sie wissen, dass wir hier sind, aber sie haben uns noch nicht überfallen und umgenietet. Wir können also annehmen, dass sie uns beobachten.« »Vielleicht warten sie darauf, dass ich das Haus verlasse. Dann können sie reinkommen und Sie umnieten.« Sie sprach in einem heiteren Singsang, während sie den Farn besprühte. »Aber wenn man ihre diversen Verletzungen in Betracht zieht, werden sie Sie wahrscheinlich erst ein bisschen foltern.« »Wusste ich doch, ich kann auf Sie zählen, wenn es darum geht, die Lage einzuschätzen. Ihr Szenario ist allerdings rein hypothetisch, weil Sie ja mit mir nach Maine fahren. Hören Sie mit dem Gießen und Sprühen auf. Offenbar sind sie darauf aus, uns zu folgen, damit wir sie zu diesem Dingsbums führen, dem großen Geheimnis –« »Dem Macguffin.« »Dem Macguffin«, wiederholte er. »Wissen Sie, warum Hitchcock die Gimmicks in seinen Filmen so bezeichnete?« »Nein, Professor, aber ich werde es sicher gleich hören.« »Nicht von mir, und nicht mit der Einstellung.« Sie stellte den Sprüher auf dem Fernsehapparat ab. »Bitte!«, bettelte sie. »Keine Chance.« Sie schnappte sich den Sprüher und richtete ihn aus reinem Übermut auf Ezzard. Der schenkte ihr einen vernichtenden Blick und nieste. Als sie an Chandler vorbei ging, besprühte sie ihn ebenfalls. »Scheiße!«, rief er. »Meine Brille! Ich hasse so was.« »Gut.« Sie stellte den Sprüher weg. Dann lehnte sie sich an die blaue Tür und sagte ihm, wie sie ungesehen aus der Wohnung flüchten konnten. Am späten Nachmittag, nachdem er Brennan angerufen und verschiedene andere Dinge erledigt hatte, zog er sich den, Burberry-Mantel über und wickelte sich einen ihrer Schals um den Hals. Er trug ihre Segeltuchtasche und folgte ihr über eine enge dunkle Treppe am hinteren Ende des Eingangs, an dem ihn der Taxifahrer abgesetzt hatte. Sie hatten das Licht in der Küche und im Wohnzimmer angelassen, das Radio spielte in normaler Lautstärke. Nun tasteten sie sich im Dämmerlicht der Diele voran. Es gab eine kaum benutzte Tür unter der Treppe, die auf selten geölten Scharnieren quietschte. Sie ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über die rohen Ziegelwände wandern, die mit einer dicken Staubschicht und Spinnweben bedeckt waren – Ablagerungen von Jahrhunderten. »Die Birne ist schon vor Jahren kaputt gegangen. Kein Mensch hat sie je ersetzt«, meinte sie. Die schmale Steintreppe schien für eine wohl inzwischen ausgestorbene Zwergenrasse gebaut zu sein. Sie endete nicht im Keller, sondern in einem kleinen Raum mit niedriger Decke, in dem es nach Erde und Moder roch. »Was ist das denn?« Er grummelte gegen seine Platzangst an und schob eine herabhängende Spinnwebe weg, die aber wieder zurückschwang und sein Gesicht streichelte. »Das ist nichts anderes als ein geheimer Gang«, flüsterte sie über die Schulter nach hinten. »Ich habe ihn selbst entdeckt, als ich mal nach einem Platz für die Mülltonnen suchte. Man findet ihn nicht so schnell, weil die Tür gut eingepasst ist. Der Riegel ist im Holz versenkt, die Scharniere sind innen.« Sie blieb stehen. »Hören Sie etwas quieken? So wie eine Ratte?« »Nein. Ich hatte mit runterhängenden Ranken zu kämpfen.« »Na, dann tue ich so, als hätte ich nichts gehört.« Sie richtete den Lichtkegel wieder nach vorn in die Dunkelheit. »Wir sind jetzt unter oder zwischen den Häusern der Chestnut und der Beacon Street – rechts und links von uns. Der Gang führt nach unten. Kurz vor der Querstraße kommen wir über ein paar Stufen in einen Hinterhof zwischen hohen Häusern und Garagen. Ziemlich merkwürdig. Aber ich glaube nicht, dass der, Gang heute noch je benutzt wird.« Sie drehte sich um und ging wieder dem Lichtschein nach. »Vielleicht diente er früher einmal Lieferanten oder Bediensteten für geheime Botengänge oder zu anderen Zwecken. Egal. Uns hilft er jedenfalls aus der Klemme.« Sie blinzelten, als sie in die Sackgasse zwischen moosbewachsenen Steinfassaden hinaustraten, und waren dankbar für die kalte frische Luft. Der Wind in den Bäumen über ihnen brachte penetrante Feuchtigkeit mit sich. In der kleinen Straße herrschte wenig Verkehr. Rasch überquerten sie die Beacon Street in Richtung Grünanlage und eilten über den Wiesenhang. Unten blieben sie außer Atem stehen. Das große Kneippbecken lag leer und betongrau zwischen den hügeligen Grünflächen des Golfplatzes. Sie suchten unter einem riesigen Baum Schutz und blickten ängstlich zum Hügel hinauf. Natürlich war der rote Pinto nicht zu sehen. »Sie treffen also Nora im Parker House«, keuchte er, »ich treffe Hugh und hole Sie vor dem Faneuil-Blumenstand ab, an der Ecke …« »Ja, ja.« Sie fasste ihn am Arm. »Seien Sie vorsichtig. Die Kerle sind überall.« Im Grau des Nachmittags erschien ihm die Iris ihrer Augen riesengroß und fast schwarz. Sie drückte seinen Arm und lächelte krampfhaft. »Keine Sorge. Suchen Sie Schutz in der Menge, wenn Sie zum Hotel gehen. Und nehmen Sie sich ein Taxi zur Faneuil Hall. Lassen Sie sich mit dem Taxifahrer auf nichts ein. Geben Sie ihm fünf Dollar –« Sie nickte. »Ich war schon mal alleine unterwegs.« Er sah ihr nach und sagte sich dabei, dass ihr keine Gefahr drohte. In knapp zehn Minuten würde sie in Noras Zimmer sein. Er wandte sich um, fasste die Segeltuchtasche entschlossener und schlug den Weg zum Ritz-Carlton ein – quer durch die ganze Grünanlage. Auf der gewölbten Brücke über den Froschteich kamen ihm flüchtig die Schwanenboote in den Sinn,, die in wenigen Wochen sanft über das stille, glasklare Wasser ziehen würden. Es war lange her, dass er mit einem solchen Boot gefahren war. Er hatte auch schon lange nicht mehr die Pärchen betrachtet, die sich am grasbewachsenen Ufer ausgestreckt hatten, oder Spaß an den Enten gehabt oder an der Farbenpracht der Blumenbeete. Die Harmlosigkeit eines solchen Nachmittags unterschied sich beängstigend von der Gegenwart. Polly würde Freude daran haben, da war er sich sicher. Vor ihm erhob sich die gigantische Reiterstatue von George Washington. »George, mein Alter«, sagte er, »was ist nur aus deinem Land geworden?« Er sah hinauf in das edle, entschlossene Gesicht der Person, die einst Weitblick besessen hatte, aber nun für immer und ewig blind war. Die Statue hatte Wasserflecken. Er schien der Einzige zu sein, der George bemerkte – und mit Sicherheit der einzige Fußgänger, der mit ihm redete. Auf seiner Rolex war es zehn vor vier. Vierzig Minuten bis zum vereinbarten Treffen mit Hugh. »George«, sagte er, »ich tue mein Bestes.« Er überquerte die Arlington Street und beschloss, sich am Ritz-Carlton nicht in die Warteschlange für ein Taxi einzureihen, sondern kämpfte sich gegen den Wind über die Newberry Street bis zur Ecke Boylston durch. Pech gehabt! Dann lief er die Boylston Street entlang, ging an der Trinity Church auf die andere Seite und wurde fast umgeweht von dem scharfen Wind, der über den offenen Copley Square blies. Er wartete neben der eisigen Fassade des John-Hancock-Gebäudes. Schließlich gelang es ihm, sieben Minuten nach vier ein Taxi anzuhalten, das in die richtige Richtung fuhr. Gleichzeitig schwitzend und frierend lehnte er sich zurück und gewöhnte sich langsam an die aufwühlende Mischung aus Angst und Erwartung, die sich in seinem Magen ausbreitete. Polly war jetzt bestimmt schon bei Nora. Der riesenhafte Indianer am Boston Museum of Fine Arts, begrüßte ihn schweigend mit ausgestreckten Armen. In einer Wolke giftiger Abgase entfernte sich das Taxi. Eine Straßenbahn keuchte heran. »Hallo«, sagte er zu dem Indianer und fragte sich, ob es einen Tagesrekord gab für Gespräche mit Reiterstatuen. »Schöne Grüße von George aus den öffentlichen Anlagen …« Er bezahlte und ging durch die Sperre, dann weiter über die lange hallende Treppe bis zur ägyptischen Sammlung. Keine Spur von Hugh. Chandler lief durch die Räume, die er fast für sich allein hatte. Der Museumswärter gähnte und lächelte müde am Ende dieses langweiligen Samstags. Chandler wartete in der Nähe von Lady Sennuwy, der schönsten Frau der Welt. Viertausend Jahre alt, und immer noch die Schönste … Eine Viertelstunde später rumpelte Brennan durch die Tür. »O Gott«, schnaufte er und wischte sich die Nase. »Tut mir leid, dass ich so spät komme. Bei Avis gab’s ’ne Panne. An der blöden Kiste war ’ne Sicherung durchgebrannt. Wie geht’s dir denn?« »Gut. Der Wagen steht unten?« »Ja. Sag mal, Colin, hast du mit der geredet?« Er deutete mit dem Daumen auf Lady Sennuwy. »Mach dich nicht lächerlich.« »Ich bin ein einziges Nervenbündel«, verkündete Brennan. Er unterdrückte ein Niesen. »Aber auf perverse Art macht’s auch Spaß. Ich habe einen braunen Wagen genommen. Braun und unauffällig. Weiß nicht mal, welche Marke. Sag mal, bist du dabei, irgendeinen Blödsinn zu machen? Was Gefährliches?« »Was soll ich dazu sagen?« Chandler zuckte die Achseln. »Ich bin da reingeschlittert. Auf Abenteuer wie diese kann ich verzichten, wenn du das meinst. Aber ich kann Percy Davis nicht ignorieren, oder? Es geht um ein Vermächtnis. Zwei Menschen sind gestorben, und sie haben mir dieses Ding auf dem Küchentisch in Kennebunkport hinterlassen. Ich kann nicht so tun, als ginge mich das nichts an.«, Brennan nickte düster. Offensichtlich war er nicht überzeugt. »Hast du die Kerle im roten Pinto noch mal gesehen?« »Nicht, seit sie an meinem Haus vorbeigefahren sind. Es kann aber auch ein anderer roter Pinto gewesen sein.« »Glaubst du an den Weihnachtsmann? Im Augenblick stehen sie vor Pollys Haus und warten auf Gott-weiß-was.« Brennan suchte nach seinem altgedienten Kleenex und rubbelte an seiner roten Nase. »Es ist kaum zu fassen …« »Aber Dank deiner Hilfe und des Schlittens von Avis haben wir sie jetzt abgeschüttelt. Komm, gehen wir.« Als sie aus dem Haupteingang traten, war es schon dunkel und leicht neblig. Brennan gab ihm die Schlüssel und führte ihn zu dem braunen Wagen auf dem verlassenen Parkplatz, auf dem das Wasser traurig in den Pfützen stand. »Viel Glück«, wünschte ihm Brennan hustend. Er hatte den weichen Filzhut tief über die Ohren gezogen. Seine Nase war verstopft, und er sah aus wie ein Häufchen Elend. »Sei vorsichtig.« »Kopf hoch«, sagte Chandler, während er die Segeltuchtasche auf dem Rücksitz verstaute. »Geh heim und pflege deine Erkältung. Ich melde mich.« Sie schüttelten sich die Hand. »Wenn wir erst mal wissen, was Sache ist, kommt alles wieder ins Lot.« Als er den braunen Wagen auf die Straße lenkte, sah er Brennans untersetzte Gestalt im Regenmantel an der Straßenbahnhaltestelle stehen. Im Scheinwerferlicht blickte er mit rot unterlaufenen Augen auf und sah dabei aus wie ein riesiger wilder Eber. Chandler fuhr winkend zurück in die City. Die behäbige Gestalt seines Freundes verlor sich rasch im nächtlichen Dunkel. »Herrgott noch mal, mein Gesicht bringt mich um!«, jammerte Ozzie. Sein Doppelkinn schwabbelte, als er mit gekrümmten Fingern über den Verband auf seiner linken Gesichtshälfte fuhr., »Fühlt sich an, als wäre meine Haut ’ne einzige Blase.« Er stöhnte leise vor sich hin, während er an seinem letzten Zigarillo mit Kirschgeschmack nuckelte – was seiner Kurzatmigkeit nur förderlich war. »Aber das kümmert dich einen Dreck.« »Stimmt nicht«, keuchte Thorny, »aber das Sprechen macht mir Mühe, wie du weißt. Also lass mich in Ruhe. Außerdem ist deine Haut unter dem Verband eine einzige Blase. Und dir werden die Haare ausfallen. Also halt die Fresse.« Er legte das zerfledderte, fleckige Exemplar von Woodwards und Bernsteins Amerikanischer Alptraum auf dem Armaturenbrett ab und starrte auf Polly Bishops erleuchtetes Erkerfenster. Der graue Tag war einem dunklen und feuchten Abend gewichen. Thorny vermutete, dass ihm sein Brustkorb genauso wehtat wie die Verbrühungen seines Partners. Der enge kleine Wagen war für sie zur Folterkammer geworden. Ein langer Tag – aber was noch schlimmer war: Er hatte Angst, dass Ozzie durchdrehte. »Halt du doch die Fresse«, brummte der. »Komisch«, meinte Thorny. »Ich habe schon stundenlang keinen Schatten da oben gesehen.« »Vielleicht sind die in der Kiste«, stöhnte Ozzie und verlagerte schwerfällig sein Gewicht. Der Sitz knarrte. »Ich würde das Weib auch gern mal flach legen.« Seine Finger fuhren wieder hoch. Die blassen Augen funkelten irre. »Der Jaguar ist aber noch da.« Thorny spann seinen Gedanken weiter. »Wie, zum Teufel, wären die raus gekommen? Und wieso sollten sie sich klammheimlich davonschleichen? Sie wissen ja nicht, dass wir hier sind …« Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Es strengte ihn fürchterlich an, die Lage zu überdenken, ohne zu atmen. Atmen war die Hölle. »Bei dem Schwein musst du mit allem rechnen.« Ozzies Gesicht und Kopfhaut fühlten sich an, als würden die Blasen aufplatzen. Es juckte, als ginge die Haut ab. Er zog zum letzten, Mal an dem Zigarrenstummel und warf ihn aus dem Fenster. »Vielleicht haben sie uns bemerkt. Wieso auch nicht? Mir ist ganz schlecht vor Hunger.« Er fischte ein Plastikfläschchen aus der Manteltasche und nahm eine Schmerztablette. »Wenn sie uns entwischen, gibt uns der Alte die Kugel.« Thorny trommelte weiter mit den Fingern. »Wenn wir ihnen dumm kommen, haben wir auch verspielt.« Er betrachtete die schmerzverzerrte Schwabbelmasse des Gesichts neben sich, auf dem sich unterhalb des weißen Verbands einige Brandblasen breit machten. Er konnte nicht sagen, was schlimmer war: der Kirschgestank des Zigarillos oder der fettige Geruch der Brandsalbe. Die Gerüche, die während des Tages seine Nase beleidigt hatten, beschleunigten seine Entscheidung. »Gehen wir hoch und schauen nach.« Nachdem Thorny das Haustürschloss aufgebrochen hatte, stolperte Ozzie die Treppe hoch. Das mühsame heisere Keuchen seines Partners hörte sich in dem schmalen Korridor an wie ein laufendes mechanisches Gerät. Sie schritten zur Tat, um sich von ihren Schmerzen abzulenken. Ozzie stand schwer atmend auf dem Treppenabsatz und beobachtete ohne Regung, wie Thorny auf allen vieren die Stufen bewältigte. Immer wieder hielt er sich die Brust. »Was machen wir jetzt? Klopfen?« »Klopfen, klar«, japste Thorny. »Was soll ich sagen, wenn jemand ›Herein!‹ ruft?« »Klopf schon, Mann! Das Reden übernehme ich.« Aber das laute Hämmern verhallte ohne Antwort. Thorny brach das Schloss auf und öffnete langsam die Tür. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, falls Polly leichtfüßig um die Ecke kam und fragte, was hier los sei. Er war sich auch nicht sicher, ob er Ozzie in seinem gegenwärtigen Zustand im Zaum halten konnte. Wäre er doch weit weg auf sicherem Terrain, wo niemand sauer auf ihn war! Über die Diele tasteten sie sich vorsichtig ins Wohnzimmer., Sie hörten Musik, und die Lampen verbreiteten ein heiteres, warmes Licht. Thorny spähte auf Zehenspitzen in die Küche und inspizierte dann das Schlafzimmer. Plötzlich hörte er Ozzie erstickt aufschreien. Als er zurückeilte, fand er ihn kampfbereit einer Katze gegenüber, die auf einen Sesselrücken gesprungen war und sich durch ihren Buckel groß machte. »Ich bringe das verdammte Viech um. Hat mich zu Tode erschreckt … Ich dreh ihm den Hals um!« »Und der Alte dreht dir dafür den Hals um, Döskopp!« Er legte Ozzie die Hand auf den Arm. »Vergiss das Katzenvieh.« Ozzie schüttelte seine Hand ab. »Ich will was kaputt machen, Mann!« Er ließ das Tier nicht aus den Augen, das sich langsam streckte und den Typ mit dem Verband ignorierte, als sei er bloß ein harmloser, Gift spritzender Dickwanst. »Nicht hier. Überhaupt nirgends«, japste Thorny. »Benutz doch deinen Kopf!« Ozzie ließ die Katze in Frieden und gab dem Sofa einen heftigen Tritt. »Ich frage mich, wo die sind.« »Und wie die hier weg konnten.« »Alle lösen sich in Luft auf.« Thorny ging in die Küche, wo er ein Glas aus dem Schrank nahm und es mit Leitungswasser füllte. »Underhills Sekretärin …« Er trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Jetzt die beiden. Und wir haben immer noch keinen Schimmer.« Er nahm noch einen Schluck. »Wer bleibt uns denn übrig? Wir brauchen einen Hinweis. Willst du ein Glas Wasser?« »Steck dir dein Wasser an den Hut«, blaffte Ozzie. »Komm, fahren wir zurück nach Cambridge«, meinte Thorny schließlich. Er wischte mit seinem Taschentuch das Glas und den Wasserhahn ab und beim Hinausgehen die Türgriffe., Am Kenmore Square lenkte Chandler den braunen Wagen durch den Dunst. Er musste sich konzentrieren, um den Verkehr in dem milchigen Scheinwerferlicht zu erkennen. Von der Commonwealth fuhr er zur Arlington Street und bog dann nach rechts, wo George Washington immer noch auf seinem Pferd saß und ihn beobachtete. Unwiderstehlich zog es ihn in die Chestnut Street … Der rote Pinto war weg! Aus dem Erkerfenster von Pollys Wohnung strahlte warmes, gelbliches Licht. Die Scheibenwischer kreuzten seinen Blick. Der rote Pinto war weg! Über die Beacon Street fuhr er bis zur Höhe des Parlaments, um einen Blick auf Nat Underhills Laden zu werfen, bevor er die Richtung zur geschäftigen Union Street und dem Faneuil-Hall- Blumenstand hinter der Glasfassade einschlug. Menschenmassen schoben sich in Richtung Durgin Park und Union Oyster House. Sie zirkulierten in der dämpfigen Halle und verließen sie wieder mit bunten Sträußen, verpackt in Kartons und in Seidenpapier. Er hielt am Bordstein und wartete. Polly war nirgends zu sehen – und natürlich kannte sie das Auto nicht. Bei laufendem Motor stieg er schließlich aus und suchte sie zwischen den Blumen und Farnen und Bäumen. »Hier drüben, junger Mann.« Sie zwinkerte ihm mitten aus einem Arrangement wallender gefärbter Straußenfedern heraus zu. »Kommen Sie da raus«, befahl er. »Das ist kein Spiel.« »Wir müssen doch unseren Sinn für Humor behalten, wenn ihn schon alle rings um uns verlieren«, meinte sie und hakte sich bei ihm unter, während sie zum Wagen liefen. »Was ist das überhaupt für ein Wagen?« Er öffnete ihr die Tür. »Ein brauner. Beeilen Sie sich.« »Nora ist sicher im Parker House gelandet«, erklärte sie, als er anfuhr. »Aber sie hat kein großes Glück mit ihren Anrufen. Europa ist zu der Zeit schlecht zu erreichen. Montag wird’s besser laufen. Bis dahin ist sie gut untergebracht.«, »Der rote Pinto war verschwunden. Ich bin gerade dort gewesen.« Schweigend fuhren sie Richtung Norden. Zwischen den scheinbar endlosen Reihen hell erleuchteter Restaurants, Möbelhäuser und Einkaufszentren kamen sie nur langsam vorwärts. Vorbei ging es am Bunker-Hill-Denkmal zu ihrer Linken, begleitet vom Dauerregen und dem Geräusch der Scheibenwischer. Allmählich lichtete sich der Verkehr, und die Nacht brach herein. Sie fasste nach seinem Arm. Zugleich überkam ihn ein seltsames Gefühl von Heiterkeit, als wären sie beide Kinder: ein unerwarteter Glücksmoment, in dem sich ein Hochgefühl im Inneren ausbreitet. Es hatte viel mit ihr zu tun, und mit dem kuschelig warmen braunen Wagen – aber auch mit dem Abenteuer, das Chandler nun nicht mehr so gefährlich erschien. Sie waren die Kerle im roten Pinto los. Keiner kannte ihr Ziel. Der Macguffin wartete am Ende ihrer Reise, und wenn sie festgestellt hatten, worum es eigentlich ging, würde sich alles von selbst klären. Dann hatte er Zeit, sich um dieses außergewöhnliche Wesen zu kümmern, das seinen Arm hielt. An einem Sonntagmorgen um fünf wachte Maxim Petrow in seiner Datscha bei Moskau auf. Zunächst hatte ihn das Läuten des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Dann musste er zwei Stunden auf Krasnovskijs Bericht über ein Problem warten, das Petrow zumindest zu Beginn der Ereignisse dieses Tages als banal, unklar und todlangweilig empfand. Zwei Stunden später kam es ihm so vor, als habe er etwas verbockt – er wusste nur nicht, wie und was. »Verzeihen Sie, wenn ich das sage, Genosse Direktor«, hatte Krasnovskij bemerkt, während er die Beine übereinander schlug und eine imaginäre Fussel von seinen erstklassig gebügelten Hosen wischte. »Ihr Sinn für Humor ist daran schuld.« Die Worte wieder einmal hatte sein junger Kollege unausgesprochen, gelassen. »Halten Sie bitte den Mund«, sagte er gereizt. Die weiße Küche erinnerte ihn an einen Operationssaal: modern und makellos sauber unter bläulichem Licht. »Sie hören sich an wie meine Frau. Mein Sinn für Humor ist das Einzige, was mich geistig gesund erhält. Er ist vielleicht meine beste Eigenschaft.« Voller Ungeduld sah er zu, wie der letzte Kaffee in die Kanne tropfte. Draußen erschien zu seinem Erstaunen ein heller Fleck am Horizont, dort, wo sich wochenlang nur ein dumpfes, dunkles Grau gezeigt hatte. Ein Hauch von Frühling genügte, um ihn in einem solchen Augenblick aus ausgeprägter geistiger Trägheit oder sogar aus einer Depression zu reißen. Er schenkte sich Kaffee mit Sahne ein, fügte Zucker hinzu, und lud Krasnovskij mit einer Handbewegung ein, sich zu bedienen. Er zog den schweren Frotteemantel eng um seinen schlanken, muskulösen Körper und ging auf die beheizte Veranda, die den Blick auf ein weites, noch schneebedecktes Feld freigab. Es zog sich bis zu einem sanften Strom hin, auf dem er im Sommer unter riesigen Eichen mit seinen Enkelkindern Spielzeugboote fahren ließ. Sein Blick war immer noch auf den Horizont gerichtet, als er Krasnovskij hinter sich treten hörte. Ob ihn der junge Mann wohl so sah wie er seinerzeit Beria gesehen hatte? Ob er auch den Drang spürte, ihm das Genick zu brechen? Nein, das war natürlich lächerlich. Beria hatte überhaupt kein Fünkchen Humor. »Sie werden etwas unternehmen müssen.« Krasnovskij schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee. »Belehren Sie mich nicht!« Der Jüngere zuckte die Achseln. »Es ist eine Frage gegenseitigen Vertrauens. Wir können nicht zulassen, dass unsere Leute unschuldige Bürger umbringen. Das schadet Sangers Leuten und auch uns. Außerdem wollen wir die Polizei nicht zu neugierig werden lassen. Eine Mordserie –« »Zwei sind keine Serie«, korrigierte Petrow müde. Aber die, Haarspalterei führte zu nichts. »Es waren ganz sicher unsere Leute?« »Ganz sicher. Sie haben keine Ahnung, für wen sie arbeiten. Das muss ich nicht extra erwähnen.« »Dann erwähnen Sie’s doch nicht.« »CANTAB hat sie angeheuert.« Petrow starrte sein Spiegelbild in der Scheibe an. »Könnten sie vielleicht noch für jemand anders arbeiten?« »Das spielt doch keine Rolle, oder? Wir kriegen jedenfalls die Schuld in die Schuhe geschoben.« »Das gebe ich zu.« Er trank einen Schluck Kaffee. Als er die Tasse auf die Untertasse zurückstellte, bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Lächelnd wandte er Krasnovskij das Gesicht zu. »Wissen Sie, es war als reiner Jux gedacht.« »Ich weiß.« »Ich wollte Sanger auf die Schippe nehmen.« Er verzog das Gesicht und ging langsam am Fenster entlang. Hin und wieder steckte er seinen Finger in die staubtrockene Erde in den Blumentöpfen. Alles war abgestorben. Die trockenen Blätter knisterten, als leckten Flammen an Pergamentpapier. »Und jetzt pflastern in Boston Leichen unseren Weg. Das ist der Jammer in diesem Geschäft: Dir fällt ein genialer Jux ein, die Versager da draußen verstehen die Feinheiten nicht, und schon laden sie durch und laufen Amok … Schauen Sie sich die Pflanze hier an. Man kann sich nicht mal drauf verlassen, dass sie einem die Blumen gießen.« Er hielt seinen staubigen Finger in die Höhe. »Auf jeden Fall ist es kein Jux mehr. Wir müssen sie daran hindern, noch weitere Leute umzubringen. Setzen Sie sich mit CANTAB in Verbindung und lassen Sie die Kerle aus dem Verkehr ziehen. Haben wir das alles CANTAB zu verdanken?« »Ich denke schon. Er schien sich Sorgen zu machen.« Krasnovskij interessierten die Pflanzen seines Vorgesetzten nicht die Bohne – ob frisch oder vertrocknet., »Hat er einen Vorschlag, wie es weitergehen soll?« »Ich hatte den Eindruck, er wäre nicht allzu böse, wenn wir die Brüder über die Klinge springen ließen.« »Blutrünstig. Erst setzt er sie ein, dann will er sie kalt machen.« Er ging ins Wohnzimmer zurück und legte eine Frank-Sinatra-Platte auf seinen Bang-&-0lufsen. Der Raum füllte sich mit den sanften Klängen von »In the Wee Small Hours of the Morning«. »Hat irgendjemand erwähnt, wo das Dokument ist, nach dem wir suchen? Ich will nicht penetrant werden – aber schließlich hatte die ungute Sache einen Sinn, den wir nicht ganz aus den Augen verlieren sollten. Abgesehen von meinem viel gepriesenen Sinn für Humor hatten wir noch eine Pressekampagne in Erwägung gezogen, die nicht nur Arden Sanger in Verlegenheit bringen dürfte, sondern die gesamten Vereinigten Staaten.« »Darf ich Sie unterbrechen, Genosse Direktor –« Petrow nickte. Sinatras Melancholie hüllte ihn ein, während am Horizont die Sonne aufging. Er stand fasziniert am Wohnzimmerfenster und beobachtete, wie ihr reines Licht auf die Schneedecke fiel. »Keiner weiß genau, wo das Dokument ist. Aber offenbar gibt es einen Harvard-Professor, der es haben könnte. CANTAB glaubt jedenfalls, dass der Mann es hat oder weiß, wo es ist.« »Warum nimmt man es ihm nicht einfach weg oder beschattet ihn?« »Weil er anscheinend verschwunden ist.« »Verschwunden?« Die Sache wurde immer unangenehmer. »Verschwunden. Aber vorher hat er noch unsere beiden Handlanger fürchterlich zugerichtet.« »Ein Harvard-Professor? Machen Sie keine Witze.« »Er hat sie ziemlich lädiert.« »Kaum zu glauben. Was ich immer sage – man kriegt kein anständiges Personal mehr heutzutage. Ein Jammer, dass er sie nicht gleich umgebracht hat …«, »Stimmt, Genosse Direktor.« »Nachdem sie aber noch am Leben sind, wird man den Professor wohl oder übel finden müssen. Hat er auch einen Namen, Krasnovskij?« »Anzunehmen, Genosse Direktor. Falls sie uns nicht bei der Einführung des Nummernsystems zuvorgekommen sind.« Krasnovskij verbiss sich ein Grinsen. »Kennen Sie seinen Namen?« »Diese Information haben wir nicht erhalten, Genosse Direktor.« »Dann los, Krasnovskij. Sorgen Sie dafür, dass die Morde aufhören, und finden Sie das verdammte Dokument. Instruieren Sie CANTAB. Im Moment müssen wir abwarten und hoffen, dass Arden sich nicht aufregt.« Er brachte Krasnovskij zur Tür. »Leider neigt Arden dazu, gleich den Ausbruch des Dritten Weltkriegs zu befürchten, wenn etwas nicht nach Plan läuft.« Während Chandler und Polly Bishop durch den Regen Richtung Norden fuhren und Maxim Petrow auf seiner Datscha bei Moskau mit schlechten Nachrichten geweckt wurde, hatte der CIA-Chef Arden Sanger ein paar Freunde auf seinen schwer bewachten Landsitz in Virginia eingeladen – zehn Hubschrauberminuten von seinem Büro in Langley entfernt. Er hatte noch zwei Büros in Washington und ein Haus in Georgetown. Er war von Geburt an reich gewesen. Fünfundsechzig Jahre zuvor war er in Orange City in Iowa als Sohn eines Mannes geboren, der alles zu Geld zu machen schien, was er anfasste – ob Farmwirtschaft, Versicherungen, Immobilien, Bergbau oder Öl. Dieses Geld hatte es dem jungen Arden ermöglicht, als Rechtsanwalt im öffentlichen Dienst zu arbeiten. Franklin Roosevelt wurde in den späten dreißiger Jahren auf ihn aufmerksam und holte ihn nach Washington. Damit war Arden Sangers Schicksal mehr oder weniger besiegelt., Mit seiner Größe von über eins achtzig war er immer ein liebenswerter junger Mann gewesen. Er neigte zu Übergewicht, das durch seine Football-Karriere an der Universität von Iowa unter Kontrolle gehalten wurde. Erst Nile Kinnick ließ seinen Ruhm als All-American Fullback verblassen. Als er in den Jahren danach in die Breite ging, bespotteten ihn die Leute scherzhaft als alten, dicken Football-Spieler, und als das Broadway-Stück The Male Animal verfilmt wurde, vermutete das Publikum, dass der alte All-American Arden Sanger als Vorlage für Jack Carsons Rolle gedient hatte. Seine auffallende Ähnlichkeit mit Jack Carson trug nicht gerade dazu bei, die Vermutung zu entkräften, aber es machte ihm wenig aus. Wer sagte denn, dass die Figur des Whirlin’ Joe Ferguson nicht auf ihm basierte? Und selbst wenn: Nile Kinnick und Jack Carson waren tot, und Arden Sanger war Chef der CIA. Diese ganze persönliche Geschichte ging ihm durch den Kopf, weil eine attraktive junge Frau, Tochter eines alten Freundes, ihn den gesamten Abend mit ihrer Aufmerksamkeit verwöhnt hatte. Er erzählte gern von sich, und er war es gewohnt, nie mehr als zulässig über seinen Beruf auszuplaudern. Alles in allem war es ein angenehmer Abend. Der Frühling war so weit fortgeschritten, dass man die Türen zur gefliesten Terrasse öffnen konnte, an die der Swimmingpool angrenzte. Dahinter lagen Tennisplätze, weiter hinten ein Wäldchen, und noch weiter hinten der durch Patrouillen und Videokameras gesicherte elektrisch geladene Zaun. An einem solchen Abend konnte er für Augenblicke vergessen, wer und was er war. Seine Gäste hatten gut gespeist und plauderten zufrieden in einem Partyraum im Souterrain, als er mit der hübschen kleinen Blonden von einem Spaziergang rund um die Tennisplätze zurückkam. »Wissen Sie, Elise«, sagte er, während er zusah, wie ihre Lippen den Rand des Champagnerglases liebkosten, »wenn ich vor vierzig Jahren jemandem wie Ihnen begegnet wäre, hätte ich, mich kaum für ein Junggesellenleben entschieden.« »Sehen Sie’s doch so«, erwiderte sie selbstsicher, »als Junggeselle waren Sie vierzig Jahre lang im Geschäft. Und bestimmt ziemlich erfolgreich.« Sie drückte seine Hand auf eine Weise, die man als dezente Ermutigung verstehen konnte. Er ging im Geist rasch die Skala der möglichen Reaktionen und Konsequenzen durch, als sich neben ihm sein Assistent Dennis Herman räusperte und seinen Arm berührte. »Was gibt’s, Dennis?« Sanger hatte fast ein Jahr gebraucht, bis er es in den Kopf bekam, dass der junge Mann nicht Herman Dennis hieß – was ihm irgendwie passender vorgekommen war. »In der Bibliothek wartet ein Bote, Sir.« »Ah ja. Elise, Sie müssen mich einen Moment entschuldigen. Dennis wird sich um Ihr Glas kümmern, meine Liebe.« Er zog sich rasch in die dunkel gehaltene Bibliothek zurück, wo sein engster Mitarbeiter Harry Stevenson höchst persönlich auf ihn wartete. Er rauchte Pfeife und las in der neuesten Playboy- Ausgabe, die ein Interview mit einem radikalen Terroristen brachte, dessen Ermordung sie ernstlich erwogen hatten. »Arden«, sagte er und atmete, ohne aufzublicken, den Rauch aus, »wir hätten dem kleinen Scheißkerl an die Gurgel gehen sollen, als es noch möglich war. Jetzt ist er zum Medienhelden aufgestiegen und will Senator werden.« Er warf die Zeitschrift auf einen Stuhl, traf aber daneben, wobei das Titelbild zerriss. »Ich schau mir immer nur die Bilder an«, meinte Sanger. Er platzierte seinen breiten Hintern in einen rissigen alten Ledersessel und betrachtete Stevenson aus seinen zwischen Fettpölsterchen versunkenen Augen. In zwei Wochen würde er sich liften lassen, dann hatte er wieder klare Sicht. Doch Stevensons knochiges, scharf geschnittenes Gesicht konnte er sehr gut erkennen. Es war das Gesicht eines Mathematikers. Stevenson war fünfzehn Jahre zuvor vom M.I.T. zu ihnen gestoßen. »Was kann ich für Sie tun?« »In Boston gehen seltsame Dinge vor«, erklärte Stevenson, vieldeutig. »Boston ist eine seltsame Stadt. Erzählen Sie mir was Neues.« »CRUSTACEAN hat mich angerufen.« »So?« »Er macht sich Sorgen. Er sagt, Petrow lässt dort von zwei Revolverhelden Leute umbringen. Das gefällt ihm nicht besonders.« »Revolverhelden? Hoffentlich nicht. Weiß er, warum?« »Eigentlich nicht. Es geht um irgendein Dokument. Auf jeden Fall habe ich unsere Akten überprüft. Zu meiner großen Überraschung vermissen wir weder Pläne über Geheimangriffe, Nervengas oder biologische Waffen noch über eine Marktüberschwemmung mit ungesalzenem Popcorn. Aber unser Freund informiert uns nicht ohne guten Grund. Zwei erschossene unschuldige Bürger sind für ihn wahrscheinlich ein guter Grund.« »Der Reihe nach, Harry.« Es dauerte beinahe eine Stunde. Sie schwiegen ein paar Minuten, als Stevenson die Geschichte – soweit er sie kannte – zu Ende erzählt hatte. »Wenn ich recht verstehe, weiß niemand, wo das verdammte Ding ist«, sagte Sanger. »Oder was es ist.« »Richtig. Keine Spur davon. Nur Tote …« »Und ein verschwundener Harvard-Professor.« »Richtig.« »Ich schätze, wir sollten herausfinden, warum Petrow so verdammt interessiert an der Sache ist.« »Sie wissen ja, wie’s läuft: Wenn er interessiert ist, sind wir’s auch.« Stevenson klopfte seine Pfeife an der Seite eines schweren Glasaschenbechers aus und blies geräuschvoll durch den Stiel. »Also finden Sie Chandler. Das wär’s meines Erachtens.« »Nicht ganz. CRUSTACEAN will Petrows Leute liquidieren, falls er es für richtig hält. Er will unser Einverständnis.«, »Falls es nötig sein sollte, meinen Sie.« Stevenson nickte. »O Gott«, seufzte Sanger. »Nur, wenn sie jemandem etwas antun.« »Ich probier’s mal damit. Aber vielleicht macht er einfach, was er will, der alte Arsch.« Sanger lachte. »Die Frage ist, warum Max seine Jungs von der Leine lässt und in Kauf nimmt, dass er mich damit ärgert.« »Es könnte was Wichtiges sein …« »Warum setzt er dann solche Idioten ein? Das ergibt keinen Sinn.« »Warten wir’s ab«, sagte Stevenson. »Wie immer.« Stevenson hatte schon die Doppeltüren erreicht, als Sanger etwas einfiel. »Das Blöde an Max ist sein verfluchter Sinn für Humor. Er macht in Moskau einen Witz, und mir tut in Virginia was weh.« »Das ist kein Witz mehr«, meinte Stevenson knapp. »Falls es je einer gewesen ist – was ich bezweifle.« Aber er wusste, es war zumindest ein Spiel. Wie immer. Der alte Herr war der geborene Purist – und ein Perfektionist, selbst noch bei unmöglichen Dingen. Er hörte den jungen Pianisten die »Waldstein« -Oktaven, die aus dem Handgelenk gemeistert werden mussten, als gewagtes Glissando spielen. Auch wenn man es akzeptieren konnte, war es dennoch nicht korrekt. Beethoven hätte bestimmt ein Glissando notiert wie im Ersten Konzert, hätte er eins haben wollen. Das Feuer im Kamin am anderen Ende der lang gestreckten, dunklen Tapisserie mit der niedrigen Decke im Gardner Museum warf einen warmen Schein bis zu seinem Platz in der vierten Reihe. Der Wind blies aus Richtung Back Bay Fens und rüttelte am Glas in den hohen Flügelfenstern, die den Blick auf den Garten und auf die deprimierende Düsternis dahinter freigaben. Er spürte die kalte Zugluft an seinen Knöcheln., Das Konzert gewährte ihm eine Ruhepause, nachdem er beinahe den gesamten Samstagnachmittag in seinen Lieblingsecken des Boston Museum of Fine Arts umhergeschlendert war. Früher einmal hatte er die Mußestunden mit seiner Frau in Museen verbracht, obwohl sie beide das Gardner mit seinem italienischen Flair bevorzugten, mit dem Hof voller anmutiger duftender Blumen und der originellen, kapriziösen Platzierung der Bilder. Jeder Besuch barg noch Überraschungen für den alten Herrn, der jetzt allein kam, aber beinahe so oft wie früher. Seine Mutter war mit Isabella Gardner befreundet gewesen, und als Junge hatte er die außergewöhnliche Frau kennen gelernt, welche diesen venezianischen Palast aus dem fünfzehnten Jahrhundert gestaltet hatte. Als er ihr begegnete, war sie bereits über siebzig. Sie hatte den ernsten Zehnjährigen vom Beacon Hill mit den knochigen Knien lieb gewonnen. In letzter Zeit waren die Gedanken des alten Herrn zu Isabella Gardner zurückgewandert, weil sie als erster Mensch in seinem Leben gestorben war. Was hätte sie von ihm gedacht, wenn sie gesehen hätte, was er mit seinem Leben angefangen hatte? Sein Kopf drehte sich bei dieser Vorstellung. Nun, er liebte die Musik. Hatte er junge Freunde? Hier kam es auf die Definition an. Als die Musik endete, hastiger Applaus aufbrandete und Stühle zurückgeschoben wurden, sah er auf die Uhr. Ob man Liam und Andrew als Freunde bezeichnen konnte? Eigentlich nicht, obwohl er sie mochte. Die beiden anderen Idioten wollte er lieber unter der Erde sehen. Am North Cloister warteten Liam und Andrew auf ihn – ein armseliges durchweichtes Paar, das ziemlich gut zu den beiden Fischbrunnen an der gegenüberliegenden Gartenmauer passte. Trotz des Wetters blühten gelbe und lavendelblaue Blumen; Kletterpflanzen rankten sich von oben herab. »Guten Abend!« Der alte Herr passte auf, dass er nicht mit den, nassen Regenmänteln in Berührung kam. »Ich will mich kurz fassen. Der Abend endet mit der Mondscheinsonate, die ich auf keinen Fall versäumen möchte.« Er schwieg lange genug, um sie beide fixieren zu können – Auge in Auge. »Ich bin enttäuscht, weil Sie nicht weiter kommen. Sie haben keinerlei Fortschritte gemacht. Es wird langsam Zeit. Ich weiß, wer die Mörder von Bill Davis und Mr. Underhill sind.« Er beschrieb sie in allen Einzelheiten – einschließlich des Wundverbandes und ihrer diversen Verletzungen und wie sie dazu gekommen waren. »Ich weiß auch, dass die beiden ihr Ziel noch nicht erreicht haben. Chandler hat das Weite gesucht, und das fragliche Dokument bleibt unauffindbar. Stöbern Sie die Typen auf. Beobachten Sie die Harvard Motor Lodge, beobachten Sie Brennan … Denken Sie daran, dass Sie im Vorteil sind, weil Sie über die beiden anderen Bescheid wissen, während die keine Ahnung von Ihnen haben. Vielleicht führen sie Sie zu Chandler und dem Dokument … Sie arbeiten übrigens für die Russen. Egal, was die Gegenseite so dringend haben möchte – wir wollen es auch.« Er sah, wie ihnen die Neuigkeiten zu schaffen machten, und einen Augenblick lang taten sie ihm leid. Jede komplizierte Lage klärte sich, wenn man beide Seiten kannte, oder zumindest zwei aller vorhandenen Seiten. Andrew nahm seine Nickelbrille von der Nase und wischte mit einem zerknitterten weißen Taschentuch die Regentropfen ab. Liam verschränkte die Arme über der Brust und wippte auf den Fersen, wobei er gewohnheitsmäßig die Konzertbesucher beobachtete. »Was könnte es denn sein?«, fragte Liam. »Das ist unerheblich. Wir können nicht zulassen, dass sie Leute umbringen. Wer weiß, wohin das führt, wenn wir hier Schwäche zeigen.« »Was sollen wir machen, wenn sie dieses Dokument finden, nachdem wir sie aufgespürt haben?« Die Konzertbesucher verzogen sich allmählich wieder in, Richtung Tapisserie. Falls Thorny und Ozzie das verdammte Ding fanden und ihm meldeten, was es war, würde er entscheiden, ob er sie liquidieren ließ. »Ich schlage vor, Sie machen sich erst mal auf nach Cambridge. Nach Ihrer Schmierenkomödie neulich früh hat Brennan vielleicht nicht vollstes Vertrauen zu Ihnen … aber was bleibt uns übrig? Vielleicht laufen Ihnen auch Lum und Abner über den Weg.« Der alte Herr nickte ihnen zu und ging in die Tapisserie zurück. Er sah nicht, dass Liam ihm hinter seinem Rücken die Zunge herausstreckte. Müde trotteten die beiden wieder in den Regen hinaus. Der Heimweg vom Museum war für Brennan eine größere Sache. Er litt unter einer üblen Erkältung mit Fieber, rauem Hals und Schüttelfrost. Keine Frage: Chandler hatte Polly so rasch wie möglich abholen müssen, so dass Brennan auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war. Es wäre ihm nie eingefallen, ein Taxi zu nehmen. Stattdessen wartete er in der nasskalten Witterung auf die Straßenbahn, stieg am Kenmore Square und an der Park Street um und tauchte eine Stunde später wie eine kranke Ratte aus der U-Bahn am Harvard Square auf. In einem Drugstore versorgte er sich mit Medikamenten, Zeitschriften und Taschenbüchern, kaufte noch einen Sechserkarton Tuborg und trottete lustlos nach Hause. Colin war nun auf sich gestellt. Hugh konnte nichts mehr für ihn tun. Ihm stand ein Abend völliger Erschöpfung bevor, an dem er sich mit Medikamenten vollstopfen und besaufen und sehnsüchtig an Mary Tyler Moore denken würde. Eine gute Idee: Mary Tyler Moore … Er ließ seinen Körper eine halbe Stunde lang im dampfenden Badewasser weichen und rieb sich die haarige Brust im Gedenken an seine Mutter mit Wick Vaporub ein. Dann machte er einen frischen Karton Kleenex auf und zog sich mit Bier, Zeitschriften, Taschenbüchern und einer Decke auf die Couch, zurück. Er trank abwechselnd Bier und Excedrin und sah Mary Tyler Moore bereits doppelt, als es an der Tür läutete. Er brauchte ein paar Sekunden, bis der Ton in sein dumpf umnebeltes Gehirn drang. Erst als das Läuten nicht aufhörte, raffte er fluchend den Bademantel und die Decke um sich, entschuldigte sich bei Bob Newhart und seiner Fernsehfamilie und stolperte zur Tür. Er erkannte sie nicht; es schrillten auch keine Alarmglocken, die vielleicht den Nebel aus seinem Kopf vertrieben hätten. Zwei Männer standen vor ihm: ein kleiner mit einem flachen schwarz-weißen Pepitahut und ein großer mit einem weißen Verband, der sein breites, geschwollenes Gesicht zum Teil verdeckte. Brennan war ziemlich hinüber – mehr, als er gedacht hatte. Das Bier und das Excedrin und die Erkältungstabletten schwirrten wie kleine Zerstörungsmechanismen durch sein Blut und sein Gehirn. Er sah alles doppelt, und jeder Laut kam doppelt und leicht verzerrt bei ihm an. Da war doch etwas, erinnerte er sich dunkel, etwas das er über diese beiden Männer wissen sollte, die irgendwie ins Haus gekommen waren … Dann fiel sein Blick durch die offene Haustür auf den kleinen roten Wagen. Aber inzwischen war es zu spät. Kräftige Hände zogen ihn zurück. Er hörte die Tür ins Schloss fallen. Das Geräusch widerhallte in seinem Kopf, als wäre der Ton greifbar. Der rote Wagen … Er bemühte sich, von seinem Stuhl aufzustehen. Vergeblich. Keine Kraft. Bob Newhart sagte etwas, und der dämliche Pilot vom gleichen Stockwerk sagte etwas, und die Zuschauer brüllten vor Lachen, und als er den Blick auf den Großen konzentrierte, der vor ihm kniete, blitzte etwas Glänzendes auf. »Professor«, sagte der Kleinere, »beruhigen Sie sich. Bleiben Sie einfach sitzen. Wir haben ein paar Fragen an Sie.« O Gott, die Zange!, Plötzlich erinnerte er sich an alles und fing an zu schreien. Zu spät, verdammt! Zu spät, zu spät … »Wir wollen Ihnen nicht wehtun, Professor, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Verscherzen Sie sich’s nicht mit uns!« Als sie auf der von Sturm und Regen gepeitschten Küstenstraße die Hälfte der Strecke nach Kennebunkport hinter sich gebracht hatten, bemerkte Chandler, dass Polly eingeschlafen war. Sie hielt immer noch seinen Arm. Ihr Kopf mit dem dichten braunen Haar lehnte leicht an seiner Schulter. Wenn er sie ansah, war er restlos zufrieden. Die Schmerzen, die er nach der Attacke der beiden Gangster an den seltsamsten Stellen seines Körpers gespürt hatte, waren zurückgegangen. Seit er sich auf den Weg zu Percy Davis gemacht hatte, war sein Kopf klar. Natürlich war er noch genauso neugierig wie zuvor, aber er war nicht mehr besorgt, sondern eher froh und erwartungsvoll gestimmt. Er wusste nicht, woher seine Heiterkeit kam; er hoffte nur, dass sie ihm erhalten blieb. In Gedanken hörte er wieder Percy Davis Underhills Brief vorlesen: … weil er ein so seltsames und wertvolles Dokument besaß, dass ein Menschenleben nur ein zeitweiliges Hindernis für diejenigen darstellte, die es unter allen Umständen in ihren Besitz bringen wollten … Zwangsläufig werden die, die es haben wollen und bereit sind, dafür zu morden, noch gefährlicher, wenn sie entdecken, dass ihre Beute verschwunden ist. Aber ich bin in einer Zwangslage, und ich kann es nicht direkt an die Person schicken, die es früher oder später verifizieren muss: Professor Colin Chandler von der Harvard-Universität … Nun, Polly und er waren in Sicherheit, weil keiner ihren Aufenthaltsort kannte. Außer Brennan, natürlich. Er erinnerte sich nicht, ob er es, Hugh wortwörtlich gesagt hatte. Aber zweifellos wusste Brennan, dass sie nach Kennebunkport unterwegs waren. Der Gedanke zog wie eine dunkle Wolke durch seinen Kopf und dämpfte sein Hochgefühl, aber er schob ihn beiseite. Hugh war nicht in Gefahr; wahrscheinlich kuschelte er mit einem guten Buch, einem hochprozentigen Drink und einer Schachtel Kleenex auf dem Sofa. Es regnete heftiger. Windböen drückten gegen die Wagenseite. Polly bewegte sich und erwachte, Chandler knurrte der Magen. In einem einsamen, einladend erleuchteten Gasthaus bestellten sie sich Hamburger und spülten die Pommes und den Krautsalat mit heißem Kaffee hinunter. Danach sah er ihr beim Rauchen zu. Es machte ihm Freude, ihre Hände zu betrachten: Mit den ausgeprägten Sehnen, Adern und Knochen sahen sie aus wie feines, durchsichtiges Porzellan. Ihre Lippen schlossen sich weich um die Zigarette – ganz sacht, als könnte sie zerbrechen. Sie strich sich das Haar zurück und lächelte ihn an, wobei sich ihre Mundwinkel kräuselten und Fältchen in ihren Augenwinkeln spielten wie die Strahlen der aufgehenden Sonne. Im peitschenden kalten Regen klebte Kennebunkport dunkel und dicht am Boden. Sie überquerten die Brücke, die auf den kleinen Dorfplatz führte. Auf seiner linken Seite wurde eine Sattlerei von der im Wind schwingenden Straßenlampe abwechselnd erleuchtet und in Schatten getaucht. Der Drugstore war geschlossen. Auch der angrenzende Lebensmittelladen mit Café war geschlossen. Sie überquerten den Platz und folgten Percy Davis’ Wegbeschreibung, bis sie die seewärts führende Straße mit den Docks und Antiquitätenläden und Restaurants auf der rechten Seite fanden. Im Scheinwerferlicht ließ der Sturm das grellblaue Schild des Arundel-Restaurants tanzen. Dahinter und zu beiden Seiten herrschte stockfinstere Nacht, aus der nur verschwommen die Lichter eines Schiffes, eines Hauses oder eines Zimmers herausstachen. Regen rann über die, Windschutzscheibe. Sie lauschten dem Donnern der Brandung, dem Zischen der Reifen auf der nassen Straße, dem Klagen eines Nebelhorns irgendwo vor der Küste. Die Scheinwerfer rissen mit Ginster bewachsene Sanddünen aus dem Dunkel, die der Winter und die Frühjahrsstürme braun und hart gemacht hatten. Als die Straße geradewegs in den Atlantik zu führen drohte, ging es nach einer Linkskurve rund um eine Landzunge. Das Gelände rechts war zum Strand und zum Meer hin mit Felsbrocken übersät; auf der Landseite erkannten sie verschwommen große Sommerhäuser. Am Rand der Straße beleuchtete eine geschützte blanke Glühbirne von unten ein verwittertes Schild mit einem Pfeil zur Einfahrt von The Seafoam Inn. Kies knirschte unter den Reifen, als Chandler von der verlassenen Straße abbog. Sie sah ihn an: »Da wären wir.« Nach vorn gebeugt versuchte sie, das Gasthaus oben auf dem Hügel besser zu sehen. Durch den Regen waren zwei gelblich erleuchtete Fenster zu erkennen. Eine weiße Veranda führte über die gesamte Länge und um die Ecke des grünen Hauses mit dem Schindeldach. Hinter den Holzstreben und den dünnen Zuckerbäckerpfosten sah man riesige Fenster. Das Haus war eindeutig als Sommerdomizil gedacht. Wie alle Gebäude ringsum stand es auf einer Felsplatte, ohne unterirdische Kanalisation und ähnliche Dinge. »Erinnert mich an Psycho«, sagte sie leise. »Wenn jetzt Anthony Perkins die Tür aufmacht …« Chandler holte tief Luft und fuhr weiter bergan. Er parkte den Wagen direkt neben einer immergrünen Pergola dicht an der Verandatreppe. »Gehen wir«, sagte er. Rasch stapften sie durch den Regen, der über ihnen auf die Schindeln prasselte, auf die Veranda. Über der Tür ging das Licht an, und auf der Schwelle stand leicht gebeugt ein großer, schlanker, weißhaariger Mann mit einer beigen Strickjacke über dem karierten Hemd. »Professor Chandler, nehme ich an. Ich bin Percy Davis., Kommen Sie rein! Ich bin froh, dass Sie den Weg hierher gefunden haben.« Mit einer einladenden Handbewegung bat er sie herein und nahm ihnen die Mäntel ab. »Höllische Nacht, höllische Nacht.« Sie betraten einen warmen Empfangsraum mit einer Theke, einer vorsintflutlichen Telefonanlage, einem Schwarzen Brett mit Notizen vom letzten Sommer und dem Kalender einer ortsansässigen Auto-Reparaturwerkstatt. Ergänzt wurde die Einrichtung von ein paar dick gepolsterten Sesseln, einem Rosshaarsofa und zwei Bücherschränken mit Glastüren. Eine Treppe führte nach oben. Das Restaurant mit Blick auf Veranda und Meer lag im Dunkeln. Chandler stellte Polly vor. Percy Davis nickte kurz. »Ich hatte sie sofort erkannt, Miss. Sie sind nicht gerade anonym hier bei uns.« In seinem Ton schwang leichtes Bedauern mit, als zähle Anonymität zu den höchsten irdischen Gütern. »Sie sind nicht beruflich hier, oder?« Chandler erkannte die trockene, zerbrechliche Stimme vom Telefon wieder. »Ich will hier keine Kameras, die mich in den ganzen Schlamassel reinziehen …« Kopfschüttelnd drohte er Polly mit dem Zeigefinger. »Der Mensch hat ein Anrecht auf seine Privatsphäre. So bestimmt es das Gesetz –« »Keine Bange, Mr. Davis«, beruhigte ihn Polly. »Ich bin rein privat hier, als Freundin.« Percy Davis musterte sie mit zweifelnd zusammengekniffenen Augen und hakte seinen Daumen in die Jackentasche. Er trug teure Kleidung, hatte sich aber etwas bewahrt, was man in Maine mit ungeschliffen bezeichnet. »Na gut, vielleicht nicht nur als Freundin«, räumte Polly unter seinem Blick ein. »Aber ich habe keine Kamera dabei und keine Mikrofone –« »Dann sehen Sie zu, dass nicht plötzlich welche aus dem Nichts auftauchen, junge Dame! Und nun zur Sache, Professor. Kommen Sie mit raus in die Küche.«, Sie folgten ihm durch das unbeleuchtete Restaurant mit seinen kahlen Tischen und hochgestellten Holzstühlen, durch eine Pendeltür an der Speisekammer vorbei in eine geräumige, helle und saubere altmodische Küche. Der Boden war mit echtem gemustertem Linoleum ausgelegt. Es gab ein Holzgestell für die Geschirrtücher und einen gummibeschichteten Ständer zum Abtropfen des Geschirrs. In der Küche roch es nach Seife und Kaffee, und man sah schon auf den ersten Blick, dass Percy Davis für makellose Sauberkeit sorgte. »Sie können doch nicht rund ums Jahr hier wohnen!«, sagte Chandler. »Könnte ich schon, wenn ich wollte«, erwiderte Percy, während er in einem Schrank kramte. »Aber so einen Unsinn mache ich nicht. Ich komme wochenweise hier raus, zum Heizen und Saubermachen. Ach, da ist es ja, hinter den Töpfen und Pfannen.« Nervtötend langsam und bedächtig zog er ein Päckchen hervor. Chandler deutete mit dem Kopf darauf. »Sieh da – der Macguffin!« »Schlechtes Timing für Ihre Späßchen«, sagte sie kaum hörbar. »Dafür sind Menschen gestorben, Colin …« »Hier haben wir es«, erklärte Davis. »Es ist noch so verpackt, wie es ankam. So hat es im Umschlag gesteckt. Ich habe Ihnen Mr. Underhills Brief vorgelesen. Hier ist er.« Er reichte Chandler das dicht beschriebene Blatt. »Gehen wir doch rüber in die Bibliothek. Dort brennt ein hübsches gemütliches Feuer.« Nachdem er erkannt hatte, dass Percy Davis kein Mann war, der sich zur Eile antreiben ließ, zügelte Chandler seine Ungeduld und folgte Polly und dem alten Knaben zurück zum Empfang und von dort in einen Raum, der fünfzig Jahre vorher als Salon gedient haben mochte, nun aber mit einem Dutzend unterschiedlicher Bücherregale bestückt war, die offenbar über Jahre hinweg bei Wohnungsauflösungen zusammengekauft, worden waren. Hell und knisternd brannte ein Kohlenfeuer im Kamin, bequeme Sessel standen im Zimmer verteilt. Davis führte sie zu einer Rattancouch, setzte sich und legte das Päckchen auf einen niedrigen Beistelltisch. »Es gehört Ihnen, Professor. Viel Spaß damit!« In diesem mit Spannung erwarteten Augenblick spürte Chandler, wie ihn sein Hochgefühl verließ. Selbst ein blindes Huhn findet mal ein Korn, hatte sein Großvater vor langer Zeit oft und gern behauptet. Hier war es nun, sein Korn. Ihm zitterten die Finger, als er anfing, die kreuzweise verknotete braune Schnur des quadratischen Päckchens zu lösen, das ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter Seitenlänge hatte. Percy streckte ihm ein geöffnetes Taschenmesser mit Horngriff hin und sah Chandler fragend an. Als er nickte, war die Schnur rasch aufgeschnitten. Polly kniete mit angehaltenem Atem und vor Aufregung geballten Fäusten neben dem Tischchen. In der Ecke tickte ein Regulator. Das Meer donnerte gegen die Felsen unterhalb der Straße, Regen klatschte ans Fenster und rieselte den Kamin herab. Der Augenblick blieb wie eine Momentaufnahme in Chandlers Kopf haften. Er war nicht mehr der Harvard-Professor, der Experte, der die Ereignisse aus der Ferne betrachtete, isoliert durch eine Schutzschicht von zwei Jahrhunderten … Wie eine Viper war die Vergangenheit aus dem Dunkel geschnellt und hatte neue Opfer gefordert, und diese Vergangenheit hielt er jetzt in der Hand. Er wickelte das Packpapier ab und enthüllte das kleine Ölbildnis einer Frau, breit gerahmt in einfachem Eichenholz, das an manchen Stellen abgestoßen war und längs der Maserung hier und da einen kleinen Riss hatte. Es war über die Jahre ausgetrocknet, und die Erschütterungen während des kürzlichen Transports hatten zusätzlich Farbsplitter gelöst – aber es war eine fachmännische Arbeit, die bei Chandler ein eigentümliches Gefühl wachrief, so, als hätte er das Bild schon irgendwo, gesehen. »Mein Gott, es ist nur ein Frauengesicht«, flüsterte Polly und schob sich näher an Chandler heran, um besser sehen zu können, während er das Bild hochkant stellte. »Keine geheimen Pläne, um Boston in die Luft zu jagen oder Harvard zu plündern!« Percy Davis fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Wenn das nicht die Davissche Mundpartie ist, fress’ ich einen Besen. Zweihundert Jahre sind eine lange Zeit, aber das Blut schlägt durch.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann verwundert: »Tut mir leid, aber ich versteh das nicht: Jedes popelige Museum und jeder Antiquitätenladen in Neuengland hat so ein Zeug …« »Wieso bringt man deswegen Menschen um?« Polly lehnte sich zurück und schaute das Porträt anklagend an. »Was ist mit dir, Lady?« Die Frau auf dem Bild starrte unbeeindruckt zurück: eine Frau mittleren Alters, vielleicht noch in den Dreißigern, weil man damals vergleichsweise älter aussah. Ernstes, gut geschnittenes ovales Gesicht, attraktive hohe Backenknochen, dunkelbraune Augen, die nichts verrieten; eine Andeutung von Humor, der sich im Schwung der Augenbrauen zeigte, ein feiner sarkastischer Zug um den Mund. Ihr Kleid war beige und weiß, in das Oberteil dicht über der unteren Rahmenkante war ein kornblumenblauer Streifen eingewebt. Das dunkelbraune Haar hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen und war straff nach hinten frisiert, was ihre vornehme hohe Stirn zur Geltung brachte. Percy hatte Recht: Die Form seines Mundes glich der ihren aufs Haar. Sie war vor einer blassblauen Wand gemalt worden, an der ein Bild hing, das teilweise von ihrem Haar verdeckt wurde. Zu jener Zeit war es anscheinend Usus, einen Hinweis auf die Persönlichkeit des Porträtierten zu geben: In diesem Fall zeigte das Bild im Bild den hohen Turm einer Kirche in Neuengland; die Gemeinde war davor versammelt, Pferde warteten gehorsam, an einem weißen Zaun. Das Bild einer frommen Frau, einer Stütze der Gesellschaft, die Gut und Böse wohl zu trennen wusste und auf die Allmacht Gottes im Universum vertraute. »Was ist los, Colin?« Polly, die sich völlig auf ihn eingestellt hatte, bemerkte die Wissbegier in seinen Augen. »Das Porträt – es erinnert mich an etwas …« »Schauen Sie hier, ein Umschlag zwischen dem Packpapier«, meldete Percy. »Ich weiß, was es ist«, sagte Chandler leise, »ich weiß es. Und ich weiß auch, warum sie das Bild ausgerechnet mir zeigen wollten: Es wurde von Winthrop Chandler gemalt! Kein großer Name in der amerikanischen Kunstgeschichte, aber er wird in der einschlägigen Literatur erwähnt – gerade noch. Der einzige Chandler, der in der Kunst seine Spuren hinterlassen hat.« »Er ist nicht –« »Doch. Hundertprozentig ein Vorfahre von mir.« »So was passiert hier ständig«, warf Percy ein. »Ich stamme von irgendwelchen Davis ab, und die Hälfte des Clans hält einem das immer vor Augen. Wir vereinnahmen jeden Davis – ob er nun Pferdedieb ist oder Kuppler oder Klinkenputzer.« »Mag sein, aber Winthrop gehört wirklich zu unserer Familie«, entgegnete Chandler ein bisschen pikiert. Polly grinste. »Er stammte aus Woodstock in Connecticut und zog als Porträtmaler durch die Lande. In Boston wollte er Malerei studieren. Er hat auch Häuser und Ladenschilder gemalt, um sich über die Runden zu bringen. Wir glauben, dass er während des Revolutionskrieges in Boston gelebt hat. Der Mann verstand sein Handwerk. Er war einer der besten Porträtmaler seiner Zeit. Wir haben noch fünf oder sechs Bilder in der Familie, und ein Prachtstück hängt in Brookline bei der Historischen Gesellschaft. Underhill wusste jedenfalls, dass ich eine Antenne für ein Chandler-Porträt haben würde. Offenbar war er der Ansicht, das hier wäre eins.« »Und?«, fragte Polly. »Ist es eins?«, »Meiner Meinung nach schon. Genau sein Stil, seine Lieblingsfarben. Bestimmt hat Underhill gedacht, wenn es von Chandler gemalt wurde, soll es auch ein Chandler begutachten.« »Der Brief«, mahnte Percy Davis. Chandler öffnete den Umschlag und entfaltete das einfache weiße Blatt Schreibmaschinenpapier. Er warf einen kurzen Blick darauf. »Es ist kein Brief«, erklärte er. »Anscheinend erklärt Bill hier, wie er auf das Bild gestoßen ist. Lesen wir’s doch gemeinsam.« Er strich das Blatt auf dem Tischchen aus, und sie beugten sich alle drei darüber. Ich fand dieses alte Porträt in einer Truhe auf dem Dachboden im Sommerhaus meiner Eltern in Chatham. Vermutlich hat in den vergangen hundert Jahren kaum jemand die Truhe geöffnet und erst recht nicht durchstöbert, wie ich. Dem alten Bild von »Großmama« hat wohl niemand viel Beachtung geschenkt. (Ich nenne sie so, weil keiner sagen konnte, wer sie war.) Als ich das Bild fand, hatte ich gerade Literatur zu einem Kurs von Professor Chandler gelesen und irgendwie Feuer gefangen für die Revolutionszeit. Ich hielt das Porträt sehr oft in der Hand, bis ich eines Tages bemerkte, dass der feste Stoff, mit dem die Rückseite überzogen war, sich allmählich löste. Ich zog ihn gleich völlig ab. Dahinter fand ich das, was ich das »Aquila-Papier« genannt habe – sicher, weil ich zu viele Krimis lese. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Es gibt so viele Interpretationsmöglichkeiten. Aber ich kann mir denken, welche Bedeutung das Dokument haben könnte. Wenn ich meine eigenen Nachforschungen abgeschlossen habe, werden Chandler und Nat Underhill vermutlich meinen Fund begutachten und publik machen. Chandlers Renommee wird verhindern, dass sich Zweifler zu Wort melden, falls mein Fund echt ist. Dann wird alles nicht mehr mein eigenes kleines Geheimnis sein. Es wird mir fehlen., »Worüber redet der eigentlich?«, fragte Polly ungeduldig. »Will er die Spannung steigern? Oder gibt es da noch was?« Sie kramte zwischen Packpapier und Schnurenden. »Na klar«, sagte Chandler. »Hinter der Rückwand – dort, wo er’s gefunden hat. Percy, Ihr Messer, bitte.« Davis reichte ihm das Taschenmesser, und er schlitzte damit das offensichtlich neue Klebeband auf, das den ebenfalls neuen Karton mit dem Rahmen verband. Sekunden später zog Polly darunter zwei neue gelbe Umschläge hervor, die mit Heftklammern gesichert waren, als enthielten sie Beweisstücke. Auf einem stand in Blockschrift: WM. DAVIS’BRIEF. Das Papier, auf das William Davis vor zwei Jahrhunderten geschrieben hatte, war grob und zerknittert. Zwar sah man ihm sein Alter an, doch es war gut erhalten, weil es die ganze Zeit in dem Rahmen verborgen gewesen war. Die Schrift war ein bisschen verblasst, doch viel weniger als bei anderen Dokumenten aus jener Zeit. Es musste ja nie im Tageslicht bestehen. Der Brief war datiert 14. Januar 1778, Valley Forge. An alle, die es angeht: Ich bin verzweifelt und voller Angst und geplagt von schlimmster Pein. Gestern Nacht habe ich hier im gottverlassenen Valley Forge das Unmögliche beobachtet. Wenn ich sterbe wie alle meine Freunde hier, kann ich nicht mit ins Grab nehmen, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich besitze nicht viel, nur das Porträt meiner Mutter ist von einigem Wert. Es wird daher am ehesten diese entsetzliche Heimsuchung überstehen. Durch Zufall war ich gestern Nacht Zeuge eines Verrats, wie ich ihn mir nicht in meinen schrecklichsten Albträumen hätte vorstellen können. Wir werden an die Rotjacken verraten. Ja, so ist es. Ich traue meinen eigenen Augen nicht. Bei dem Essen und der verheerenden, Krankheit in diesem Höllenloch kann ich mich auf sie nicht mehr verlassen. Aber ich habe einen Beweis, von dem Verräter selbst unterschrieben. Er bestätigt, dass er Lohn erhalten hat für seine ruchlosen Taten und nennt seinen neuen Codenamen. Beweise lügen nicht, im Gegensatz zu meinen Augen. Ich kann mich nicht überwinden, den Namen dieses Verräters niederzuschreiben, aber ich habe ihn auf einer Lichtung im Wald mit seinen Verbündeten gesehen, als ich dort Posten stehen musste. Als sie von meinen Kameraden gestört wurden, kam es zu einem Kampf. Mehrere Männer wurden getötet, und ich rannte auf die Lichtung und nahm das Stück Papier an mich. Zwar ist es dabei abgerissen, was ich bei meiner Rückkehr ins Camp bemerkt habe, aber es zeigt genug – Was soll ich nun damit anfangen? Wo kann ich Hilfe finden? Und was ist, wenn ich den Winter nicht überlebe? Wenn sie mich entdecken, werden sie mich bestimmt töten. Vielleicht sterbe ich auch so. Ich fühle mich ganz und gar nicht wohl. Ich finde keine Antwort, und ich muss darauf vertrauen, dass Gott mich in den sicheren Hafen führt. Ich verstecke das hier hinter der Rückwand von Mutters Bild und vertraue es meinem Freund John Higgins an. Gott helfe unserer Sache! Und seinem Diener Wm. Davis. »Mein Gott!«, flüsterte Chandler. »Man kann sein Entsetzen jetzt noch spüren. Der arme Junge … Ich wette, er ist nicht mehr nach Hause gekommen.« Er lehnte sich in die Sofakissen zurück. »Ich habe richtig Angst, den anderen Umschlag aufzumachen«, bekannte Polly. »Fast möchte ich’s gar nicht wissen.« »In was sind wir da hineingeraten? Mein Enkel ist tot, ein alter, Mann ist tot, und nun dieser Junge in Valley Forge … Wenn er den Krieg überlebt hätte, wären wir nicht erst jetzt auf die Sache gestoßen. Er hätte etwas unternommen. Ich glaube, er war ein tapferer Kerl …« Percys Stimme klang ganz gepresst vor Mitgefühl. »Ich sehe ihn vor mir, wie er im Gewehrfeuer auf die Lichtung rennt. Tapferer Kerl.« Es war beinahe Mitternacht, als Chandler den letzten Umschlag ergriff, die Klammer aufbog und ihn öffnete. Er spreizte ihn auf und ließ das armselige, verschmutzte Überbleibsel aus der Vergangenheit auf den Tisch flattern. Das Papier war verfärbt und fleckig; es roch nach trockenem, Jahrhunderte altem Moder. An der rechten oberen Ecke war ein Fetzen abgerissen, doch den Text, mit Tinte geschrieben, konnte man deutlich lesen. Er war in einer Handschrift geschrieben, die große, kraftvolle Unterschrift in einer anderen. Chandler las ihn laut vor und endete flüsternd. Sprachlos, forschend sahen sie einander ins Gesicht. Keiner brachte einen Ton über die Lippen. Als die große Wanduhr Mitternacht schlug, legte Chandler das alte Stück Papier vor sich auf den Tisch. Schweigend las er es noch einmal für sich: 10. Januar 1778 Hiermit wird Folgendes bestätigt: Empfang des vereinbarten Betrages von den Vertretern der Krone für die in den letzten 6 Monaten bis zum 1. Januar 1778 geleisteten Dienste. Änderung des Codenamens: Für die kommenden zwölf Monate ab 1. Januar 1778 gilt das Wort ›AQUILA‹. Aus freiem Willen unterzeichnet von Ihrem untertänigsten Diener Geo. Washington,SONNTAG
Als der letzte Ton des Mitternachtsläutens verebbte, überkam Chandler ein Gefühl, als nehme er die Welt mit geradezu unerträglich geschärften Sinnen wahr. Er kam sich vor wie Jimmy Stewart auf dem Dachfirst in Vertigo: kaum fähig, dem Sog in die Tiefe zu widerstehen, ja geradezu begierig auf den Sturz, um für irgendetwas zu büßen, das er nie getan hatte. Das Feuer knisterte und sprühte Funken, und er hörte den alten Korbstuhl quietschen, als Percy Davis sich zurücklehnte. Aber alles, was er sah, war die kräftige, selbstsichere Unterschrift, die er in der Vergangenheit schon unzählige Male betrachtet hatte: Geo. Washington. Bilder jagten ihm durch den Kopf: das Mikrofon in der Tabaksdose; die zerschmettert am Boden liegende Houdon-Büste; sein Blick in die allwissenden Augen, in das ruhige, heldenhafte Gesicht des großen Mannes auf dem Pferderücken im Park … Polly fand als Erste die Sprache wieder. »Kann das sein, Colin?« Sie richtete sich auf und sah ihn aus dem Schneidersitz von unten herauf an. »Historisch gesehen, meine ich. Ist das möglich?« Chandler schüttelte den Kopf und versuchte, sich von seinem Schock zu befreien. »Möglich? Keine Ahnung. Möglich wäre alles. Aber die Sache hier ist unwahrscheinlicher als alles, was ich je gehört habe. Man könnte genauso gut behaupten, Franklin Roosevelt habe 1941 für die Japaner gearbeitet. Eigentlich ist es noch unglaubwürdiger, falls Sie sich so was vorstellen können. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes unglaublich, aber –« »Aber was?« »Aber in den Vereinigten Staaten gab es 1941 jede Menge Leute, die sich den Japanern und den Deutschen andienen wollten. Während der Revolutionszeit sympathisierten, vermutlich noch viel mehr mit den Engländern … Sie haben neulich meine Vorlesung gehört. Loyalität war damals eine hervorstechende Tugend – die Tugend überhaupt, sei es dem Land oder dem König gegenüber. Aber das da«, er wies mit dem Kinn auf das Papier, »übertrifft alles Dagewesene.« »Colin, Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie Washington anbeten – nein, keine Widerrede: anbeten oder hoch verehren oder sonst was … es bedeutet alles dasselbe.« »Er ist zweifellos der größte Mann in unserer Geschichte – nicht unbedingt der brillanteste oder der klügste, vielleicht nicht einmal der tapferste, aber als historische Figur einmalig –« »Bitte keinen Vortrag«, meinte sie mit verstecktem Lächeln. »Ich frage Sie: Würde ein anderer Historiker sich auch so sträuben zu akzeptieren, dass Washington sich für den Fall der Fälle absicherte?« »Sie könnten bestimmt Historiker finden, die von der Vorstellung begeistert wären. Rotznasen, die ganz wild darauf sind, zu beweisen, dass es keine großen Männer gibt. Sie brauchen sich doch nur anzusehen, wie sie sich auf Washingtons Kontobücher gestürzt haben … Kleingeister sind stets darauf aus, jeden auf ihr eigenes kleinkariertes Niveau zu reduzieren.« Polly richtete ihren Blick zum Himmel. »Gott, warum musste es ausgerechnet Washington sein?«, grummelte sie. »Sie trauen der Sache also nicht?« »Ich will ihr nicht trauen«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Es ist mir unmöglich …« Er hatte Mühe, Worte zu finden, und er erwartete nicht, dass ihn jemand hundertprozentig verstand. Das Fundament seines Daseins war in seiner Geschichtsphilosophie begründet: Er hatte keine Frau, keine Kinder, keine Verantwortung, die ihn vom Fluss seiner Gedanken ablenkten. Und falls seine Sichtweise falsch sein sollte – falls die Geschichte ein Witz war, eine langweilige und reichlich brutale Story von Durchschnittsmenschen, die rein zufällig in den Blickwinkel der Schreiber gerieten –, welchen Sinn hatte dann, sein Leben? Als er auf das Stück Papier starrte, das über den Abgrund von zwei Jahrhunderten hinweg die Grundlagen seiner Existenz infrage stellte, erschauerte er. Verraten fühlte er sich, verraten von seiner eigenen Überzeugung – und von der Geschichte selbst. Polly fasste nach seiner Hand und hielt sie zwischen ihren beiden Händen. Konnte sie mit ihm fühlen? Natürlich. Aber triumphierte sie hinter ihrem Mitgefühl nicht insgeheim, weil sie den Schlagabtausch gewonnen hatte? War die Geschichte – im Gegensatz zu den Ereignissen, die man Tag für Tag durchlebte – nur ein irreführendes Raster, auf etwas angewendet, das so komplex war, dass es keine Regeln dafür gab? War die Geschichte ein schlechter Scherz? Hatte Washington eine Narrenkappe getragen? O Gott, es war schlimmer, als die Augen zu öffnen und von der blitzenden Zange bedroht zu werden … »Jetzt hören Sie mal«, sagte Percy Davis. Er stand langsam auf und warf noch ein Stück Kohle ins Feuer, das er mit dem Schürhaken zurechtschob. Dann nahm er einen großen Schlüssel vom Kaminsims und drehte ihn in den Händen, während er seine beiden Gäste beobachtete. »Warum prüfen Sie nicht, wie tief das Wasser ist, bevor Sie reinspringen? Underhill und mein Enkel Bill wollten, dass Sie dieses Dings da begutachten. Das heißt doch, dass sie ihre Zweifel hatten – oder nicht? Wir wissen überhaupt nicht, ob der alte G. W. die Quittung hier selbst unterschrieben hat. Das stimmt doch, oder?« »William Davis hat ihn aber gesehen. Das Blatt Papier und die Unterschrift waren für ihn die Bestätigung.« Polly hatte das Blatt auf dem Tischchen zurechtgeschoben, um es besser sehen zu können. »Und William Davis selbst hat geschrieben, dass er seinen Augen nicht mehr trauen könne, weil er so mieses Essen bekam und alle schwach und krank waren. Ich schätze, er hat einen großen, breitschultrigen Mann gesehen, der mit Washingtons, Namen unterschrieb.« »Nicht bloß mit dem Namen«, wandte Chandler tonlos ein. »Es ist Washingtons Signatur.« »Na und?«, gab Percy zurück und ging mit dem Schlüssel zum Regulator. »Gefälscht wurde nicht erst im zwanzigsten Jahrhundert.« Er zog die Uhr auf. »Wie sieht denn alles Übrige für ein fachmännisches Auge aus, Professor? Denken Sie, es ist echt?« »Ja. Sieht so aus. Das Papier und die Schrift sind alt, der Stil wirkt auch echt. Auch das Porträt hat das richtige Alter, und es besteht für mich kein Zweifel, dass Winthrop Chandler es gemalt hat – das passt alles viel zu gut zusammen. Das Dokument wurde ganz sicher vor langer Zeit geschrieben – vor sehr langer Zeit. Aber hat Washington es unterschrieben? Oder ein Doppelgänger? Oder ein Helfer, der zu seinen Unterlagen Zugang hatte und seine Unterschrift nachahmen konnte? Haben die Engländer das Ganze inszeniert, um die Gegenseite zu erpressen? Oder hat Washington seinerseits versucht, die Engländer auszutricksen?« »Oder hat er für die Engländer gearbeitet?«, gab Polly zu bedenken. »Wir müssen auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.« »Wenn er den Engländern helfen wollte, hat er es ziemlich vermasselt«, meinte Percy. »Vielleicht erinnern Sie sich, dass er den Krieg gewonnen hat.« »Was wäre, wenn er später noch mal die Seiten gewechselt hat, als die Armee den Winter in Valley Forge überstanden hatte«, warf Polly ein. »Könnte doch sein, dass er sich keine Chance ausgerechnet hat, den Krieg zu gewinnen. Die einflussreichsten Männer des Landes waren zerstritten, die Armee in Auflösung begriffen. Vielleicht hat er siebenundsiebzig aufgegeben und beschlossen, seine Truppen lieber nach und nach ehrenhaft zurückzuziehen, zu annehmbaren Bedingungen und mit so wenig Verlusten wie möglich.«, »Wenn wir sie bloß dort auf der Lichtung sehen könnten«, sinnierte Chandler, während er sich den bedeutsamen Augenblick in einem Winkel seines Bewusstseins vorstellte. »Ich würde George sofort erkennen …« Ihr ungläubiges Lächeln brachte ihn wieder zurück in die Gegenwart. »Wissen Sie, wenn es nicht ausgerechnet Washington wäre. Irgendjemand anders, ja. Aber nicht Washington …« »Er war auch nur ein Mensch«, bemerkte Polly. »Nein. Er war viel mehr als das. Er war ein großer Mann.« »Ja, ja, das hab ich schon irgendwo gehört«, konterte sie ungeduldig. »Tut mir leid, Colin. Ich weiß, was das für Sie bedeutet, aber Sie müssen bereit sein, die Wahrheit zu akzeptieren – wenn es sich denn als wahr erweisen sollte.« »Davon sind wir noch meilenweit entfernt.« »Tut mir leid, Freunde«, mischte sich Percy ein, »ich will die Diskussionsrunde nicht stören, aber, die historischen Fragen mal beiseite, was hat dieses Stück Papier mit dem Tod von Bill und Underhill zu tun? Was kann der Grund sein?« »Gehen wir doch ein paar Möglichkeiten durch«, sagte Chandler, der die Gegenwart sogleich vergaß. Es war immer das Gleiche: Die Vergangenheit erschien ihm realistischer und vertrauter als die Probleme der Gegenwart. »Vielleicht steckt ein durchgeknallter Sammler dahinter, oder ein geistesgestörter Historiker … Das alles ist so schizophren!« »Ein Sammler oder ein Historiker, der ein paar Ganoven zum Töten und Foltern anheuert?« Der Zweifel in Pollys Stimme war kaum zu überhören. »Das will mir nicht in den Kopf. Wir haben es hier mit mindestens zwei Gruppen von Leuten zu tun: Einmal die Typen, die zu Ihnen ins Büro kamen, Fennerty und McGonigle – wer immer sie auch sein mögen. Und dann die Kerle aus Ihrem Haus. Sie alle sind hinter diesem Stück Papier her, hinter der Unterschrift und dem, was sie bedeutet. Colin, ich denke nicht, dass wir es mit einer akademischen Frage zu tun haben …«, »Ich weiß es nicht«, seufzte er. »Vermutlich haben Sie Recht. Ich bin völlig konfus.« »Was könnte man damit anfangen? Was macht man mit so einem Ding?« Percy meldete sich zu Wort: »Wäre ein ziemlicher Schandfleck in den Geschichtsbüchern, meinen Sie nicht? Wir würden ganz schön dämlich aussehen, wenn es den Russen oder den Chinesen oder sonst wem in die Hände fiele und sie’s publik machen würden. Kleines Geschenk zur Zweihundertjahrfeier.« »Ein Publicity-Gag.« Polly nickte und schob die Unterlippe vor. »Beschämend.« »Unsinn, das ist absurd.« Chandler stand auf und reckte sich. Er hörte seine Gelenke knacken. »Fremde Mächte? Wie sollten sie davon erfahren haben?« Auf dem Fußboden drehte sich Polly langsam herum und stieß Chandler den Finger vor die Nase. »Betrachten Sie doch die andere Seite der Medaille: Nehmen wir an, unsere Leute wüssten, dass es einen Beweis gibt, der George Washington als Landesverräter entlarvt. Wie würden sie reagieren?« »Sie lassen das Ding in der Versenkung verschwinden.« Percy rieb sich die trockenen Hände. Ihm war das Einzigartige der Situation bewusst geworden. »Schwer vorstellbar, dass unsere eigenen Leute durch die Lande ziehen und morden und foltern … aber aus der jüngeren Geschichte hab ich eins gelernt: Nichts ist unmöglich – rein gar nichts.« »Ja.« Polly schnurrte beinahe. »Und die Idee mit den fremden Mächten ist gar nicht so weit hergeholt, wenn man eines bedenkt –« »Was denn?«, fragte Chandler voller Ungeduld. »Ganz einfach: Nat hat kürzlich Bukarest besucht.« Fast zwei Stunden lang überlegten sie hin und her, ohne dass ihnen etwas Neues einfiel. Sie kamen zu keinem nennenswerten Ergebnis. Chandler brannten vor Müdigkeit die Augen, sein, Nacken schmerzte; sein steifer Körper, der noch unter den Attacken der beiden Ganoven und unter der feuchten Nachtluft litt, war ausgelaugt. Doch was ihm am meisten zu schaffen machte, war seine geistige Erschöpfung. Schließlich musste er gähnen und fiel fast von der Couch. Ihm war kaum aufgefallen, dass keiner mehr sprach. Polly und Percy Davis starrten wie betäubt in die Flammen. »Ich kann nicht mehr«, sagte er. »Ich bin völlig durcheinander, mir fällt nichts Sinnvolles mehr ein. Ich brauche Schlaf. Vielleicht weiß ich morgen früh, wie’s weitergehen soll.« Polly stand mit ihm zusammen auf. »Gute Idee«, warf Percy ein. »Bei Tageslicht erkennt man vieles besser. Ich habe für Sie ein Zimmer vorbereitet. Mit Doppelbett. Das ist Ihnen hoffentlich recht. Alle anderen Betten sind abgezogen.« »Wunderbar«, sagte Polly und unterdrückte ein Gähnen. Als sie in dem großen Zimmer allein waren, in dem das Glas im Fensterrahmen klapperte, fielen sie todmüde aufs Bett. Chandler war beinahe eingeschlafen, als er ihre Stimme über sich hörte. Mühevoll zog er ein Augenlid hoch und sah ihren Umriss im nächtlichen Zwielicht. »Was haben Sie gesagt?« »Nichts.« Sie beugte sich über ihn, und er spürte ihren Mund zart auf seinem. »Nur ein Gutenachtkuss.« Er zog sie zu sich herab und küsste sie, während er ihren Körper an sich presste. Aber ihm fehlte die Energie, weiterzumachen. »Schlafen Sie« flüsterte sie und erhob sich. Dann legte sie eine Decke über ihn. »Das Zimmer riecht wie eine Kommode aus Zedernholz« brummelte er. »Das mit George Washington tut mir wirklich leid«, hörte er sie vom anderen Bett aus sagen. »Vielleicht ist alles ein Irrtum, Colin.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Er wollte noch mehr sagen, aber alles schien ihm zu entgleiten. Er bildete sich ein, ihren, Duft einzuatmen, ihren Mund auf seinem zu fühlen. Doch nicht mal da war er sich sicher. Verdammt – er würde nichts von Kennebunkport verraten. Aber die Fragen hagelten auf ihn ein – immer wieder. Und die Schmerzen … Die Tortur hatte schon ziemlich lange gedauert, und Hugh Brennan hatte sich die meiste Zeit gewünscht, einfach das Bewusstsein zu verlieren. Doch die Ohnmacht war ihm wohl nicht vergönnt. So registrierte er weiterhin seine Umgebung, den Geruch des Vick Vaporub, der ihm von seiner behaarten Brust in die Nase stieg, das Brennen im Magen, verursacht durch die Mischung aus Bier und Excedrin … Nein – falsch. Sein Magen enthielt gar nichts mehr; aber es fiel ihm schwer, die Dinge auf die Reihe zu bringen: die kalten Schweißausbrüche, das Erbrochene, an dem er fast erstickt wäre, als es von dem Handtuchknebel in seinem Mund blockiert wurde und in die Luftröhre rann, sein unfreiwilliges Urinieren, sein Entsetzen, als er sich durch das Handtuch in die Wange und in die weiche Masse seiner Zunge gebissen hatte und sein Blut im Mund schmeckte. Bevor sie mit dem Handtuch ankamen, als er glaubte, noch eine Chance zu haben, hatte er es mit einer witzigen Story versucht. »Hört mal, Leute, nehmen wir’s doch von der heiteren Seite! Kennt ihr schon den von den zwei Polen und ihrem schwedischen Kumpel? Nein? Na gut, redet nicht dazwischen … He, was macht ihr da? Also, die drei hängen jahrelang in der gleichen Bar rum, immer zusammen, und – he, was soll das? Nein, hört auf, seid nicht so verbohrt! O Gott!« So hatte es vor einer Ewigkeit angefangen. Im Fernsehen lief der nächste Film, es musste also gegen zwei Uhr morgens sein – eine Rechnung, die ihm bewies, dass er seine fünf Sinne noch beisammen hatte. Er roch den Schweiß seiner Peiniger, beobachtete, wie er sich sammelte und dann von, der einen sichtbaren Augenbraue des Mannes mit der Zange herabtropfte, sah den Verband auf seinem Gesicht während seiner Anstrengungen rutschen, und auf der gelockerten Binde abgestorbenes Gewebe und Salbe und Haare. Die Augen des Mannes glänzten, und er leckte sich die Lippen, während er sich über sein Opfer beugte. Der Kleine stellte ständig Fragen, immer wieder die gleichen, doch niemand beachtete ihn. Zwischendurch ging er auf die Veranda, um Luft zu schnappen. Manchmal forderte er den Großen auf, aufzuhören, aber es hatte keinen Zweck. Er hatte nämlich Angst vor ihm, und Brennan erkannte auch, warum. Durch sein vehementes Erbrechen und seinen verzweifelten Kampf gegen das Ersticken hatte sich das Handtuch gelockert. Er schob es mit der Zunge aus dem Mund. Als es auf seine Brust fiel, stopfte es keiner zurück. Er konnte kaum noch krächzen, geschweige denn schreien. Gegen die Schmerzen ankämpfend und ohne seine Stimme richtig hören zu können, fuhr er fort: »Eines Tages kamen die beiden Polen ohne den Schweden in die Bar. Er war schon seit Tagen verschwunden. Vermisst. Die Polizei fragte die Polen nach dem Schweden … o Gott, hören Sie auf!« Brennan musste zum ersten Mal kotzen, als er seine blutigen, ausgefransten Fingerkuppen sah, die Stellen, an denen seine Nägel gewesen waren. Sie sahen aus, als wären sie bis auf die Knochen heruntergebissen. Blut war auf den Stuhl getropft, auf seinen Bademantel und auf den Regenmantel seines Peinigers, Blut und Fleischfetzen, und die Hände des Mannes und seine Zange waren blutverschmiert und glitschig. Damit die Zange richtig greifen konnte, musste er sie an seinem Mantel trocken wischen. Als sie mit der einen Hand fertig waren und noch nicht mit der anderen angefangen hatten, wurde Brennan klar, dass sie einen großen Fehler machten: Sie hatten nicht die Absicht, ihn umzubringen. Immer wieder fragten sie ihn, wo Chandler war. Sie brauchten, lange, um zu begreifen, dass er ihnen rein gar nichts sagen würde. Nach seiner rechten Hand machten sie einfach weiter, aber er hatte schon zu viel mitgemacht – sie würden ihn nicht zum Sprechen bringen. Den Kleinen strengte das Reden an; er verlor das Interesse. Doch der andere hantierte wie der Teufel: Er arbeitete gegen seine Frustrationen an und grunzte vor Anstrengung, als er die Nägel an den Wurzeln ausriss. »Die Polizei verlangte eine Beschreibung«, sagte Brennan, um eine deutliche Aussprache bemüht. Er wusste nicht, ob es ihm gelang. »Die beiden Polen beschrieben ihn, und die Polizisten wollten wissen, ob der Schwede besondere Merkmale hatte. Die Polen erinnerten sich: Der Schwede hatte zwei Arschlöcher. ›Zwei Arschlöcher!‹ Die Polizisten staunten. Woher wussten die Polen das? Sie lachten. ›Ganz einfach! Immer, wenn wir in die Bar kamen, der Schwede und wir, sagte der Barmann das Gleiche: ›He, hier kommt der Schwede mit den zwei Arschlöchern!‹ …« Keiner lachte, doch Brennan war das egal. Er lächelte und dachte in seinem Delirium aus Fantasie und Schmerzen an Mary Tyler Moore. Dann stopfte ihm der Kleine das Handtuch wieder in den Mund. Er fragte sich, ob sein Herz das aushalten würde. Ein idiotischer Zeitpunkt, um an einem Herzanfall zu sterben! Der Große arbeitete stöhnend weiter. Der Verband hing ihm an einem Pflasterstreifen vom Ohr herab, so dass Brennan ab und zu die entsetzliche gräulich-rosa Wundfläche auf der einen Gesichtshälfte sehen konnte. Seine Hände taten kaum noch weh. Er wartete geduldig und bemühte sich, nicht die Nerven zu verlieren. Schließlich sank der Große zurück und starrte die Wand an, als hätte er sich bei der Tortur übernommen. Brennan beobachtete ihn, bevor er einen Blick auf seine eigenen Hände riskierte. Wieder fühlte er, wie sich sein Magen umdrehte. Er fing an, trocken aufzustoßen. Wie ein Puppenspieler hob er den rechten Arm, der leblos an Schnüren zu hängen schien, und zog an dem Handtuch zwischen seinen aufgeplatzten, schmerzenden, Lippen. Er spürte kaum Schmerz in den Fingerkuppen. Sie fühlten sich eher schwammig an – schwammig und warm und von einem pulsierenden Brennen durchströmt. Er presste die Zunge gegen das Handtuch und verschluckte sich an dem herausgedrückten Blut. Aus seinem Hals drang ein schwaches Krächzen. Er konnte nicht mehr sprechen; sein Hals fühlte sich an, als sei er eine Stunde lang mit Mistgabel und Sandpapier traktiert worden. Als er nieste, wusste er, was es hieß, zu sterben und wieder ins Leben zurückzukehren. Er berührte sein Gesicht. Es war in Schweiß gebadet, und auch sein Bademantel war durchweicht. Was sollte er tun? Der Kleine rief dem Großen aus der Küche zu, er solle rauskommen und sich beeilen. Der drehte sich mühsam auf alle viere und richtete sich taumelnd auf. Er sah aus wie eine Horrorerscheinung aus dem Schlachthaus, voller Blut, das Gesicht auf einer Seite weggeschmolzen. Kaum war er aus dem Zimmer gepoltert, ließ sich Brennan zu Boden gleiten und rutschte auf Knien zum Sideboard. Mit dem, was von seinen Händen übrig war, packte er den schweren Schwarzdornknüppel. Er spürte nichts, musste sich aber die Handflächen abwischen, um ihn gut in den Griff zu bekommen. Idioten, dachte er. Sie hätten mich umbringen sollen. Er zog sich hoch. Auf dem Weg zu seinem Posten im Schatten neben dem Durchgang kam er an einem Spiegel vorbei. Ihn erschreckte, was er sah: die fürchterlich blutigen Hände, die den Knüppel umklammerten, der nass und offen an ihm herabhängende Bademantel, das schwarze Loch seines Mundes. Mit der Geduld der Verdammten wartete er, bis er sie kommen hörte. Sie gingen rasch und sprachen aufgeregt miteinander, doch Brennan interessierten ihre Worte nicht. Er schwang den Knüppel genau im passenden Moment. Als sie aus dem Durchgang traten, stieß er ein grässliches Banshee- Geheul aus und erkannte den Ausdruck von Todesangst auf dem, Gesicht des Kleinen, als das dicke knorrige Ende des Knüppels dem Großen mitten ins Gesicht krachte. In der einen Sekunde stand der Mann noch da, in der nächsten nicht mehr. Sein Schwung schleuderte Brennan durch den Durchgang, wo er – halb nackt – mit dem fallenden Körper zusammenstieß, der schlaff zu Boden sank. Nase und Augen bildeten eine einzige Masse, das Gesicht war in den Schädel gedrückt. Der Körper schlug auf den Boden, als Brennan mit den Schreckensschreien des Kleinen im Ohr und rotem Nebel vor den Augen dicht dahinter landete. Dann wurde er bewusstlos und hörte nichts mehr. In seiner Brust spürte er nur noch einen kurzen elektrischen Schlag. Der flatternde Herzschlag des alten Herrn vereitelte seinen Schlaf. Bisweilen – wie im Augenblick – kam es ihm so vor, als huschten ein paar Mäuschen in seinem Körper umher wie glückliche, flinke, menschenähnliche Geschöpfe von Walt Disney. Das Konzert hatte ihm Freude gemacht, trotz der wenig ermutigenden Unterhaltung mit Liam und Andrew. Mit Kenneth Roberts’ Arundel, den der Autor Vorjahren für ihn signiert hatte und der schon ganz zerlesen war, hatte er sich zeitig ins Schlafzimmer zurückgezogen. Von mehreren Kissen gestützt, neben dem Bett sein Sherry, der dicke Roman auf dem Schoß, auf dem UKW-Sender Die Fledermaus: So saß er da und bemühte sich, den beunruhigenden Aufruhr in seiner Brust zu ignorieren. Es war ihm gelungen, die internationalen Aktivitäten der letzten Tage zu vergessen, ebenso die Unterhaltung mit Sanger, während er sich in Roberts’ Erzählung über Benedict Arnold verlor. Die Lider wurden ihm schwer, und gleich stellte sich der unvermeidliche Gedanke ein: Wenn du jetzt einschläfst, wachst du morgen vielleicht nicht mehr auf. Er hatte sich inzwischen so daran gewöhnt, dass er fürchtete, tatsächlich in der endlosen Nacht zu versinken, sollte ihm dieser Gedanke einmal nicht, durch den Kopf gehen. Ängste. Die Ängste der Alten und Schwachen … Er schlummerte ein, doch das Flattern in seinem Herzen weckte ihn. Mit schweren Lidern kämpfte er sich einsam durch die Nacht. Kurz nach halb vier am Sonntagmorgen klingelte das grüne Telefon. Er zuckte zusammen: die vermaledeiten Schlächter von auswärts! Nachdem er sich den Sherry von der Unterlippe geleckt und sein Glas abgestellt hatte, langte er nach dem störenden Objekt. »Ja«, sagte er kühl. Sein weißer Schnurrbart zitterte, als er die Zähne zusammenbiss. Was nun folgte, strapazierte seinen guten Glauben bis zum Äußersten. Er hörte mit ernstem Gesicht zu. Hätte er Farbe im Gesicht gehabt, so wäre er während des Berichts bleich geworden. »Klappe halten!«, forderte er mit Nachdruck. »Wen haben Sie umgebracht? Drücken Sie sich klar aus, damit ich alles richtig verstehe. Es ist wichtig. Und jetzt reißen Sie sich zusammen.« In Gedanken hatte er das Todesurteil für diese beiden Stümper schon unterschrieben – wie mit Sanger abgemacht. Als er auf die Wiederholung des Berichts wartete, zogen sich seine weißen Augenbrauen zusammen. »Sie haben niemanden umgebracht«, sagte er langsam. »Ozzie ist tot? Was soll das heißen? Wie das?« Er griff nach einem Fläschchen winziger weißer Pillen, Placebos nach seiner Überzeugung, aber er nahm sie trotzdem. Sie zeigten nie die geringste Wirkung. »Professor Brennan hat ihn getötet? Mit einem Stock?« Er ließ die winzig kleine Tablette unter der Zunge zergehen. »Ich möchte nicht grob sein, verstehen Sie, aber Sie müssen zugeben, dass sich Ozzie diese Woche wie ein Gehirnamputierter benommen hat … Nein, natürlich ist das nicht lustig. Aber ich hätte wohl gedacht, dass er sich gegen zwei lahme Harvard-Professoren behaupten könnte … Lassen wir das … Sie sind geflüchtet, das kann ich verstehen. Sie wissen nicht, ob Brennan noch lebt … Ich, vermute, das war Ozzies Vorstellung von einem Gespräch: ein paar Stunden schwere Folter … Ich finde, er hat den Tod verdient, Mr. Thornhill. Schade, dass ich nicht selbst mit Hand anlegen konnte.« Er nippte an seinem Sherry. »Beruhigen Sie sich doch! Ich weiß, er war Ihr Partner. Trotzdem war er ein blutrünstiger Irrer, auf seine Art, wenn Sie mich verstehen … Sie tauchen jetzt bitte unter. Was? Sie wissen, wohin Chandler gefahren ist? Gut. Unternehmen Sie nichts. Nichts! … Nein, Sie fahren nicht nach Kennebunkport … Thornhill? Thornhill? …« Er legte den Hörer auf die Gabel und strich sich mit geschlossenen Augen über den weißen Schnurrbart. »Gott verdamm dich, Thornhill«, flüsterte er. Was sollte er jetzt machen? Er hätte gern gewusst, wie viele Leichen in Brennans Haus in Cambridge herumlagen. Vermutlich würde ihm nichts übrig bleiben, als das herauszufinden. Und wie sah es mit dem flüchtigen Chandler aus? Andrew Fennertys schmaler kleiner Mund stand leicht offen und ließ zwischen den Lippen ein winziges Stückchen von einem nikotinverfärbten Zahn sehen. Die Lider hinter den runden Brillengläsern waren geschlossen, und seine Augen bewegten sich im Schlaf unruhig hin und her. Mit seinen bläulichroten Tränensäcken sah er aus wie ein Kranker. Bis auf seine schweren Stiefel lag er voll bekleidet auf dem Bett im Ritz- Carlton und hatte sich bis zum Gürtel mit einer Decke zugedeckt. Auf dem zweiten Bett lag McGonigle mit dem Rücken zu ihm auf der Seite. Sein lautes, beständiges Schnarchen war möglicherweise der Grund für Fennertys nervöses Augenflackern. Das Telefon ließ ihn hochfahren, als habe ihm jemand einen Rippenstoß versetzt. Seine wieselflinken Augen klappten auf wie bei einer Puppe. Mühsam versuchte er hochzukommen, verhedderte sich dabei aber in der Decke. Ein Angreifer hätte ihn inzwischen längst getötet, das wusste er wohl. Es bewies, wieder einmal, dass er zu alt war für solche Sperenzchen, dass er wieder an seinen Schreibtisch gehörte, von wo CRUSTACEAN ihn weggeholt hatte. Der alte Herr würde am Telefon sein, da war er sich sicher. »Andrew«, sagte die ferne, emotionslose und müde Stimme, »Sie sollten Brennan im Auge behalten … Ich dachte, ich hätte mich vollkommen klar ausgedrückt.« »Wir waren doch dort«, erwiderte Fennerty mit trockenem Mund, »bei seinem Haus.« Er griff nach dem staubigen, mit abgestandenem Wasser gefüllten Zahnputzglas auf dem Nachttisch zwischen den Betten. »Wir haben es sogar mit dem Richtmikrofon überprüft. Glauben Sie mir, er hat ferngesehen und geniest. Sonst nichts.« »Bringen Sie mich nicht in Rage. Sie werden feststellen, dass der Fall ganz anders liegt. Keine Widerrede: Sie fahren jetzt hin und schauen nach, und danach erzählen Sie mir haarklein, was Sie vorgefunden haben. Haarklein, verstanden?« »Verstanden.« Fennerty spürte einen schwachen Adrenalinschub; es war aber nicht der aufregende Kitzel, wie er ihn früher mal gekannt hatte. »Punkt zwei: Chandler hält sich vermutlich in einem Gasthaus am Strand von Kennebunkport versteckt, im Seafoam Inn.« Der alte Herr klang irgendwie nervös. Fennerty konnte sich nicht an etwas Ähnliches erinnern. Jeder wurde eben älter. »Lum und Abner dürften es in Erfahrung gebracht haben –« »Lum und Abner?« »Aufwachen, Andrew! Die beiden Typen, von denen ich Ihnen erzählt habe und die Sie für mich aufstöbern sollten. Sie müssten wissen, wo Chandler sich aufhält. Ich glaube, sie haben Blut geleckt wie die Haie … Also legen Sie sich ins Zeug. Andrew?« »Ja?« »Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich glaube, wenn Chandler umgebracht wird, sind Sie fällig. Ich will, dass die beiden am Leben bleiben – Chandler und die Fernsehlady, die, bei ihm ist, Polly Bishop. Tun Sie alles, um ihnen das Päckchen abzujagen …« »Worauf legen Sie nun mehr Wert«, fragte Fennerty quengelig, »auf die Leute oder das Päckchen? Falls ich mich entscheiden müsste.« Aber er bekam keine Antwort. Die Leitung war tot. Irritiert lag Fennerty ein Weilchen still und fragte sich, worum es eigentlich ging, was denn nun im Ernst von ihm verlangt wurde. Alles war so chaotisch; wenn man im Einsatz war, blickte man nie ganz durch. Man sah nur ein paar kleine Puzzlestücke, die keinen Aufschluß auf das Ganze ermöglichten. Man kannte seinen Teil der Aufgabe, der Rest war ziemlich verschwommen. Vermutlich war das schon von jeher so gewesen. Hundertprozentig. Deshalb wollte er nie mehr Einsatzdienst machen, sondern am Schreibtisch arbeiten, wo man sich als erwachsener Mensch fühlen konnte. Es wurde langsam Zeit. Er hatte einmal jemanden gekannt, der für die Washington Redskins Football spielte, ein bisschen alt für einen Footballspieler, knapp vierzig, doch er sah aus wie um die fünfzig, besonders seine großen verletzlichen braunen Augen. Dieser Mann hatte ihm einst erzählt, was da draußen auf dem Spielfeld abging. »Andrew«, hatte er leise und friedlich gesagt, als sie im Innenhof seines Hauses in Georgetown saßen, »du bist bloß ein Fan und glaubst den ganzen Mist, den du über Football liest … die sechshundert Spiele pro Saison, die unzähligen Varianten, die Blockaden, das gekonnte Timing, die unglaublichen Feinheiten und das spielerische Geschick, den ganzen Scheiß über ein Schachspiel mit menschlichen Figuren. Das alles ist eine einzige Verlade, die Intellektualisierung von Football, um den Schein zu wahren, damit Arschlöcher wie Nixon ihre Außenpolitik im Football-Slang beschreiben können …« Er hatte verächtlich das Gesicht verzogen, aber nicht die Stimme, erhoben, sondern sprach einfach so dahin in seinem gemächlichen schottischen Singsang, der ihm durch den Wild Turkey ein bisschen entglitt. »Beim Football geht es nur um eins, Andy – um eins allein: nämlich um Arschtritte.« Er hatte leise in sich hinein gelacht. Es war Frühling, und wahrscheinlich hatte er schon gewusst, dass es für ihn gelaufen war. »Nichts Großartiges. Nur Blut und Schmerzen, und die Hälfte der Spieler hat Schaum vor dem Mund von irgend welchen Drogen, Augen wie Stecknadelköpfe … Wie im Dschungel, Andy. Das totale Chaos. Und während wir da draußen sind und im Dreck wühlen und in die Hose pissen und blutiger Rotz aus unseren Nasen rinnt, haben wir keine Ahnung, was im Spiel los ist, wie ihr es seht. Und wenn wir’s geschafft haben, ihnen stärker die Hucke voll zu hauen als sie uns, ja, dann wischen wir uns gegen vier am Sonntagnachmittag die Scheiße aus den Augen und schauen hoch, und die Leute stehen da und jubeln, und das heißt, dass wir gewonnen haben.« Fennerty hatte oft an diese Rede gedacht. Er hatte sie in seinem Gedächtnis bewahrt und sich gewünscht, er hätte sie auf Band; denn mit den gleichen Worten hätte er über seinen eigenen Job reden können. Andrew Fennerty der jemandem erzählt, was es bedeutet, für die Company zu arbeiten. Aber so was konnte man nicht machen. Niemals. Und keiner erhob sich und jubelte der Company zu. Das jedenfalls waren seine Gefühle, als er im Ritz im Dunkeln auf dem Bett lag, während aus dem Bad ein schwacher Lichtschein drang. Ein gestandener Mann, der niemals ohne Nachtlicht schlief. Welche Chance hatte er bei einem wirklich guten Gegner? Gegen ein Ass der Russen? Oder – was der Himmel verhüten möge – gegen einen Nazi-Typen aus Texas oder Südamerika oder Südafrika? Er seufzte ergeben und schwang seine Beine über die Bettkante. Seine Gedanken schweiften ab. Er musste sich zusammenreißen. Liam und er waren voll beschäftigt mit diesen beiden Kerlen, Lum und, Abner, und mit dem Harvard-Professor und der Frau. »Liam, alte Schlafmütze, Zeit zum Aufstehen!« Als Chandler allmählich erwachte, hörte er die Brandung und aus dem anderen Bett Polly, die geräuschvoll durch den Mund atmete. Die Ruhe hatte ihm gut getan. Sein Geist war wieder klar. Er wusste sofort, wo er sich befand und was er zu tun hatte. Es war kurz nach acht. Vorsichtig stieg er aus dem Bett, stellte aber zufrieden fest, dass er nicht mehr so unbeweglich war und dass es dem verletzten Ohr besser ging. Er trat ans Fenster und sah hinaus in das graue Licht, das durch die tief hängenden Wolken über dem stahlblauen Atlantik drang. Die Brandung warf sich halbherzig gegen den mit Felsen übersäten Kiesstrand, der jenseits der Straße zum Meer abfiel. Einsame Möwen tauchten herab und stiegen wieder zu dem kalten, undurchsichtigen grauen Himmel auf. Einen einsameren, verlasseneren Ausblick konnte es kaum geben. »Es ist ganz eindeutig ein Schwindel«, flüsterte er in die Stille. »Die Engländer wollten ihn reinlegen, ihn vielleicht erpressen … Und wenn’s kein Schwindel war, dann hatten sie ihn vielleicht schon erpresst, und er hat mitgemacht und nutzlose Informationen geliefert.« Nickend stimmte er seinen Überlegungen zu. »Vielleicht konnte er sogar hilfreiche Einzelheiten für seine eigenen Ziele erfahren.« Polly drehte sich auf den Rücken und legte ihre Hand über die Augen. Sie schlief noch. Kein Grund, sie schon zu wecken. Auf Zehenspitzen schlich er durch das kleine Zimmer, nahm seine Tasche und huschte durch den Gang in das unbeheizte Bad. Während seiner kühlen Überlegungen im Morgenlicht schien ihm die Echtheit des Dokuments nicht mehr sicher, obwohl der Schock vom ersten Blick auf die Unterschrift noch nicht verflogen war, sondern ihm wie die bizarren Blitze aus unschuldigen Sommernächten seiner Kinderzeit im Gedächtnis, haftete. Er war außerstande, George Washingtons Verrat als Tatsache zu akzeptieren; wie war so etwas möglich? Auch der Morgen blieb ihm die Antwort schuldig. Er ging ins Schlafzimmer zurück, um das Porträt von Winthrop Chandler und die Dokumente zu holen, die Polly sorgsam auf der Kommode arrangiert hatte. Das Gesicht der Frau nahm einen auch nach zweihundert Jahren noch gefangen. Es kam ihm so vor, als würde sie ihn beobachten. Er wusste, dass sein Unterbewusstsein sich mit den historischen Fragen beschäftigte, welche die Papiere aufwarfen, während er bewusst versuchte, die Probleme der Gegenwart in den Griff zu bekommen. Unten in der Küche klapperte Percy Davis auf dem Herd mit schmiedeeisernen Pfannen. Der Duft von gebratenem Schinkenspeck durchzog verführerisch den großen Raum. Percy Davis winkte ihm mit einem Kochlöffel einen Morgengruß zu. »Ich hab mein Frühstück und ’n Spaziergang unten am Wasser schon hinter mir«, erklärte er mit seinem kargen Lächeln. »Ich mach Ihnen ein paar Eier mit Schinken. Sagen Sie mir, wann ich loslegen soll.« Er trank eine Tasse Tee und rüttelte an dem Wasserkessel auf der hinteren Flamme. »Gut geschlafen? Keine Dummheiten gemacht?« Seine wässrigen Augen zwinkerten kurz. »Leider nicht, Sir. Zu müde.« »Machen Sie Harvard keine Schande«, meinte Davis, ohne eine Miene zu verziehen. »Davon kann keine Rede sein. Ich brauche ein Telefon.« »Benutzen Sie das am Empfang. Kostenfrei.« Seine trockene Stimme knisterte beinahe vor Vergnügen. »Die Aufregung tut mir gut. Ich fühle mich heute großartig. Die Sache weckt viele Erinnerungen. Ein Jammer, dass Bill sterben musste … Nun ja. Nehmen Sie das Telefon auf dem Tresen. Ich lasse den Speck langsam braten.« »Colin Chandler – so wahr ich lebe!« Zu Colins Erleichterung, kam Prossers warmer Sarkasmus genüsslich über die Leitung. Völlig normal und auf besondere Weise beruhigend. »Sie haben sich in letzter Zeit einiges geleistet. Es ist ja schön, wenn Harvard durch die Presse geht, aber nicht im Zusammenhang mit so einem Affentheater. Überall Leichen – wie im letzten Akt von Hamlet. Wie geht es Ihnen, mein Lieber? Wo sind Sie? Ich hoffe, in einem gemütlichen, sicheren Eckchen.« »Mir geht’s ganz gut. Im Moment bin ich in Sicherheit.« Chandler grinste heftig, während er sprach. Trotz seines distanzierten, snobistischen und eleganten Gehabes war Prosser für ihn noch immer so etwas wie ein Ersatz für seinen Vater, den er schon früh verloren hatte. Zu Bert Prosser brachte er die Trophäen seines Erfolges, seiner schulischen Leistungen, seiner bekanntesten Bücher und Artikel. Prosser war es, der ihm einen Platz anbot, Cognac einschenkte und zum Glückwunsch eine Zigarre mit ihm rauchte. Dabei stand er Prosser gar nicht besonders nahe; der berühmte Mann war zu eng mit den Staatsgrößen verbunden, als dass man leicht Zugang zu ihm finden konnte. Doch Chandler hatte bei ihm einen so guten Stand, wie es für jemanden abseits der Spielwiesen der Mächtigen nur möglich war. »Aber wie Sie wissen, bin ich da in eine ziemlich unangenehme Sache reingeraten. Offen gesagt, ich brauche Ihren Rat … Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« »Unsinn, das kommt Ihnen nur so vor. Glauben Sie mir, es bleibt einem immer noch mehr Weisheit, als man denkt. Ich helfe Ihnen aber gern, Colin. Was gibt es?« Zwanzig Minuten später beendete Colin atemlos seinen Bericht und fragte sich, ob er sich verständlich machen konnte. »Ich schwöre: Jedes Wort ist wahr«, schloss er. »Natürlich. Am wichtigsten ist aber, dass Sie und Miss Bishop in Sicherheit sind. Zweitens haben Sie das Dokument, hinter dem offenbar alle her sind. Ich glaube, dass ich Ihnen da helfen kann. Sieht aus, als würden Sie von verschiedenen Seiten verfolgt. Schwierige Lage, alles in allem.« Chandler hörte, wie, er einen Schluck Kaffee trank, hörte Papier rascheln. »Es gibt immer einen Ausweg. Immer. Ich weiß nicht, was ich von dem Dokument halten soll. Ist es echt oder nicht? Ich müsste es sehen, aber dann würde ich’s wohl auch nicht wissen. Ich denke, dass Eile Not tut … Sie müssen sofort aus diesem Seafoam- Dings verschwinden. Seien Sie sich nicht zu sicher, dass Sie die Kerle abgehängt haben, die Ihnen auf den Fersen sind. Nach meiner Erfahrung ist so was leichter gesagt als getan. Die haben Mittel und Wege, von denen Sie nicht mal träumen. Verbindungen, von denen Sie kaum etwas ahnen. Nehmen Sie meinen Rat an, mein Lieber, und zögern Sie keinen Augenblick: Ich habe oben im Norden ein Sommerhaus, in Johnston, Maine, gleich hinter dem Ort.« Er beschrieb das Haus. »Sie können es nicht verfehlen. Es ist niemand dort im Moment. Ich deponiere immer einen Schlüssel unter dem Holzstoß vor dem Schuppen, welcher der Tür am nächsten ist. Sie finden ihn. Tasten Sie nur danach. Machen Sie es sich drin gemütlich, heizen Sie den Kamin an, gönnen Sie sich eine Flasche Wein. Ich komme, so bald ich kann. Alles klar, Colin?« »Ja, Bert – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wusste, Sie würden eine Lösung finden.« »Die Lösung wohl nicht. Aber wir haben jedenfalls Zeit zum Überlegen. Jetzt aber los!« Eine halbe Stunde später schaufelten Polly und Chandler Rühreier mit Pilzen und Zwiebeln in sich rein, dazu fast ein Pfund besonders dicker Schinkenspeck-Scheiben, englische Muffins, die vor zerlaufener Butter und Erdbeermarmelade trieften, und Neuengland-Kaffee, »regulär« serviert, wie Percy es nannte, das hieß, mit viel Sahne und Zucker. Percy fragte Polly über ihren Job aus, während Chandler mit seinen Gedanken vorauseilte. Er wollte möglichst rasch aufbrechen. Bert Prosser kannte sich in solchen Dingen aus; Gott weiß, was für Aufträge er in den Vierzigern für die Regierung erledigt, hatte. Und wenn er davor warnte, sich allzu sicher vor diesen Hundesöhnen zu fühlen, dann hatte er Recht. Die Zeit drängte – sie mussten los. Percy brachte sie zum Wagen. »Geben Sie auf sich acht«, mahnte er. »Den Weg nach Johnston kennen Sie. Haben Sie auch nichts vergessen? Sie werden mir fehlen, Sie beide. Lassen Sie mich wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Ich will’s nicht erst aus dem Fernsehen erfahren. Und kommen Sie mal übers Wochenende raus.« Schließlich klopfte er als Zeichen zum Aufbruch auf das Dach des heruntergekommenen braunen Gefährts und winkte, als Chandler in engem Bogen wendete und die Auffahrt hinunter fuhr. »Seien Sie vorsichtig!« Chandler nickte und hielt bestätigend die Daumen hoch; dann waren sie wieder unterwegs. Sie folgten der langsameren, weniger frequentierten Straße, die sich durch eine Stadt nach der anderen die Küste entlangzog. Es war langweilig, aber er fand, dass es am wichtigsten war, den Ort ihrer letzten Stippvisite hinter sich zu lassen. Ein Verfolger würde annehmen, dass sie sich über den schnelleren Freeway aus dem Staub gemacht hätten – auch wenn Chandler sich nicht vorstellen konnte, wie jemand den braunen Wagen erkennen sollte. Über dem metallisch schimmernden Meer blieb der Himmel grau. Traurig verfärbte Schneereste bedeckten hier und da den schmutzig braunen Boden und das niedergedrückte, trotzig sprießende Gras. Im Juni oder im Oktober wäre es eine wundervolle Fahrt gewesen – jetzt musste sie einfach durchgestanden werden. Sie redeten nur sporadisch miteinander. »Was halten Sie von der Sache, nachdem Sie drüber geschlafen haben?«, fragte sie. Zu seiner großen Erleichterung sprach sie nicht mit dem Unterton einer anderweitig Überzeugten. »Ist das Dokument echt?« »Ich habe mich im Hinterkopf ständig damit beschäftigt.« Er, warf ihr einen Blick zu. »Außerdem bin ich Ihrem Rat gefolgt und habe mich bemüht, das Ganze mit den Augen eines nüchternen Historikers zu sehen – nicht als George-Washington- Fan.« »Und?« »Ich habe versucht, mich in seine Lage zu versetzen. England war damals so allgegenwärtig, und nach menschlichem Ermessen hätte es eigentlich den Krieg gewinnen müssen … Die Amerikaner selbst waren ja so typisch englisch. Im Juni 1775 ernannte der Kongress ein Dutzend Generäle, zusammen mit Washington, und der Einzige, der nicht als Offizier unter der Krone gedient hatte, war Nathanael Greene von Rhode Island. Die anderen – Richard Montgomery, Charles Lee und Horatio Gates – waren alle in England geboren und hatten in der britischen Armee Dienst getan. Washington war aufgrund seiner besonderen Lebensumstände Amerikaner durch und durch. Er hätte aber genauso gut auf der anderen Seite stehen können. Es gab da zum Beispiel den Fall von Beverley Robinson. Er war mit Washington in Virginia aufgewachsen, sein Vater diente unter der Krone als Gouverneur. Beverley stellte 1746 eine Truppe für den Feldzug gegen Kanada zusammen, und während sie in New York Station machten, begegnete er Susanna Philipse. Die beiden heirateten … Auf dem Rückweg, nach Braddocks Niederlage, traf George Susannas Schwester Mary, die Erbin der Familiengüter in Westchester und Dutchess County. Washington machte ihr den Hof, aber aus irgendeinem Grund wurde nichts daraus. Hätte er sie geheiratet, so wäre er hundertprozentig als Königstreuer in den Dienst der Krone getreten. Genau das hat nämlich Robinson getan.« Er hielt an einer Ampel in einem verlassenen Dorf. Die Bäume waren kahl, der Schnee schmolz und hinterließ Flecke auf den Gehsteigen. Polly hörte ihm gespannt zu. Auf dem Weg durch das stille Dorf bemerkte er einen Frühaufsteher, der seinen, nassen, matschigen Rasen mit einem dürren Rechen bearbeitete. »Beverley Robinson brachte es nicht über sich, mit den Rebellen gemeinsame Sache zu machen«, fuhr Chandler fort, als hätte er den Mann gekannt und alles sei erst am Tag vorher passiert. »Also zog er sich auf sein Gut in Dutchess County zurück und wartete ab. Bis ihn John Jay 1777 aufforderte – von Mann zu Mann –, Farbe zu bekennen. Beverly sagte, er könne den geforderten Treueid nicht leisten. So war er gezwungen, sein Bündel zu packen und mit der ganzen Familie nach New York zu ziehen, hinter die britischen Linien. Seine Entscheidung war getroffen. Aber später, als die Kolonisten den Krieg zu gewinnen schienen, war er bei den Friedensverhandlungen der ideale Vermittler. Er sagte, es sei an der Zeit, die Kämpfe in Ehren und in Sicherheit zu beenden und Milde walten zu lassen.« »Sie denken, Washington sah sich in einer ähnlichen Situation?« Polly kaute auf ihrem Fingernagel und starrte auf das starre Land zwischen den Ortschaften. Die Wolken schienen sich auf sie herabzusenken. Ein Hund beobachtete sie, drehte sich aber um und trottete davon, bevor der braune Wagen ganz an ihm vorbei war. Kein Bellen, kein Fünkchen Interesse. »Gab es so was oft?« »Ja, sicher. Washington kriegte von vielen Seiten Angebote. Er wies allen die Tür, aber weil er so wichtig war, so exponiert, gab es immer wieder Gerüchte und Anspielungen und Verleumdungen.« »Gibt es irgend welche schriftlichen Belege, dass Washington bereit war, mit den Engländern gemeinsame Sache zu machen?« Er schüttelte den Kopf. »Kein Fitzelchen. Nichts.« Sie klopfte mit dem Finger auf das Päckchen auf ihrem Schoß. »Gibt es irgendwo Dokumente wie das, was wir hier haben?« »Kommt drauf an, was es wirklich ist. Wenn ich das sicher wüsste, könnte ich Ihnen antworten.« »Bringen Sie mich nicht auf die Palme: Sie wissen, was ich, meine.« »Ja, weiß ich. Essen wir erst mal was.« Sie hielten vor einem Howard-Johnson-Rasthaus auf der anderen Straßenseite. Zu ihrer Überraschung merkten sie, dass sie hungrig waren. Sie bestellten überbackene Muscheln und Steaks und schütteten riesige Mengen Kaffee in sich hinein, während sie sich leise unterhielten. Die meiste Zeit redete Chandler. Als Polly ihr Steak aufgegessen hatte, stahl sie ein paar Bissen von Chandler. »Tatsache ist«, behauptete er, »dass George Washington kein Verräter war, kein englischer Spion. Jede andere Schlussfolgerung ist einfach absurd. Es gibt nirgends einen eindeutigen Beweis dafür, dass Washington auch nur im Geringsten korrumpierbar war …« Er hob die Hand, um ihren Einwand abzuwehren. »Bitte, reden Sie nicht mit vollem Mund! Ich sagte, keinen eindeutigen Beweis – was nicht heißen soll, dass es keine zweideutigen Beweise gibt. Davon gibt es sogar eine Menge.« »Das hab ich in der Schule nicht gelernt«, erklärte sie knapp. »Und Sie hatten Geschichte als Hauptfach!« »Nicht amerikanische Geschichte, sondern englische. Zu George Washington bin ich erst spät vorgestoßen. Spät und nur oberflächlich.« Sie verzog das Gesicht. »Dafür weiß ich alles über die Plantagenets. Kann ich den Rest von Ihrer gebackenen Kartoffel haben?« »Schon damals gab es allerlei Verschwörungen und üble Machenschaften – die hat nicht erst Nixon erfunden. Vieles würden Sie gar nicht glauben. Jeder hat seine Ränke geschmiedet – in Paris, in London, in Boston, in New York, auf hoher See … König George, zum Beispiel, ließ Franklin in Paris einen Brief zustellen, in dem er ihn aufforderte, am Montag, dem 6. Juli, im Chorraum von Notre Dame einen Mann zu treffen, der eine Rose im Knopfloch trug und Bilder auf seinen Block zeichnete … Franklin sollte persönlich erscheinen. Er, ging nicht hin. Man hat einen kleinen Mann ankommen, warten und wieder weggehen sehen. Keiner konnte je beweisen, dass der König ihn geschickt hatte. Er hieß Jennings. Vielleicht hat es auch niemanden interessiert, weil es zu viele Verschwörungen gab.« Der braune Wagen fuhr in leichte Nebelschwaden hinein, die vom Atlantik herüberwehten. Ihr kühler, reiner Geruch füllte den Innenraum. Er drückte sich mit gestreckten Armen in den Sitz und spürte, wie das Lenkrad unter seinen Händen ganz leicht nachgab. Nun sah er die Dinge klar, alles ergab einen Sinn. Gott sei Dank; denn er musste Prosser Rede und Antwort stehen. Bert konnte ekelhaft werden, wenn man keinen kühlen Kopf bewahrte – ganz gleich, was man durchgemacht hatte. Wahrscheinlich hatte er das von all den Präsidenten gelernt, die er in Krisenzeiten beraten hatte: Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon, Ford … Chandler war jedenfalls bereit. Neben ihm befingerte Polly immer noch das Päckchen und versuchte in Gedanken, seinen wahren Wert abzuschätzen. »Vermutlich hätte Davis jeden stattlichen Mann für Washington gehalten, nachdem er die Szene im Wald beobachtet und die Unterschrift gesehen hatte. Wie sollen wir das jetzt klären?« »Diesen Trick beherrscht der Zauberer leider nicht«, seufzte Chandler. »Sie meinen, es läuft darauf hinaus, dass man entweder glaubt, dass die Unterschrift gefälscht ist, oder eben nicht?« »Vielleicht. Es sei denn, Prosser fällt etwas ein.« »Wir haben also ein Dokument, für das Menschen getötet wurden, aber erstens beweist es nichts, und zweitens bedeutet es nichts …« »Für manche schon«, erwiderte Chandler. »Es ist ein Macguffin.« »Stimmt«, bestätigte er. »Ich mache ein Nickerchen«, meinte sie. »Das hier ermüdet, mein Gehirn.« »Sie wollten doch mitkommen.« Sie rutschte zu ihm hinüber und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Stört Sie das?«, fragte sie leise. »Kein bisschen. Ich könnte mich dran gewöhnen.« Thorny erwachte erschöpft und klamm, als hätte er in Flammen gestanden und jemand hätte einen Eimer Wasser über ihn geschüttet. Langsam öffnete er die Augen. Er starrte auf die beige Decke, sah die grauen Wolken über dem Busbahnhof und der U-Bahn-Endstation, hörte das Quietschen und Klappern des Triebwagens, der sich aufwärts ins Tageslicht kämpfte wie ein gigantischer, mechanisch betriebener Maulwurf. Der anklagende Hals der leeren Ginflasche auf dem Nachttisch zielte auf ihn wie ein Kanonenrohr. Er hatte unerträgliche Kopfschmerzen – typisch für ein Gin-Besäufnis und mit nichts anderem zu vergleichen. Dann erinnerte er sich an Ozzie, sah in einem Gedankenblitz den wuchtigen Körper mit offenem Mund und blitzendem Goldzahn lautlos zu Boden gleiten, sah ihn dort liegen wie einen blutgetränkten Regenmantel, der in die Reinigung musste. Thorny war immer stolz darauf gewesen, dass ihn der Tod ziemlich kalt ließ. Meistens war er damit in Berührung gekommen, wenn er ihn anderen brachte. Als Junge brachte er ihn im Auftrag der Chicagoer Mafia, dann für Banden in San Diego und New Orleans, später als Freischaffender in Texas und Mexiko und Nicaragua und Paraguay; er bekam einige Aufträge von Leuten, die er nicht kannte und auch nicht kennen lernen wollte. Man baute sich eine Karriere auf, machte etwas aus seinem Leben, achtete auf seinen guten Ruf, dann waren einem gute Referenzen sicher. Auf eine solche Empfehlung hin war er an den alten Herrn geraten und damit nach Boston gekommen. Und nun war Ozzie tot. Verfluchte Professoren! Wegen des einen litt er noch an Atemnot, wegen des anderen war er allein, … Mist! Er hatte Ozzie mehr als zehn Jahre gekannt, und seit 1970 waren sie zusammen im Einsatz gewesen. Ozzie war keine Geistesgröße gewesen, seine Stärke lag in den Muskeln; es war gut, ihn an der Seite zu wissen, wenn es hart auf hart kam. Bis auf das letzte Mal. Ja, es machte ihm nichts aus, anderen beruflich den Tod zu bringen, doch Ozzies Tod hatte ihm zugesetzt. Sicher, Oz war dicht vor dem Überschnappen gewesen, aber das konnte jedem passieren. Er seufzte. Sie waren gleich alt, vierundvierzig, und Thornhill erkannte, was für ein zartes Pflänzchen das Leben war oder sein konnte, wenn es einem entsprechend dreckig ging. Oz, der trotz seines handwerklichen Geschicks nicht weit oben stand auf der Evolutionsskala, war es ziemlich dreckig gegangen, besonders nach den Verbrennungen und den Schmerzen, die Chandler ihm zugefügt hatte. Er hätte Brennan liebend gern umgebracht, nachdem er ihm alle Fingernägel ausgerissen hatte. Nägel ausreißen war für Oz wie Therapie, wie Körbeflechten oder Petit-Point-Sticken. Der Alte konnte sich leicht zurücklehnen und sich aufregen, weil die Dinge aus dem Ruder gelaufen waren. Aber man musste selbst auf der Matte stehen, musste sich hineinknien, um zu wissen, was wirklich Sache war … Thornhill kannte die kritischen Punkte seiner Persönlichkeit und war sich im Klaren, dass er an einem der schlimmsten angelangt war. Je mehr er darüber grübelte, was Chandler und Brennan ihm und Ozzie angetan hatte, desto stärker packte ihn die Wut. Irrationale Wut – oder war sie doch nicht so irrational? Die Opfer hatten sich gewehrt und zurückgeschlagen, etwas Unerhörtes in Thornys Erfahrung mit Zivilisten. Von Soldaten der gegnerischen Armee erwartete man nichts anderes, doch Zivilisten mussten schon beim kleinsten Stups zerbrechen wie zarte, durchsichtige Eierschalen im Nest eines Rotkehlchens. Was, zum Kuckuck, war bloß mit Chandler und Brennan los? Vielleicht war Brennan tot. Er hatte sich zu rasch aus dem, Staub gemacht, um sich um dessen Wohlbefinden zu kümmern, und konnte nicht ganz verstehen, weshalb er solche Angst bekommen hatte; aber Brennan war dort plötzlich wie ein blutiges Gespenst aus dem Nichts aufgetaucht, Brennan, der eigentlich bewusstlos im Zimmer liegen sollte. Er hatte den Knüppel geschwungen und gebrüllt und Blut verspritzt, und dann der klatschende Laut von Ozzies Kopf … Seit er damals in Psycho gesehen hatte, wie die alte Dame mit dem Fleischermesser auf den Treppenabsatz gerannt kam, war er nicht mehr so erschrocken. Während sich das Bild in sein Gehirn fraß, wie Brennan Oz erschlug, hievte sich Thornhill aus dem Bett und torkelte unter fürchterlichen Kopfschmerzen ins Bad. Eine halbe Stunde später hatte er mit Donuts und Kaffee in der verglasten Lobby gefrühstückt und den roten Pinto an der Tankstelle gegenüber voll getankt. Er hatte auch eine Karte von Neuengland erstanden und den Weg nach Kennebunkport eingezeichnet. Voller Ungeduld kämpfte er sich durch den sonntäglichen Familien- und Ausflugsverkehr. Eine ganze Ewigkeit versuchte er, den Großraum Boston rasch hinter sich zu lassen, doch man brauchte einfach seine Zeit. Die Autobahnschilder verwirrten ihn, Einheimische hupten ihn verärgert an, wenn er die Spur wechselte. Er fragte sich, ob der alte Herr zu Brennans Haus gefahren war. Hatte überhaupt schon jemand den menschlichen Abfall dort gefunden? Wie viele Fingerabdrücke hatte er selbst in der Wohnung hinterlassen? Es war nicht sein Tag. Er drückte sich den schwarz-weißen Pepitahut tief in die Stirn und fluchte, weil der Pinto so lahm beschleunigte. Ein grässlicher Tag! Jemand würde dafür büßen müssen. Seine Wut und sein Frust steigerten sich, bis er es schließlich aufgab, dagegen anzukämpfen. Zum Henker mit dem Alten! Zum Henker mit Brennan und diesem verdammten Chandler und der Fernsehbraut! Arnold Thornhill hatte den Kanal voll., Als er im Rexall Drugstore in Kennebunkport nach dem Seafoam Inn fragte, hatte er sich wieder in eine zuverlässige Tötungsmaschine verwandelt. »Er hat nicht gelogen, als er sagte, wir könnten es nicht verfehlen.« Polly beobachtete, wie Chandler von der Straße in Prossers Einfahrt einbog, die sanft ansteigend zu einem riesenhaften Gebäude führte, einem Landsitz, der finster vom Hügel auf sie herabzublicken schien, während sich das Tageslicht hinter die schwärzlichen Wolken im Westen zurückzog. Sie fuhren gerade durch Johnston, einem Dorf mit kaum zehn Häusern, als der mit der Tankstelle gekoppelte Lebensmittelladen dicht gemacht wurde. Polly konnte gerade noch etwas Essbares fürs Abendbrot ergattern, Chandler füllte derweil den Tank auf. In der einfallenden Dämmerung hatten sie hinter dem Dorf Prossers Sommerresidenz in ihrer distanzierten aristokratischen Pracht liegen sehen. Im grellen Scheinwerferlicht erkannten sie, dass das Haus zum größten Teil aus gewaltigen grauen Steinen erbaut worden war. Es hatte ein Schieferdach, einen dunkelgrünen Holzturm mit Spitzdach auf der rechten Seite und zur Linken einen Seitenflügel von ähnlicher Farbe. Chandler stellte den Wagen unter einem gigantischen Torbogen mit Fallgitter ab. Breite Steinstufen führten zum Eingang. In unregelmäßigen Abständen ragten Kamine aus dem Dach wie Finger, die sich durch ein Gitter in die Freiheit recken. Es erinnerte ihn an den Tod von Orson Welles als Harry Lime in Der dritte Mann. Im Scheinwerferlicht joggte Chandler am Haus entlang zum Holzstapel am Schuppen, den Prosser beschrieben hatte. Auf Knien suchte er unter den Scheiten, ertastete zuerst eine Spinne und dann die Schlüssel, die er am Finger baumeln ließ, während er außer Atem zurückrannte. Er schnappte sich die Taschen vom Rücksitz, Polly die Einkäufe. Die Schlüssel fielen ihm nur einmal aus der Hand, bevor die schwere Eichentür aufging., »Hier ist es noch kälter als draußen«, bemerkte Polly schnüffelnd. Die Luft in der Diele roch muffig und abgestanden, und es war frostig kalt, weil das Haus schon für den Winter eingemottet war. Chandler sah Pollys Atemwölkchen in der Luft. Er knipste das gräulich düstere Licht an. »Ritter Blaubart und das Geheimnis der sieben Türen«, scherzte sie. »Kommen Sie, peilen wir die Lage.« Schon war sie auf dem Weg zum nächsten Raum, einer riesigen, kalten, hallenden Küche, die anscheinend nur von Vierzig-Watt-Birnen erleuchtet wurde. Sicher verbargen sich Monster in den Schatten, zumindest aber Geister. »Was für ein heiteres, gemütliches Fleckchen«, bemerkte sie. »Prosser muss ein heiterer, gemütlicher Mensch sein. Was machen Sie, wenn er Sie übers Wochenende einlädt?« »Es ist ein Sommerhaus, unbezahlbar …« »Wenn es bloß Sommer wäre!« Sie packte die Lebensmittel aus und machte sich am Herd zu schaffen. Kein Gas. Der Kühlschrank war nicht angeschlossen, doch die Kaffeemaschine funktionierte. Rasch fand sie einen Dosenöffner und setzte Kaffee auf »Zum Glück läuft wenigstens das Wasser. Er muss jemanden haben, der sich um das Haus kümmert.« Von Kaffee und Twinkies gestärkt, saßen sie eine Viertelstunde später auf dem Boden des Zimmers unterhalb des runden Turms, einer gemütlichen altmodischen Bibliothek mit Bücherregalen an allen Wänden, etlichen niedrigen Tischchen und dick gepolsterten Sesseln. Chandler holte Holz herein, und das Kaminfeuer taute sie auf, machte sie müde und gab ihnen zum ersten Mal seit Tagen ein Gefühl von Geborgenheit. Chandler sah von den züngelnden Flammen hoch, weil er ihren Blick spürte. Sie hatte ihren dicken Pullover ausgezogen und die Ärmel der karierten Bluse hochgerollt. Träge lächelnd sagte sie: »Jetzt wäre doch der richtige Moment – oder? Es sei denn, Sie hassen mich immer noch, mich und meinen Beruf und meine Ansicht über die Geschichte …« Sie schob ihr dichtes Haar hinter die Ohren zurück und grinste ein bisschen drohend, wobei, sie ein winziges Stück ihrer Schneidezähne sehen ließ. Mit der Fingerkuppe nestelte sie an einem Knopf ihrer Bluse. »Ich denke, ich könnte meine Vorurteile für kurze Zeit ad acta legen, wenn man mich bedrängt.« »Und wo genau müsste man Sie bedrängen, Professor?« »Das ist unanständig!«, sagte er. »Ist Ihnen das etwa gerade jetzt eingefallen?« »Ich bin erwachsen, und ich habe schon einiges erlebt. Ich habe schon viel unanständigere Sachen gesagt.« Sie sprach langsamer, in weicherem Ton, als hätte sie ein Glas zu viel getrunken. Aus ihr sprach der Sex, und sie lachte leise dazu. »Bitte erinnern Sie mich nicht an Ihre Vergangenheit.« »Seien Sie nicht so pingelig, Dummerchen.« Sie kuschelte sich in die Kissen, die sie vom Sofa geholt hatte. Ohne weitere Umstände knöpfte sie sich die Bluse auf und zog sie aus den Jeans. Sie hielt sie weit offen. »Ich bin gar nicht pingelig, was diese kleinen Dinger hier angeht. Sie funktionieren wunderbar – was immer das heißen mag.« »Meine Erwartung wächst ständig«, sagte er, während er sich über sie beugte und ihre große, steife Brustwarze in den Mund nahm. Flüsternd presste er sich an ihren Körper. Sie fing an, leise zu summen. Er hörte, wie sie den Reißverschluss ihrer Levis öffnete und sich herauswand. Hinter geschlossenen Lidern sah er alles: ihren schwellenden Körper, die warme dunkle Stelle zwischen ihren Schenkeln, die er erforschte, und als er sie küsste und sie sich an ihn presste, ihre zusammengebissenen Zähne. »Schön, neue Freunde zu gewinnen, nicht?«, sagte sie. »Einen neuen Freund – Singular …« Als sie sich nach einer Stunde zurücklehnten, waren beide mehr als zufrieden. Er sah dem erlöschenden Feuer im Kamin zu. Sie stupste ihn leicht am Arm und grinste im flackernden Lichtschein. »Zufrieden? Ich schon. Alles ist so schön natürlich. Wir haben, so viel Zeit zusammen verbracht. Nun ist alles im Lot.« Sie streifte seinen Arm entlang und nahm seine Hand. »Wem gehört nun das Rasierzeug in deinem Bad?« »Du wirst es nicht glauben: meinem Bruder.« »Ist mir auch egal.« »Guter Junge. Ich bin stolz auf dich.« Sie kicherte. Er stellte fest, dass er auch ziemlich stolz auf sich war. Doch das würde die Zeit erweisen. Er nahm Polly in den Arm und zog sie an sich und empfand es als Kinderkram, sich Gedanken über die Rasiercreme anderer Leute zu machen. Der alte Herr war ein Mann von Disziplin, und wenn es kritisch wurde, konnte er noch auf Reserven zurückgreifen. Nach seinen Gesprächen mit Thornhill und Fennerty hatte er ein paar Pillen mit Mineralwasser heruntergespült und sich gezwungen, am Esstisch auf sein Frühstück zu warten, das Mrs. Grasse für ihn zubereitete. Er las die New York Times, die Washington Post und die wichtigsten Bostoner Zeitungen und fragte sich, was in Brennans Haus vor sich gehen mochte, als Fennerty anrief und ihm berichtete, was passiert war. Der alte Herr sagte ihm, wie er sich verhalten sollte, und nahm anschließend noch eine Pille, um seine Stimmung zu heben. Dann aß er drei Scheiben knusprigen Schinkenspeck und zwei pochierte Eier auf Weizentoast und trank dazu zwei Tassen Twining’s. Erst als das alles erledigt war, warf er einen Blick auf das waffelähnliche Zifferblatt seiner Piaget. »Mrs. Grasse«, sagte er leise zu seiner Haushälterin, die den Tisch abräumte, »würden Sie bitte Ogden zu mir schicken?« Mit seiner straff geknoteten schmalen Krawatte, dem schwarzen Anzug und den blassen, von Fältchen umgebenen Augen saß er ruhig am Tisch und trank seinen Tee, bis Ogden ins Zimmer kam. »Ogden, würden Sie bitte den Rolls vorfahren? Ich bleibe über Nacht weg.«, Ogden nickte. Tapfer widerstand er einem atavistischen Impuls, vor seinem Chef das Knie zu beugen, bevor er hastig den Raum verließ. Im Bad neben dem Schlafzimmer legte der alte Herr den Morgenmantel ab, stieg auf die Waage, duschte, rasierte sich, trimmte seinen schneeweißen Schnurrbart und zog sich rustikal an: eine braune Reiterjacke mit Lederbesatz an den Ellenbogen, Hirschlederhosen, die noch aus den vierziger Jahren stammten, einen Kaschmir-Rollkragenpullover, braune Wildlederschuhe. Pillen waren seine treibende Kraft, ging es ihm durch den Kopf. Wie weit hatte Thorny die Kontrolle über sich verloren? Wie gefährlich war er? Und wie weit durfte er selbst gehen, um ihn aufzuhalten, ohne dass er sein idiotisches Doppelspiel enthüllte? Über die Jahre hinweg hatte er sich diese Fragen schon häufig in ähnlicher Form gestellt … Es war, als wollte man herausfinden, ob es einen Gott gibt: Man ging in einen Dom, setzte sich hin und wartete und bekam doch nie eine Antwort. Das sanfte Brummen des Rolls-Royce verscheuchte zunächst seine Probleme. Warum, warum nur konnte nicht alles so gut laufen wie sein wunderbarer schwarzer Rolls? Bei seinen Aufträgen wusste Thorny normalerweise nicht, für wen er arbeitete. Das war manchmal von Vorteil, weil man sich einfach nur auf die Arbeit konzentrierte, den Job erledigte und sein Geld kassierte. Gelegentlich lähmte einen jedoch die Ungewissheit: Man kam schlecht in die Gänge und verlor leicht den Faden. In manchen Fällen war es besser, wenn man sich ein Gesamtbild machen konnte. Allerdings war ihm klar, dass er nur ein Söldner war und nichts zu entscheiden hatte. Im Augenblick war er sehr zufrieden, weil er auf eigene Faust unterwegs war. Der Alte spielte keine Rolle mehr – es ging um Ozzie. Er würde Ozzie rächen, und das nicht zu knapp. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er sich zum letzten Mal so unternehmungslustig gefühlt hatte, so entschlossen., Er parkte den Pinto unten an der Auffahrt und sah hinauf zu dem alten Sommerhaus, das nun als Urlaubsdomizil diente. Es sah ruhig aus, doch in der Dämmerung des späten Nachmittags brannte ein Licht. Das tosende Wasser hinter ihm, der feuchtkalte Wind, das einsame alte Haus – alles beunruhigte ihn. Ihm – den Stadtmenschen – machte das weite, offene Land und die Leere der Küste Angst. Beim Aussteigen stieß er sich den Pepitahut vom Kopf und sah zu, wie er mit dem Oberteil zuerst in einer schmutzigen Pfütze landete. Er starrte ihn an und wollte ihn aufheben, dann fluchte er und stieß mit dem Fuß danach. Der Hut rollte ein Stück unters Auto. Mit hoch gezogenen Schultern, die Hände in den Taschen seines Regenmantel versenkt, trottete er die zerfurchte Auffahrt hinauf. Sein Anflug von Optimismus hatte sich gelegt, doch er hatte etwas zu erledigen. »Mr. Davis?«, fragte er, »Percy Davis?« Der ältere Herr an der Tür nickte. »Gott sei Dank sind Sie zu Hause. Ist der Professor noch da?« »Der Professor?« Davis kniff die Augen unter seinen weißen Brauen zusammen. »Sehr schön, sehr schön, Mr. Davis.« Er lachte leise. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. Der Professor hat ihnen bestimmt erzählt, was er in den letzten Tagen in Boston mitgemacht hat. Kein Honiglecken.« Er schüttelte den Kopf und wünschte sehnlichst, der alte Herr würde ihn nicht draußen im Wind stehen lassen. »Mein Name ist Terwilliger, Claude Terwilliger. Sicher hat er mich erwähnt …« »Nein, Mr. Terwilliger, hat er nicht.« »Ich zeige Ihnen meine Papiere, Mr. Davis.« Er zog ein Ledermäppchen aus der Jackentasche und ließ es aufspringen. »CIA«, bemerkte er leise, während Davis das Dokument prüfte. Der Witz bei der Sache war, dass es sich um einen echten CIA- Ausweis handelte., »Mr. Davis, ich friere mir hier draußen den Arsch ab. Darf ich nicht reinkommen? Sie können die Nummer hier anrufen, kostenlos rund um die Uhr, und nach mir fragen … Ich bin zu Professor Chandlers Schutz abgestellt, glauben Sie mir.« Respektvoll sah er den alten Mann an. »Gut, kommen Sie rein.« »Ich weiß nicht, wie viel er Ihnen erzählt hat«, sagte Thorny rasch in der Hoffnung, Davis vom Telefonieren abzuhalten, »aber er hat sich bewundernswert verhalten. Der Mann hat Mumm – komisch, wenn man bedenkt, dass er Professor ist. Aber sehr beherzt, das kann ich Ihnen sagen. Hätten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee für mich? Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen …« Er folgte dem alten Mann in die Küche, wo der Fernseher plärrte und Kaffee bereit stand. Percy Davis deutete auf eine Reihe von Tassen und lehnte sich mit verschränkten Armen ans Waschbecken. Er sah auf Thorny hinab, der sich beim Reden Kaffee einschenkte. »Gerade jetzt, in diesem Moment, liegen in einem Haus in Cambridge zwei Leichen – ich zähle auf Ihre Verschwiegenheit, Mr. Davis.« Er blickte hoch, während er Sahne in das starke Gebräu rührte. »Sie waren hinter Chandler her!« Er trank und beobachtete Davis mit seinen winzigen dunklen Augen. »Genau vor so etwas möchten wir ihn bewahren … Ich muss schon sagen, wir haben so unsere Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Der Mann steckt voller Ideen, aber verdammt noch mal, die Kerle kämpfen mit harten Bandagen, verstehen Sie? Ich weiß auch nur von Hugh Brennan, dass er hier war. Ja, Hugh ist ein toller Kerl, ein richtiger Freund. Er tut alles, um Chandler zu helfen …« »Kann ich etwas für Sie tun?« Percy Davis betrachtete den Mann ruhig und versuchte sich zu besinnen, was Chandler ihm während der langen, ereignisreichen Nacht erzählt hatte. Es war eine Menge … George Washington trübte sein Gedächtnis. »Was heißt können? Sie müssen für mich etwas tun,, Mr. Davis.« Er breitete die Arme aus – ganz unterwürfiger Bittsteller. »Sie müssen mir sagen, wohin er von hier aus gefahren ist.« Er blickte düster drein und rieb sich die Augen. »Die Gangster, die gestern Nacht ihr schmutziges Werk getan haben, sind hinter ihm her, und ich muss vor diesen Scheißkerlen bei Chandler sein.« Er seufzte tief unter dem Gewicht der gesamten Welt. In seiner Tasche spürte er den harten Griff des Revolvers und fragte sich, ob er diesem dürren alten Knochen wohl etwas Übles antun müsse. »Hat er’s Ihnen gesagt? Wissen Sie, wo er ist?« Percy Davis überlegte. »Ja, Mr. Terwilliger«, sagte er schließlich, »ich weiß, wo er ist.« Er machte sich auf den Weg in den Empfangsraum. »Am besten, ich zeige es Ihnen auf der Straßenkarte.« Im Pinto holte Thorny eine Flasche Gin aus dem Handschuhfach. Er pfiff »Hello, Dolly«, bis er den Schraubverschluss offen hatte. Zur Abwechslung lief mal etwas. Mist, dass Ozzie nicht dabei sein konnte. Er ließ den Wagen an und drückte seinen Hut beim Zurücksetzen in den Matsch. Auf der Fahrt durch Kennebunkport nahm er noch einen Schluck aus der Flasche und schaltete die Scheinwerfer ein. Er fühlte sich einsam, aber geborgen in der beginnenden Dunkelheit. Vor sich hin dösend, hielt Chandler Polly umschlungen und sah zu, wie das Feuer herabbrannte. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen oder richtig munter zu werden. Plötzlich durchschnitt Scheinwerferlicht die Nacht. »Er ist da. Prosser ist hier, mein Schatz. Hoch mit dir! Der alte Herr ist im Anmarsch!« Er ging hinaus und winkte ihm von der Verandabrüstung zu. Der schwarze Rolls-Royce blieb vor ihm stehen, und Prosser lehnte sich lächelnd aus dem geöffneten Seitenfenster. Schon sein Anblick tat Chandler gut. »Bert«, rief er, und war schon auf dem Weg zu ihm. Der, Vorname kam ein wenig ungewohnt über seine Lippen. »Bert, ich bin richtig froh, Sie zu sehen …« Der alte Herr nickte. »Wir kriegen das schon auf die Reihe, mein Junge, wir tüfteln etwas aus. Ich lege rasch den altehrwürdigen Rolls schlafen, das dauert nur ein paar Minuten. Dann legen wir los.« Das Seitenfenster glitt wieder nach oben, und der Wagen rollte langsam in Richtung Garage durch den Torbogen zurück. Chandler hörte, wie sich das ferngesteuerte Tor öffnete. Er stand allein an der Brüstung, und sog die Nachtluft in seine Lungen und dachte abwechselnd an Polly und an Bert Prosser. Für einen so wankelmütigen Mann war er maßlos glücklich. Chandler beobachtete, wie Prosser im Umgang mit Polly seine Gewandtheit und seinen Charme spielen ließ. Seit Jahren ging das Gerücht, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten stand. Als er nun Pollys Hand hielt, sah man ihm sein Alter an – das Gerücht schien der Wahrheit zu entsprechen. Seine Tränensäcke waren schwerer und dunkler geworden; in der rustikalen Kleidung wirkte er zerbrechlicher als je zuvor. Auch der Rollkragenpullover konnte die schlaffe, faltige Haut an seinem Hals nicht verbergen. Als er seine Dunhill-Pfeife stopfte und anzündete, zitterten die blau geäderten Hände beim Hantieren mit dem Tabakbeutel und dem Streichholz. Aber seine Stimme war so kräftig wie immer. Sie tönte mit metallischer Härte, wenn er seinen Standpunkt vertrat, konnte jedoch sanft und sonor werden, wenn er das wünschte. Nachdem er genug Charme versprüht hatte, schützte er den Pfeifenkopf mit der hohlen Hand und sog in tiefen Zügen, bis grauer Rauch seinen kleinen Kopf mit der durchsichtigen Haut umhüllte. »Nun, mein Lieber«, sagte er mit seiner vollen Stimme, »sehen wir uns mal Beweisstück A an und arbeiten uns bis ins Herz der Dinge vor. Ich halte mich für einen nüchternen und disziplinierten Menschen, aber was Sie mir heute früh erzählt haben … Na, legen wir los.« Er setzte sich an den Tisch, in der Bibliothek und rückte den Schirm der alten Tischlampe mit dem Messingfuß zurecht, damit er das Dokument im besten Licht betrachten konnte. »Fangen wir mit dem Porträt von Chandler an«, schlug Colin vor. Der alte Herr inspizierte den Rahmen, die Kaschierung auf der Rückseite, die Leinwand. »Wenn Sie sagen, es ist von Winthrop Chandler, so akzeptiere ich das. Es fällt mehr in Ihr Fachgebiet als in meins.« Nach und nach las er aufmerksam Underhills Brief an Percy Davis, dann Bill Davis’ Bericht, wie er das Porträt und die darin verborgenen Dokumente gefunden hatte, danach William Davis’ Brief, den er wie ein rohes Ei behandelte und mit ernsthafter Betroffenheit las. Sein Blick blieb die ganze Zeit auf den Dokumenten haften. Anschließend beschäftigte er sich mit dem Blatt, das die Unterschrift trug. Chandler begegnete Pollys Blick; sie blinzelte ihm zu. Prasser legte die Papiere ordentlich vor sich hin. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Hinter den blassen Augen schien sein Geist zu sortieren, zu verdichten, abzuwägen, welche seiner Gedanken er enthüllen sollte. »Auf der einen Seite haben wir mehrere Morde, auf der anderen diese Dokumente. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel, dass die Morde und die Papiere – besonders Washingtons Unterschrift – miteinander verknüpft sind. Aber wir wissen nicht, wie und warum.« Er blickte auf und lächelte Polly verhalten zu, während er die Pfeifenasche mit seinem kleinen Mr. Pickwick zusammenpresste. »Was halten Sie davon, meine Liebe?« Polly schüttelte den Kopf. »Wir haben uns durch unsere Theorie in eine Sackgasse hineinmanövriert. Ich fürchte, wir haben uns verrannt. Wir wissen nicht mal, ob das Dokument echt ist. Und wir wissen nicht, warum Menschen dafür umgebracht werden.« Sie zuckte die Achseln, setzte sich auf den Tisch und fuhr mit dem Finger über die Kanten des Porträts., »Bert, aus welchem Grund könnte jemand so scharf auf das Papier sein?« »Es gibt tausend Gründe«, erwiderte Prasser. »Einer davon ist Geld. Für ein Museum oder einen Sammler … oder für eine Institution wie Harvard … hätte es einen unschätzbaren Wert. Abgesehen von der gut erhaltenen Unterschrift wären die historischen Implikationen in höchstem Maße aufsehenerregend … Heiland, es widerstrebt mir, so unverblümt Klartext zu reden!« Er schob sich vom Tisch zurück und gab sich noch einmal Feuer. »Aber manchmal hat man keine Wahl.« »Halten Sie es für echt?«, fragte Chandler. »So schnell kann ich das nicht sagen, Colin«, erklärte er. »Das wissen Sie so gut wie ich, Sie kennen die Untersuchungsmethoden … Was wir brauchen, ist Zeit. Zeit und Ruhe vor den Stümpern, die Sie verfolgen. Ich muss meine Fühler ausstrecken, Richtung Washington. Bei meinen alten Freunden … oder ihren Nachfolgern … hauptsächlich den Nachfolgern, wenn man’s recht bedenkt …« Chandler sah den alten Herrn in nachdenkliches Schweigen versinken. Er sog an dem schwarzen Pfeifenstiel, den er gegen seine eng stehenden, von Nikotin verfärbten Zähne klicken ließ. In dem Moment wirkte er sehr alt und alles andere als gesund: Blässe überzog sein einstmals rosiges Gesicht, die Wangen waren eingesunken und gaben seinem Gesicht ein Aussehen, bei dem man an die Kopfjäger vom Amazonas denken musste, die ihre Totenschädel zum Trocknen aufhingen. Polly stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und rieb sich die großen braunen Augen. Chandler konnte sie nicht mehr ansehen, ohne davon zu träumen, diese Augen zu küssen, diese Frau zu lieben. Als er sie über den Tisch hinweg beobachtete, erinnerte er sich daran, wie sich ihre Haut anfühlte. Prosser schüttelte den Kopf, als erwache er aus dem Koma. Er blinzelte, sah sich um und fuhr mit der Zunge über die Spitzen seines weißen Schnurrbarts. Seine unsteten Augen kamen, Chandler umwölkt vor; ihn irritierte, dass das Interesse des Mannes plötzlich nachließ. In diesem Augenblick schien Chandler den Schatten eines Toten zu sehen. »Am sichersten wäre«, sagte Prosser langsam, »Sie beide aus der Schusslinie zu bringen, bis wir klarer sehen. Ich habe so eine Vorahnung, dass es einen Mordswirbel geben wird, und ich möchte, dass Sie beide dann ganz weit weg sind.« Er klopfte seine Pfeife sorgfältig in dem schweren Aschenbecher aus, wobei er einen kleinen Aschenberg anhäufte. »Könnten Sie sich damit anfreunden, wenn ich einen Unterschlupf für Sie finde?« Polly nickte. Chandler sagte: »Hauptsache, wir bleiben am Leben, Bert. Wenn Sie meinen, wir sollten völlig von der Bildfläche verschwinden, bin ich einverstanden.« »Und nun das Wichtigste«, erklärte Prosser stirnrunzelnd während er die Dokumente auf dem Tisch im Blick hatte. »Ich finde, es ist für Sie beide am ungefährlichsten, wenn wir erst entscheiden, ob George für die Engländer spioniert hat, nachdem wir die Desperados geschnappt haben.« Er lächelte verschmitzt. »Sie müssen sich jetzt sofort auf die Socken machen. Sie fahren nach Bar Harbor. Sie schlafen im Auto, weil vermutlich kein Gasthaus offen ist, und Sie setzen sich dort mit Howard Kendrick in Verbindung. Howard ist ein Kumpel von mir aus alten Zeiten, ein Mann, auf den man sich verlassen kann. Er hat ein Sportgeschäft mit Bootsverleih unten am Hafen, und er hat ein Flugboot. Damit wird er Sie aus der Schusslinie bringen.« Er rieb sich das Kinn und sah von einem zum andern. »Sie nennen nur das Losungswort – ›Code Green‹ –, und er besorgt den Rest.« »Wohin bringt uns dieser Howard Kendrick?« fragte Polly zögernd. »Das sagt er Ihnen an Ort und Stelle. Je weniger Sie im Augenblick wissen, desto besser – verstehen Sie? Bitte vertrauen Sie mir. Sagen Sie Howard, Sie kommen von mir. Er weiß, wohin er Sie bringen soll.« Er legte seine Hand auf Pollys, und drückte sie. »Entschuldigen Sie die Geheimnistuerei, Miss Bishop. Colin wird Ihnen vielleicht gesagt haben, dass ich manchmal für bestimmte Regierungsbehörden arbeite. Der Ort, an den Sie gebracht werden, ist ein privates Domizil, das ich auch schon benutzt habe. Aber aus Sicherheitsgründen kann ich Ihnen nichts Näheres sagen, solange die Gefahr besteht, dass Sie unseren Feinden in die Hände fallen. Ich weiß, es wird nichts schief gehen, aber ich setze lieber auf Nummer sicher.« Er rieb sich kräftig die Hände und verbreitete damit Energie. »Miss Bishop, ich schlage vor, Sie füllen eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und nehmen die Sachen mit, die Sie zum Glück eingekauft haben … und, Colin, auf der Kommode in der Diele liegt eine Karte. Eine Karte von Maine. Sie sollen sich nicht verfahren zwischen hier und Bar Harbor. Haben Sie Reisetaschen? Gut. Dann packen Sie, und nehmen Sie eine Flasche Cognac mit.« Er stand auf und trieb sie zur Eile. »Sehen Sie’s als Abenteuer oder als Spiel …« Polly nickte und lief zur Küche. Auch Chandler stand auf, aber der alte Herr packte ihn am Arm. »Warten Sie. Es gibt noch etwas, das Miss Bishop nicht unbedingt wissen muss.« Er flüsterte heiser. »Ihr Freund Brennan … Sie haben ihn gestern Abend in Cambridge erwischt.« »Was heißt das, erwischt?« Die kalte Zange blitzte in seiner Erinnerung auf und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Sie haben ihn in seiner Wohnung in die Mangel genommen. Haben ihn gefoltert und zusammengeschlagen.« »Verdammt! Er hat mir den Wagen zum Museum gebracht und ist nach Hause gefahren. Wie geht’s ihm? Kommt er durch?« »Ich weiß nicht.« Prosser schüttelte seinen winzigen zerbrechlichen Kopf. Eine blaue Ader pulsierte unter dem durchscheinenden weißen Haar an seiner Schläfe. »Sie haben ihn ziemlich übel zugerichtet. Man weiß nicht, ob er’s übersteht., Ich musste weg, bevor etwas bekannt wurde. Aber es gibt noch was, Colin: Hugh hat einen von ihnen umgebracht.« »Umgebracht? Und ich dachte schon, ich hätte den Vogel abgeschossen. Wen von den beiden hat er denn erwischt?« »Einen Hünen – vermutlich den, dem Sie Kaffee ins Gesicht geschüttet haben. Brennan hat ihm den Schädel zertrümmert, mit einem Knüppel …« Er lachte sich leise ins Fäustchen. »Wer diese Leute auch sein mögen – ich wette, sie wünschten sich, dass sie nie einen Fuß in unsere Stadt gesetzt hätten.« »Was ist mit dem anderen passiert?« »Dem mit dem Pepitahut?« »Ja.« »Verschwunden. Colin, er ist bösartig. Vielleicht will er sich rächen.« Er presste seine Fingerspitzen gegen die Schläfen. »Bert, ist alles in Ordnung?« »Nein, Colin.« Er lächelte gequält. »Ich bin zu alt für diese Spielchen. Es ist wie einst beim Wild Bill Donovan, aber ich bin nicht mehr der, der ich einmal war … In meinem Alter sterben die Leute. Sie sterben einfach … Aber keine Angst, ich sterbe noch nicht – jedenfalls nicht heute. Später. Heute mache ich mir Sorgen um Sie und Miss Bishop und George Washington. Ach, es ist alles seine Schuld. Und jetzt machen Sie sich auf die Socken.« Chandler stopfte Essbares in die Segeltuchtasche und schraubte den Verschluss der großen Thermosflasche zu. Polly kaute ein Twinkie. »Er macht sich echte Sorgen, stimmt’s?« »Sieht so aus«, erwiderte Chandler. »Aber warum? Natürlich kenne ich die naheliegenden Gründe. Aber ich schwöre, da ist noch was im Busch. Ich habe so viele Leute interviewt, die mit etwas hinterm Berg gehalten haben – Colin, ich spüre so was. Irgendetwas geht ihm nach, und das macht mir eine Heidenangst. Er wirkt auf mich wie ein hartgesottener Bursche, der fast umkommt vor Angst.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und nahm einen, gewaltigen Schluck aus der Kaffeetasse, die er in der anderen Hand hielt. »Nichts für ungut – aber unterschätze den alten Knacker nicht.« »Was soll diese ungehobelte Ausdrucksweise? Bertram Prosser ein alter Knacker?« »Da siehst du mal, dass ich die Ruhe weg habe. Selbst in einer todbringenden Lage habe ich noch einen Scherz auf den Lippen. Erinnert dich das nicht ein bisschen an David Niven? Nein? Na, ist auch nicht so wichtig. Vergiss aber nicht, dass Prosser ein ausgebuffter Profi ist – ob alter Knacker oder nicht. Und die Geschichte, soweit wir sie kennen, kann einem genug Angst einjagen.« Er drückte seinen Mund auf ihre zarte, flaumige Wange. »Es muss nichts weiter dahinter stecken.« »Du bist kein Nachrichtenschnüffler, mein Lieber.« Als sie wieder in die Bibliothek kamen, drehte der alte Herr ein Pillenfläschchen in der Hand. Er beobachtete, wie sie zitterte, und blickte nicht hoch. »Ich habe alles wieder verpackt«, erklärte er. »In eine Hülle aus Ölzeug – wasserdicht.« »Falls das Flugzeug abstürzt«, warf Polly ein und zog eine Grimasse. Lachend hob er den Blick von seiner zittrigen Hand. »So ungefähr. Sind Sie fertig?« Er schaute auf die Uhr. »Es wird Zeit, meine Herrschaften …« Chandler konnte das Explosionsgeräusch nicht einordnen: kein Knall, sondern eine Folge von gedämpften explosiven Lauten – etwas, das er noch nie gehört hatte. Polly zuckte zusammen, doch Bert Prosser sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel, und knipste das Licht aus. Als die Bibliothek im Dunkeln lag, blieb Chandler stocksteif und verwirrt an seinem Platz stehen. Kaum zu glauben, dass der zerbrechliche alte Herr sich mit solcher Entschlossenheit bewegt hatte! Als Nächstes erkannte er Prossers Silhouette vor dem Fenster – vor dem hellen Fenster., Woher kam bloß das Licht, der leuchtende blassgelbe Schein? Am Fenster sah er es. Das braune Auto schimmerte unter den leckenden Flammen; Feuer drang aus den Fenstern, züngelte unter dem Fahrgestell hervor. Vor seinen Augen explodierte die Windschutzscheibe und sprühte einen Glasregen in die Dunkelheit. Nichts bewegte sich da draußen. Es gab nur die brennenden, Blasen werfenden Reste des anonymen braunen Wagens. »Er ist hier«, hörte er Prosser an seinem Ellenbogen sagen »Ich habe zu lange gewartet, ich geschwätziger alter Mann. Er ist da draußen … der Kerl, der Brennan entwischt ist.« »Wo ist er?« Chandler versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. »Er beobachtet uns.« »Ich sehe ihn. Er hat sich bewegt.« Polly stand neben ihnen am Fenster. »Er steht an dem großen Baum, genau da, wo die Auffahrt einen Bogen macht.« »Er will Sie, Colin«, sagte Prosser. »Wie es scheint, ist er allein.« »Was, zum Teufel –« Chandler spürte wieder den Kloß im Magen. O Gott, er hatte vergessen, dass der Albtraum noch nicht vorbei war. Pollys Hand lag auf seiner Schulter. »Sie müssen trotzdem weg. Auch ohne Auto.« Chandler hörte den Mann gespenstisch und trocken auflachen. »Kriegen Sie das hin, Colin?« »Ich kümmere mich um ihn, keine Sorge. Wir kommen bestimmt nach Bar Harbor«, war Polly zu hören. Plötzlich trat eine untersetzte Gestalt aus der Deckung des Baumes und blieb gleich wieder stehen. Die Fensterscheibe zersplitterte, und Chandler hörte das Projektil hinter sich in die Bücherreihe einschlagen. »Das reicht«, meinte Prosser. »Er richtet sein Augenmerk auf die Frontseite des Hauses. Solche Probleme hat man, wenn man allein arbeitet. Man kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, … Jetzt ab mit Ihnen. Gehen Sie am Waldrand hinter der Garage in Deckung. Dann sind Sie auf sich gestellt … Sie haben die Karte.« Prosser schob sie in die Diele. »Und Sie?« »Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Colin. Wie’s aussieht, kann ich nicht durchs Gelände flüchten. Ich nehm’s auf mit dem dämlichen Schwein. Autos in die Luft jagen! Dem werde ich’s zeigen. Und jetzt schnell ab mit Ihnen … Schlagen Sie sich zu Kendrick durch. Ich weiß, wie ich Sie erreichen kann. Keine Bange, es kommen auch wieder bessere Zeiten!« Prosser tätschelte Polly die Wange und gab Chandler die Hand. »Denken Sie dran: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.« Dann drehte er sich um und ging. In der stockfinsteren rückwärtigen Diele fragte Polly Chandler: »Hast du Angst?« »Ach wo. Mir geht’s blendend – abgesehen davon, dass mir speiübel ist und dass ich gern in Ohnmacht fallen würde.« »Hast du die Tasche?« »Klar. Und die Regenmäntel und das ganze Zeug. Das Päckchen im Öltuch. Ziemlich schwer, das alles.« »Wenn ich die Tür aufmache«, sagte sie, »lass mich zuerst raus. Ich gebe dir ein Zeichen, wenn die Luft rein ist. Wir müssen zum Waldrand kommen, mehr nicht.« »Das habe selbst ich kapiert.« »Einfach den Anweisungen folgen«, sagte sie und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, »dann läuft die Sache.« Schon war sie aus der Tür. Er wartete, während sie langsam über den Rasen lief. Sie blieb an dem Schuppen stehen, vor dem er den Schlüssel gefunden hatte. Er gähnte. Sein Kiefer knackte, wie immer. Die Segeltuchtasche wurde ihm bereits schwer. Was hatte er hier zu suchen? Wie kam es, dass Hugh jemanden, getötet hatte? Er schloss die Augen. Alles war ein furchtbarer, idiotischer Fehler, ein fataler Fall von Verwechslung. Als er die Augen wieder aufmachte, sah er Polly winken und verließ das Haus. Was hätte er sonst auch tun sollen? Prosser wartete im Dunkeln, wobei er mit wachsender Bosheit verschiedene Möglichkeiten durchspielte und darauf vertraute dass ihn sein schwaches Herz nicht im Stich ließ. Thorny hatte sich nicht mehr blicken lassen, doch Prosser wusste, dass er noch in der Nähe des Baumes stand, weil er nicht gewagt hatte, um das Haus herumzulaufen. Er mochte zwar glauben, Chandler in dem riesigen Haus allein vorzufinden, vielleicht noch in Begleitung einer Frau, doch Thorny war kein Idiot; er wusste, wozu Chandler und Brennan fähig waren. Prosser konnte beinahe spüren, wie Thorny die Furcht übermannte. Aus Frust und Ärger hatte er sich den Luxus geleistet, ein Zeichen zu setzen und das Auto in Brand gesetzt. Alles gut und schön. Doch jetzt dachte er: Chandler weiß, dass ich ihm auf den Fersen bin, er ist gewarnt … Prosser benutzte seine breite, geübte Fingerkuppe, um im Finstern seine Pfeife zu stopfen. Die Streichholzflamme verbarg er hinter der hohlen Hand. Er musste den da draußen in der kalten Nacht ein bisschen weich kochen, seine Angst wachsen lassen, während seine Sachen vom Schweiß klamm wurden. Chandler und Polly waren wohl inzwischen in Deckung. Um die beiden brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Sie war ein kluges Mädchen; gemeinsam würden sie es schaffen. Jedenfalls hatten sie keine schlechten Karten – falls Petrow nicht noch beschließen sollte, ihnen auf den Pelz zu rücken. Was mochte in dem Russen vorgehen? Prosser versuchte, seine eigene Schläue auf Petrow zu übertragen, sich in die Gedankengänge des anderen hineinzuversetzen. Es fiel ihm schwer. Obwohl er den Russen als Verbündeten und auch als Gegnern Dienste geleistet hatte, konnte er sich nie damit brüsten, sie zu durchschauen. Für ihn waren sie immer eine, orientalisch-europäische Mischung gewesen, vage und unberechenbar. Wie oft hatten sie das Wichtige zu Gunsten des Trivialen vernachlässigt! Wenn man aber daraufzählte, war es genau umgekehrt. Petrow war ihm daher ein Rätsel wie alle anderen auch. Seine amerikanischen Bosse dagegen waren ihm nie hinterhältig oder kompliziert vorgekommen. War vielleicht alles eine Frage des Nationalcharakters? Oder lag es daran, dass er selbst Amerikaner war? Prosser lauschte dem Knistern und Knacken des brennenden Wagens. Beim Rauchen analysierte er seine Lage. Wie war es dazu gekommen? Wieso saß er in einer Einöde im Dunkeln, zählte die Stunden und ließ sich von dem ganzen Zirkus beirren? Welcher Charakterzug hatte ihn zu seinem persönlichen Golgatha geführt? Weshalb hatte er beiden Lagern gleichzeitig gedient? Wieso gerade er, nicht jemand anders, der die gleiche Gelegenheit gehabt hätte? War er einfach zu habgierig? Er lächelte im Dunkeln und wünschte, es wäre alles so einfach … Oder ging es darum, andere zu manipulieren? Oder um den Reiz des Spiels, den Drang, zu gewinnen? Er hatte die Nase voll davon. Vielleicht war das hier der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte; so endete es meistens: ein Auftrag zu viel, und du schaffst es nicht. Es ist, als würdest du in eine dunkle Höhle gezogen. Das Ende ist so krass, so idiotisch. Warum war dieser verdammte Petrow scharf auf dieses Stück Papier? Was wollte er damit? War es wirklich nur eine Laune von ihm? Bei so vielen Toten? Es steckte kein Sinn dahinter – außer vielleicht für einen Russen. Was für ein Finale! Was für ein Abgang! Zum Schluss musste er los, um sich Thornhill zu kaufen. Er rief ihm aus dem Fenster zu: »Thorny, hören Sie. Hier spricht Ihr Auftraggeber – verstehen Sie, Ihr Auftraggeber! Chandler ist nicht mehr hier. Ich bin auch zu spät gekommen. Chandler ist wieder weg!« Nach dieser Erklärung schlug er, einen gebieterischen Ton an: »Ich zeige mich erst nach Ihnen. Sie könnten ja durchgedreht haben und hinter mir her sein. Und jetzt kommen Sie rein, es gibt was zu tun!« Nach einer Weile bewegte sich die Gestalt aus dem Schutz des Baumes auf das Haus zu. Als der Mann näher kam, sah Prosser eine Pistole in seiner schlaffen rechten Hand. Um Gottes willen, der Kerl bewegte sich wie ein Zombie! Prosser trat an die Terrassenbrüstung. »Rein jetzt! Was ist los mit Ihnen?« Nachdem Thorny die Stufen gemeistert hatte und neben ihm stand, war der Fall klar. »Sie stinken, Sie verdammter Idiot! Her mit der Pistole, bevor Sie sich wehtun …« Er hielt ihm die zittrige alte Hand hin. Thorny legte folgsam seine Waffe hinein. »Sie sind ein Versager – bei Gott, ein totaler Versager«, murmelte Prosser. Er schob den betrunkenen, stinkenden Thornhill ins Haus, führte ihn zur Bibliothek und knipste die Tischlampe an. »Setzen Sie sich.« Thornhill sank auf den Stuhl. Seine Augen starrten ins Leere, aus der Nase lief Rotz, seine Zunge glitt unablässig über die Lippen. »Wasser!«, flüsterte er. »Halten Sie den Mund«, verlangte Prosser, während er die armselige Kreatur anstarrte, die mit dem Kopf in den Händen da saß. »Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen? Sie missachten meine Anweisungen, legen auf, während ich mit Ihnen rede – wo bleibt Ihre Disziplin?« Schäumend vor Wut schlug er seine Pfeife beim Hin- und Herlaufen gegen die Kaminverkleidung. »Besoffen! Was hatten Sie vor? Chandler umbringen, nehme ich an. Sie können von Glück reden, dass er Sie nicht allein erwischt hat, bei dem, was Sie sich diese Woche an Fehlern geleistet haben …« Er ging zum Tisch zurück und riss Thornhills Kopf an den Haaren hoch. Thornhill kreischte auf, worauf Prosser ihm ins Gesicht schlug und seine Augen auf dem Stöhnenden ruhen ließ. Reg dich nicht auf, damit du keinen Herzinfarkt kriegst, dachte er und stemmte sich gegen den, aufwallenden Ärger. »Schauen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede, Sie Schwachkopf.« Er spürte, wie sich in seiner Brust etwas zusammenzog und ging zum Fenster, das Thornhill mit seinem Schuss zertrümmert hatte. »Wissen Sie eigentlich, für wen Sie arbeiten?«, fuhr er fort. »Wissen Sie, wem Sie ins Handwerk pfuschen? Wissen Sie das? Antworten Sie!« »Nein, nein.« Thornhill war blass, bis auf den roten Fleck auf der Wange, wo ihn der Alte getroffen hatte. »Ein Routineauftrag …« »Sie arbeiten für die Russen, Sie bejammernswerter Idiot!« Prosser funkelte den Mann an. »Für den KGB … Sie hintertreiben einen KGB-Einsatz!« Thornhill zeigte keinerlei Reaktion. Er starrte ins Leere. »Sie haben Menschen getötet, Sie haben die ganze Operation ins Licht der Öffentlichkeit gerückt … eine ganz simple Operation! Jeder Watergate-Handlanger hätte diese Sache problemlos hingekriegt. Aber Sie nicht. Nein, nein. Sie hatten es mit einem Harvard-Studenten zu tun, mit einem achtzigjährigen Mann, mit weltfremden Professoren – und trotzdem konnten sie nicht den einfachsten Auftrag erledigen … Eine traurige Bilanz …« Wie ein Aasgeier kam er zum Tisch zurück. »Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich sauer bin. Und was werden wohl unsere Freunde vom KGB sagen? Überlegen Sie mal.« »Ich weiß nichts von den Russen«, bekannte Thornhill, während er versuchte, seinen Schluckauf zu unterdrücken. »Beten Sie, dass das auch so bleibt.« »Verraten Sie mich?« »Stehen Sie auf und kommen Sie mit mir raus. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Thornhill kam mühsam auf die Füße und trottete apathisch nach draußen. Der alte Herr führte ihn, die Hand fest in seinem, Rücken. »Denken Sie jemals über das Leben nach?«, fragte Prosser leise im Konversationston. Thornhill sah ihn von der Seite her an. »Wie meinen Sie das? Leben … Ich habe kaum Zeit zum Nachdenken.« »Die Zeit wäre gut genutzt gewesen. Ihr Leben war von Gewalt geprägt. Sie hätten darüber nachdenken sollen, welchen Sinn es für Sie hatte.« Sie kamen an dem großen Baum vorbei. Plötzlich waren dicht vor ihnen auch die Umrisse des roten Pinto zu erkennen. Hinter dem Baum war vor langer Zeit ein Brunnen gegraben worden, mit einem Schindeldach und einer großen Winde. »Denken Sie, dass Sie fahren können, mein Lieber?« Prosser hatte einen sanften Ton angeschlagen, als würden sie sich seit Jahren kennen. »Sie fühlen sich nicht so toll? Bisschen schwach in den Knien? Na gut; Sie können hier übernachten. Geben Sie mir Ihre Wagenschlüssel … Ich stelle Ihr Auto in die Garage.« »Danke.« Thornhill suchte seine Schlüssel und legte sie unsicher in Prossers Hand. »Ich glaube, ich muss kotzen …« »Das können Sie gleich hier erledigen. Rein in den Brunnen damit!« Als Thornhill über dem Brunnenrand lehnte und sich erbrach, drückte ihm Prosser die Mündung der großen Waffe sanft gegen den Hinterkopf und drückte ab. Der mehr oder weniger kopflose Körper sank über dem Brunnenrand zusammen. Prosser bugsierte ihn ein Stück nach oben und ließ ihn in den feuchten dunklen Schacht fallen. Er hörte ein dumpfes, klatschendes Geräusch, als der Körper unten aufschlug. Prosser holte tief Luft und lehnte sich an den Baum. Der Nachtwind hatte die Wolken von den blinkenden Sternen weggeblasen. Er fühlte sich viel besser. Am Morgen würde er eventuelle Spuren beseitigen. Jetzt musste er noch den blöden kleinen Pinto neben den Rolls in die Garage stellen und seinen müden alten Körper ins Bett verfrachten., Mein Gott – was für ein langer Tag … Liam McGonigle saß in der mit Kunstleder gepolsterten Nische und sah auf den Parkplatz des Pfannkuchenrestaurants hinaus, sah das idiotische Reklameschild im Dunkeln leuchten, das um die nichtsahnend heimkehrende Sonntagsfamilie warb. Andrew Pennerty stocherte in den Resten eines Berges von in Sirup getränkten Heidelbeerpfannkuchen herum, wobei er abwesend und ausdruckslos kaute. Das Restaurant war erfüllt vom Lärmen quengeliger Kinder samt ihren gereizten Eltern. Ohne von seinem Partner gefragt zu werden, zog Liam ein Päckchen Alka Seltzer aus der Jackentasche und schob es über den Tisch. Andrew nickte und schob seinen Teller zur Seite. Er warf die beiden weißen Scheiben in ein Glas Wasser und beobachtete, wie sie aufschäumten. »Kein besonders glücklicher Tag für uns«, verkündete Andrew und hob sein Glas. »Ich kann mich überhaupt nicht an den letzten halbwegs erträglichen Tag im Einsatz mehr erinnern.« Die Kohlensäurebläschen zerplatzten. »Aber es muss zu Präsident Kennedys Zeiten gewesen sein …« Er nahm einen langen, gemütlichen Schluck und wartete auf den erleichternden Rülpser. Sobald er sich eingestellt hatte, trank er sein Glas leer und wischte sich den weißen Schaum von den Lippen. »Der Grund liegt auf der Hand«, sagte Liam leise. »Wir werden langsam zu alt für diesen Job. Aber der alte Herr wollte uns unbedingt haben. Ich kann ihn förmlich hören: Er hat schon mit uns gearbeitet, er braucht unser Fingerspitzengefühl, immer die alte Leier, und es hat funktioniert. Er hat uns gekriegt.« Er strich mit den kurzen sommersprossigen Fingern über sein stoppeliges Kinn und gähnte unverhohlen. »Wir gehören jedenfalls nicht hierher.« »Weiß du was«, sagte Andrew finster, »ich sage es gar nicht gern, aber ich glaube, der alte Knabe hat seine große Zeit hinter sich. Er ist lange am Ball geblieben und hat eine Menge, interessanter Fälle gelöst – aber einmal kommt der Tag …« Er spießte wieder einen Bissen auf die Gabel. »Er hätte jüngere Leute anfordern sollen, nicht uns. Aber er wusste, mit uns kann er’s aufnehmen.« Er kaute mit ernstem Gesicht und beobachtete den Parkplatz. Heftiger Wind zerrte an den immergrünen Sträuchern vor dem Fenster. »Er hat sich überlebt, ihm fehlt der Kick.« Schweigend zündete er sich eine Zigarette an und winkte der Kellnerin um sich Kaffee nachschenken zu lassen. Es war ein verheerender Tag gewesen. Zuerst der Anruf, der sie gezwungen hatte, ihre müden, schlappen Körper aus dem Bett zu heben. Dann die unappetitliche Szene in Brennans Haus: Der Leichnam des massigen russischen Agenten mit dem bandagierten Kopf bot keinen besonders erhebenden Anblick. Er stank buchstäblich aus sämtlichen Löchern, Blut füllte seine Augenhöhlen und gerann in seinen Nasenlöchern. Dazu Brennan. Zuerst hatten sie gedacht, er sei tot, doch er war nur bewusstlos. Als sie dann den Alten anrufen wollten, meldete sich niemand. Nichts als Ärger. Sie hatten sich ins Auto gesetzt und waren durch den starken Verkehr mühselig nach Kennebunkport gelangt. Aber das Seafoam Inn war verschlossen. In der Auffahrt fanden sie den sattsam bekannten Pepitahut plattgewalzt im Matsch. »Ja, ja«, seufzte Liam. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch und blieb zu allem Überfluss mit zwei Fingern im verkleckerten Ahornsirup kleben. »Scheiße, Andrew – Scheiße, Scheiße.« Er sprach leise, wie immer, denn es lohnte sich nicht, die Stimme zu heben. Er tauchte die Finger in sein Wasserglas und rieb sie aneinander, dann trocknete er sie an der Serviette ab. »Was sollen wir tun? Was meinst du?« »Uns umbringen.« »Der einfache Weg. Feigling.« »Wir finden den Alten nicht, wir finden niemanden im Seafoam Inn. Der Scheißkerl mit dem ulkigen Hut ist auf und, davon, und wir wissen nicht, wohin.« Andrew stieß eine Rauchwolke aus, dann blickte er wieder in Liams betrübtes Gesicht. »Schau uns an, Liam. Wir beide haben so dicke Säcke unter den Augen, als hätten wir da die Verpflegung für die Red Sox gebunkert.« »Nehmen wir ein Motelzimmer und hauen uns hin.« »Aber wir brauchen einen Plan«, wandte Andrew zaghaft ein. Wie alle Agenten im Einsatz, hassten sie es, auf sich allein gestellt zu sein, ohne Anweisungen, ohne zu wissen, was anstand. »Morgen früh erreichen wir vielleicht Langley. Kann sein, dass sie die ganze blöde Chose abblasen.« »Wonach suchen wir eigentlich? Was meinst du?« »Ich denke, es ist einfach ein saublöder Auftrag, noch blöder als sonst. Hätten wir ihn doch nie gekriegt! Ist mir piepegal, worum es geht. Ich möchte bloß wieder unter zivilisierte Menschen. Ich will an meinem Schreibtisch sitzen, im Garten Steaks grillen und mich von meiner Frau anmotzen lassen …« Der Nebel klebte am Boden, hing in den Bäumen und perlte wie Regentropfen auf ihren Gesichtern. Sie waren in der einen Stunde sehr langsam vorwärts gekommen, ohne genaue Richtung, einfach unter den Bäumen entlang, bis Prassers Sommerhaus weit hinter ihnen lag. Eine Zeit lang hatten sie noch den Feuerschein des brennenden Wagens im Blickfeld, doch er wurde immer kleiner und sank schließlich in sich zusammen. Sie schienen tiefer in den Wald zu geraten und keuchten und schwitzten, bis Chandler eine Pause vorschlug. Zu dem Zeitpunkt hörten sie so etwas wie einen Schuss, doch es hätte auch etwas anderes sein können. Sie ruhten sich im Dunkeln aus. Der Nebel kam und ging, doch zum Glück leuchtete ein blasser Mond durch die Wolken, der ihnen die Orientierung ermöglichte. Nach einer kurzen Rast gingen sie weiter. Chandler schleppte die Tasche und folgte, Polly, die sich umsichtig auf dem glitschigen Gras unter den Bäumen bewegte. Manchmal rutschten sie auf Eis- und Schneeresten aus. Es schien bergauf zu gehen, aber ganz sicher waren sie nicht, bis Polly über die Schulter rief: »Riechst du’s auch? Das Meer! Komm hier hoch!« Aus Angst, die Tasche nicht wiederzufinden, wagte er nicht, sie abzusetzen. So kletterte er mühsam den immer steiler nach oben führenden Hang hinauf. Als er stöhnend und fluchend zu ihr aufschloss, zog sie ihn an sich. »Hoffentlich kriegst du keinen Herzinfarkt!« »Mach dich nicht lächerlich. Ich bin besser drauf als je zuvor.« »Was heißt das schon! Riech mal – das Meer. Seegras und Algen und Sand und so weiter.« »Stimmt«, meinte er schnüffelnd. »Dann wissen wir ja, wo wir sind.« »Ich nicht.« »Morgen früh wirst du’s wissen, wenn wir die Karte sehen. Wir sind dicht am Wasser, nicht weit weg von Prossers Haus.« Sie holte tief Luft. »Morgen kommen wir an die Straße –« »Und werden von den blutrünstigen Verrückten geschnappt, vor denen wir uns verstecken.« »Willst du etwa nach Bar Harbor laufen?« »Ich möchte bloß vorsichtig sein.« Sie liefen oben auf der Anhöhe weiter. Chandler spürte Sand unter den Füßen. Der Wind peitschte nun schärfer auf sie ein. Als er hörte, wie sich zwischen den Büschen etwas bewegte, prickelte die Haut in seinem Nacken. »Wir können nicht die ganze Nacht durchmarschieren«, sagte er. »Wir müssen ein bisschen schlafen.« Er nahm sie am Arm und zog sie über die Landseite des Hangs nach unten. »Komm schon! Nicht trödeln!« Im Schutz von ein paar duftenden niedrigen Bäumen oder Büschen fand er ein kuscheliges Plätzchen. Er zog seinen Burberry aus und legte ihn ausgebreitet auf den Boden., »Gib deinen Mantel her«, sagte er. »Und jetzt streck dich auf meinem aus. Gut so.« Während sie es sich bequem machte, befühlte er das Gepäck in der Tasche: Trenchcoat, ein zweiter Pullover – nichts besonders Geeignetes. Den Trenchcoat konnte sie als Decke benutzen. Er kniete sich hin und rückte die Tasche als Kopfkissen zurecht. Wie ein Held aus einem Geoffrey- Household-Roman, dachte er sich: Irgendwie schienen die immer in der Wildnis überleben zu müssen und sich von Wurzeln und Beeren zu ernähren. Zum Schluss breitete er ihren Lammfellmantel als Decke über sie beide. »Den Rest machen wir mit Körperwärme«, erklärte er. »Am besten kuscheln wir uns in Löffelchenstellung aneinander. So, nun leg deinen Wuschelkopf an Mammis Brust. Bequem so?« »Schon eingeschlafen«, murmelte sie. »Ich kann überall schlafen.« »Na dann, gute Nacht.« »Guter Gott, spiel jetzt bloß nicht den Beleidigten.« »Mach ich nicht. Aber du könntest ein bisschen Anerkennung zeigen …« Sie kicherte. »Ich weiß dich zu schätzen, Colin. Schlaf jetzt.« »Und bitte schnarch nicht. Ich habe einen sehr leichten Schlaf.« Als keine Antwort kam, machte er es seinem Kopf auf dem rechten Arm bequem. Er fühlte sich überraschend wohl und geborgen, allerdings auf eine Weise, die man nicht unbedingt jeden Tag haben musste. Es erinnerte ihn an Kindheitsnächte, die er im Garten hinter dem Haus verbracht hatte. Obwohl ihn der Gedanke beruhigte, fand er keinen Schlaf. Im Gegenteil, er war hell wach und hörte, wie Polly immer tiefer und regelmäßiger atmete. Prosser machte ihm Sorgen: so ganz allein im Haus, von dem Gangster belauert. Was konnte der alte Herr bei so ungleich verteilten Chancen ausrichten? Andererseits schien ihn die Vorstellung nicht besonders zu ängstigen. Er war auch anders, als sonst gewesen: keine Spur von seiner beißenden Zunge, seiner Gewandtheit, seinem Widerspruchsgeist und seiner Bosheit – Attribute, die den Kern seiner Persönlichkeit bildeten. Sicher, er machte sich Sorgen und stand unter ungewohntem Druck, das mochte wohl der Grund für seine Veränderung sein. Trotz seiner schillernden Vergangenheit wuchsen dem alten Knaben die Dinge über den Kopf. Er zeigte Nerven. Die Sache mit Brennan lag jedoch anders. Wie konnte er etwas über seinen Zustand erfahren? Hugh hatte einen Menschen getötet, den großen Kerl mit dem Goldzahn – was für eine Wahnsinnsgeschichte! Aber was hatten sie ihm angetan, und war er noch am Leben? Schließlich setzte er sich auf, grub Pfeife und Tabak aus der Manteltasche und rauchte. Er fühlte sich zwar wie ein Romanheld, doch wenn es darum ging, die Initiative zu ergreifen, fehlte ihm das Entscheidende. Er war einfach zu naiv, um seine Lage kritisch zu betrachten und kluge, vorausschauende Schlüsse zu ziehen. Insbesondere war ihm schleierhaft, was er getan hatte, um in Gesellschaft einer bildschönen Frau, die er gerade geliebt hatte, mitten in der Pampa von Maine zu landen. Einer bildschönen Frau, die ihn in diese ganze widerliche Geschichte hineingezogen hatte. O Gott – er hatte ganz vergessen, dass eigentlich alles ihre Schuld war. Dann schlief er ein. Der Kopf seiner Bruyerepfeife wärmte ihm die Hand.,MONTAG
Polly erwachte als Erste; sie presste ihre Hüften gegen seinen Bauch und seine Oberschenkel und sagte: »Ich mache mir Gedanken um Ezzard. Wie konnte ich den bloß vergessen?« Sie drehte sich zu ihm. »Aufwachen, Pfadfinder!« »Ich bin wach. Mir tut der Hals weh.« Er hielt die Augen geschlossen, versuchte, seine Nase in ihrem Pullover zu vergraben, räusperte sich und hustete und fühlte sich potthässlich. »Das ist bloß die feuchtkalte Luft. Es geht wieder weg.« Sie stützte sich auf seine Schulter und setzte sich auf. »Mein Gott, bin ich steif. Mir scheint, ich werde alt.« »Das ist bloß die feuchtkalte Luft«, meinte er. »Deine besten Jahre fangen erst an, mein Schatz.« »Sieht so aus, als wüsstest du alles über Polly Bishop. Und das schon nach einer Runde Sex auf dem Fußboden vor dem Kamin.« Sie stippte ihn auf die Brust. »Hüte dich vor zu viel Selbstvertrauen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ich habe einen ganzen Sack solcher Redensarten für dich aufgespart … Entweder du erhebst dich jetzt, oder ich zitiere noch mehr von meinen Weisheiten.« »Na gut, ich steh ja schon auf.« Als er ein Auge riskierte, stand sie über ihm und reckte und streckte sich. Nicht übel, ganz und gar nicht übel. Er öffnete auch das andere Auge. »Schnuckelig«, bemerkte er. »Was?« »Nichts.« Er blinzelte in den wunderbar friedlichen Frühlingsmorgen. Hinter einer lockeren Nebelbank leuchtete die Sonne in glühendem Gold. Es war wärmer, als er vermutet hätte. Wieder durchströmte ihn das sorglose Gefühl, das er seit seinem ersten Zusammentreffen mit Polly kannte. »Und? Was machen, wir?« »Ich weiß nicht, was du machst. Aber ich setze mich erst mal hintern Busch.« Schon war sie weg, während er still auf dem Rücken lag, zugedeckt von ihrem Mantel, das Schaffell bis zum Kinn hochgezogen. Frühlingsduft lag in der Luft. Der Geruch von feuchter Erde, von Gras und Bäumen ließ seine Gedanken zurückwandern in die Vergangenheit. Er erinnerte sich an seine Kindheit in der kleinen Stadt Oregon, Illinois: an die Schneeschmelze und die dünnen Eiskrusten, die wie Zuckerguss auf den Pfützen lagen, an den Cockerspaniel, der den Wechsel der Jahreszeiten ausgelassen begrüßte, als sie auf den Liberty Hill kletterten. Das alles war so lange her, und er konnte sich nicht mehr richtig an den Jungen mit dem Hund erinnern, aber die Spur der Erinnerung war da und wartete in seinem Kopf. Man konnte sie nicht herbeizitieren; sie kam, wenn der passende Knopf gedrückt oder die richtige Leine gezogen wurde. »Der Highway kann nicht weit weg sein«, sagte sie, als sie aus dem Föhrendickicht in das nasse Gras heraustraten, das unter ihren Füßen schmatzte, als wären sie im Moor. Ihr Ziel war der feuchte Sandweg, der über einen Hügel führte. Der Highway Nummer 1 dahinter war ein ödes, schmales graues Betonband, das sie laut Landkarte bis Ellsworth bringen würde. Sie wussten beide, dass jemand nach ihnen Ausschau hielt. Außerdem machten sie sich Sorgen um Prosser. Aber es gab kein Zurück: Sie hatten ihre Anweisungen. Schweigend gingen sie weiter und spürten immer stärker den Ernst ihrer Lage. Eine Stunde nach Aufbruch erreichten sie den Highway, der sich unbefahren nach beiden Seiten dahinzog. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne verlieh ihm einen Hauch von Glanz. »Bete, dass wir keinem roten Pinto begegnen«, sagte er, als er die Tasche an der Straßenseite nieder fallen ließ. »Wir sind hier genau in der Schusslinie.« »Wie weit ist es nach Ellsworth?« Sie hatte ihr Haar mit den Fingern zurückgestrichen. Ihre Wangen waren erhitzt. Einmal, hatte er sie geküsst und wollte es gern wieder tun. »Zu weit zum Laufen.« »Sollen wir einfach hier warten?« »Wir könnten uns auch auf den Weg machen.« Er nahm die Tasche. »Hör mal, die Vögel! Im Frühtau zu Berge … du weißt schon.« Sie hakte sich bei ihm ein. Bei ihrem Marsch versuchten sie, dem Matsch am Straßenrand auszuweichen. Nachdem zwei Autos und ein Lieferwagen an ihnen vorbeigebraust waren, sagte sie: »Wäre jetzt nicht der passende Moment, um mir die Geschichte vom Macguffin zu erzählen? Ich meine, wenn sie uns finden, will ich nicht sterben, ohne sie zu kennen.« »Quatsch.« »Und der braune Wagen? So können wir ihn kaum zurückgeben.« »Oje, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.« »Dann erzähle mir was über den Macguffin.« »Nein. Ich will dich nicht verwöhnen.« »Ha!« Sie kickte einen Stein über die leere Straße. Der goldene Glanz verlor sich, als Wolken aufzogen. »Ich habe furchtbaren Hunger.« Gegen zehn erreichten sie Rockland, wo sie an einer Tankstelle mit Raststätte Halt machten, an der ein paar Lastwagen tankten. Über die Straße zogen Nebelschwaden. »Endlich was zu essen!« seufzte sie. Chandler stocherte in seinen Rühreiern herum, Polly hatte sich ein Farmerfrühstück auftischen lassen, bei dem sich ihm fast der Magen umdrehte. Es war die Angst. Sie war zurückgekommen und hockte in ihm wie ein finsteres Tier, das er nicht vertreiben konnte. Sie saßen in der hintersten Nische, von wo er nach einem roten Pinto auf dem Highway Ausschau hielt und sich fragte, was er wohl tun würde, wenn er ihn erspähte. Ein Streifenwagen fuhr herein und parkte. Die beiden Polizisten, stiegen aus, streckten sich und polterten in die Raststätte, wo man sie gut kannte. Unter scherzhaftem Geplänkel und Gelächter wurde ihre Thermosflasche mit heißem Kaffee gefüllt. Es hätte so ein angenehmer, ruhiger Ort sein können, so ein schönes Fleckchen für ihn und Polly. »O Gott«, flüsterte er. Ein roter Wagen … Polly schüttelte den Kopf. »Toyota«, meinte sie. »Entspann dich.« Er lehnte sich zurück. »Sei still, mein Herz.« Es war kein Witz: Er wusste, wie kläglich und armselig sein Lächeln ausfiel. Als die beiden Beamten ihre kabarettistische Einlage beendet hatten und gegangen waren, nahmen die Zurückgebliebenen ihre normale wortkarge Unterhaltung wieder auf. Chandler holte sich eine zerlesene Bostoner Morgenzeitung vom Tresen, die jemand liegen gelassen hatte. Polly frühstückte immer noch. »Ich mache mir Sorgen um Ezzard.« »Das hast du schon gesagt.« »Weiß ich. Aber ich muss was unternehmen. Ich rufe meinen Nachbarn an.« »Wie kommt der ins Haus?« Er suchte die Titelseite der Zeitung. »Er hat einen Schlüssel.« Chandler sah ruckartig auf. »Ach ja?« »Ist ein ganz, ganz lieber Kerl.« Sie lächelte. »Er ist schwul. Geht’s dir jetzt besser?« »Tut mir leid …« Er ordnete die Zeitung auf dem Tisch und spürte, wie sich sein Magen unangenehm zusammenzog. Da stand es, in der rechten unteren Ecke der Titelseite: FERNSEHREPORTERIN VERMISST IN MORDUNTERSUCHUNG VERWICKELT Polly sah besonders attraktiv aus: blitzende Zähne, glänzende Augen, der Kopf der Kamera zugewandt. »Wie, zum Kuckuck –« »Wahrscheinlich hast du am Sonntagabend eine Sendung, verpasst. Oder sie konnten dich am Telefon nicht erreichen.« Kopfschüttelnd folgte er den Zeilen mit dem Finger. Polly beobachtete ihn, während sie an ihrer Fingerspitze kaute. »Ja, hier steht’s: Ralph Stratton, der Chef des Senders, hat versucht, dich am Sonntag anzurufen.« »Verdammter Wichtigtuer!« »Dann ist er zu deiner Wohnung gefahren. Die Tür stand offen und es gab Hinweise darauf, dass jemand die Räume durchsucht hat. Bestimmt unsere kleinen Freunde …« »Steht was über Ezzard drin?« »Polly, irgendjemand hat deine Wohnung gefilzt! Der Kater wird nicht erwähnt, aber wenn sie ihn umgebracht hätten, hätte es in der Schlagzeile gestanden. Aber wer kann es gewesen sein?« »McGonigle und Fennerty? Pepitahut und Begleiter? Macht wahrscheinlich keinen Unterschied, oder?« »Ich glaube kaum. Hier heißt es, du hast bei der Berichterstattung über die Harvard-Morde die Schlüsselrolle gespielt.« Er bedachte sie mit einem säuerlichen Blick. »Colin, du hast was übersehen, oben auf der Seite!« HARVARD-PROFESSOR GEFOLTERT OPFER SCHWER VERLETZT – PEINIGER GETÖTET Die Geschichte sah ein bisschen anders aus, als Prosser sie ihm erzählt hatte, doch für Polly, die sie mit wachsendem Erstaunen las, war alles neu. Schließlich sah sie mit weit aufgerissenen Augen auf. »Du weißt das schon von Prosser?« »Er wollte dich nicht beunruhigen.« Sie rollte mit den Augen. »Brennan war bei Bewusstsein. Er hat der Polizei alles erzählt; sie haben einen anonymen Hinweis bekommen. Was hat das denn mit Prosser zu tun? Das Ganze ist ziemlich seltsam.« »Wer weiß«, erwiderte Chandler. »Er hat viele, Verbindungen.« »Ich kriege das nicht ganz auf die Reihe.« Sie blätterte um bis zur Seite drei. »Hier steht was über dich, mein Schatz … WO IST PROFESSOR CHANDLER? Es heißt hier, der Fakultätsvorstand Bertram Prosser sei unerreichbar. Als Nächstes werden sie sich fragen, ob Harvard so viel geistigen Verlust verkraften kann: Chandler, Prosser, Brennan.« Sie trank ihren Kaffee aus und sah lebhaft um sich. »Vor ein paar Tagen wäre das alles unglaublich gewesen …« »Ist es noch. Mein Leben ist immer noch in Gefahr, Prosser ist vielleicht schon tot, Hugh kann jeden Augenblick sterben, nach dem, was die blöde Zeitung schreibt. Und wir wandern absolut schutzlos die Küste von Maine entlang und versuchen, nach Bar Harbor zu kommen. Es ist unglaublich. Und das Unglaublichste ist, dass ich keinen Nervenzusammenbruch gekriegt habe.« Er tippte auf die Zeitung. »Unsere Bilder sind in den Zeitungen. Jesus, man könnte uns jeden Moment erkennen!« »Na und?« meinte sie ruhig. »Wir werden nicht polizeilich gesucht. Es ist nicht wie bei Cary Grant in Der unsichtbare Dritte. Wir laufen bloß ein bisschen weg. Wenn uns jemand sieht, sagt er vielleicht, hallo, ihr beiden, ich kenne euch. Was sollen sie sonst tun? Das Schreckliche an der Sache sind die Leute, die uns verfolgen, die das Dokument wollen und uns notfalls umbringen würden. Wenn wir uns auf einem Polizeirevier melden, wissen die gar nicht, was sie mit uns anfangen sollen.« Sie lächelte. »Gut. Machen wir uns auf den Weg.« »Zuerst muss ich wegen Ezzard anrufen. Pudere dir die Nase, dann bin ich so weit.« Sie ging zum öffentlichen Telefon an der Wand und nahm ihre Kreditkarte aus der Börse in ihrer Manteltasche., Vor der Tür fragte er den Fahrer eines Kombi mit dem Schriftzug DOWN EAST TV REPAIR, ob er wisse, wie man nach Ellsworth komme. »Sie könnten trampen«, meinte der und zwinkerte ihm mit seinen blauen Augen unter den rötlichen Augenbrauen zu, »oder Sie warten auf ein Taxi. Da müssen Sie allerdings lange warten.« Er sah Polly herauskommen. Ihr Schaffellmantel stand offen und schlug im Wind auseinander. »Nachdem ich aber selber Richtung Ellsworth fahre, könnten Sie auch mit mir fahren.« Er schenkte Polly ein Lächeln. Später saßen sie zusammengepfercht auf dem Vordersitz und ließen seine Fragen und sein Geschwafel einsilbig über sich ergehen. Ab und zu warf er einen versteckten Blick auf Pollys Schenkel und auf ihr Gesicht. Nach fast einer Stunde fuhr er rechts ran. »Ja, Leute, es war sehr interessant, mit euch zu reden, aber hier ist Endstation: Die schöne Stadt Ellsworth, Holiday Inn.« Chandler sprang hinaus, holte die Tasche vom Rücksitz und zog Polly mit sich. »Vielen Dank!«, rief sie über die Schulter. Chandler murmelte freundlich winkend etwas Obszönes und eilte über den Parkplatz zum Motel. Der Portier rief ein Taxi, das sie unter der Markise vor dem Eingang erwarteten. »So schlimm war er nicht«, bemerkte Polly. »Er ist bloß jedes Mal fast in den Graben gefahren, wenn er auf deine Schenkel gestarrt hat, der geile Bock.« »Du hast ihn angesprochen, Liebling.« Das Taxi fuhr vor Chandler nannte ihr Ziel: Bar Harbor. »Bah Hahba? In Bah Hahba ist alles dicht – absolut alles!« »Fahren Sie einfach hin. Bitte.« Kopfschüttelnd überwand der Fahrer seinen Widerspruchsgeist, bog vom Holiday Inn aus rechts ein und brachte sie ohne ein weiteres Wort nach Bar Harbor. Kendricks Sportladen thronte über dem Wasser der grauen,, flachen Bucht. Man konnte nicht erkennen, wo die Wasseroberfläche aufhörte und der Nebel anfing. Die goldene Sonne war völlig verschwunden. Vom Geruch des Meeres umgeben, standen sie allein auf der verlassenen Straße. Ein paar Boote mit schlanken Masten klammerten sich unruhig an den verwitterten Steg aus dicken Holzplanken. Am Ende des Stegs kniete ein Mann in einer langen Plaidjacke und starrte ins Wasser. Die Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Trotz seiner gesellschaftlich berühmten Vergangenheit kam ihnen Bar Harbor vor wie eine modrige, von der Witterung gezeichnete Geisterstadt mit gespenstischem Echo. Chandler drückte auf die Klinke an der Eingangstür zum Sportgeschäft, doch die Tür war verschlossen. Ganz hinten im dunklen Laden glomm ein Licht. Es war nach Mittag. Der Wind vom Meer leckte an dem feuchten Holz. Angelausrüstungen und Bootszubehör, mit dem Chandler nichts anfangen konnte, stapelten sich in dem großen Schaufenster. Ungestört sammelte sich Staub auf den Dingen, die man wohl einst als Dekoration bezeichnet hätte, die sich aber im Lauf von Jahren, vielleicht von Jahrzehnten, in ein trostloses Durcheinander verwandelt hatten. Ein Tennisschläger aus der Zeit von Bill Tilden lehnte an einem Außenbordmotor. Eine Sehne war zerrissen und hatte sich aufgerollt – vor langer Zeit. In der Frühgeschichte des Sports. Chandler klopfte an den verrotteten hölzernen Türrahmen. »Natürlich keiner zu Hause«, sagte er. »Bruder Kendrick aalt sich vermutlich in Florida in der Sonne. Ich wusste, es würde nichts bringen.« »Stimmt nicht«, unterbrach Polly sein Jammern. »Du hast gesagt, Bert Prassers Rat ist dir heilig. Sei mal ehrlich zu dir.« Zwischen ihren hohlen Händen sah sie in den Laden. »Du bist nur müde und hast es satt, die Tasche zu schleppen. Komm her, Mieze …« Sie klopfte an das Glas. »Miez, Miez, Miez!« Chandler stellte die Tasche ab und lief zur Hausecke. Vor sich sah er ein Stück Brachland, das von verfilztem dunkelbraunem, Unkraut bedeckt war. Die Risse im Pflaster des Gehsteigs waren vom Sand zugeweht. Nichts bewegte sich. Der Mann, der draußen auf dem Steg gehockt hatte, tauchte zwischen den verwitterten schwarzen Pfählen am Strand auf. Die Hände hatte er in den Taschen seiner karierten Jacke vergraben, und unter der Hakennase hing ihm eine Zigarre im Mund. Chandler beobachtete, wie er sich ihm plötzlich zuwandte und ihn anstarrte. Dann kam er über eine ausgetretene Holztreppe, die vom Strand zum Gehsteig führte, zu ihm hoch. Der Mann mit dem kantigen Kinn und dem grauen Stoppelbart war um die sechzig, groß und breitschultrig, sein Gesicht wettergegerbt und mit einem Netz von roten Adern durchzogen. Die abgetragene Kapitänsmütze sah aus, als würde sie zu den Sachen im Schaufenster gehören. Er hatte tief liegende hellgraue Augen und eine kräftige Stimme, wie sie Chandler schon bei Leuten aufgefallen war, die gewöhnt sind, ihre Probleme allein und auf ihre Weise zu lösen. Er hatte den festen Blick eines Comic-Helden und auch die dazu gehörigen scharfen Gesichtszüge. »Hallo!«, sagte er, als er oben anlangte. »Düsterer Morgen, düsterer Tag. Versetzt mich immer in gute Laune. Suchen Sie jemanden?« »Kendrick.« »So, Kendrick.« Er ging auf den Laden zu. »Den alten Kendrick. Was wollen Sie von dem alten Dussel?« »Das würde ich ihm lieber selbst sagen.« »Verschwiegen – das gefällt mir.« Er lachte leise. Vor dem Fenster blieb er stehen. »Die Kätzchen gefallen Ihnen, Miss? Hilflose kleine Kerlchen.« Im Fenster waren vier Katzenbabys zu sehen, die stolperten und umfielen und gleich wieder aufstanden und weitertaumelten. »Wollen Sie den beiden hier guten Tag sagen?« Er zog seine Hände aus den Taschen und hielt in jeder ein winziges Kätzchen. »Sind die süß! Richtige Babys!«, »Ich hatte immer ’ne Schwäche für Katzen, überall, wo ich war. Katze bleibt Katze.« »Sind das Ihre?« »Ja. Es dürften über zwanzig sein.« Er sah Chandler an. »Ich bin Kendrick. Und wer sind Sie?« »Bert Prosser schickt uns zu Ihnen.« Chandler runzelte die Stirn, weil er sich fragte, wieso Kendrick so ein Katz- und Mausspiel um seine Identität veranstaltet hatte. »Mein Name ist Chandler, und das ist Miss Bishop.« Kendrick nickte, während Polly den beiden Kätzchen über die Nase strich. »Ich hab was über Sie in der Zeitung gelesen«, sagte er vieldeutig. Dann verstaute der die kleinen Katzen wieder in seinen Taschen und schloss die Ladentür auf. »Setzen wir uns doch und trinken was, um die Knochen zu wärmen.« Bevor er sie in Richtung der einzelnen Lampe an obskuren Stapeln und aufgehäuften Gegenständen vorbei in den rückwärtigen Ladenteil führte, füllte seine Gestalt einen Augenblick lang den Türrahmen. Es roch nach Maschinenöl und Tauen, und es zog. »Nicht viel los zu dieser Jahreszeit«, bemerkte er, ohne sich umzudrehen. Die Kätzchen hatten ihren Weg aus dem Schaufenster gefunden. Chandler hörte ihre weichen Tatzen und hoffte, dass er sie nicht zertreten würde. Polly nahm ein paar der kleinen schwarzfelligen Tierchen auf den Arm. Katzenklo! Er konnte riechen, wie es stank, und stöhnte innerlich. In dem großen, voll gepfropften Büro hing der kalte Rauch von ungezählten Zigarren. Kendrick machte noch einen Zug, bevor er seine Zigarre sorgsam auf dem breiten Rand eines Aschenbechers aus dickem Glas ablegte, der in einem Gummireifen verankert war. Solche Aschenbecher hatte Chandler seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen, als sein Großvater genau den gleichen auf seinem Schreibtisch stehen gehabt hatte. Kendrick hängte seine Jacke an eine breite Garderobe. Er trug, Hosenträger über dem karierten Flanellhemd und schwere Cordhosen. Ein Raumstrahler machte die Zimmerluft trocken und muffig. Die Katzen lagen überall, selbst auf den Papieren auf dem Rollpult. Er verscheuchte eine Katze von einem ziemlich windigen Drehstuhl und zog zwei zerschundene Metallstühle heran. »Setzt euch, Freunde. Nehmt einen Sorgenbrecher zur Brust.« Aus der obersten Schublade holte er eine Flasche Bourbon, stellte drei Gläser hin, die er aus einem Regal über dem Schreibtisch nahm, und schenkte jedem, ohne zu fragen, zwei Finger breit ein. »Prost!«, sagte er und kippte sein Glas hinunter. Polly und Chandler nippten an den ihren. »Wild Turkey. Man muss wissen, wofür man sein Geld ausgibt. Also, Bert Prosser, der gute alte Bert. In der Zeitung steht, Sie sind Historiker, Sir. Sagen Sie, kennen Sie seine Geschichte? Ich schon. Ich kenn ihn seit Indien, seit dem Zweiten Weltkrieg. Da bin ich ihm zum ersten Mal begegnet. Aalglatt und gerissen. Genau das, was wir brauchten. Abwehroffizier. Ich war Pilot. Habe Bert hierhin und dorthin geflogen – überallhin. Warum hat er sie zum alten Kendrick geschickt?« »Ich sollte Ihnen nur sagen, es sei eine Code-Green-Sache. Was immer das heißen soll.« Chandler hob unsicher die Achseln. »Sagt Ihnen das was?« Kendrick zündete den Stumpen seiner schwärzlichen Zigarre an, blies das Streichholz aus und schüttelte die fast leere Flasche. »Klar sagt mir das was. Es sagt mir ’ne ganze Menge.« Er paffte eine enorme Rauchwolke in die Luft und kratzte sich den grauen Bart an seinem eckigen Kinn. »Eine ganze Menge. Code Green.« Er nickte. »Passiert so was oft?«, fragte Polly, in deren Schoß sich zwei Kätzchen balgten., »Zum letzten Mal vor ungefähr fünf Jahren.« »Was bedeutet es?« »Bedaure, Miss, das gehört zu Code Green. Es geht noch auf unsere Zeit in Indien zurück. Code Green heißt auch, ich darf’s Ihnen nicht sagen. Es heißt ›Streng geheim‹ und ›Eile tut Not‹.« Er räusperte sich und stieß das schmutzige Fenster auf. Feuchtigkeit drang in das ausgetrocknete Zimmer. Mit seiner Zigarre deutete Kendrick nach draußen. »Es ist neblig da draußen. Wir müssen warten, bis sich der Nebel verzieht oder lichter wird. Tut mir leid, Bert Prosser, aber das Eilverfahren funktioniert heut nicht.« Er drehte sich um, hakte die Daumen in seine Hosenträger und ließ seine Zigarre von einem Mundwinkel zum andern wandern. »Erwartet Bert wirklich von uns, dass wir uns in Ihre Hände begeben?« Polly sah ihn fragend an. »Das wissen Sie wohl selber am besten, Miss. Sie können gern gehen – dann viel Glück. Wenn Sie bleiben, hab ich Sie in der Hand. Aber ich möchte Sie nicht überreden …« Er setzte sich und schenkte sich großzügig nach. Der feine bernsteinfarbene Bourbon hatte es ihm angetan. »Nein, wir vertrauen Ihnen«, erklärte Chandler. »Aber ich kann Ihnen sagen, ich bin mit meiner Weisheit ziemlich am Ende.« »Das kenne ich, wenn die Leute am Ende ihrer Weisheit sind. Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Sir. Aber wir müssen ein paar Vorbereitungen treffen. Code Green ist kein Improvisationsprogramm. Also, sind Sie bereit?« Polly nickte. »Gut. Wir nehmen meinen Wagen.« Er holte zwei Dosen Katzenfutter aus dem vergammelten Kühlschrank in der Ecke und öffnete sie mit einem Dosenöffner mit rotem Griff, der ständig seinen Dienst verweigerte. »Nun, meine Schönen, jetzt braucht ihr euch nicht gegenseitig zu fressen.« Er lachte rau und gespenstisch, als er die Dosen neben einer großen Schüssel mit, Milch auf den Boden stellte. Dann zog er seine Plaidjacke wieder an. Ein schmaler, aufgeweichter Feldweg führte sie auf Umwegen zum Wasser. Die Reifen drehten durch, Nebelschwaden versperrten ihnen die Sicht, nasse Gräser peitschten die Flanken des Wagens. Kendrick kannte wohl seinen Weg, aber trotzdem hielt Chandler sich am Armaturenbrett fest. »Warum haben Sie’s so eilig?« Kendrick lachte schallend. »Ich hab’s nicht eilig. Ich bin nur kein Freund vom Trödeln. Die Straße kenn ich in- und auswendig.« Der schlüpfrige Boden war in Sand übergegangen. Es gab keine Bäume mehr – nur noch Strandgras. Mitten auf dem Sandstrand, vielleicht hundertfünfzig Meter vom Weg entfernt, stand gefährlich nahe am Wasser ein kleines Haus, das anscheinend einiges mitgemacht hatte. An den vier Ecken und in der Mitte wurde es von Betonstützen getragen, als wäre eine mittlere Flut im Anmarsch. »Trautes Heim, Glück allein«, witzelte Kendrick, als er in den weichen Sand hineinfuhr. Sein eigener Landungssteg führte hinaus in die kleine geschützte Bucht. Am Ende des Stegs schaukelte ein altgedientes Wasserflugzeug sanft auf breiten Pontons. Die Umrisse des Flugzeugs, nur knapp hundert Meter entfernt, wurden vom Nebel verwischt. Das Haus war gemütlich und spärlich eingerichtet: ein paar Regale mit Taschenbüchern, ein großes Kurzwellenradio auf dem Küchentisch, eine altes Sofa aus Weidengeflecht in einer Art Frühstücksecke, Herd und Kühlschrank, ein Abtropfgestell aus Gummi mit ordentlich zum Trocknen aufgestelltem Geschirr. Das zweite Zimmer beherbergte ein Bett, eine Kommode und mehrere Gewehre in einer Wandhalterung. »Ich schwöre auf leichtes Gepäck«, meinte Kendrick beiläufig. »Kaufe nichts, was du nicht brauchst.« Im Nu hatte er in der Küche Licht gemacht, Kaffeewasser aufgesetzt und den, Raumstrahler eingeschaltet. Es war keine Katze in Sicht. »Wenn Sie Hunger haben, Miss, können Sie den Kühlschrank leer machen. Kaffee hab ich schon aufgesetzt. Gleich haben wir’s warm.« Er rieb sich die Hände und sah sich um. »Ich habe noch was zu tun. Machen Sie sich’s gemütlich. Wir steigen in Code Green ein, wenn das Wetter passt.« Er verließ die Küche und verschwand in einem kleinen Geräteschuppen hinter dem Haus. Polly sah ihm nach. »Mir geht das alles gegen den Strich, Colin. Was bildet sich Prosser ein? Das hier grenzt schon an Kidnapping.« »Auf freiwilliger Basis. Wir hätten auch gehen können.« »Na klar! Marsch hinaus in die Wildnis. Außerdem habe ich Angst, Colin. Immer wenn ich irgendwo hin schaue, sehe ich den verdammten roten Pinto. Er ist uns auf den Fersen.« Kendrick kam mit einem Metallkoffer aus dem Geräteschuppen und spazierte mit gesenktem Kopf auf den Landesteg hinaus. »Prosser hat uns das eingebrockt. Ich sehe keinerlei Sinn in dem Code-Green-Quatsch. Er hätte uns doch einfach unser Ziel nennen können. Es ist so kindisch …« Sie hielt inne. »Kindisch oder hochoffiziell. Code Green – das klingt, als hätten irgendwelche Idioten in Washington sich das ausgedacht.« »Er hat in der Vergangenheit oft mit der Regierung zu tun gehabt. Daher stammt auch sein Wortschatz. Mach dir keine Sorgen.« »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Großartig.« Er legte seinen Arm um sie und drehte ihr Gesicht zu sich. »Hör mal. Mir ist völlig klar, dass ich kein Filmheld bin. Aber ich kenne Bert Prosser, und wenn man sich auf irgendjemanden verlassen kann, dann auf ihn und sein brillantes Gehirn. Hat er einen Plan, dann ist der auch durchdacht.« Er versuchte ein Lächeln, das ihr Sicherheit geben sollte. Polly entzog sich ihm mit ernstem Gesicht. »Nehmen wir mal, an, wir kennen unser Ziel, und sie erwischen uns und reißen uns die Fingernägel aus, dann könnten wir’s ihnen verraten – stimmt’s?« »Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen.« »Aber es stimmt.« »Ich gebe zu, der Gedanke ist auf perverse Art logisch.« »Deshalb hat er’s uns nicht gesagt«, erklärte sie mit Nachdruck. »Und jetzt ist er vermutlich tot.« »Dein morbides Vorstellungsvermögen bringt uns nicht weiter.« »Auch nicht dein grundloser Optimismus.« »Noch so ’n Spruch aus Omas Zeiten! Du verrätst dein Alter, mein Schatz. Was ist dein Lieblingslied? ›Bringing in the Sheaves‹?« »›You came to me from out of nowhere‹«, sang sie leise. »Es stammt aus einem Film der vierziger Jahre: You came along … Ich wollte sein wie Lizabeth Scott. Ich habe sogar ihr Lispeln geübt. Sie hatte so wunderbare starke Augenbrauen. Damit konnte ich auch dienen – als Einziges. Der Film war so ähnlich wie Love Story. Robert Cummings war Trapezkünstler. Er starb an einer seltsamen Verletzung, und Lizabeth hat ihn geliebt. Ich habe mir die Augen ausgeweint, weil sie ohne ihn weiterleben musste. Dann bin ich erwachsen geworden. Wieso reden wir eigentlich über so was?« »Es ging um alte Sprüche.« An einem Fingernagel kauend trat Polly ans Küchenfenster »Was macht der da draußen?« Kendrick kletterte gerade mit dem Werkzeugkasten auf den Ponton. »Er beschäftigt sich mit seinem Spielzeug«, sagte Chandler. »Was meinst du, warum wir warten sollen, bis der Nebel verflogen ist? O Gott, er bringt uns mit dem Ding irgendwo hin!« Sie schlug mit der Faust an den Fensterrahmen. Am Abend, nachdem Kendrick ihnen Bohnen aus der Dose, mit Toast vorgesetzt hatte und Bier zum Hinunterspülen, verzog sich der Nebel. Er wusch das Geschirr, stellte es zum Abtropfen auf, trocknete sich die Hände und machte die Küchentür auf. »Die Sterne sind draußen«, stellte er ruhig fest. »Legen wir los.« Chandler trug die Tasche über die Holzbohlen des Stegs. Ihre Tritte klangen hohl, als liefen sie auf einer Trommel. Das Wasser schwappte sanft gegen die Pfähle. Tief atmete er die feuchtkalte Nachtluft ein und versuchte, damit seinen Magen zu beruhigen. Eine Leiter mit rutschigen Sprossen führte auf einen schmalen Holzsteg hinunter, der im rechten Winkel zur Tür ins Meer ragte. Am Ende schaukelte das Flugboot träge im dunklen Wasser. Kendrick leuchtete mit einer Taschenlampe, wobei Chandler sich vorkam wie Captain Midnight, denn auch das Fluggerät schien aus der Zeit der vierziger Jahre zu stammen. Die einst weiße Farbe war schmutzig und an etlichen Stellen geschwürartig aufgeworfen, sie löste sich von den dicken Tragflächen und hing an deren Unterseite wie abgerissene Stücke von Luftschlangen. »Keine Bange«, bemerkte Kendrick, als könnte er Gedanken lesen, »wichtig ist nicht, wie es aussieht, sondern wie es fliegt.« Er fummelte an einer winzigen Tür herum, die sich schließlich öffnete. »Hoch mit Ihnen, Miss«, sagte er mit einladender Geste. Chandler sah Polly beim Hochklettern zu, hörte sie fluchen. Dann schob er die Tasche vor sich her und stieg ihr nach. Als er einen Augenblick lang stecken blieb, sah er sich im Geist schon mit heraushängendem Hintern zu fremden Gestaden fliegen, bis er Kendricks Hand fühlte, die ihn mit einem Ruck in die enge Kanzel schob – falls es die Kanzel war. Polly zog ihn an der Hand. Er richtete sich mit verkrampftem Rücken auf und stieß seinen Kopf laut und heftig an der Decke. »Machen Sie schon, Mann«, knurrte Kendrick. »Der Pilot will auch noch rein.« Chandler fiel in einen winzig kleinen, schlecht gepolsterten Sitz mit einer nackten Rückenlehne aus Metall, während, Kendrick die Tasche beiseite stieß und die Tür zuzog, die mit einem metallischen Klicken einrastete. Bei jedem Schritt und Tritt, bei jedem Wimpernschlag schien das Flugzeug stärker auf und nieder zu schaukeln. Polly quetschte ihm fast die Hand ab. »Warum startet er nicht?«, flüsterte sie. »Sie sprechen die Nachrichten, Miss, ich fliege diese Kiste. Klar?« »Klar.« Kurze Zeit später liefen die beiden Motoren warm. Sie ließen Chandlers Zähne klappern, bis sie gleichmäßig brummten und das Flugboot über das Wasser hüpfte. Auf dem Instrumentenbord leuchteten grüne, rote und weiße Lämpchen auf, die auf Kendricks hageres, unbewegtes Gesicht gespenstische Schatten warfen. Er wirkte alterslos – wie aus Stein gehauen. Dann erhob sich das Flugzeug über das Wasser, und vor ihnen gähnte der schwarze Nachthimmel … Arden Sanger hatte sich einen Abend für eine Tätigkeit abgezwackt, die wohl zu seinem vorzeitigen Ableben geführt hätte, wäre sie bekannt geworden: Er schrieb seine Autobiografie. Obwohl er erst den Teil beendet hatte, der sich mit seiner Footballer-Karriere befasste, war ihm völlig klar, dass das Unternehmen höchste Geheimhaltung erforderte. Aus diesem Grunde folgte er bei seinen schriftstellerischen Aktivitäten keinem bestimmten Zeitplan; er veränderte seine abendlichen Gewohnheiten so wenig wie möglich, und soweit sein Hauspersonal informiert war, arbeitete er – wie immer – hinter den verschlossenen Türen seines Arbeitszimmers. Aber er durchlebte noch einmal das großartige Spiel in Illinois in seinem Abschlussjahr, als Iowa City ihm zu Füßen lag und ein paar kesse kleine Cheerleader nach dem Match über, unter und neben ihm. Ein echter Jack Carson! Er hatte zehn Minuten lang still an seinem Schreibtisch gesessen, um den erinnerungswürdigen Abend noch einmal, auszukosten, als sich der gedämpfte Summer auf dem Tisch meldete, der ihn ebenso zurückhaltend wie penetrant aus einer Zeit von vor mehr als vierzig Jahren zurückholte. »Ja, Dennis?« Er hatte die Schutzkappe auf seinen Füller gesetzt und einen Hebel an dem Plastikkästchen umgelegt. »Entschuldigen Sie die Störung, Chef, aber ich habe Liam auf einer sicheren Leitung. Er möchte Sie unbedingt persönlich sprechen.« »Ihnen ist klar, dass ich nicht gestört werden will, Dennis, wenn es nicht wirklich um eine Sache von höchster Wichtigkeit geht, ja?« »Ja, Sir. Aber Liam hat angedeutet, dass Sie beide schon befreundet waren, als ich noch in den Windeln lag. Und er hat gedroht, er würde mir höchstpersönlich die Eier abschneiden und sie meiner Witwe an den Weihnachtsbaum hängen, wenn ich ihn nicht durchstellen würde.« »Dann haben Sie ja als Junggeselle nichts zu befürchten.« »Darf ich ihn durchstellen, Sir?« »Na gut, weil Sie es sind. Stellen Sie ihn durch …« Er stand auf und ergriff ein Paar Handpressen, die er auf dem Weg zur Terrassentür zusammendrückte. Draußen ruhte die Frühjahrsnacht heiter auf seinem Atriumhof, auf Garten, Schwimmbad und Tennisplätzen. Zwei Männer standen mit verschränkten Armen auf dem Rasen und schauten zum Dach hoch. Sie überprüften – wie jeden Monat – die Reichweite der Überwachungskameras. »Hallo, Arden! Sind Sie da?« Die Stimme kam durch die Lautsprecher, nachdem sie das Entschlüsselungsgerät durchlaufen hatte. »Liam, ich kann nur hoffen, dass Sie etwas Wichtiges haben …« »Sie hören sich an wie aus einem Brunnenschacht. Sie werden gleich verstehen, wie urkomisch das ist.« »Ist mir egal, wie ich mich anhöre, Liam. Kommen Sie einfach, zur Sache. Ich bin sehr beschäftigt. Und Liam, bevor ich’s vergesse: Schüchtern Sie Herman nicht so ein!« »Herman? Wer, zum Kuckuck, ist Herman?« »Dennis Herman, der junge Mann, der gerade mit Ihnen gesprochen hat. Was wollen Sie, Liam?« Liam McGonigles Stimme wurde viel weicher, als er sich an dem prekären Gerüst seiner Geschichte auf der Suche nach bildhaften Geistesblitzen entlang tastete, an denen er das unglaubliche Geschehen verankern konnte, damit es nicht unrettbar ins Absurde abdriftete. »Also, zunächst mal kann ich im Moment CRUSTACEAN nicht finden, das heißt, Bert. Er ist einfach verschwunden.« »Ich kenne seinen Namen, Liam. Woraus schließen Sie, dass er verschwunden ist?« »Weil hier komische Sachen passieren. Wir sind in Maine, in seinem Landhaus, ich stehe in seinem Arbeitszimmer. Wir sind schon den ganzen Nachmittag hier. Und gestern Abend ist hier was Unheimliches passiert.« »Wie unheimlich?« Sanger winkte zwei Männern zu, die in eine andere Rasenecke geschlendert waren und sich dort angeregt unterhielten. Sie winkten zurück. »Wie unheimlich, Liam?« »Na ja, das Fenster hier im Arbeitszimmer ist kaputt, überall liegt Glas. Keiner hat versucht aufzuräumen. Die Kugel, die die Scheibe zertrümmert hat, kam von draußen. Andrew hat sie aus einem Buchrücken gepult, aus Montaignes Essais. Draußen sind drei verschiedene Reifenspuren zu sehen, vom Rolls und von einem kleinen Dodge oder Ford. Was es auch war – es ist gestern Abend ausgebrannt. Ich meine, in der Auffahrt hat es ’ne riesige Explosion gegeben und einen Brand. Es war hundertprozentig ein Auto. Der Gestank liegt noch in der Luft.« Liam holte tief Luft. Sanger wartete. »Dann sind da noch Spuren von einem Abschleppwagen. Der hat das Wrack abgeholt. Ja, die anderen Reifenabdrücke sind von dem roten Pinto in der, Garage.« »Hmmm.« Sanger war sicher, dass mehr hinter der Sache steckte; aber er hatte keine Ahnung, was es sein könnte. Prosser war einfach zu alt. Diesen Gedanken hatte er schon seit einigen Jahren, doch er wollte den alten Herrn nicht einfach abservieren – stammten sie doch aus der gleichen Generation. Gefühle waren schlechte Berater – wie immer. Am Anfang hatte es auch nicht nach einem wichtigen Einsatz ausgesehen. Observierung, Zusammentragen von Informationen. Dann lief alles aus dem Ruder. Seit man diesen Studenten umgebracht hatte, war für Sanger alles ein Rätsel. »Erzählen Sie weiter«, sagte er in neutralem Ton, weil er vermeiden wollte, den armen Liam einzuschüchtern, der im Einsatz noch nie etwas getaugt hatte, obwohl er so viele Jahre jünger war als Prosser. Liam gehörte an den Schreibtisch. Aber Prosser hatte ausdrücklich nach ihm verlangt, zusammen mit Fennerty, und alles hatte so harmlos angefangen. »Ja.« Liam zögerte. »Dann haben wir einen von der Gegenseite gefunden, den übrig Gebliebenen, den Kleinen –« »Ach ja, den mit dem Papitahut.« »Ihre Erinnerung ist phänomenal«, bemerkte Liam bewundernd. Sanger lächelte sich in einem runden Spiegel mit goldenem Rahmen zu, der über einer bauchigen Vase mit gelben Blumen hing. »Also, wir haben ihn in einem Brunnenschacht gefunden. Das habe ich gemeint, als ich sagte, Sie hören sich an wie –« »– aus einem Brunnenschacht? Was hat Sie dazu bewogen, in den Brunnen zu schauen?« »Wir haben Blutflecken am Rand gesehen und einen Blick hinuntergeworfen. Da war er. Nicht sehr tief. Fast sein ganzer Kopf hat gefehlt. Das meiste davon haben wir oben gefunden, als wir genau hingesehen haben.« »Was haben Sie mit der Leiche gemacht?« »Liegen gelassen. Ist doch nur ein Kerl von Moskau.«, »Moskau?«, unterbrach Sanger. »Wieso Moskau?« »Keine Ahnung. Nur so ’n Gefühl. Wir können jederzeit rausfinden, für wen er gearbeitet hat.« »Denken Sie, dass Bert ihn auf dem Gewissen hat?« »Wer denn sonst?« »Chandler. Ich nehme an, Sie haben ihn noch nicht gefunden.« »Nein. Meinen Sie …?« »Wieso nicht? Chandler wurde von ihnen verfolgt, und vielleicht hatten sie das Pech, ihn zu erwischen. Sagen wir mal so: Ich traue ihm alles zu.« »Chandler und Brennan«, sinnierte Liam. »Was für ein Gedanke.« »Ist es richtig, dass Sie immer noch nicht wissen, wer wo ist?« »So könnte man es ausdrücken.« »Und wir wissen auch nicht, worauf sie alle scharf sind. Stimmt’s? Sagen Sie, Liam, ist Ihnen ›Stronghold‹ ein Begriff?« »Nein. Nie gehört.« »Gott, das Ganze ist ein riesiges Kuddelmuddel. Keine klare Linie, alles eine einzige Schlamperei. Wissen Sie, wie mir das vorkommt, Liam? Wie das echte Leben. Alles vermasselt, unvorhersehbar, ohne System. Um ehrlich zu sein, ich hasse so was. Ehrlich. Und in diesem Fall wurde schon von Anfang an geschlampt.« »Hören Sie, Arden, wir sind nicht darauf erpicht, hier draußen im Einsatz zu sein. Außer uns sind alle tot – verstehen Sie? Wir wollen wieder raus aus der Kälte.« »Reden Sie nicht solchen Stuss. Sie können sich jederzeit ins Flugzeug setzen. Die ganze verdammte Sache war ein Sandkastenspiel – das wissen Sie. Raus aus der Kälte – so ein Quatsch!« »Sagen Sie uns, was wir tun sollen. Wir haben diesen Auftrag übernommen und wollen ihn auch zu Ende führen. Andrew lässt Ihnen ausrichten, es geht um – was, Andrew? Ja, Selbstachtung, Arden. Hier geht es um Selbstachtung.«, »Alles klar. Liam, wenn ich Ihnen von Stronghold erzähle, haben Sie einiges vor sich. Sind Sie beide dazu bereit?« »Wir sind nicht senil, verdammt noch mal! Sagen sie uns einfach, was wir tun sollen.« »Na gut. Zunächst brauchen Sie Leuchtkugeln. Rote Leuchtkugeln.« Liam stöhnte. Arden Sanger grinste sich eins. Er würde das rasch ausbügeln. Sehr rasch. Die Autobiografie musste eben ein bisschen warten … Bert Prosser war völlig erschöpft. Er brauchte nicht in den Spiegel seines Rolls-Royce zu schauen, um zu wissen, wie er aussah: das Gesicht grau, die Augen blutunterlaufen, der Mund ausgetrocknet, die Hände zittrig, sobald er das Steuer losließ. Er wog kaum sechzig Kilo und fühlte sich wie ein Gerippe, das man zu Halloween an den Türrahmen hängte, um die Kinder zu erschrecken. Wie der Gestank von faulem Fleisch umgab ihn die Furcht vor dem Tod. Bald war es so weit, bald würde er sterben. Alles war in die Binsen gegangen, alles hatte sich gegen ihn gewendet. Mit dem Mord an dem Betrunkenen – seinem eigenen Mann – hatte es angefangen. Mitten in der Nacht war er halluzinierend hochgefahren und hatte gedacht, er sei schon tot, sei in seinem Sarg eingeschlossen, in den unten das Wasser hineinlief. Noch im Wachen hatte er das Bild des Mannes im Sarg vor sich, an dem das Wasser hochstieg. Aber er sah den Mann, den er erschossen hatte, und er lag nicht im Sarg, sondern in einem nach Moder stinkenden Brunnen. Dann das Theater mit dem Abtransport des ausgebrannten Wagens: Er musste den Eigentümer eines Abschleppwagens schmieren und eine Geschichte erfinden. Gott, alles war so mühsam, und er konnte sich nicht darauf verlassen, dass der Mann dichthielt. Es gab zu viele Ungereimtheiten. Er wusste nicht, wo Andrew und Liam waren; vermutlich irrten sie, irgendwo da draußen herum und würden schließlich nach Boston zurückkehren, um sich von dort aus zu melden. Ja, es war ein einziger Schlamassel. Aber er war auch nur ein Mensch. Und sehr alt. Zu früheren Zeiten hätte er die Dinge niemals so außer Kontrolle geraten lassen – niemals. Aber zu jener Zeit wäre er gar nicht mit so irrwitzigen Aufträgen befasst gewesen. Sandkastenspiele hießen sie bei den Agenten. Das hier war ein Scheißspiel: planlos, erfolglos bis zum Geht-nicht-mehr und sinnlos – sowohl für Petrow als auch für Sanger. Petrow hätte sich nie darauf einlassen dürfen. Prasser fragte sich, was ihn wohl dazu bewogen haben mochte, aber er wusste, er würde es nie erfahren. Und Sanger war darauf eingegangen, nachdem er Bert um Rat gebeten hatte. Scheiße! Er hatte alles vermasselt, war zu unentschlossen gewesen. Zu alt … Er erreichte Cambridge kurz nach neun, stellte den Rolls in die Garage und ging durch den offiziellen Eingang ins Haus, der zu seinen Privaträumen führte. In der Küche brannte Licht, aber er wollte sich nicht mit Ogden oder Mrs. Grasse unterhalten. Sanger würde er am Dienstag anrufen. Heute Abend würde er seine sorgenvollen Gedanken mit Schlaftabletten zum Schweigen bringen. Chandler war in Sicherheit, die Frau auch; Brennan konnte er nicht helfen. Irgendwann musste er sich wieder in seinem Büro sehen lassen. Er brauchte nur Zeit, um seinen Elan wiederzufinden – falls das noch möglich war. Seit Krasnovskijs Besuch in der Datscha waren kaum mehr als achtundvierzig Stunden vergangen, doch schon hatte Maxim Petrow das unappetitliche Ergebnis des Streichs, den er seinem Gegenspieler spielen wollte, mehr oder weniger vergessen. Er hatte sogar überlegt, wie er die ganze leidige Affäre dem Jüngeren in die Schuhe schieben könnte, der mehr als jeder andere eine anständige Lektion in Bescheidenheit verdiente. Aber ihm fiel nichts ein, so dass er seine Aufmerksamkeit, drängenderen Problemen in Helsinki und Zürich zuwandte, wo zwei seiner Untergebenen reichlich Mist gebaut hatten. Der Versuch, den beiden eine reine Weste zu verschaffen, ohne sich dabei selber die Hände schmutzig zu machen, hielt ihn so lange im Büro fest, dass ihn um Mitternacht ein Schneesturm überraschte, der es geraten erscheinen ließ, im Kreml zu übernachten. Aus diesem Grund saß er am nächsten Morgen schon in aller Herrgottsfrühe an seinem Schreibtisch, als Krasnovskij eintrat – mit blitzenden Augen und rosigen Wangen und einem Kopf voll hilfreicher Vorschläge. Petrow waren hilfreiche Vorschläge zuwider. »Sagen Sie nichts«, forderte er. Auf seinem Tisch lag die Sporting News ausgebreitet, die – wie man Krasnovskij gesagt hatte – der überaus geheimnisvolle Schlüssel zu einem Code für die Vereinigten Staaten sei, welchen aber nur Petrow allein kenne. Die Yankees hatten Cincinnati in Florida geschlagen. Petrow schätzte, dass sie es vielleicht bis in die World Series schaffen würden. »Tut mir leid, aber ich muss darauf bestehen«, entgegnete Krasnovskij lächelnd. Petrow markierte den bereits gelesenen Teil der Ergebnisliste mit dem Finger und starrte Krasnovskij missmutig von unten her an. »Also los. Reden Sie.« »Erinnern Sie sich noch an die Lage in Boston, über die wir am Sonntagmorgen gesprochen haben?« »Wenn’s denn sein muss …« »Wir haben anscheinend damit aufgehört, ihre Leute umzubringen.« »Wir haben nicht ihre Leute umgebracht, sondern einfache, normale und unschuldige Bürger.« »Wie Sie wollen –« »Nein – wie es ist. Oder war. Auf alle Fälle haben wir damit aufgehört, sagen Sie?«, »Sieht so aus.« »Das ist eine gute Nachricht.« »Nicht ganz, Genosse Direktor.« »Und warum nicht, Sie Nervensäge?« »Weil sie jetzt unsere Leute umgebracht haben.« »Oh.« »Zwei von ihnen. Die freien Mitarbeiter.« »Wer hat’s getan?« »Den einen hat ein Harvard-Professor auf dem Gewissen, der sich dabei vielleicht tödlich verletzt hat. Bei dem anderen wissen wir’s nicht.« »Die Quelle?« »CANTAB.« »Wahrscheinlich hat er sie selber umgelegt«, meinte Petrow mit rauem Lachen. »Ist das lustig, Genosse Direktor?« Krasnovskijs unschuldige Miene verdiente einen Orden. »Ich wollte Sie testen, Krasnovskij, und leider muss ich sagen, dass Sie durchgefallen sind. Ich werde nicht mit Ihnen über meinen Sinn für Humor diskutieren.« Er nahm den Finger von der Zeile und wandte sich wieder der Sporting News zu. Ohne aufzuschauen, fragte er beiläufig: »Haben unsere Leute eigentlich gefunden, was sie suchten?« »Nein. Wir wurden informiert, dass der Gegenstand für uns nicht mehr zugänglich ist.« »Nicht mehr zugänglich?« Obwohl er die Ergebnisse nicht mehr sah, hielt er den Kopf gesenkt. Sein Blickwinkel hatte sich verändert; er überlegte und versuchte, nicht laut zu schreien. »Nicht mehr zugänglich?« »Hat CANTAB gesagt.« »Wie hat er zu uns Kontakt aufgenommen?« »Über New York. Aus einer öffentlichen Telefonzelle in Maine.« »Unsere Leute sind tot, und das Objekt unserer Bemühungen, ist nicht mehr zugänglich.« Endlich stand er auf. Er betrachtete die frische Schneedecke, die fahle Morgendämmerung, die kaum den Namen Licht verdiente. Es sah aus, als wäre der Winter zurückgekehrt. »Was ist mit diesem Chandler? War nicht eine Frau bei ihm?« »Aus der gleichen Quelle hören wir, dass sie verschwunden sind. Er kann sie nicht finden.« »Entweder hat er schwer nachgelassen – oder er ist nicht ganz ehrlich mit uns.« Ungeduldig faltete Petrow die Sporting News zusammen. »Könnten wir den Fall nicht sausen lassen?« »Nein, Krasnovskij, könnten wir nicht. Und jetzt gehen Sie an Ihre Arbeit. Ich kümmere mich darum. Gehen Sie schon.« Krasnovskij verließ widerwillig und schmollend das Zimmer. Er hielt den Blick gesenkt. Nicht mehr zugänglich. Petrow gestattete sich schließlich ein Lächeln. Nicht mehr zugänglich. Diesen Satz hatte er schon mal von CANTAB gehört. Er hatte eine bestimmte Bedeutung, und die ließ sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Stronghold. Er lehnte sich zurück, betrachtete den grauen Himmel, den Schnee, der alles weiß überzog, das er von seinem Fenster aus sehen konnte. Die Frage, die er sich in Gedanken stellte, war keineswegs neu für ihn: Für wen arbeitete CANTAB eigentlich? Petrow war immer der Meinung gewesen, der alte Herr sei ein Söldner, ein Experte, den man nur zuzog, wenn niemand sonst weiterhelfen konnte. War er für Sanger in der gleichen Weise tätig? Warum eigentlich nicht? Solange es keinen Interessenkonflikt gab … Und diese Sache hatte ganz bestimmt nichts mit Sanger zu tun. Es ging nur um ein Stück Papier, nichts, von dem Sanger irgendwie Wind bekommen haben könnte. Nein, es war einfach Pech. Pech, dass Sangers Leute da mit hineingeraten waren – falls sie überhaupt beteiligt waren, falls sie es waren, die die beiden Ganoven in Boston aus der, Welt geschafft hatten. Er presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Seine Arbeit war immer schwierig, doch kaum greifbare Probleme über einen längeren Zeitraum, die immer komplizierter statt durchsichtiger wurden, hasste er am meisten. Unwichtiges Zeug, das sich erst durch dilettantische Handhabung wichtig machte. Er überlegte, ob er Sanger nicht auf der direkten Leitung anrufen sollte, um herauszufinden, was da eigentlich vor sich ging. Doch wenn Sanger nun gar keine Ahnung hatte? Dann würde er in seiner Neugier wie ein wild gewordener Derwisch Staub aufwirbeln und Ärger machen, wo es bisher nur Verwirrung gab. Beharrlich versuchte er, logisch zu denken. Ging ihm der Tod der Agenten nahe? Nein, nicht besonders. Sie waren Stümper. CANTAB hatte sie allein schon wegen ihrer Stümperei ins Jenseits befördern wollen. Musste er unbedingt CANTABs Spiel durchschauen? Nein, eigentlich nicht. Er war ein alter Mann, der nur in das Geschäft eingestiegen war, weil es ihm so einfach und harmlos erschien. CANTAB würde niemals mit einer kritischen Aufgabe betraut werden. Er würde mit Sicherheit nicht dichthalten, und vielleicht hatte ihn seine Gier schon vor langer Zeit zum Doppelagenten gemacht. Er war für Petrow nicht wichtig. Was war ihm dann wichtig? Das Dokument. Und die, die es hatten. Und CANTAB hatte gesagt, nicht mehr zugänglich … Stronghold. Das musste es sein. Er rief Krasnovskij zu sich. »Verbinden Sie mich mit unserem Mann in Montreal.« Noch nicht Mitternacht. Blinzelnd, durch Pillen wach gehalten, mit einem Koffer voll roter Leuchtkugeln im Gepäck, rasten Fennerty und McGonigle, auf schnellstem Weg nach Norden. Um keine Zeit zu verlieren, lösten sie sich alle paar Stunden beim Fahren ab. Wie ein toter Fisch lag ein dunkel im Mondschein glänzendes U-Boot im Atlantik. Der Dienst habende Offizier hatte eine Stunde gebraucht, um die seltsamste Nachricht zu dekodieren, die er je empfangen hatte. Er sah keine andere Möglichkeit, als eine Bestätigung zu verlangen. So weit er verstehen konnte, sollten die höchst geheimen Manöver auf einer kleinen, unbewohnten Insel, welche die Marine zu Übungszwecken benutzte, jetzt als Ernstfall durchgeführt werden. Für ihn gab es nur eine einzige, unvermeidliche Schlussfolgerung – an der er schwer zu kauen hatte: Das ganze Tamtam konnte nur heißen, dass die Vereinigten Staaten Krieg führten! Gegen Kanada … In Montreal wurde einem korpulenten Mann das Abendessen verdorben. Sein erster Sekretär fand ihn umgeben von Wohlgerüchen in einem warmen italienischen Restaurant im zweiten Stock, wo er gerade Pasta mit einer dunklen Soße in sich hineinschaufelte. Im Kühler wartete eine bereits entkorkte Flasche Soave Bolla. Er zwängte sich in seinen Mantel und eilte in sein Büro. Dort musste er umgehend einen Auftrag bestätigen, dann die Leute für den Einsatz aussuchen und informieren. Schließlich war es kein Kinderspiel, in einem souveränen Staat weit weg von daheim aus der hohlen Hand eine Offensive zu starten. Die Anweisungen, die er bekommen hatte, waren umfangreich und sehr detailliert. Was von dem Mann in Montreal erwartet wurde, kam einem Wunder sehr nahe. Der Anreiz war allerdings beachtlich: Vom Erfolg der Operation hing seine Karriere ab, höchstwahrscheinlich sogar sein Leben. »Verrückt«, dachte er, als er mit den Vorbereitungen begann. »Es wird immer verrückter.« Die Telefonnummer in Halifax war fast eine Stunde lang nicht, zu erreichen. In der Zwischenzeit musste er sich zweimal übergeben. Im Traum sah Chandler etwas Rotes, Flüssiges träge emporquellen wie Öl, das in einem versiegelten Plexiglasgefäß unaufhörlich langsam herumwirbelt. Er war zu nahe dran und konnte nicht genau sehen, was es war, doch dann schien er langsam zurückzugleiten, bis er die rotglitschigen Gebilde als Hände erkannte, mit blutigen Stümpfen an Stelle von Fingern. Es war Brennan, der seine Lippen fest zusammenpresste; die weit aufgerissenen, hervortretenden Augen hielten einen stummen Schrei gefangen … Nein – Prosser war es: ein alter Mann, mit bis auf die Knochen heruntergekauten Nägeln und Blut auf seinem eingefallenen alten Gesicht wie eine Kriegsbemalung. Oder war es etwa gar nicht Prosser, sondern Sir Redvers Redvers höchst persönlich, der alte Schurke im abgetragenen Tweed, den sein Diener aus respektvoller Entfernung beobachtete, während das Leben am Ende von Schlauchstücken zerrann, die seine Fingerspitzen ersetzten. Plötzlich spürte Chandler den kalten Stahl auf seinen eigenen Händen, hörte den erstickten Schrei aus seinem Mund … Als er hochfuhr, stachen tausend winzige Nadeln seine eingeschlafene Hand, die verkrampft Pollys Schulter umfasste. Sie saßen eingezwängt auf engstem Raum, stießen sich an den scharfen Kanten des Flugzeuginneren, versuchten, sich mit verkrampften Muskeln in den Foltersitzen zu halten. Chandler blinzelte, während er seine Hand unter Pollys Schulter hervorzog und den bösen Traum aus seinem Kopf verbannte. Jesusmaria! Im Geiste machte er eine Bestandsaufnahme seiner Lage: Kalt war es und zugig; seine Knochen waren steif von der Tasche, die er zwischen den Knien hielt. Er hatte einen modrigen Geschmack im Mund, fühlte sich deprimiert und war überrascht, dass er noch lebte. Sein Kopf fing an zu schmerzen von dem Gedröhn der beiden Motoren., Kendrick brüllte etwas über die Schulter, doch was er sagte war über dem Mark und Bein erschütternden Motorenlärm nicht zu verstehen. Ohne Vorwarnung sackte die Maschine manchmal durch, und jedes Mal schloss Chandler die Augen, zwang sich, ruhig zu atmen, und betete, er möge noch nicht sterben. Gott, schütze mich noch dieses einzige Mal, und ich will immer ein guter Mensch sein! Schließlich drang Kendricks Stimme zu ihm durch: »Nebel. Ich gehe tiefer … Achtung!« Chandler hörte, wie der Regen blechern gegen das Flugzeug schlug. Er konzentrierte seinen Blick auf die Windschutzscheibe im seltsamen Schein der Bordinstrumente, sah das Wasser nach oben perlen und Streifen auf die Scheibe zeichnen, während sie durch die Nacht schwebten. Es schien, als müsste sich das Flugzeug den Weg durch graue Wattefetzen freikämpfen. Die Positionslichter auf den Flügelspitzen waren kaum zu erkennen. Unwillkürlich rang er nach Luft, als das Flugzeug sank wie ein Gefährt auf dem Rummelplatz, als Nebelschwaden an den kleinen ovalen Fenstern vorbei nach oben wehten. Bei jeder Bewegung – gleich in welcher Richtung – schien die ganze Konstruktion in einer endlosen Folge von heftigen und weniger heftigen Erschütterungen zu erbeben, die nach menschlichem Ermessen früher oder später dazu führen würden, dass das Flugzeug in seine Bestandteile zerfiel. Polly sackte gegen seinen Körper und fuhr sich mit ihrer kleinen behandschuhten Faust übers Gesicht. Chandler fragte sich, was man machen sollte, wenn man plötzlich pinkeln musste. Er sah auf die Uhr. Sie waren bereits zwei Stunden geflogen, und er konnte sich nicht vorstellen, wo sie waren. »Wo sind wir überhaupt?«, brüllte er heiser. »Ich hoffe, wir sind ungefähr fünfhundert Meter über dem Wasser, aber man kann da nie sicher sein. In so einer Nacht muss man sich vom Instinkt leiten lassen.« »Oh«, stöhnte Chandler, »wir könnten abstürzen.«, »Sicher. Aber mir ist das noch nicht passiert. Sehen Sie’s mal von der Seite.« »Na gut. Wo sind wir sonst noch?« »Wir müssten ungefähr dreißig Kilometer vor der Küste von Neuschottland sein, über dem Atlantik. Linker Hand liegt Halifax.« Er deutete mit dem Arm die allgemeine Richtung an. »Was passiert, wenn wir mit einem anderen Flugzeug zusammenstoßen?« »Wir stürzen ab und sterben wahrscheinlich … verbrennen oder ertrinken. Warum?« »Angeborene Neugier.« Die Motoren wummerten, seine Kopfschmerzen setzten ihm zu. Er brauchte sich nicht zu unterhalten. Was brachte es schon? Sie würden es überleben – oder eben nicht. »Ist was Krankhaftes, finde ich.« Der Ledersitz quietschte, als Kendrick sein Gewicht verlagerte. Er trommelte auf das Instrumentenbord. »Halifax«, überlegte Colin. »Ist das unser Ziel?« »Ich höre nichts, wenn die Motoren laufen«, meinte er und lachte so abrupt auf, dass es klang wie eine Salve aus dem Maschinengewehr. »Fliegen wir in das gottverdammte Halifax oder nicht?« »Nein, nein!« Er kriegte sich kaum mehr ein vor Lachen. Seit Jahren schien er sich nicht mehr so amüsiert zu haben. »Nein, nicht nach Halifax!« »Kommen Sie, Kendrick – spannen Sie uns nicht auf die Folter. Sagen Sie, wohin wir fliegen.« »Noch ’ne Stunde nach Norden, um die Inselspitze herum, Richtung Kap Breton. Wir können nicht über Land fliegen, ohne Flugplan. Müssen sehen, wo wir bleiben: schön tief bleiben, das Ziel anfliegen, dann runter und raus …« »Runter und raus? Was soll das heißen? Nichts geht runter und raus aus der Kiste hier, verstanden?«, »Regen Sie sich ab, Professor. Es heißt bloß, dass wir landen. Dann lasse ich Sie raus und haue ab.« »Sie hauen ab?« »Ruhig, Mann. Mr. Prosser hat alles geregelt.« Das Flugzeug sank noch um weitere zweihundert Meter, bevor Chandler überhaupt etwas erkennen konnte: hier und da ein winziger Lichtpunkt auf dem Festland. Kap Breton. Er war nie dort gewesen, wusste nichts über das Kap. Eine Bekannte, die von ihrer Reise berichtete, hatte ihn jedoch vorsichtig gestimmt: »Eigentlich lohnt es sich nicht. Aber Mitte Juni ist es dort traumhaft – wenn man’s rustikal mag.« Leider war Mitte Juni lange vorbei. Er fror. Draußen heulte der Wind wie eine Meute losgelassener Höllenhunde, die an dem zerbrechlichen Fluggerät kratzten und zerrten und versuchten, es vom Himmel zu reißen. Als Polly schließlich aufwachte, fragte sie mit belegter Stimme: »Sind wir schon tot?« »Dauert noch ein bisschen. Wir sinken aber bald in die donnernde Brandung, wo uns der fröhliche Clown hier aussetzen wird. Alles in bester Ordnung.« Gähnend richtete sie sich auf. »Ich möchte ein Glas Wasser.« »Nein.« »Ich muss mal.« »Tut mir leid.« »Sind wir bald da?« »Sei still, Kleine.« »Heiland! Ist das da unten schon das Wasser?« »Hmm.« »Direkt vor uns!« Kendrick stieß wieder sein Indianergeheul aus. »Anschnallen! Wir sind gleich da.« Er hatte die gelben Scheinwerfer eingeschaltet, die den Nebel beleuchteten, der immer noch vor ihnen her trieb. Unter ihnen reckten sich die Wellenkämme, um die Pontons und das Untergestell zu empfangen. Das schäumende Wasser sah hart, aus, wie aufgerauter Zement, der darauf wartete, das Flugboot bei der ersten Berührung in Stücke zu reißen. Es stand da wie eine feste Wand, an der sie jeden Moment entlangschaben würden. Runter, weiter runter … Sein Magen hob sich, als die Lücke zwischen Flugzeug und Wasser enger wurde und der Nebel an den Fenstern vorbeiflog, als nichts vor ihnen lag als Wasser und absolute Finsternis, wo sie eigentlich Kap Breton erwarten sollte. Woher kannte Kendrick ihre Position? Die Frage peinigte ihn, während sich Polly mit weit aufgerissenen, auf das kleine ovale Fenster fixierten Augen an seinen Arm klammerte. Als er sich vorbeugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, das er selber nicht hören konnte, sah er ihr Profil und küsste sie auf die pfirsichzarte Wange. Das Metall stöhnte auf, als das Flugboot klatschend aufs Wasser schlug, nach oben und zur Seite katapultiert wurde und gefährlich außer Kontrolle zu geraten schien, dann erneut auf das steinharte Wasser prallte und hüpfend über die Oberfläche glitt wie ein Kiesel, den ein Kind auf dem Wasser springen lässt. Dann neigte sich der Bug – bedrohlich, wie es Chandler empfand – bevor das Fahrzeug in seiner selbst geschaffenen Wassermulde auf den Wellen ruhte. Es verlangsamte seine Fahrt unter ständigem Protest des Metalls, der sich aber kurz darauf legte. Als das Flugboot endlich träge auf dem Wasser schaukelte wandte Kendrick ihnen im geisterhaften Schein der Instrumente sein bleiches, grinsendes Gesicht zu. »Bisschen stürmisch heute Abend«, sagte er entschuldigend. »Aber das Wichtigste ist doch, dass wir hier sind, oder? Gesund und munter.« »Halten Sie die Klappe«, krächzte Polly mit trockenem Mund. »Ich kann’s Ihnen nicht verübeln, Miss«, meinte er gutmütig, während er sich aus dem Pilotensitz schälte. »Feucht da draußen …« Kendrick wuchtete ein Paket hinter den Passagiersitzen hervor,, klemmte es unter den Arm und ging mit weichen Knien an ihnen vorbei. Er entriegelte die Tür, die er so weit am Rumpf entlang schob, bis sie hörbar einrastete. Durch die Öffnung blies ihnen ein feiner, scharfer Nieselregen ins Gesicht. Kendrick schob sich mit seinem Paket durch die schmale Öffnung und kletterte die Leiter hinunter. Sie hörten ihn auf den Regen und auf seine schwere Last schimpfen, bis er nicht mehr zu sehen war. Chandler robbte auf Händen und Knien zur Tür. Regen schlug ihm entgegen, so dass er sich die Hand über die Augen halten musste, um hinunterzusehen. Mit einem zischenden Geräusch blies sich das Paket zu einem unförmigen prallen Gummifloß auf, das größer war als Kendrick. Der kämpfte mit einer Lasche, die sich schließlich über die Verstrebung ziehen ließ. Immer noch vor sich hin fluchend, steckte er die ausziehbaren Ruder zusammen und schnallte sie mit Gurten fest an das Floß. Langsam kam er wieder die Leiter herauf. Oben reichte ihm Chandler die Hand und zog ihn zurück an Bord. »Immer dieses blöde Floß«, seufzte er, wobei er zufrieden über seine Anstrengung lächelte. Der Mann ist in seinem Element, dachte Chandler, als er sich mit dem Piloten verglich. Der ließ sich auf einer Werkzeugkiste nieder und wischte mit einem ölverschmierten Lappen über sein Gesicht. »Meine Herrschaften, Sie erfahren jetzt, wo wir uns befinden und wie es weitergeht. Wir sind soeben über die Cabot-Straße auf die nördliche Küste von Kap Breton zugeflogen. Rechts von uns, hinter dem oberen Ende vom Cabot Trail, finden Sie Pleasant Bay, links von uns Aspy Bay, in gerader Richtung vor uns das Nordkap. Ich habe Sie allerdings nicht direkt auf Kap Breton abgesetzt, sondern auf einer Insel. Kapiert? – Na schön. Schade, dass es regnet, aber wenn Sie das Floß bestiegen haben, werden Sie sehen, dass Sie nur knapp vierzig Meter vom Ufer entfernt sind. Wir sind in einer kleinen Sandbucht, nur seitlich ist es felsig, aber das braucht Sie nicht zu kümmern, wenn Sie, sich an die Anweisungen halten. Steuern Sie einfach geradeaus an Land, benutzen Sie die Lampe …« Er zog eine große quadratische und leistungsfähige rote Taschenlampe unter seinem Sitz hervor, die er liebevoll tätschelte wie einen Schoßhund. »Das kleine Wunderding hier wird Sie sicher ans Ziel bringen. Wo es flach wird, haben Sie ein bisschen mit der Strömung zu kämpfen, aber Sie sind in ein paar Minuten durch. Fallen Sie mir bloß nicht ins Wasser, sonst kommen Sie womöglich nicht mehr aufs Floß. In einer solchen Nacht im Meer, so kalt und dunkel«, schloss er, als habe er zitiert. Den ersten Schluck Brandy aus der Plastikflasche, die er aus seiner Jackentasche hervorgezogen hatte, gestand er Polly zu. Nachdem auch Chandler getrunken hatte, ließ Kendrick den Stoff durch die Kehle rinnen, als wäre es Wasser. »Weiter im Text: Sobald Sie das Ufer erreicht haben, müssen Sie so schnell wie möglich ins Haus, damit Sie sich keine Lungenentzündung holen. Das Haus steht oben auf den Klippen, aber hundert Meter weiter links zieht sich ein Weg durch Farnkraut und Felsen, der ist leicht zu finden. Wenn Sie oben sind, sehen Sie Stronghold: ein riesiges hässliches Gebäude auf den Klippen über dem Meer. Das Haus ist leer.« Er nahm etwas aus der Jackentasche, das er Chandler in die Hand drückte. »Hier haben Sie den Schlüssel, stecken Sie ihn ein. Und guten Aufenthalt!« »Stronghold«, wiederholte Polly. »Feucht und neblig hier, und sehr abgeschieden. Nettes Fleckchen Erde, wenn man Seevögel mag und Stürme und gern allein ist.« Auf allen vieren kroch Chandler rückwärts durch den Eingang, ertastete mit dem Fuß die erste Sprosse und stieg ängstlich und behutsam hinunter. Im Nu war alles nass: sein Gesicht, die Brille, das Haar. Krampfhaft hielt er die große Lampe und den Handlauf umklammert, ertastete sich Sprosse um Sprosse seinen Weg und vermied, in das wogende schwarze Wasser zu blicken. Das Licht der Taschenlampe schnitt einen Kegel aus Gischt in, die stockdunkle Nacht, während das Wasser an die Pontons klatschte. »Nicht stehen bleiben, Mann!«, rief Kendrick von oben. »Leck mich am Arsch!«, schrie Chandler zurück. Aus Angst, seinen Halt auf den glitschigen Metallsprossen zu verlieren, wagte er nicht, nach oben zu sehen. Unten angekommen, ließ er sich von der letzten Leitersprosse auf das gefährlich schaukelnde Rettungsfloß hinab. Kendrick hielt Polly am Arm, als sie umstieg. Chandler streckte sich, bis sie seine Hand fest zu fassen bekam. Dann war sie neben ihm und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Behände kam Kendrick mit der Leinentasche nach. »Verstauen Sie das verdammte Ding«, meinte er, »und richten Sie die Lampe landeinwärts. Landeinwärts, hab ich gesagt! Ja, so ist’s gut.« »Ich sehe rein gar nichts!«, brüllte Chandler, um den Wind zu übertönen. Die Wellen schienen bei jedem Schlag höher zu werden. »Halten Sie die Richtung, mein Junge, dann sehen Sie gleich was. Einfach geradeaus rudern!« Wie er so den Arm reckte, sah er aus wie das Standbild eines alten Matrosen, der wieder zur See fährt, von Wind und Wetter umtost. »Ich warte, bis Sie dicht vor dem Ufer sind, dann haue ich ab.« »Kommen Sie denn weg bei dem Wetter?« »Keine Sorge, Sportsfreund. Ich schlafe heute Nacht in meinem eigenen Bett!« »Was machen wir, wenn wir im Haus sind?« Kendrick lachte und schüttelte den Kopf, dass die Regentropfen flogen. »Warten. Sie sitzen fest. Der Boss wird sich melden. Und jetzt los.« Er drehte sich um und stemmte sich wieder gegen Regen und Wind, bis er sicher im Flugboot war. Bevor er die Schiebetür zuzog, sah er zu ihnen hinab und signalisierte: Daumen hoch! Dann war er hinter der Tür verschwunden.,DIENSTAG
Chandler löste die Leinen des Floßes, das zu seinem Ärger ständig gegen den Ponton schlug und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Mit dem Ruder stieß er sich von dem Flugboot ab, bis das Floß widerstrebend reagierte, als müsste es sich aus einem Magnetfeld lösen. Polly ergriff das zweite Ruder und paddelte beherzt durch das schwarze Wasser. Unter seinem Pullover und dem Regenmantel fing Chandler an zu schwitzen. Sein Körper fühlte sich einmal heiß, dann wieder feuchtkalt an. Inzwischen lag das Flugboot ein gutes Stück hinter ihnen. Während er sich abmühte und nach Luft japste und ihm langsam alle Knochen wehtaten, hatte er den Eindruck, überhaupt nicht vorwärts zu kommen. Doch das Flugzeug wurde immer kleiner, die gelben Nebelscheinwerfer blieben immer weiter zurück. Polly ruderte still und stetig drauflos – eine ebenbürtige Partnerin. Allmählich spürte Chandler eine körperliche Anstrengung, wie er sie mit Footballspielen in der Sommerhitze vor vielen Jahren in Verbindung brachte. Es war, als ob er irgendwie eine Explosion in seiner Brust oder in seinem Gehirn verhindern müsse. »Du strengst dich zu stark an«, rief Polly ihm zu. Sie hielt inne und gab ihm ein Zeichen, das Ruder hinzulegen. »Keine Panik, Colin, wir kommen schon hin! Mach mal Pause, sonst bringst du dich um!« Um ihre Füße herum sammelte sich das Wasser. Chandler sah hoch. Hinter ihm schwebte der gelbliche Schein wie ein Geist über dem Meer. Schwer atmend ließ Polly den Lichtstrahl über die Küstenlinie gleiten. »He, ich sehe den Strand!« Als sie sich lächelnd zu ihm drehte, mit nassem Gesicht und angeklatschtem Haar, sah sie aus wie achtzehn. Nach der Verschnaufpause ruderten sie mit neuer Energie weiter und beobachteten, wie sich die Küste unter dem, Lichtstrahl grau herausschälte. Chandler fror; er war durchweicht, stand bis zu den Knöcheln im Wasser und nieste. Aber das alles trat zurück hinter dem göttlichen Gefühl, das Floß auf dem rauen, felsigen flach ansteigenden Sandboden entlangschaben zu hören. Er sackte in seinen nassen Sachen zusammen und kam sich alt und geschrumpft vor. Sein Herz hämmerte. Ihm ging durch den Kopf, dass sein armes Herz ständig überlastet war, seitdem dieses irrwitzige Martyrium begonnen hatte. Doch wer weiß, wozu es gut war! »Colin, wir haben’s geschafft! Wir sind da!« Er nickte grinsend. »Liebes, du bist ein bisschen grün im Gesicht«, meinte sie, als sie auf ihn zu taumelte und dabei über die Tasche stolperte. »Ist alles in Ordnung?« »Ich bin topfit!« Er kletterte vom Floß und versank sofort bis zu den Knien im eisigen Wasser, das ihn wie mit tausend Glasscherben stach. Der aufgewirbelte Sand setzte sich in seinen Schuhen. Gegen besseres Wissen gelang ihm ein Grinsen: »Wie McArthur …« Er zerrte an der Tasche, die mit der ausgebeulten Seite in der Wasserlache unten auf dem Floß lag. Zum Glück hatte Prosser die Dokumente und das Porträt in mehrere Lagen Öltuch gewickelt. Mit einem heftigen Ruck bekam er die Tasche endgültig zu fassen und warf sie schwungvoll in den Sand. Nachdem Polly ihm von der Floßkante erleichtert in die Arme gesunken war, wateten sie schwankend und torkelnd aus der Brandung, das Floß im Schlepptau – wie Geschöpfe, die den Evolutionsprozess unter allen Umständen beschleunigen wollten. Er ließ das Floß los und stieß es zur Seite. »Das hole ich morgen.« Vom Regen gepeitscht, hielten sie sich mit eiskalten Gesichtern zitternd und zähneklappernd im Arm, während draußen auf dem Wasser der gelbe Lichtschein verschwunden war, ohne dass sie es gemerkt hatten., »Gott sei Dank, wir sind hier«, flüsterte sie unter Tränen der Erleichterung. »Und du hältst mich fest …« »Wir sind jedenfalls in Sicherheit. Alles in Ordnung mit dir?« »Klar. Ich bin ein zähes kleines Luder.« Lachend wischte sie sich die Nase. »Suchen wir den Pfad.« Sie nahm die Lampe, er griff sich die Tasche, der er einen ordentlichen Tritt in die Seite versetzte. Dämliches Teil! Es hatte sich mittlerweile zu einem grotesken Auswuchs seiner rechten Hand entwickelt. Sie stemmten sich gegen den Wind, die Regenmäntel über den Kopf gezogen. Vor ihnen tanzte der Lichtkegel der Taschenlampe, der den Weg wies. Hinter dem Strand ragten dunkelgrün und im Regen verschwommen die Klippen auf. Er roch nur die feuchtkalte Luft und die klamme Wolle seines Pullovers. Mitten im Sand gab es glatte, vereiste Stellen, so dass sie nur quälend langsam vorwärts kamen, begleitet von Chandlers lauten Flüchen – eine Abwechslung nach der entsetzlichen stummen Angst im Flugboot und auf dem Floß. »Heiliger Bimbam«, motzte er, als Polly die Lampe nach oben richtete, »ist das steil!« Er ließ die Tasche fallen, die auf den Strand zurückrollte. »Verdammt steil. Ich bin doch keine Bergziege!« »Dann meckere auch nicht. Damit machst du’s nur schlimmer.« Sie leuchtete den Pfad aus. »Ich gebe ja zu, dass es steil ist.« Wie es schien, stieg der Pfad fast im rechten Winkel zum Strand an. Er schlängelte sich zwischen kargen nassen Büschen und trügerisch glänzenden Felswänden nach oben. Chandler packte zum x-ten Mal die Tasche und begann den Aufstieg. Bei der mühseligen Kletterei boten moosbedeckte Steine seinen Händen gelegentlich Halt. Der Boden war nicht nur rutschig und matschig, sondern auch teilweise vereist – ein Zustand, den der Regen noch verschlimmerte, der stetig den Pfad herunterrann und ebenso stetig in seinen Kragen. Vom Laufen in den nassen Schuhen bekam er wunde Füße. Oft kroch, er auf allen vieren damit er nicht Hals über Kopf mit der Leinentasche auf den Strand zurückrollte. Mein Gott, wie lange noch? »Willst du wissen, warum wir hier hinaufklettern?«, ächzte Polly hinter ihm. »Weil es einen Weg gibt!« Chandler versuchte zu lachen, aber sein Mund war so trocken dass er keinen Ton heraus brachte. Außerdem war er sowieso zu müde zum Lachen. Der Aufstiegswinkel schien nie flacher zu werden, es ging einfach so nass und eisig und matschig weiter. Was in drei Teufels Namen, hatte er getan, um so leiden zu müssen? »Leuchte nach oben, verdammt noch mal«, rief er, »ich will sehen, wo wir sind!« »Sei nicht so gereizt, Colin. Du verdirbst alles. Das hier ist ein Abenteuer –« »Scheiße!«, rief er, als er plötzlich zurückrutschte. Er hielt die Tasche an sich gepresst, sein anderer Arm ruderte wild durch die Luft, bis er an einem Steinbrocken wieder Fuß fasste. »Komm schon, Sherpa, wir sind fast oben.« »Erspar mir den Frohsinn«, bat er. »Den ertrage ich jetzt nicht.« »Dein ganzes Gesicht ist voller Dreck.« »Ach ja. Ist vermutlich passiert, als ich die Tasche mit der Nase vor mir her schob. Im Übrigen, mein liebes Kind, habe ich Dreck an Stellen, die –« »Wusste gar nicht, dass du Stellen hast. Na so was.« Keuchend lag er da, die Tasche an seinen verdreckten Regenmantel gepresst. »Stimmt aber.« Sie setzte sich neben ihn, zog die Knie an und stützte ihr Kinn darauf. »Vielleicht sollten wir eine kleine Pause machen«, schlug sie vor. Dann leckte sie die Regentropfen von ihrer Oberlippe und sah ihn an. »Manchmal kann ich mich nicht erinnern, wie wir hierhergekommen sind.« Chandler grummelte: »Clark Gable und Claudette Colbert …«, Nach einer Weile holte sie tief Luft und sagte: »Geht’s jetzt wieder?« »Kann ich nicht sagen.« »Nimm du die Lampe. Ich schiebe die Tasche.« »Kommt nicht in Frage, mein Schatz. Ich bin zwar klapprig, aber noch nicht tot.« Er erhob sich, gefährlich schwankend. Beim zweiten Start ging es rascher. Zehn Minuten Schwerarbeit brachten sie an den Rand der Klippe, wo sie keuchend auf dem dunklen Grasboden stehen blieben und die kalte Luft in ihre geplagten Lungen sogen. Hundert Meter weiter erkannten sie undeutlich auf einem sanft ansteigenden Hügel das Haus. Ohne ein weiteres Wort trotteten sie tapfer über das nasse Gras, immer hinter dem unsteten Lichtstrahl her, als würden sie von ihm gezogen. Chandler wurde ab und zu schwarz vor Augen. Er sah dann nur noch schwache Punkte von Licht und Schatten, denen er mit mühsamen, glucksenden Schritten folgte, wobei seine Schuhe fast im Matsch stecken blieben. Polly lief forsch und ohne zu klagen drauflos – sie war ein Wunder. Er beobachtete, wie sie vor ihm marschierte, und versuchte, ihre Zielstrebigkeit und ihre Energie in sich aufzunehmen. Im Augenblick war sie die Stärkere. Es war bezeichnet für den Wandel in seiner Einstellung zu ihr, dass er sich weder schämte noch Ärger oder Frust darüber empfand. Er war sogar verdammt froh, dass sie ihn durch die Strapazen begleitete. Das lang gestreckte Haus mit dem auffallenden Giebel war aus roten Ziegeln und grauem Sandstein erbaut. Über seine gesamte Länge lief eine Veranda mit quadratischen Steinsäulen, auf einer Giebelseite lagen hohe bleiverglaste Fenster, die mit ihren zugezogenen Vorhängen wie geschlossene Augen wirkten. Massive Dachrinnen aus Zink begrenzten das Schieferdach, mehrere überdachte Kamine ragten darüber hinaus. Die trutzige Bauweise war typisch für die bombastische Architektur der zwanziger Jahre. Da sie hier jedoch ganz offensichtlich dem, Zweck diente, den atlantischen Stürmen Stand zu halten, verlieh sie dem Haus trotz seiner monumentalen Form und Größe einen gewissen zeitlosen Reiz. An den Ecken des Balkons im zweiten Stock – dem Verandadach – saßen Löwen mit Klauenfüßen. Während Chandler mit der Taschenlampe im Regen stand, sah er im Geiste Frauen in hellen Kleidern auf der Veranda und Männer im weißen Flanell mit Tennisschlägern in der Hand, deren Club-Krawatten in der kühlen Ozeanbrise wehten – ein Sommerwochenende vor fünfzig Jahren. Doch die Bilder waren rasch verschwunden, als Polly ihm unter dem Schutz der Veranda zurief: »Komm her, du Verrückter! Bleib nicht im Regen steh’n!« An der riesigen Eichentür, die von schmiedeeisernen Bändern und Scharnieren gehalten wurde, prangte ein Messingschild, auf dem in einfacher Blockschrift ein einziges Wort stand: STRONGHOLD. Der Schlüssel drehte sich leicht im Schloss, die wuchtige Tür schwang quietschend zurück – wie bei ihrer Ankunft in Prassers Haus in Maine, nur wesentlich imposanter: als ob sie durch immer größer werdende Spiegel schritten, für immer zur Flucht verdammt, ständig voller Angst … Stronghold war sofort bewohnbar. Wahrscheinlich kam in regelmäßigen Abständen jemand von Kap Breton herüber, der für Ordnung sorgte. Polly und Chandler waren nach einer Stunde bereits frisch gebadet in riesige Badetücher gewickelt, ihre Kleidung trocknete vor dem Küchenherd, in der Bibliothek prasselte ein Feuer, wieder glänzten die Goldbuchstaben matt auf den Buchrücken. »Prosser muss einen guten Draht zu Hollywood haben«, bemerkte Polly. Der Regen schlug wie ein Steinhagel an die Fenster. Oben, wo auch ein Feuer im Kamin loderte, stand die ausgepackte Tasche. Im Kühlschrank fanden sie eine Reihe tiefgefrorener Steaks und Gemüse, dazu Orangensaft; doch ihre Wahl fiel auf gebutterten Toast und Kaffee. Sie genossen den dampfenden Kaffee in der Bibliothek, waren für die Wärme, dankbar. Dann kuschelten sie sich dicht vor dem knisternden Kamin zusammen, spürten die Hitze auf ihren Gesichtern, niesten und lachten und jammerten, weil sie so erschöpft waren. »Du siehst fix und fertig aus«, schniefte sie. Wenn sie sich vom Kamin abwandte, konnte er ihren Atem wie Rauchwölkchen sehen. »In diesem Fall trügt der Schein mal nicht.« Er lehnte sich an einen Stuhl und streckte seine kalten, klammen Füße ans Feuer, zog das Badetuch fester um sich und gähnte ausgiebig. »Hier bleiben wir, mein Schatz. Unser letztes Gefecht – bauen wir eine Wagenburg. Ich bin weit genug gelaufen.« »Du hast ja Recht. Wir können nur warten und uns dem Schicksal stellen.« Ihr Gesicht bekam einen ungeduldigen Zug. »Wenn wir bloß wüssten, was Prosser im Schilde führt. Er ist mir nicht ganz geheuer.« »Geh nicht so hart mit ihm ins Gericht. Was, wenn er dort im Haus liegt? Von dem verrückten Hund erschossen? Was machen wir dann? Wie kommen wir von hier weg? Sollen wir warten, bis jemand nachschaut, ob die Leitungen eingefroren sind? Wir können nur das Beste hoffen … Das Telefon ist tot, ich hab’s probiert.« Stirnrunzelnd sah er ins Feuer und nieste. »Gehen wir schlafen. Wir sind beide fix und fertig«, sagte sie schließlich. Als sie im großen Himmelbett aus Eichenholz lagen, zog er die Decken hoch bis unters Kinn und beobachtete, wie die Schatten des frisch entfachten Kaminfeuers an den Wänden entlangliefen wie Wachsoldaten. Er dachte an die vergangenen Nächte: an das Sofa in Pollys Wohnzimmer, an Percy Davis’ Gasthaus an der Küste von Maine, an die Nacht im Freien … Guter Gott, das war erst letzte Nacht! Polly flüsterte ihm aus seiner linken Armbeuge, in der sie es sich schläfrig bequem gemacht hatte, etwas zu. Draußen warf sich der Sturm ächzend gegen das Haus. »Ich kenne ein Gedicht aus meiner frühen, Studentenzeit«, sagte sie leise. »Hör zu: Fest die Läden zugemacht, denn die bösen Winde wehen! In Gedanken heute Nacht wir die Zukunft leuchten sehen. Und wenn wir uns nahe sind, kann kein Übel uns geschehen – sei es Regen oder Wind …« Er küsste sie und sagte: »Bei den Gedanken bin ich mir nicht so sicher!« Dann machte er die Augen zu, nahm sie in den Arm und schlief ein, als wäre alles in bester Ordnung. Im Morgengrauen, als die Glut im Kamin das Zimmer noch angenehm durchwärmte, liebten sie sich. Eisiges Licht fiel durch die dicken, bleiverglasten Fensterscheiben. Die steinernen Löwen auf dem Balkon, die übers Meer hinausblickten, warfen unförmige Schatten. Sie blieben noch etwas liegen, doch dann stand er auf und tapste den kalten Korridor entlang – noch nicht ganz wach, aber bestrebt, etwas zu tun. Kein Radio, kein Telefon. Sie waren völlig isoliert, wie er feststellte. Er nahm Brot aus dem Kühlschrank, machte Toast und setzte Kaffee auf. Der Anstrich der Normalität beruhigte seine Nerven. Rasch war er in seine getrocknete Hose und die hart gewordenen Schuhe geschlüpft und hatte den schweren, imprägnierten Pullover übergezogen, dem die Behandlung vom Tag zuvor offenbar gut bekommen war. Er saß da und knabberte seinen Toast, starrte in den Nebel hinaus und wartete auf Polly. Schließlich kam sie in Jeans und Stiefeln herunter, mit einer frischen Bluse aus dickem Wollstoff, die aufwändig mit Schulterklappen und geknöpften Patten verziert war. Sie duftete leicht nach Shampoo und sah knackig frisch aus mit ihren rosigen Wangen. Sie war hungrig wie ein Wolf. Er machte Toast, für sie, und während sie aß, betrachtete sie ihn lächelnd. Er spürte, wie ihre Fürsorge ihn sanft umhüllte, spürte ihre Freude daran, spürte, wie sich das Band zwischen ihnen festigte – doch keiner von beiden verlor ein Wort darüber. Ihre Beziehung schien einfach zu existieren, was er als sehr angenehm empfand und seltsam befreiend. Er brach das vertrauliche Schweigen. »Wir könnten uns mal umsehen, damit wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben.« Von der lang gestreckten Veranda auf der Vorderseite des Hauses aus erschien die Insel wie ein dampfender Hügel mit verschwommenen Umrissen an den Stellen, wo Nebelfetzen die Wasserkante verwischten und den Wald verblassen ließen. Die Oberfläche sah aus wie erstarrte Lava – ein Bild, das er bereits zuvor im Kopf gehabt hatte, ohne zu wissen, woher … Dichter, wabernder Nebel, der alles in ein rauchendes Schlachtfeld zu verwandeln schien, auf dem der Tod lauerte, war nichts Neues für ihn. Als sie sich durch das nasse Gras von dem Weg entfernten, den sie vor etwa zwölf Stunden gekommen waren, nahm die Landschaft Gestalt an: ein riesiger Stoß Feuerholz, der so durchweicht war, dass man ihn niemals seinem Zweck entsprechend verwenden konnte, dahinter ein dichter Kiefern- und Tannenwald, dunkel und undurchdringlich und genauso abweisend wie eine hoch aufragende Schieferwand. Am Waldrand entlang liefen sie durch dichten Nebel, der durch ihre Kleidung bis auf die Haut drang, zum Strand hinunter. Beim Näherkommen hörten sie durch die dämpfende Nebelschicht die Brandung rauschen und die Wellen an den Strand schlagen. Näher am Ufer neigten sich die Bäume und das dichte, verfilzte Buschwerk landeinwärts. Die verdrehten, gekrümmten Äste und Stämme sahen aus, als würden sie angstvoll vor dem Meer fliehen. Eine Baumreihe säumte den Klippenrand: Hemlock-Tannen, Rotahorn und Zuckerahorn, Buchen und Fichten – von Menschen als Windschutz so gepflanzt, dass sie, von dem hundert Meter entfernt auf viel höherem Gelände gelegenen Haus sehr gute Sicht auf die See gewährten. Sie standen am oberen Ende einer langen, baufälligen Holztreppe, die im ungleichmäßigen Zickzack die moosbewachsene steile Felswand hinabführte. Der Strand am Fuß der Treppe bestand aus einer Ansammlung wuchtiger Felsen, über ein flaches Sandstück verteilt, das schließlich ins Meer überging. Etwa hundert Meter unter ihnen und knapp fünfzig Meter weiter rechts lagen – nass und grau – ein Bootshaus und ein Landesteg. Dicht dahinter breitete sich eine schmale schiefergraue Felsplatte aus, stellenweise mit Moos und bräunlichem Gestrüpp bewachsen, und ziemlich weit draußen bildeten sechs unregelmäßig große Felsen eine natürliche Passage in Form eines Bogens, der sich in die Bucht hinein krümmte wie der zahnlückige Unterkiefer einer Hexe. Weiß schäumte die Gischt auf im Kontrast zu den grauen, roten, blauen und schwarzen Felsbrocken auf dem Strand. Während sie noch still die Szenerie betrachteten, zog der Nebel vorüber wie eine Geisterarmee und verschluckte die Hexenzähne, bis nichts mehr zu sehen war als eine verschwommene stille Wasserfläche, die sich sanft auf den Strand zubewegte. Ein weiterer Windstoß – und da waren sie wieder; sie erinnerten Chandler an die großen Kreise aus Felsbrocken, die er in der englischen Landschaft hatte liegen sehen, hinterlassen von Menschen früherer Zeiten. Ihre Bedeutung und ihr Ehrfurcht gebietendes Schweigen würden für immer ein Rätsel bleiben. Ihm kam der Gedanke, dass auch diese Insel und das Haus ihre Geheimnisse hatten, die sie nie verraten würden. Als er zum Haus zurückschaute, war es im Nebel verschwunden. Dort, wo es gestanden hatte, war nichts als graue Leere. Als er sich wieder umdrehte, wusste er, was ihn erwartete: Die Hexenzähne waren weg, das Meer lag glatt und ruhig vor ihm., Polly probierte ein Lächeln; auch sie hatte es bemerkt. »Wir sind mittendrin – stimmt’s?« »Klettern wir nach unten«, erwiderte er. Die Treppe ächzte, aber sie hielt. Am Strand kamen sie jedoch nur mühsam voran; sie stolperten oft und lädierten dabei ihre Schuhe, doch allmählich wurde ihnen alles gleichgültig. Auf großen grauen Felsen prangten breite rosa Streifen. Polly hob hübsche kleine Kiesel auf und steckte sie in ihre Tasche. Aus der Nähe gesehen, warf sich das Meer mit einer aufbrausende Wildheit gegen die Felsbrocken, die sie oben nicht vermutet hätten. Dann rollte die Brandung über die kleineren Steine herein und leckte an ihren Schuhen. Blaugrau wie Stahl wölbte sich der Himmel über ihnen. Sie schlugen den Weg zum Bootshaus ein. Chandler deutete mit dem Kopf auf den schmalen Steg, der über das schäumende Wasser dorthin führte. »Sieht nicht besonders stabil aus«, meinte er. Das Holz war morsch, einige Bretter hatten sich gelöst. Er nahm ihre Hand. »Komm, lassen wir es bleiben. Wir sollten lieber zum Haus zurückgehen. Stell dir vor, jemand will uns holen und findet uns nicht und fährt wieder ab.« Sie nickte und drückte ihm die Hand. Es war ein romantischer Augenblick: Ihr Atem schwebte in Sprechblasen vor ihnen, während sie Händchen haltend den Strand entlang schlenderten wie ein Pärchen in einer Zigarettenreklame. Einmal blieben sie stehen. Sie schloss die Augen, er küsste sie und nahm sie fest in den Arm. Doch während sie die schmale Treppe zu der Baumgruppe hochstiegen, beschlich sie ein unangenehmes Gefühl der Bedrohung, der Spannung. Hand in Hand liefen sie zum Haus zurück. Ein Reh huschte über den Rasen. Sein weißer Schwanz wirkte wie eine kleine Freundschaftsflagge. »Es ist wunderbar, allein zu sein«, bekannte Polly und sah zu ihm auf. Doch sie waren nicht allein., Aus dem Buschwerk am oberen Ende des Pfads, den sie in der Nacht zuvor hinaufgeklettert waren, sah ein Mann ihnen nach, bis sie hinter einer durchziehenden Nebelwolke verschwanden. Chandler saß mit ausgestreckten Füßen allein vor dem Fenster und betrachtete den Rasen und die Wasseroberfläche weit draußen, die von etwas dunklerem Graublau war als die ständig durch sein Blickfeld ziehenden Nebelschwaden. Er strengte sich an, aber er sah nichts. Ohne Polly neben sich – die irgendwo herumwurstelte – überkam ihn wieder die Sorge um Hugh Brennan und Bert Prosser. Sie konnten beide tot sein. Er selbst fühlte sich hilflos und verzweifelt, auf der Insel gefangen, unfähig, den beiden zu helfen – wobei er nicht sicher war, worin seine Hilfe bestehen sollte. Er ging hinaus und lief auf der Veranda auf und ab, schalt sich einen Idioten, weil er sich in die Affäre verwickeln ließ, und sagte sich gleich darauf, dass ihm keine andere Wahl geblieben war. Denn gerade er, Colin Chandler, wohl behütet und konventionell, achtete sonst immer auf Distanz und bemühte sich, objektiv zu bleiben und zu handeln. Am späten Nachmittag grillten sie Steaks und tranken dazu einen guten Ciaret, dann faulenzten sie in der Bibliothek, in Gesellschaft der gesammelten Werke von Thackeray, George Eliot, Jane Austen und Trollope. Sie schnüffelten in Schreibtisch-Schubladen herum – alle leer, wie sich herausstellte – und bewunderten die alten Drucke mit englischen Jagdszenen. Nirgends fand sich ein Hinweis darauf, was in Stronghold normalerweise vor sich ging – nichts, um ihre Isolation zu durchbrechen. Polly ging nach oben, während er am knisternden Feuer sitzen blieb und den Wind ums Haus jagen hörte. Vielleicht war er eingenickt; denn als Nächstes tippte sie ihm auf den Arm. In der Hand hielt sie das Päckchen, das Prosser so sorgfältig in Öltuch gewickelt hatte, bevor sie sein Haus in Maine verließen., »Wir schauen es noch mal an«, sagte sie. »Vielleicht hast du eine Eingebung, wenn du es jetzt wieder siehst.« Vorsichtig entfernten sie die Verpackung. Unter dem Öltuch hatte Prosser das Porträt und die Dokumente offenbar in mehrere Lagen Zeitungspapier gepackt. Die Hände auf die Hüften gestützt, sah Polly ihm beim Auswickeln zu, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Hektisch und voller Panik warf Chandler eine Papierumhüllung nach der anderen beiseite. Zum Schluss blickte er mit bleichem Gesicht auf. »Nichts als Zeitungspapier«, erklärte er. »Er hat uns übers Ohr gehauen«, flüsterte Polly. Ihr breiter Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln. »Ich kapiere das nicht!« Chandler kapitulierte. »Wusste ich’s doch!« griente sie. »Ich hab’s geahnt. Der Mann hat was Verschlagenes an sich …« Mit dem Fuß stieß sie ein Stück Zeitungspapier zur Seite und strahlte ihn an. »Verstehst du, Colin? Zum ersten Mal ist etwas Unerwartetes passiert. Prosser sagt, er gibt uns das ganze Zeug mit, und dann behält er es. Einer, den wir gut kennen, hat uns belogen. Und ich dachte, er hätte Angst, dass es den Ganoven in die Hände fallen könnte!« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, bekannte er. »Das alles ist mir ziemlich unheimlich.« Mitten in der Nacht wachte er auf und hörte Polly im Halbschlaf atmen. Er spürte ihren Körper und ihre Wärme, als sie sich bewegte und an ihn schmiegte. Das sorgfältig in Öltuch gewickelte Päckchen alter Zeitungen drängte sich beharrlich in seine Gedanken. Wenn er die Augen zu machte, sah er es vor sich – rätselhaft höhnisch … Warum hatte Prosser das getan? Seiner Meinung nach ergab es keinen Sinn: Nachdem sie belagert wurden, hätten es logischerweise die Flüchtenden an sich nehmen müssen. Prosser hatte es jedoch behalten und war damit ein viel größeres Risiko eingegangen … es sei denn – Er, drehte sich auf die Seite und betrachtete die Wolken im Mondlicht. Er war müde, seine Augen trüb. Wieso sah er dann einen rosaroten Schein am Nachthimmel? Rosarot – ohne Zweifel. Links gedämpft, hell hinter dem Rechteck des Fensters. Nordlichter? Eine Sternschnuppe? Nein, wahrscheinlich irgendein Feuer. Während er sich noch Gedanken machte, verblasste der rosarote Schein. Obwohl er todmüde war, interessierte ihn das Schauspiel. Polly murmelte im Schlaf und zog ihm die Decke weg. Er stand schließlich auf und ging zum Fenster. Vor einer Nebelbank, die schwerelos über dem Wasser schwebte, sah er die Hexenzähne deutlich im Mondlicht, das durch den Spitzenschleier der Wolkenfetzen drang. Das rosarote Licht war von links gekommen, aber es war nun zu einem verschwommenen Streifen verblichen und verschwand vollständig, während er zusah. Er zündete seine Pfeife wieder an, die nach altem Tabak schmeckte, und starrte so lange auf den Fleck, bis er sicher war, dass die Nacht ihre normale Farbe zurückgewonnen hatte. Nachdenklich und voller Sorge sog er an der Pfeife. Zuerst bemerkte er die Bewegung unter dem Fenster gar nicht, dann dachte er, seine müden Augen hätten ihm einen Streich gespielt oder es wäre ein Nebelfetzen, ein Wölkchen, das sich vor den Mond geschoben hatte, oder vielleicht auch ein Symptom seiner Erschöpfung oder eine Nervenkrise. Dann bewegten sich die Schatten erneut, immer wieder, und ihm stockte der Atem, als er das flaue Gefühl in seinem Magen registrierte: die alte nagende Furcht, die ihm die Knie weich machte, die ihm Schweißausbrüche bescherte und ihn hilflos zittern ließ. Die Schatten kamen vom Strand herauf, von dort, wo er gestanden hatte, als er zum letzten Mal den diffusen gelben Lichtschein des Flugboots bemerkte – aus der Richtung des rosaroten Leuchtens. Wie festgenagelt sah er sie mit ruckweisen, nervösen, käferartigen Bewegungen über den Rasen huschen., Sie waren zu sechst: sechs Männer, die über die weite Rasenfläche zum Haus vorrückten. Natürlich hatte er Angst, aber sein Adrenalinspiegel stieg nicht an: Wie sollten sie entkommen? Wie konnte er Polly schützen, wie Hilfe rufen? Inzwischen waren die Schatten hinter den Büschen und Bäumen am Haus verschwunden. Der Rasen war leer. Hatte er sich alles nur eingebildet? Nein, Schluss mit dem Wunschdenken – auch wenn ihm die Wirklichkeit vorkam wie ein böser Traum. Einen Moment lang vergaß er die Männer, die sich außerhalb seines Blickfelds versteckt hatten. Sein Blick wurde von einem Blinklicht in der Bucht angezogen, im Halbkreis der Hexenzähne. In einem Mondstrahl entdeckte er etwas, das nach einem heruntergekommenen Fischerboot aussah, einem Trawler, der tief im toten Wasser zwischen den Felsen und der Küste lag. Ein Fischerboot? Die Insel war plötzlich zu einem belebten Ort geworden. Gespannt verfolgte Chandler den vermeintlichen Lichtpunkt, bis er ihn als Suchscheinwerfer identifizierte, der unruhig den Strand abharkte. Sein scharf gebündelter Strahl glitt über Sand und Felsen; er schien ihm zuzublinzeln. Hatte Prosser wieder einen Typen wie Kendrick geschickt, um eine neue Rettungsaktion zu starten? Der Gedanke flackerte in seinem Kopf auf wie ein Scheinwerfer und erlosch. Hinter dem Trawler stand bewegungslos die Nebelbank als grauer Hintergrund zu dem Halbrund der Felsbrocken. Der Wind trug den Geruch des Meeres zu ihm ins Haus. Sanft schüttelte er Polly am Arm, bis sie wach wurde. »Zeit zum Aufstehen, mein Liebes. Kleine Männer kriechen um unser Haus und ich weiß nicht, was ich machen soll.« Er lachte gekünstelt. »Lach nicht so komisch, und zieh dir deine Hose an.« »Zwei Dinge gleichzeitig, das geht nicht«, erwiderte er., »Was sind das für kleine Männer?« Während sie sich anzogen, erzählte er ihr, was er beobachtet hatte. Dazwischen lauschten sie immer wieder oder schauten aus dem Fenster. Er ging durch die Balkontür hinaus und lehnte sich über die Brüstung. Am Verandageländer, im Schatten des Hauses, standen sie flüsternd um ihren Anführer geschart – ein wenig durcheinander, wie ihm schien. »Mein Gott«, hörte er den Anführer ungeduldig sagen, »wir können doch nicht einfach an die Tür klopfen und reingehen! Ihr beide sucht die Hintertür, wir beschäftigen uns einstweilen mit dem Haupteingang. Los jetzt!« Chandler ging ins Schlafzimmer zurück, wo Polly an der Tür stand und die Diele beobachtete. Das Licht der funzeligen Nachtbeleuchtung warf Schatten auf die Hirsche im Tapetenmuster. »Sie kommen rein«, sagte er. »Denkst du, ich kann sie vertreiben, wenn ich schreiend durch die Diele renne? Nein? Aber was anderes fällt mir nicht ein …« »Warte ab, was sie tun.« Sie hörten, wie sich jemand an der verschlossenen Eingangstür zu schaffen machte. Einem impulsiven Fluch folgte heiseres, unterdrücktes Lachen. Schritte auf der Veranda. Glas splitterte und durchbrach die Stille: Sie kamen durch die Verandatüren. Das Haus ächzte im Nachtwind, während die Männer davon Besitz nahmen. Nun folgte ein Geräusch unmittelbar auf das andere. Es war, als würde die Flut dein Haus verschlingen: Du kannst nichts dagegen tun. Inzwischen waren sie mit ihren gedämpften Stimmen und schweren Tritten bis in die Diele des ersten Stocks vorgedrungen. Als Chandler den metallischen Klang von Waffen hörte, sträubten sich seine Nackenhaare. Oben an der Treppe, am anderen Ende der lang gestreckten Diele, ging das Licht an, und Polly drückte sich plötzlich zitternd an ihn. »O Gott«, flüsterte sie, »das ist ja wie eine Invasion!«, Er zog sie ins Zimmer zurück, als sie die Treppe hoch polterten. Sie setzte sich auf die Bettkante, er ging wieder hinaus auf den Balkon, um den Suchscheinwerfer zu verfolgen, und sah dabei weitere Gestalten über die Rasenfläche ausschwärmen, die aus Richtung der dunklen Baumgruppe vor der Klippe kamen, hinter der das Fischerboot lag. Diesmal zählte er sieben Mann. Dann tönte eine Stimme aus dem Schlafzimmer: »Professor Chandler, nehme ich an.« Die Stimme gehörte zu einem stattlichen Mann in dunkelblauen Hosen und Pullover. Die farblich passende Strickmütze hatte er bis auf die Ohrenspitzen heruntergezogen. Sein Gesicht war mit einer schwarzen Paste eingeschmiert, aus der seine Augen leuchteten. »Lieutenant Raines zu Ihren Diensten, Sir. Meine Männer und ich sind beauftragt, Sie von der Insel zu evakuieren.« Er warf einen raschen Blick auf Polly, die sich wieder in der Gewalt hatte und mit einem Kissen im Rücken im Schneidersitz auf dem Bett saß. Sie musterte den Lieutenant mit einem verdutzten Lächeln. Seine Waffe sah aus, als würde sie nicht mehr aufhören zu feuern, wenn der Finger einmal den Abzug berührt hatte. »Sie haben mich fast zu Tode erschreckt, Lieutenant Raines«, erklärte Chandler, der sich an seiner Pfeife festhielt. »Sicher, Sir. Aber Sie brauchen sich nicht zu schämen. Es gibt vermutlich niemanden auf der Welt, den wir nicht zu Tode erschrecken könnten.« Raines war etwa Mitte zwanzig. Er erinnerte Chandler an viele ebenso naive aufgeblasene junge Leute, die ihm in seinen langjährigen Vorlesungen begegnet waren. Hinter ihm tauchte ein kleinerer, ähnlich angezogener junger Mann auf. »Alles wie erwartet, Sir?«, fragte er mit heller Stimme fast im Sopran. »Klar«, erwiderte Raines. »Keine Probleme.« Er lächelte. »Miss Bishop, Professor, machen Sie sich bereit?« Mit dem Lauf seiner Waffe deutete er auf die Segeltuchtasche. »Packen, Sie Ihre Sachen ein.« »Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Polly aufsässig. Chandler verkniff sich ein Lächeln. »Hat Prosser Sie geschickt?« »Sondereinsatzkommando, Miss Bishop. Einen Prosser kenne ich nicht. Wir erfüllen nur unseren Auftrag –« »Natürlich«, fauchte sie, »Sie haben einen harten und schmutzigen Job, aber einer muss es ja machen – ganz klar. So was habe ich schon gehört, und zwar von Leuten, die gern schmutzige Arbeit erledigen –« »– und wir wollen so schnell wie möglich runter von der Insel. Also gehen wir.« Zu dem Kleineren sagte er: »Lass in dem großen Zimmer unten Aufstellung nehmen.« Die Tasche war rasch gepackt. Raines prüfte, ob alle Fenster fest verschlossen waren, bevor er das Licht ausknipste und ihnen die Treppe hinunter folgte. Zwei Mann kamen gerade durch die Eingangstür. Alle waren gleich gekleidet, ihre Gesichter geschwärzt. Chandler flüsterte Polly zu: »Genau wie in The Commandos Strike at Dawn. Gleich werden Brian Donlevy oder Robert Montgomery auftauchen.« Er hatte keine Zeit, ihr von den anderen Gestalten zu erzählen, die über den Rasen geschlichen waren. Raines diskutierte mit seinen Leuten. »Professor«, sagte er leise, während er Chandler mit kaltem Blick fixierte, »ich glaube, Sie haben ein Päckchen bei sich. Wir haben Anweisung, es unbedingt mitzubringen. Bitte geben Sie es mir.« Chandler schüttelte lachend den Kopf. »Ich hatte ein Päckchen bei mir. Aber es bestand nur aus einem Stapel Zeitungen, den Sie jetzt im Abfalleimer in der Küche finden. Wir sind reingelegt worden.« »Ich verstehe nicht ganz, Sir. Wir haben den Befehl, Sie beide und ein Päckchen abzuholen. Das Päckchen wurde uns besonders ans Herz gelegt.« Plötzlich zeigte sich seine Jugend unter dem Schliff und dem forschen Auftreten. »Ich muss darauf, bestehen –« »Ach, kommen Sie, Lieutenant. Bestehen Sie, worauf Sie wollen, durchsuchen Sie uns, schauen Sie in den Mülleimer. Es gibt kein Päckchen.« »Dann war unser Einsatz für nichts und wieder nichts, Sir.« »Danke für die Blumen. Polly, der Lieutenant findet, wir beide sind nichts und wieder nichts. Verstehen Sie doch: Man hat uns gelinkt. Man hat uns eine Attrappe untergeschoben, ob Sie’s glauben oder nicht. Was wollen Sie nun machen? Uns zur Strafe hier lassen?« »Na gut«, sagte Raines, dem die ganze Sache nicht gefiel. »Wir haben keine Zeit, so ein großes Haus zu durchsuchen. Aber gnade Ihnen Gott, wenn Sie mich anlügen!« Er wandte sich an seinen erwartungsvollen Trupp: »Zurück zum Strand. Wir nehmen sie mit, wie geplant. Auch ohne das verdammte Päckchen. Bewegt euren Arsch!« Raines löschte überall das Licht, um das Haus so zu verlassen, wie sie es vorgefunden hatten. Nur einige Glasscherben blieben auf dem Teppich liegen. Als der erste durch die Tür mit dem Messingschild STRONGHOLD trat, bellte kurz und gedämpft ein Maschinengewehr auf. Der Mann wurde von der Garbe zurückgeworfen und riss den nächsten mit, der wiederum gegen die übrigen prallte. Der erste starb mit einem grässlichen Gurgeln. Alle lagen über- und untereinander auf dem Boden. Chandlers und Pollys Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. »Was wird hier gespielt? Wer ist da draußen?«, hörte man den Lieutenant zischen, der ebenfalls zu Boden gegangen war, als seine Männer wie die Dominosteine umfielen. »Jesus, es riecht nach Blut! Ich bin ganz voll, Lieutenant!« Ein unterdrückter, entsetzter Schrei folgte: »Zieht ihn runter von mir! Oh, Scheiße, er stirbt, er ist tot!« Stöhnen, Flüche, Schreie. In den Stimmen der Männer, die in einem Gewirr von Armen, und Beinen auf dem Dielenboden lagen, schwang die Furcht mit. Die stockfinstere Nacht schien alles noch schlimmer zu machen. Überraschenderweise passierte nichts weiter: kein Fußgetrappel, keine neuen Schüsse. »Kann einer von euch draußen was erkennen?« Raines’ Stimme kam vom Fuß der Treppe. Die schwere Tür – von den Schüssen gezeichnet – stand offen. »Nein, nichts«, war zu hören. »Und ich schaue bestimmt nicht nach!« Der Sopran fragte: »Was sollen wir machen, Lieutenant?« »Zunächst mal den Mund halten.« Chandler suchte Pollys Hand und zog sie mit sich zu dem Zimmer, aus dem sie gerade gekommen waren. Er kroch so leise wie möglich auf allen Vieren, sie hinter ihm her. In seinem Kopf nahm ein Plan Gestalt an – eine Antwort auf die Attacke, etwas, das er von sich niemals erwartet hätte. Nur Fragmente zunächst, aber die konnte er ausformen, während er sie umsetzte. Das Geflüster in der Diele wurde drängender. Er konnte das Blut noch riechen, den süßlichen Gestank des Todes. Beim Einschlagen der Balkontür hatten sich die bodenlangen schweren Vorhänge einen Spalt breit geöffnet. Nun zerschnitt ein glänzender Mondstrahl den Raum in zwei Teile und malte einen Streifen auf den Teppich. Polly und Chandler duckten sich hinter einen wuchtigen Schreibtisch. »Ich weiß nicht, wer sie sind, aber ich habe sieben Männer über den Rasen schleichen sehen, als ich auf dem Balkon stand. Ich glaube, sie sind mit einem Boot gekommen, das unten bei den Felsen liegt – dort, wo wir heute Nachmittag waren.« Er musste sich am Schreibtisch festhalten, um das Zittern seiner Hände zu kontrollieren. Außerdem hatte er Krämpfe in den Beinen. »Wir müssen hier raus. Ich weiß nicht, bei wem wir noch sicher sind.« »Am sichersten sind wir allein«, meinte Polly. Aus der Diele kam ein Feuerstoß, gefolgt von einem leisen, Stöhnen und gedämpftem Flüstern. Schritte huschten jenseits der Vorhänge über die Veranda. Jemand rannte die Treppe zum oberen Stock hoch, und über ihnen klappte eine Tür. »Sie postieren einen auf dem Balkon«, sagte Chandler mit unsicherer Stimme. Er versuchte, den Atem anzuhalten. »Raines hat vielleicht nur noch drei Mann … Komm!« Um den Mondstrahl nicht zu durchkreuzen, kroch er langsam an den Wänden entlang. Sie lauschten auf Geräusche aus den beiden Gruppen, die sich nun belauerten. Als sie endlich die Fensterfront erreicht hatten, drückten sie sich in die Ecke und verschmolzen mit den Vorhängen, die sich anfühlten, als wären sie aus Kettenpanzern zusammengesetzt. »Chandler!«, zischte Raines aus der Diele. »Chandler, Sie Mistkerl, wo sind Sie?« Es klang mehr frustriert als verärgert. In der folgenden Stille spürte er, wie Polly seine Hand drückte. Dann bauschte sich der Vorhang ein wenig nach innen. Er hielt mit aller Kraft den Atem an und streichelte beruhigend Pollys Hand, als jemand langsam und vorsichtig von der Veranda ins Zimmer trat. Er hatte keine Möglichkeit, Raines zu warnen; er hätte auch nicht sagen können, ob er das wirklich wollte. Sondereinsatzkommando? Wohl eher Killertruppe. Keine zwei Meter entfernt sah er einen Schatten durch den Mondstrahl huschen. Gleichzeitig empfand er unglaublich stark die Präsenz dieses Menschen, besonders durch den unverwechselbaren Geruch einer geölten Waffe. »Chandler?«, rief Raines etwas lauter. »Sind Sie hier?« Neben ihm knatterte ein ohrenbetäubender Gewehrstoß, eine Explosion, die seinen Kopf zu sprengen schien. Einen kurzen Augenblick lang war das Zimmer hell wie ein Schaufenster. Chandlers Blick erfasste Raines, der aus dem splitternden Türrahmen verschwand, sowie den Kalkstaub und die unregelmäßige Reihe der Geschosseinschläge in der Dielenwand. Der Schütze stand als Schatten knapp drei Meter von Polly und Chandler entfernt, die den Vorhang um sich, gewickelt hatten. Als es wieder dunkel war, bewegte sich der Vorhang erneut, und wieder drangen ein paar Männer ins Zimmer. Drei oder vier weitere hatten sich zu dem ersten gesellt. Chandler hörte, wie sie in dem finsteren Raum gegeneinander stießen. Er wusste, dass Raines in der Lage gewesen wäre, an Ort und Stelle Hackfleisch aus ihnen zu machen, wenn er nicht Bedenken gehabt hätte, dabei auch Polly und Chandler zu erwischen. Er hörte die schweren Atemstöße der Männer, dann ein Klicken. »Granate«, sagte jemand leise. Er schnappte Polly und tastete mit der anderen Hand nach dem Griff des raumhohen Fensters. Inzwischen standen sie ganz hinter dem Vorhang, mit dem Geruch von Tabakrauch in der Nase, der sich während der Jahre in dem Gewebe festgesetzt hatte. Der Griff gab nicht nach, und er musste mit den Fingerspitzen nach einem Knopf oder Hebel suchen, der die Sperre löste. Schließlich ließ sich der Flügel einige Zentimeter öffnen. Er hätte sich gern mit Polly abgesprochen, doch vorerst mussten sie per Händedruck kommunizieren. Er wartete … Plötzlich ein Räuspern, dann fiel etwas Schweres auf den Boden und rollte über den Teppich: die Granate. Er war sicher, dass alle übrigen hinter dem Schreibtisch und den schweren Sesseln Deckung gesucht hatten, doch ihn und Polly schützte lediglich der Vorhang. Jetzt! Er stieß den Fensterflügel weit auf und zog Polly mit sich auf die Veranda. Kaum waren sie drei Schritte auf die Brüstung zugerannt, explodierte das Zimmer. Sämtliche Fensterscheiben gingen zu Bruch und flogen ihnen in Splittern um die Ohren, im Mondlicht glitzernd wie silberne mechanische Vögel. Chandler fühlte sich von der Druckwelle nach vorn gestoßen wie von einer riesigen Hand. Er wurde über die Brüstung katapultiert und landete – halb über und halb unter Polly – leicht, lädiert im Gebüsch. Schreie gellten durch die Nacht. Die Granate war anscheinend nicht in die Diele gerollt, sondern von der Wand abgeprallt und im Zimmer explodiert. An einer Wand brannte es. Die Schmerzensschreie hörten nicht auf, bis plötzlich Maschinengewehrfeuer einsetzte. Chandler sah die Szene im Geist vor sich, sah Raines im Türrahmen stehen und auf die Sterbenden und Verwundeten zielen. Er fragte Polly: »Bist du okay?« An seiner Wange klebte Dreck. Sie wischte sich Erde und Blätter vom Gesicht und sah zu ihm auf: »Klar, Boss. Ich glaube, wir haben erreicht, was wir wollten.« Er reckte den Hals und warf einen Blick nach oben. Der Kerl auf dem Balkon lehnte über der Brüstung, um zu sehen, was unten los war. Polly griff durch das Verandagitter, und Chandler hörte, wie eine Maschinenpistole über den Steinboden gezogen wurde. Auch der Mann auf dem Balkon hörte es. Er ballerte sofort drauflos und schoss ein paar Löcher in den Zement, während sie in Deckung gingen. »Kannst du mit so was umgehen?« »Ist der Papst katholisch?«, fragte er zurück. »Klar, jederzeit. Maschinenpistole? Habe ich doch fast immer bei mir, du Dummerchen.« Als er die Waffe in die Hand nahm, überraschte ihn ihr Gewicht. Er kroch durch Buschwerk, Matsch und Glasscherben an der Veranda entlang. Sein Rücken brannte an den Stellen, wo sich Glassplitter durch den dicken Pullover in seine Haut gebohrt hatten. Oben blieb alles still. Die Flammen schlugen höher und warfen zuckende Schatten. Es war, als blicke er in einen Holzofen. Ab und zu waren Schüsse zu hören, aber er hatte keine Ahnung, was eigentlich vor sich ging. »Chandler?«, rief eine müde Stimme. »Wenn die beiden hier drin gewesen sind, dann gute Nacht«,, sagte jemand leiser. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch die Unterhaltung wurde durch eine neue Explosion unterbrochen. An der Verandaecke hockte Chandler sich hin. »Lauf in den Schatten dort, dann am Waldrand entlang zu den Klippen. Solange wir im Schatten bleiben, passiert uns nichts.« Er sah hinaus in die Landschaft. »Wir kriegen wieder Nebel …« Vor ihnen zog die Nebelbank herauf, die so lange unbeweglich hinter dem Trawler und den Hexenzähnen gestanden hatte. Dicht und undurchdringlich schwebte sie etwa fünfzig Meter vor ihnen im Mondlicht herein, so kompakt, als könnte man sie berühren. Der Feuerschein hinter ihnen wurde schwächer, während sie über das schlüpfrige Gras auf den Waldrand zurannten. Keuchend machten sie zwischen den ersten Fichten Halt. Im Haus blieb alles ruhig – kein Laut war zu hören; nichts bewegte sich außer dem Feuerschein, der durch den aufziehenden Nebel gedämpft wurde. Noch außer Atem marschierten sie los, ohne recht zu wissen, wohin. Wenige Minuten nach ihrer Flucht fühlten sie sich im schützenden Nebel geborgen, dessen feucht wogendes Grau der Mond anstrahlte, so dass Chandler den Eindruck hatte, er sei in eine Kristallkugel gelaufen. Seine Brille beschlug. Er blieb stehen und krümmte sich vor Seitenstechen. »Wir dürfen uns auf keinen Fall verlaufen«, japste er. »Wir müssen rechts am Waldrand bleiben, dann kommen wir direkt zu den Klippen.« Er sah in ihr leicht im Nebel verschwommenes Gesicht. »Du glaubst hoffentlich nicht, dass ich weiß, wo wir hin wollen. Ich tappe sozusagen völlig im Dunkeln. Erst mal wollte ich dort weg.« Polly nickte. »Klar. Ich habe eine Idee. Komm, gehen wir weiter. Du hast gesagt, in der Bucht liegt ein Fischerboot?« »So was Ähnliches. Mit Booten kenne ich mich auch nicht besser aus als mit Maschinenpistolen.« Er warf einen hoffnungslosen Blick auf die Waffe in seiner rechten Hand., »Das Ding ist verdammt schwer!« »Behalte es trotzdem«, meinte sie. »Die sind alle bewaffnet, vielleicht brauchen wir es noch … O Gott, was für ein Gedanke!« Sie seufzte. »Ja, behalte das Ding.« Dann ging sie weiter, blieb aber immer wieder stehen, um sich rechts am Waldrand zu orientieren. Er war erleichtert, dass ihnen die Flucht aus dem Haus geglückt war, das er nun nichts mehr erkennen konnte, wenn er über die Schulter zurückschaute. Wie ein Geisterschiff war es mit seiner grausigen Fracht im Nebel versunken. Sie brauchten zwanzig Minuten bis zum oberen Rand der Klippe. Als sie da standen und lauschten, hörten sie kaum die Wellen über das felsige Schiefergestein plätschern. Der Wind hatte aufgefrischt und sprühte ihnen feine prickelnde Wölkchen ins Gesicht. Sie kamen auf der glitschigen, baufälligen Treppe mit dem halb vermoderten Handlauf nur langsam voran. Weiter unten lichtete sich der Nebel. Stattdessen wehten ihnen vom Meer her Dunstfetzen entgegen. Düster und geheimnisvoll lag der Trawler im Wasser. Der Suchscheinwerfer tastete sich stockend am Ufer entlang, verweilte hier und da und machte dann wieder einen Sprung, so als fiele es dem Mann am anderen Ende schwer, sich wach zu halten. Sofern man das im Mondlicht erkennen konnte, trug das Schiff weder einen Namen noch ein nationales Kennzeichen; es war nur eine schwarze Form mit einem leuchtenden Auge. Als sie sich unten am Strand aneinander lehnten, standen sie nur knapp außerhalb der Reichweite des Lichtstrahls. Chandler hatte inzwischen das Gefühl, als sei er schon mit Atemnot geboren worden. »Wo führst du mich hin?«, fragte er keuchend. Seine Lungen waren am Bersten, seine Wadenmuskeln schmerzten, er war durchnässt bis auf die Haut. Er wusste, dass die von den Glassplittern gerissenen Wunden auf seinem Rücken bluteten, und dass er eine Erkältung kriegen würde, die, sich gewaschen hatte, falls ihn nicht vorher jemand umbrachte. Polly war weitergegangen, ohne seine Frage zu hören. Mit der Maschinenpistole in der Armbeuge schleppte er sich weiter und war froh, dass er nicht die verdammte Leinentasche tragen musste. Sie erreichten den Landungssteg. »Komm schon«, sagte sie, »wo ein Bootshaus ist, da ist auch ein Boot.« »Moment mal! Ich kenne mich mit Booten überhaupt nicht aus, sie machen mir Angst!« »Du brauchst dich nicht auszukennen, wir sind ja ein Team. Komm jetzt, bevor uns der Scheinwerfer erwischt.« Er folgte ihr unsicher auf die morschen, nassen Planken. Wieder zog eine dichte Nebelbank herein, die er mehr mit der Nase als mit den Augen erfasste, und als er einen Blick auf das Schiff warf, sah er es nur noch als vagen Umriss. Der Suchscheinwerfer war ein diffuser Fleck, der sich ihnen in gemessenem Tempo näherte. »Beeil dich«, rief Polly, »der Scheinwerfer!« In der Eile stolperte Chandler über eine aufgeworfene Planke und fiel der Länge nach hin, wobei ihm die Waffe entglitt und er sich Knie und Handflächen aufschürfte. Voller Panik starrte er geblendet in den Scheinwerfer. Er blinzelte in das Licht, das von einer Million winzigster Tröpfchen reflektiert wurde und von einem Nebelschwaden auf den anderen übersprang. Wie ein Tier, das hypnotisiert und ergeben in die Lichter eines Lastwagens starrt, lag er auf dem nassen, modernden Holz, während der Strahl langsam weiter wanderte, stehen blieb, erneut über ihn glitt und dann gemächlich den Strand bestrich. »Mach schon, Colin«, rief sie. »Bei dem Nebel haben sie dich nicht gesehen.« Für den Augenblick gerettet, erhob er sich mühsam zu seiner ganzen Länge, griff nach der Maschinenpistole und trottete zu der aufgeworfenen Tür des Bootshauses, wo Polly ihm die Arme um den Hals legte. »O Gott«, seufzte sie, »ich dachte schon …, Alles in Ordnung?« Er nickte schweißüberströmt und leicht benommen. Lieber Gott, wenn du mich am Leben lässt, spiele ich wieder Squash, ich jogge, ich mache alles, was du von mir verlangst … Die Tür klemmte. Wütend warf er sich mit der Schulter dagegen, hob sie aus den Angeln. Sie tasteten sich ins Dunkel. Es roch nach nassem Holz, Benzin und Öl. Nach und nach nahm der hintere Ausgang eine graue, rechteckige Form an. Durch ein Loch im Dach drang schwach das Mondlicht … Polly tastete sich an der Wand entlang und triumphierte: »Hab ich’s doch gewusst! Ein Lichtschalter! Wer so viel Geld hat, hat auch einen Generator.« Zwei nackte Glühbirnen am Ende von ausgefransten Kabeln erwachten zum Leben und warfen ein grelles Licht auf das Innere. Chandler, der keine Ahnung von der Seefahrt hatte, taxierte das Gerät, das er vor sich sah, und ordnete es unter ›Kabinenkreuzer‹ ein. Die Wellen brachen sich leise an seinem Rumpf. Er registrierte alles, aber er verstand nichts davon, denn er war nie auf einem Boot mitgefahren, hatte alles nur von Weitem gesehen. Etwa zwölf bis fünfzehn Meter lang, jede Menge glänzendes Holz, eine Eleganz, die vermuten ließ, dass das Boot schon einige Jährchen auf dem Buckel hatte: Chandler konnte sich nicht vorstellen, dass jemand noch solche Qualität produzierte. Am Heck war das Boot offen, doch das mittlere Drittel war überdacht wie das von Humphrey Bogart in Hafen des Lasters. Auf dem Steg befanden sich zwei große rote Benzinkanister neben einem Haufen Lappen, einige gut verpackte Pinsel, ein paar Längen ölverschmiertes Seil, ein zerkratzter und verbeulter Werkzeugkasten. Polly kletterte an Bord, schnüffelte geheimnisvoll ein bisschen herum und nahm etwas von einer Halterung neben dem Steuer. Dann stieß sie die Tür zu einem Niedergang auf, in dem vermutlich die Kojen und die Kombüse lagen. Als sie wieder heraufkam, stemmte sie lächelnd die Hände in die Hüften., »Wir spielen wieder mit. Dieser kleine Prachtkerl bringt uns hier raus.« »Prachtkerl«, wiederholte er. »Wer schreibt dir denn die Texte?« »Keine Zeit für Spitzfindigkeiten, mein Schatz. Wie schon der Dichter sagt: Während wir noch reden, sind sie uns schon auf den Fersen.« »Brauchst du denn keine Karten oder so was?« »Da oben liegt ein ganzer Stapel.« Sie deutete mit dem Kopf auf ein Regal über dem Steuer. »Und wenn schon das Kanonenboot den Weg in die Bucht gefunden hat, dann wird uns dieser kleine –« »Prachtkerl.« »– wohl auch raus bringen.« »Kanonenboot, sagst du?« »Ein Fischerboot ist es nicht, das kannst du mir glauben. Ich denke, es gehört den Russen. Ein Spionageschiff mit allem elektronischen Schnickschnack und Bordwaffen. Die patrouillieren ständig an der Küste entlang. Vergiss nicht, damit kenne ich mich aus.« »Ich habe immer Bedenken, ob ich dir glauben soll, wenn du mir solche Sachen erzählst.« »Glaub mir«, sagte sie, mit dem Boot beschäftigt. »Weißt du überhaupt, wie –« »Hör mal: Oben im Haus gewinnt einer die Schlacht und merkt, dass wir weg sind und das Päckchen auch, und dann zählen sie einfach zwei und zwei zusammen. Beide Seiten sind übers Meer gekommen, also lauern zwei Schiffe dort im Nebel. Wir sind die Flagge in ihrem Fangspiel, und deshalb sollten wir so schnell wie möglich verschwinden – lieber in der Nacht als bei Tag. Außerdem geht’s genauso um meinen Kopf wie um deinen. Du kannst mir also glauben, dass ich weiß, wie man mit diesem verdammten Kahn umgeht. Und jetzt setz dich hin.« Während ein Ventilator anlief, wuselte Polly geschäftig, umher. Er wartete still, bis er hörte und spürte, wie sich der Motor in Gang setzte. Nach seiner Einschätzung heulte er sehr laut auf – aber was wusste er schon davon? Sollte er doch heulen! Wichtig war, dass sie hier heraus kamen. »Meinst du wirklich, das funktioniert? Wäre das nicht zu einfach?« Er saß ihr gegenüber auf einer gepolsterten Bank, den geschundenen Rücken an eine Holzkante gelehnt, die ihm Schmerzen verursachte. Sie nickte. »Na ja – ich glaube, es wird bald schwieriger werden, falls dich das beruhigt.« Sie ließ sich in den hohen Drehstuhl hinter dem Steuer fallen. »Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, und muss mich mehr oder weniger auf mein Gefühl verlassen. Schau mich nicht so an.« Mehr hörte er nicht, denn der Motor überdröhnte alles in dem engen Raum. Wie ein geschrumpfter John Wayne deutete sie mit ihrer rechten Hand an, dass sie die Bucht verließen, und er nickte und drückte die kalte, schwere Waffe auf seine Knie. Das Boot vibrierte heftig, als es sich langsam von der Anlegestelle entfernte und in die Nebelwand eindrang. Neben seinen Füßen standen die beiden Benzinkanister. Er wusste weder, was für eine Waffe er in der Hand hielt, noch, wie man mit ihr umging, doch Polly schien völlig Herrin der Lage zu sein. Plötzlich zogen die Nebelschwaden auch durchs Cockpit. Er konnte nichts mehr erkennen und ging vor zur Frontscheibe. »Ich sehe nichts.« »Unheimlich, nicht?« Der geisterhafte Lichtschein vom Bootshaus, der diffus durch den Nebel drang, sah aus wie ein über dem Wasser schwebendes UFO. »Weißt du noch, wo die Felsen liegen – die Zähne?« »Mehr oder weniger.« »Mehr oder weniger«, wiederholte er ungläubig. »Was soll ich sonst sagen? Ich glaube, ich weiß, wo sie liegen.« Eine weitere Minute lang rasten sie durch den Nebel. Polly, versuchte, etwas zu erkennen, Chandler presste die Augen fest zu und betete. Genau in dem Augenblick, als er sie wieder öffnete, blickte er nach links und schrie: »Pass auf!« Die Nebelwand hatte sich vor dem Bug des geheimnisvollen Trailers geteilt, der drohend und riesenhaft auf sie zu glitt wie ein Racheengel. Er hörte Polly fluchen, sah, wie sie das Steuer herumriss, fühlte das kleine Boot vibrieren und ächzen, als es im Wasser krängte. Der Motor jaulte auf. Die Felsen! Wir krachen auf die Felsen … Sie durfte auf keinen Fall den Kurs halten, während der Trawler im wogenden Nebel auf sie zuflog, und schoss in eine andere Richtung davon. »Halte die Maschinenpistole bereit!«, schrie sie ihm zu. »Bereit? Wie hält man so ein Ding bereit?« Der Trawler glitt an ihnen vorbei, und er bildete sich ein, Bewegung an Deck erkannt zu haben. Wahrscheinlich hatten sie das Licht im Bootshaus gesehen, oder ihn selbst, als er im Scheinwerferlicht gestolpert und hingefallen war, oder die Angreifer im Haus hatten sie per Funk verständigt. Oder die elektronische Abhöranlage auf dem Spionageschiff hatte sie geortet. Als der Trawler links an ihnen vorüberglitt und wendete, schwenkte Polly Sekunden später wieder auf den alten Kurs ein. Chandler, dem es gelungen war, zum Heck vorzudringen, legte die Waffe auf der Messingreling an und beobachtete geduckt das andere Schiff, das erneut hinter ihnen aus dem Nebel auftauchte. Während es direkt auf sie zu hielt, flackerte Mündungsfeuer auf wie eine Streichholzflamme im Wind. Der Nebel dämpfte das Tod bringende Knattern des Maschinengewehrs, und er hörte und fühlte die Einschläge im Rumpf des Bootes und einen knappen Meter hinter sich in der Rückenlehne eines Drehstuhls. Er kam sich vor wie auf einem Schießstand – aber an beiden Enden gleichzeitig. Im Geiste sah er seine Washington-Büste in Zeitlupe auf dem, Boden in eine Million Gips- und Staubteilchen zerspringen. Er zielte auf den Suchscheinwerfer, der durch den Nebel nach ihnen tastete, drückte den Abzug. Die Waffe wurde in seinen Händen lebendig, sie vibrierte und knatterte, als wolle sie sich aus seinem ungeübten Griff befreien. Der Scheinwerfer explodierte auf wundersame Weise. Als er sich umdrehte, machte ihm Polly das Zeichen mit den Daumen nach oben. Wieder bellte die Waffe auf dem Trawler, der Pollys Zickzackkurs folgte, mit dem sie die Sicherheit auf dem offenen Meer jenseits der Felsen suchte. Das kleine Boot musste noch einen Treffer in Kauf nehmen, bevor es außer Schussweite geriet. Bei jedem Kurswechsel, den Polly vollführte, rotierte der Drehstuhl mit der zersplitterten Rückenlehne hin und her, immer wieder. Sie mussten dicht vor den Hexenzähnen sein, die ihnen doch bei Tag so nahe erschienen waren. Aber wo waren sie, zum Kuckuck? Als sie Fahrt wegnahmen, um sie nicht zu rammen, tauchte der Trawler wieder aus dem Nebel auf und hielt direkt auf sie zu. Obwohl Chandler keine Ahnung hatte, wen er da beschoss, war er entschlossen, als Erster zu feuern. Er richtete die Waffe aus, betete, dass die Munition noch reichte und drückte zum zweiten Mal den Abzug. Ein überraschter Schrei quittierte die Garbe, der im nächtlichen Nebel hing wie ein blutbeflecktes Banner, bis ein hackender Feuerstoß zurückkam, der Glas zertrümmerte und Chandler zu Boden gehen ließ, wo er versuchte, unter eine niedrige Bank zu kriechen. »Da ist die Durchfahrt!«, rief Polly. Sie ließ den Motor aufheulen, und das Boot schoss mit einem Satz in die Nebelwand. Einen Moment lang hatten sie ihre Verfolger abgehängt. »Aufpassen«, rief sie, »es ist so weit!« Dann erst sah er die Felsen. Sie preschte mit voller Kraft durch die Lücke; die Wellen schäumten auf und trieben das plötzlich zerbrechlich wirkende, Gefährt wie einen Zweig auf den grauen Felsturm zu ihrer Rechten zu. Chandler starrte bewegungslos auf die Stelle, dann erkannte er, dass es schief gehen würde. Als sie seitlich an den Felsen prallten, hörte man, wie etwas zerbarst und mit traurigem Ächzen nachgab; einen Augenblick lang schienen sie über dem Wasser zu schweben; die Wellen hielten sie auf dem riesigen Gesteinsbrocken fest. Er sah, wie Polly mit aller Kraft und Entschiedenheit gegen den Schub des Wassers ankämpfte. Dann kam das Boot plötzlich frei, glitt auf dem Rücken einer Welle herab, und der Motor lief wieder wie geölt. Zum Glück war es nicht leck geschlagen. Es wirbelte ins offene Meer hinaus, wo es sich ein bisschen mühsam – aber tapfer – gegen Wellen, Nebel und Wind behauptete. Polly drehte sich um und grinste von einem Ohr zum anderen. Ihre Unterlippe zitterte. Er ging zu ihr hin und küsste sie auf die nasse Wange, bevor er sie an sich drückte. Ungefähr fünfzehn Sekunden später hörten sie hinter sich ein auffallendes Geräusch. Es hörte sich an, als würde eine Abrissbirne in feuchten Beton krachen – ein irrwitziger, ohrenbetäubender Knall, gefolgt von Knarren und Bersten. Der Trawler oder das Spionageboot, was immer es sein mochte, hatte offenbar einen der Hexenzähne gerammt. In der anschließenden Stille brummte nur ihr eigener Motor … Dann, wie im Kino, eine grollende Explosion. Rote und orange Feuerpfeile durchbrachen die Nebelwand und schossen auf sie zu, bis plötzlich alles im Dunkel lag und nur noch das Klatschen der Wrackteile auf dem Wasser zu hören war, die rings um sie aus dem Nebel fielen., MITTWOCH/DONNERSTAG Wie es ihm mit vielen anderen Dingen des Lebens erging, so war sich Chandler auch nicht mehr ganz sicher, was den genauen Wochentag betraf. Doch er hatte den Verdacht, dass es Donnerstagvormittag war, als sie das Flugzeug von Halifax nach Boston bestiegen. Die Stimme des Piloten quäkte aus dem Lautsprecher, schien aber von einem anderen Planeten zu kommen, und die Stewardess, die sich mit einer halben Tonne blitzender Zähne im Mund über ihn beugte, war wohl ein Erdling, doch es war gut möglich, dass sie Suaheli redete. Oder gar nicht. Er merkte, dass er sie anlächelte, wenngleich er auch das nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Er kam sich vor wie ein Tauber, der schrie, was die Lungen hergaben, aber genau diese Tatsache anzweifelte, weil er ja nichts hörte. Inzwischen war er so übermüdet, dass er bestimmt auf einer anderen Bewusstseinsebene existierte. Neben ihm nippte Polly an einem Old-Fashioned. Aus dem Augenwinkel gelang ihm ab und zu ein kurzer Blick auf ihr ruhiges, kühles, perfekt geformtes Gesicht. Obwohl er Freude daran gehabt hätte, sie stundenlang anzusehen, musste er sich damit abfinden, dass sein Kopf immer wieder zur Seite sackte, so dass er es schließlich aufgab und durch das Kabinenfenster das Meer unter sich betrachtete, das blassblau und gleißend silbrig in der Sonne glänzte. Er wusste, dass an Schlaf nicht zu denken war, weil er sich nicht genügend entspannen konnte, aber er schloss die Augen und ließ die Erinnerung an die vergangenen Tage in seinem erschöpften Gehirn rotieren … Ein Mann aus Kap Breton, McBride, besaß ein Autowrack – vielen zum Neid. Doch es regnete sehr, und es spülte das Meer, das Auto weg. Das tat ihm leid. Das war es: Sie hatten Limericks gedichtet. Er erinnerte sich an die Bruchbuden, die matschigen Vorgärten, an die verdreckten alten ausgedienten Autos, die bis zu den Achsen im Schlamm steckten. Eine uralte Witwe aus Kent liebt Bar Harbor, wo jeder sie kennt. Sie war wieder mal dort, doch die andern war’n fort. Sie hat wohl den Anschluss verpennt. Er hatte noch Pollys Stimme im Ohr, die Limericks erfand, während sie den Leihwagen von Sydney nach Halifax lenkten – quer durch den Matsch und den Schnee des beginnenden Frühlings in Neuschottland. Irgendwie waren sie in einem kleinen Fischerdorf am Cabot Trail von Bord gelangt – lädiert und leck geschlagen von den Einschüssen und dem Zusammenprall mit dem Hexenzahn –, und am Mittwochmorgen von einem einsamen Autofahrer mitgenommen worden, der auf dem Weg nach Sydney ins Krankenhaus war. Wie es Polly gelungen war, durch schwere See, dichten Nebel und Gott-weiß-was noch, die Küste von Kap Breton zu erreichen, war ihm schleierhaft. Sie war die reinste Wiedergeburt von Humphrey Bogart. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals einem Menschen mit solcher Ehrfurcht entgegen getreten zu sein: Vielleicht würde er nie erfahren, wie sie das geschafft hatte, aber es war unbestreitbar, dass sie das Boot über viele Meilen tintenblauer, Furcht einflößender See sicher zur Küste gebracht hatte. Sie sagte ihm, das sei alles Unsinn, er würde ihre Leistung übertreiben, aber er entdeckte, ein zufriedenes Lächeln hinter ihrem Protest. »Es war keine großartige Leistung«, sagte sie verschmitzt, mit einem kleinen Seitenhieb auf seine Geschichtsphilosophie, »es war nur heldenhaft … Das ist ein Unterschied.« Seine Sorgen tanzten um ihn herum wie bösartige Zwerge. Er erinnerte sich an Pollys Entschlossenheit und den Rückstoß der Maschinenpistole in seiner Hand, und an ihren verwegenen Spurt durch die Hexenzähne. James Bond ließ grüßen. Er machte sich Gedanken um das verschollene Dokument. Wo war es? War Prasser noch am Leben? Was war nach ihrer Flucht auf der Insel passiert? Was war mit Hugh? Seine Augenlider schmerzten von dem Glanz der Sonne auf dem Wasser. Er lehnte den Kopf an Pollys Schulter. Maxim Petrow las die dechiffrierte Nachricht, rieb sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen, das mit der Information in keinem Zusammenhang stand, der eher ein Schreikrampf gerecht geworden wäre. Nein. Sein Büro war überheizt, und deswegen war er eine Stunde nach Arbeitsbeginn bereits müde. Wenn er monierte, dass es zu heiß war, musste er damit rechnen, sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu Tode zu frieren. Es gab einfach keinen Ausweg. Er legte das Blatt Papier auf den Tisch, strich kurz mit den Fingerspitzen darüber hin, als könne er dadurch einen Sinn hineinbringen, und überflog die Liste seiner Aufgaben und Verpflichtungen. Er sah dem Tag bürokratisch ins Gesicht: Vermutlich ließ es sich nicht vermeiden, den Fremdenführern von Intourist Mut zuzusprechen. Ihre Stimmung war völlig desolat. Außerdem gab es einen boomenden Schwarzmarkt für Levi’s-Jeans, der seine heißeste Phase erreicht hatte: Seine Frau hatte ihm zwei Paar davon gekauft, und der Preis spottete jeder Beschreibung. Die Informanten verlangten eine Erweiterung ihrer Privilegien. Und nun dieses unglaubliche Theater in Neuschottland., Seufzend zündete er sich eine Havanna an und entschied sich für ein Spielchen: Konnte er sie zu Ende rauchen, ohne zwischendurch die Asche abzuklopfen? Absolut alles, was Mütterchen Russland betraf, landete schließlich und endlich auf seinem Schreibtisch. Jedenfalls alles, was schief ging, und das war so ziemlich alles. Es lief jedes Mal auf das Gleiche hinaus: Der KGB wurde zu groß. Andererseits verlieh ihm seine ständig wachsende Größe mehr Macht. Die Sache in Neuschottland, ein typisches Beispiel. An dem einen Ende trat man sich, wie gewohnt, ständig selbst auf die Füße, während das andere Ende von keinerlei Problemen wusste. Alles andere als perfekte Koordination; aber in einer wenig perfekten Welt musste man sich damit abfinden. Neuschottland. Das betraf die kanadische Einsatzgruppe und die amerikanische, am Rande noch den übereifrigen jungen Mann in Bukarest; seine Karriere war wohl vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte. Und nun hatte er diesen erstklassigen Murks auf dem Schreibtisch, der auf eine saublöde und triviale Weise entstanden war. Wie konnte so was passieren? Warum musste er bei allem die humorvolle Seite sehen? Er kam sich vor wie ein Tölpel auf einer Party, den man nicht daran hindern kann, immer die gleichen langweiligen Witze zu erzählen – Woche für Woche, Jahr für Jahr. Keine Frage, wem die Schuld zugeschoben würde, wenn der Zwischenfall in Neuschottland einen dritten Weltkrieg auslöste: keinem anderen als Madame Petrows klügstem Sohn Max. Maya, seine Sekretärin, brachte ihm den gepackten Koffer. Die hübsche dralle Blondine Anfang dreißig stand ziemlich weit unten auf der Liste der Frauen, denen man für ihren Dienst in seinem Büro die Unbedenklichkeit bescheinigt hatte. In der Toilette machte er sich oft geile Gedanken über sie. »Maya, Sie haben gehört, wie fasziniert die Amerikaner von der Frauenbewegung sind, die sie als ›Women’s Lib‹, bezeichnen?« »Ja, Genosse Direktor«, antwortete sie gleichmütig und ausdruckslos. »Ich habe gerade einen neuen Slogan zu dem Thema gehört: ›Unterstütze Women’s Lib – lass ihn auf dem feuchten Fleck schlafen.‹« Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Verstehen Sie, Maya?« »Leider nicht, Genosse Direktor.« »Na gut, Maya«, sagte er säuerlich. »Zurück an die Arbeit.« »Danke, Genosse Direktor.« Er ordnete das Durcheinander auf seinem Schreibtisch, warf einen verdrießlichen Blick auf den Koffer. Keiner wusste, wohin er fuhr – zumindest keiner im KGB. Nur Leonid hatte ihm seinen persönlichen Segen gegeben. Mit seiner Zustimmung und seiner Komplizenschaft konnte die Reise wirklich geheim bleiben, was in Moskau zunehmend die Ausnahme war. Die Amerikaner waren der Meinung, sie hätten Probleme. Doch in Moskau schien jeder alles zu wissen. Absolut alles. Leonid war eine große Hilfe gewesen. Er hatte äußerste Geheimhaltung verlangt, und Breschnew kriegte gewöhnlich, was er verlangte. Nun konnte Petrow seine Alltagsprobleme hinter sich lassen, und keiner wusste, dass er unterwegs war. Auf der Fahrt zum Flughafen schoss ihm allerdings ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf: Was, wenn Leonid ihn aus dem Weg haben wollte? Für immer? Wer würde unangenehme Fragen stellen, wenn er nicht wiederkam? Nach ihrer halsbrecherischen Autofahrt, bei der sie immer nach Chandler und der Frau Ausschau gehalten hatten, waren Fennerty und McGonigle mit dem Motorboot von Kap Breton herübergekommen. Sie hatten schon früh damit angefangen, zu vergessen, was sie wussten beziehungsweise nicht wussten, und, stellten über die ganze Mission nur Vermutungen an. Auf alle Fälle wurde es nun Zeit, das Denken dem Boss zu überlassen … Nicht dem alten Herrn, sondern Sanger – Gott schütze ihn. Fennerty hatte Chandler und Miss Bishop Händchen haltend im Nebel über die Insel gehen sehen, während McGonigle dafür sorgte, dass keiner das Zelt entdeckte, das ihnen notdürftig Schutz vor dem feuchten Schmuddelwetter bot. McGonigle hatte auch die Leuchtkugeln abgefeuert – das Signal für die Landetruppe des U-Boots. Als alles vorbei war, hatten Fennerty und McGonigle die Insel als Letzte verlassen. Das Haus war voller Leichen, Fußboden und Wände durchlöchert, verbrannt oder teilweise weggeschossen. Überall war Blut. Gemeinsam mit den beiden Überlebenden der Landetruppe hatten sie sich auf den Weg zum U-Boot am Strand gemacht und waren mit an Bord gegangen. Während sie in der feuchten Kälte warteten, hatte Fennerty gesagt: »Nichts hat geklappt. Von Anfang an ist wirklich alles schief gegangen.« »Ähnlich wie bei Dünkirchen. Eine armselige Posse, die im Handumdrehen zur Tragödie wird«, hatte McGonigle leise angefügt, »und dann ist alles zu spät.« Der Kommandoführer, der einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen hatte, lag vor Schmerzen wimmernd am Strand, den Rücken von einem Felsbrocken gestützt. Der Regen sprühte ihm ins Gesicht. An Bord erhielten Fennerty und McGonigle neue Order. Das U-Boot würde sie zum Bostoner Marinestützpunkt bringen, von dort ging es per Eskorte zum Logan-Flughafen, wo sie einen Linienflug nach Washington nehmen würden. Mittwochnacht landeten sie auf dem Dulles-Flughafen – oder war es Donnerstag früh? Ihr Zeitgefühl hatte sie verlassen. Dann wurden sie ein paar höchst peinliche Stunden lang vom Direktor persönlich in die Mangel genommen., Es reichte, um einen erwachsenen Mann zum Heulen zu bringen, fand McGonigle. Fennerty erwiderte, dass er zum Glück nicht mit Tränen dienen konnte, aber er überlege sich ernsthaft, den Job hinzuschmeißen und mit einer hübschen Pension ins Reisebüro seines Bruders in Atlanta einzusteigen. McGonigle vermutete, dass der Direktor die Überlegung mit Beifall begrüßen und ihn drängen würde, dem Impuls nachzugeben. Als das Flugzeug in Logan landete, stand die Sonne noch hoch am Himmel. Chandler hatte schon von weitem gesehen, wie sich ihr warmer Vorfrühlingsglanz im glitzernden Turm des John- Hancock-Gebäudes spiegelte. Er fühlte sich auf eigentümliche Weise wiederbelebt, als hätte der kurze Flug wie ein Tonikum gewirkt, als reiche die Tatsache, dass er lebendig nach Boston zurückkehrte, schon aus, um seine Energien zu reaktivieren. Während er in seinen nur vom gröbsten Dreck befreiten Sachen auf das Taxi wartete, spürte er ein Zittern in den Knien und ein deutliches Nachlassen seiner Reflexe. Sein Gehirn gab dem Körper einfache Anweisungen, aber der Körper befand sich im Bummelstreik und reagierte verzögert. Es kam ihm so vor, als sei Polly seine Pflegerin. Die Wohnung in der Chestnut Street hatte sich nicht verändert. Neu war nur der knabenhaft hübsche junge Mann mit der gestylten Frisur, der am Küchentisch saß und an seinem dampfenden Tee schnüffelte. »Hallo, Darling«, sagte er und winkte mit der Hand. »Bin ich froh, dass du nicht tot bist oder sonst was. Ich bin erkältet und inhaliere gerade Jasmintee. Das ist ein Segen für die Schleimhäute.« »Peter –« »Sie müssen der Professor sein. Ich bin Peter Shane: Nachbar,, Vertrauter, Mädchen für alles, treuer Freund von Ezzard Charles, dem Kater.« Ezzard sprang auf den Tisch, und Peter schob ihm ein Schälchen Milch hin. »Du hast ja hier ganz schön gehaust, bevor du gegangen bist, Polly. Alle Achtung!« »Mein lieber Peter, wovon sprichst du überhaupt?« Sie warf ihren Mantel über die Stuhllehne. »Der Tee riecht gut. Möchtest du auch eine Tasse, Colin? Colin – dich meine ich …« »Oh. Ja, gern. Ich glaube, ich setze mich erst mal.« »Gute Idee, alter Junge.« Peter schob ihm einen Stuhl hin. »Sie sehen aus, als würden Sie den brauchen.« Dankbar sank Chandler darauf nieder. Polly machte sich an der Arbeitstheke zu schaffen. Sie stellte Tassen und Untertassen bereit und bestückte den Aufsatz des Toasters mit Muffins. »Was meintest du mit ›gehaust‹, Peter?« »Mein Gott, wie das hier ausgesehen hat! Verheerend! Ezzard hat oben auf der Tür gesessen und ganz irr geschaut.« »Sieht ihm ähnlich«, warf sie leichthin ein, »Ezzards irrer Blick. Aber wir haben das Haus besenrein hinterlassen.« »Unsere Verfolger«, murmelte Chandler. »Jedenfalls habe ich hier aufgeräumt«, erklärte Peter und inhalierte lustvoll, bevor er einen Schluck trank. »Ich hasse es, wenn meine Nase verstopft ist.« »Irgendwann revanchiere ich mich«, versprach sie. »Ich bitte dich, Polly! Bei mir wird es nie so aussehen.« »Steht noch was über uns in der Zeitung?«, fragte Chandler. Polly stellte einen heißen gebutterten Muffin und eine Tasse Tee vor ihn hin. »Wissen Sie, das ist komisch.« Er knabberte an seinem Daumen. »Man liest schon seit Tagen kein Wort mehr über Sie beide. Ich habe alle Zeitungen zusammengetragen und alle gründlich gelesen – aber nicht ein einziges Wort, von einem Tag zum andern. Klar, Ruhm ist vergänglich. Doch auf so unheimliche Art? Es ist, als wäre nie über Sie geschrieben worden. Als hätte es die Morde an Davis und dem alten Mann, nie gegeben.« Er sah sie über den Tassenrand hinweg an, während Ezzard mit seinem irren Blick auf Chandlers Muffin zukroch. »Ich verstehe das nicht«, sagte Chandler. »Was mich aber durchaus nicht überrascht.« »Jemand hat den Hahn zugedreht«, meinte Polly, »und zwar fest.« »Das Fernsehen hat auch nichts mehr über Sie beide gebracht. Ich habe bei deiner Station angerufen. Die sagten, du wärst mit einem Sonderauftrag unterwegs – so ein Blödsinn!« Nach einem Nickerchen duschte Chandler und zog sich an. Er hörte Polly in der Badewanne »Let’s put out the lights and go to sleep« singen. Er blieb ein Weilchen in der offenen Tür stehen und sah zu, wie sie ihre Brüste einseifte und dann aus dem Schaum an ihren Händen Seifenblasen in die Luft pustete. Am späten Nachmittag quetschten sie sich in den Jaguar und fuhren nach Cambridge. Zögernd näherten sie sich seinem Haus. In der Geborgenheit des Wagens wirkte alles normal, aber wenn er das Haus bloß ansah, kam seine Angst und alles, was er dort durchgemacht hatte, wieder an die Oberfläche. Von der Veranda aus lugte er durch das Fenster. »Was, zum Teufel …« Er schloss die Tür auf. Das Chaos war beseitigt worden. Im Zimmer stand ein neuer Fernseher, die Möbel waren ordentlich gruppiert; jemand hatte den Staub von den Regalen gewischt und sie wieder säuberlich eingeräumt. In allen Zimmern roch es nach Möbelpolitur. Die Kaffeeflecke waren weg, die Küche sah aus wie neu. Und von George Washington war nicht ein einziges winziges Stäubchen übrig geblieben; auf seinem glänzend polierten Sockel prangte nun an Stelle der Büste ein üppiger Farn. »Meine Bude hat noch nie – ich wiederhole: noch nie – so gut ausgesehen. Aber bei meinem George Washington mussten die Heinzelmännchen passen. Manche Dinge sind eben nicht zu, ersetzen.« Der Gedanke verlieh ihm eine gewisse Zufriedenheit; denn wer immer sie sein mochten, sie waren nicht allmächtig. Polly lächelte. »Solche Aufgaben erledigen sie im Allgemeinen sehr gut – wie in diesem Fall.« »Das klingt ja, als wüsstest du Bescheid. Ist das so?« »In meinem Beruf kriegst du ein Gefühl für so was: Decknamen, neue Identität, totgeschwiegene Affären, Mord, Kidnapping und so weiter. Manche Leute verdienen damit ihren Lebensunterhalt. Aber ich kenne keine Namen …« Chandler bedachte sie mit einem forschenden Seitenblick. Er bohrte nicht mehr nach. Vielleicht wollte er es gar nicht so genau wissen. Nachdem sie das ganze Haus inspiziert hatten, das vom Keller bis zum Dachboden blitzte, riefen sie von seinem Arbeitszimmer aus verschiedene Krankenhäuser an. Beim vierten Anruf hatten sie Erfolg. Sozusagen. Denn Hugh Brennan war dort Patient. »Bitte stellen Sie mich zu seinem Zimmer durch«, sagte Chandler und dankte Gott. »Tut mir leid, Sir, das geht nicht.« »Warum? Ist er zu krank, oder ist das Telefon kaputt?« »Ich darf über seinen Zustand keine Auskunft geben, Sir.« »Na gut. Kann ich ihn besuchen?« »Nein, tut mir leid.« Chandler wurde wütend. »Ist er tot oder lebendig?« »Tut mir leid, ich darf nichts sagen.« »Warum haben Sie mir dann gesagt, dass er Patient ist?« Pause. Schließlich flüsterte das Mädchen: »Ich bin Lernschwester, und ich bin nur ans Telefon gegangen, weil sonst niemand auf Station ist. Ich hätte Ihnen nicht mal sagen dürfen, dass er hier ist. Wir haben strenge Anweisungen, und wenn Sie mich verraten, kriege ich furchtbaren Ärger, verstehen Sie? Also bitte …« »Alles klar«, seufzte er. »Alles klar.«, Er legte auf. »Polly, die haben sich Brennan geschnappt. Er ist kein Patient, sondern Gefangener. Er wird abgeschirmt.« Sie nickte. »Überrascht mich nicht. Wenn sie was machen, dann gründlich.« Unter Prassers Privatnummer meldete sich niemand. »Mein Gott, vielleicht ist er tot. Oben in Maine.« Chandler hatte darauf gezählt, Prasser zu erreichen. Bisher konnte er die Möglichkeit, dass er umgebracht worden war, noch weitgehend ausklammern. Nun war die Befürchtung keine reine Hypothese mehr. Am späten Nachmittag gingen sie zu Fuß zu Sage’s in der Brattle Street, um Lebensmittel einzukaufen. Als sie zurückkamen, nahm Chandler in der dämmerigen Küche ihr zartes Gesicht in seine Hände, sah ihr in die Augen und sagte: »Bleib bei mir.« »Natürlich«, erwiderte sie. Er küsste sie und drückte sie fest an sich. »Das macht mir mehr Angst als alles andere«, flüsterte er. »Alles ist so verdammt steril. Aber wir wissen, was passiert ist – wie können sie es so darstellen, als sei nichts gewesen? Wo sind all die rechtschaffenen Leute hingekommen?« »Vielleicht ist die Rasse ausgestorben«, meinte sie. Später, im Bett, hielt er sie in den Armen, starrte ins Licht der Straßenlampen und sagte: »Ich liebe dich über alles.« »Ich mag«, korrigierte sie, »das reicht für heute, Professor.« Doch er träumte nicht von der Liebe, sondern von Prosser und Brennan, und beide waren tot. Da wurde ihm langsam klar, dass auch er gestorben war.,FREITAG
Nach einem Blick auf die Uhr sprang er aus dem Bett, voller Panik wegen seiner Träume und der späten Stunde: Zur Zehn- Uhr-Vorlesung würde er es nicht mehr schaffen. Doch als er richtig wach wurde, erkannte er, dass seine Welt nicht mehr die gleiche war. Polly Bishop schlief in seinem Bett, und keiner erwartete von ihm, dass er eine Vorlesung hielt. Er war vermisst und vergessen – zumindest im Moment. Ob die Studenten immer noch zu seinen Vorlesungsterminen kamen, um zu erfahren, ob er wieder aufgetaucht war? Oder hatten sie für ihn schon Ersatz gefunden? »Was machst du?« Polly beschirmte ihre Augen vor der Morgensonne, die auf das Kissen schien und ihn vermutlich geweckt hatte. »Warum starrst du so ins Leere?« »Ich habe um zehn Vorlesung. Ich gehe hin.« Und schon zog er die Schlafanzugjacke aus und griff nach einem seiner zehn blauen Baumwollhemden mit geknöpftem Kragen. »Ich muss herausfinden, was gespielt wird.« »Gute Idee.« Sie schlug die Bettdecke zurück und stand gleich darauf nackt neben ihm. »Ich komme mit.« »Als Reporterin?« »Weiß ich noch nicht. Vielleicht.« Sie brauchten genau fünf Minuten bis zur Universität. Im überfüllten Hörsaal befanden sich an die zweihundert Studenten – seine größte Gruppe, die drei ineinander greifende Kurse vereinte und einmal pro Woche zusammenkam. Das Podium im Mittelpunkt des Amphitheaters war noch unbesetzt. In etwa zwei Minuten würden die Studenten langsam wieder aufstehen und gehen, aber die Unruhe war nicht größer als sonst: lautes Stimmengewirr, gereckte Hälse, um sich über die schrägen Sitzreihen hinweg besser verständlich zu machen, Nachzügler, die schwungvoll die steilen Aufgänge hinunter eilten. Chandler, und Polly saßen weit hinten, am Ende einer Reihe von Studenten, die nicht zu seiner eigenen kleinen Gruppe gehörten. Im allerletzten Moment betrat der Dozent den Raum: der ehrenwerte Leiter der geschichtswissenschaftlichen Fakultät Bert Prosser. Er trug einen rotbraunen Tweedanzug mit roter Krawatte, dazu klobige rote Stiefel, und als er auf das Podium zuging, klopfte er mit dem Kopf seiner polierten Bruyerepfeife rhythmisch auf seine Handfläche. Er legte die Pfeife weg, hängte sich das winzige Mikrofon um den dürren Hals und räusperte sich. Bevor er anfing zu sprechen (ohne Notizen, wie üblich), steckte er die zu Fäusten geballten Hände in die Jackentaschen, um das leichte Zittern zu verbergen, das Chandler in den letzten Jahren bei ihm bemerkt hatte. Polly drückte Colins Arm. »Ich weiß«, begann Prosser, der seine Zuhörer allein durch seine Stimme zum Schweigen brachte, »dass mein Kollege Professor Chandler, der übrigens am kommen Montag wieder hier sein wird –«, er hob seine rosige Hand, um das Stimmengewirr zu unterdrücken: »Keine Jubelschreie, bitte. Ich weiß, dass er vielen von Ihnen seine bekannten und beachtenswerten Theorien über den Aspekt der Spionage während der amerikanischen Revolutionskriege nahe gebracht hat. Aber da ich heute seinen Platz einnehme, dachte ich, ich könnte Sie an den vagen Gedanken eines alten Mannes zu diesem Thema teilhaben lassen. Ich kenne mich aus mit Spionage und Heldentum. Doch wenn ich den Legenden gerecht werden müsste, die hier über mich kursieren, müsste man mich irgendwo zwischen Edgar Hoover, Allen Dulles und Scarlet Pimpernel einordnen, der übrigens kein Comic-Held ist, der sich in einem Cadillac durch Bostons Kampfzone bewegt … Die Wahrheit sieht natürlich ganz anders aus; ich werde heute nur kurz darauf eingehen …« Er machte eine Pause. »Auch ich glaube an große Männer, wie Professor Chandler.«, Sein Blick glitt ausdruckslos über die Menge. »Falls Sie das nicht tun, so sind Sie ignorant und zynisch. Die Revolution hat auf unserer Seite einige unbestreitbar große Männer hervorgebracht – nicht nur, weil sie auf der Siegerseite standen, sondern weil sie ungeheuer engagiert und risikobereit waren … Es bietet sich natürlich an, sie mit Ho Chi Minh oder Mao zu vergleichen, und sicherlich ist das kein Verbrechen, doch ich muss sagen, dass unsere Revolution ein weitaus beeindruckenderes Beispiel für großartige Männer und großartige Prinzipien liefert. Ich bin sicher, Professor Chandler hat Ihnen bereits erklärt, dass unsere Revolution sich eben durch solche Männer heraushebt, selbst wenn Treuebruch und Verrat – wie die eine oder andere Seite es nennt – in dieser Zeit eine große Rolle gespielt haben … Was kann ich nun Chandlers These über diese großen Männer, die er so vehement vertritt, hinzufügen? Nur eines: Schenken Sie ihm Glauben!« Während Prosser in dieser Manier fortfuhr, schweiften Chandlers Gedanken ab, doch er kam zu keinem Ergebnis. Prosser wiederholte seine oft vertretene Ansicht, wir lebten in einem Zeitalter moralischer Pygmäen … moralischer Klone; das Schicksal unseres Planeten sei weitgehend den Technikern und ihren diversen Gerätschaften überlassen worden, wodurch dem modernen Menschen die Begegnung mit menschlicher Größe versagt bliebe. »Eine Maschine«, erklärte Prosser, »sei es nun ein Computer oder ein winziges verstecktes Mikrofon oder eine wärmeorientierte Rakete: eine Maschine kann ihre vorgegebenen Grenzen nicht überschreiten. Doch Grenzen zu überschreiten ist die Essenz jeder Art von Größe … Ich fürchte, menschliche Größe gehört der Vergangenheit an … Adlai Stevenson hat es einmal auf den Punkt gebracht, als er zu mir sagte: ›Unsere Viktorianischen Vorfahren hat eine, niedrige Gesinnung verlegen gemacht. Wir haben dieses Gefühl, wenn uns das Noble begegnete.‹« Er seufzte und nestelte an seinem Mikrofon. »Ich erwarte nicht, dass Sie verstehen, wovon ich rede … Warum auch? Was können Sie von Größe wissen? Wir haben es mit einer seltsamen Konstellation zu tun, mit der Sie aufgewachsen sind: die Teilung der Welt in ›wir‹ und ›die‹ … Und wenn man es recht betrachtet, gibt es da kaum mehr einen nennenswerten Unterschied …« Er verließ das Podium ohne ein weiteres Wort. Polly zog ihren Schal fester und sah zu Chandler auf. Strahlender Sonnenschein tauchte den Yard in Leben spendendes kaltes Licht. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, die der frische Wind durcheinander gebracht hatte. »Wir stehen jetzt auf den gleichen Stufen«, sagte er. »Hier hast mir dein verdammtes Mikrofon vors Gesicht gehalten, als wir herauskamen. Und bevor ich bis drei zählen konnte, habe ich schon bis zum Hals in der Sache gesteckt.« Er betrachtete das Kommen und Gehen der Studenten. »Ja, inzwischen bin ich älter und weiser geworden.« »Colin, was, zum Kuckuck, hatte Prosser dort zu suchen? Was war das überhaupt für eine Vorlesung?« »Er hat drauflos schwadroniert, wie es seine Art ist. Nach dem Motto, berühmter Mann spricht mit Jungen und Mädchen. Er hat mich nur vertreten …« »Es klang wie eine Abschiedsrede«, meinte sie. »Vielleicht war er in der Stimmung.« »Sehr seltsam. Hier ist er, Colin.« Bert Prosser trat mit der Pfeife im Mund durch die Tür. Auf der obersten Stufe blieb er stehen und lächelte ihnen zu, dann presste er den Tabak mit seinem Mr. Pickwick in den Pfeifenkopf. »Ach, Sie beide. Ich bin so froh, Sie zu sehen.« Er kam die Stufen herunter, proper und klapperdürr in seinem Einreiher mit dem Samtkragen. »Meine Liebe«, sagte er zu, Polly, »ich habe mir in den letzen Tagen große Sorgen um Sie gemacht.« Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Sie schulden uns eine Erklärung. Wir hatten riesiges Glück, dass wir überhaupt noch am Leben sind.« »Aha.« Er nickte. »Da hat sie Recht – stimmt’s, Colin?« »Stimmt.« »Wo sind die Aquila-Papiere?« fragte sie. Colin spürte ihre Energie und ihren Zorn. Prosser sah auf die Uhr. »Haben Sie Zeit für ein spätes Mittagessen im Harvard Club? Dort werden Sie alles erfahren, das verspreche ich. Aber vorher habe ich noch einen Termin.« »Hier wird ganz intensiv etwas vertuscht«, sagte Polly. »Geduld, meine Liebe.« Prosser sog an der Pfeife und setzte ein kühles Lächeln auf. »Was ist mit Hugh Brennan?«, wollte Chandler wissen. Prosser lächelte geheimnisvoll. »Sagen wir halb zwei?« Er nickte ihnen zu und ließ sie im kalten Sonnenlicht stehen. Vor dem Fenster des Harvard Club zeigten sich auf dem Grasstreifen, der die Tremont Street teilte, gerade die ersten grünen Halme. Ein Mann und eine Frau knieten dort neben einer altmodischen Aktentasche und hoben ein winziges schwarzes Kätzchen heraus. Dann stand die Frau lächelnd da, die Hände auf die Hüften gestützt, während der Mann das Kätzchen ins Gras setzte. Es machte ein paar vorsichtige Schritte und hob den Kopf, als erwarte es Beifall. Chandler sah wieder weg vom Fenster und der Szene, die ihn an irgendetwas erinnerte, das vor langer Zeit geschehen war, und ließ seinen Blick auf Prosser ruhen. Obwohl dessen Gesicht wieder eine rosige Farbe angenommen hatte, wirkte es noch genauso eingefallen und kränklich wie in Maine. Nach dem Essen trank er seinen Sherry, der braun und durchsichtig aus dem Glas rann. Der kleine Mr. Pickwick aus Messing stand, neben dem Aschenbecher, in dem die frisch gestopfte glänzende Dunhill-Pfeife lag. Ein Tabaksbeutel aus Leder vervollständigte das Stillleben. Vom Fenster her drang ein kalter Luftzug ins Zimmer. »Nun«, sagte Prosser leise, »das nenne ich ein gepflegtes Mittagessen. Und ich weiß Ihre Geduld zu schätzen, Miss Bishop. Sie haben mir von Ihrem Ausflug nach Kap Breton erzählt, und mir scheint, Sie nehmen all die kleinen Unannehmlichkeiten ziemlich gelassen hin …« »Nicht mehr länger«, erwiderte sie. »Vergessen Sie nicht, dass ich Reporterin bin. Mein professioneller Instinkt lässt nicht locker. Ich habe Sachen erlebt, mit denen man ins Fernsehen kommt.« »Unterschätzen Sie mich nicht«, sagte Prosser mit feinem Lächeln. »Ihr Beruf und Ihr Instinkt haben mich in letzter Zeit sehr beschäftigt. Wenn Sie gestatten, möchte ich gern einige Ihrer Fragen vorwegnehmen. Ist das in Ordnung so, Colin? Nun, die Aquila-Papiere sollen in Harvards Archiven verwahrt werden, wo sie zusammen mit einigen Tausend anderer Dokumente weitere zweihundert Jahre verstauben können … Das Porträt bekommen Sie, Colin; es ist ja ein Chandler … So. Dann fangen wir mit dem Stronghold-Debakel an, dem Sie nur um Haaresbreite entronnen sind. Ja, ich weiß alles darüber – die Anzahl der Toten, den Ablauf … Sie sind zwischen die Fronten von CIA und KGB geraten – kein Wunder, dass Sie überlebt haben – bei diesen Schwachköpfen!« »Wie können Sie so sicher sein?« unterbrach Chandler. »Und woher –« »Bitte, Colin. Es ist leichter, wenn ich einfach erzähle, was gespielt wurde. So bizarr Ihnen die ganze Affäre auch vorkommen mag – die Wahrheit übertrifft alles. Sie würden einfach die falschen Fragen stellen, verstehen Sie? Denken Sie zurück an die Nacht in meinem Haus in Maine. Bevor dieser Idiot dort aufgetaucht ist, wollte ich Sie beide in Stronghold auf, Eis legen. Sie sollten sich ein paar Tage ausruhen, während ich die Aquila-Papiere prüfen wollte. Danach hätte Kendrick Sie wieder abgeholt. Ein einfacher, logischer Plan. Mir tut nur leid, dass ich Sie mit dem Packen Zeitungspapier ein bisschen hinters Licht führen musste. Sie hätten bestimmt nicht verstanden, warum ich die Dokumente bei mir behalten wollte, obwohl mein Haus von einer Mörderbande belagert wurde.« »Ich versteh’s immer noch nicht«, gab Chandler zu. »Ihr Haus wurde doch belagert, und wenn man Sie umgebracht hätte, wären die Papiere in die falschen Hände geraten.« »Sieht so aus. Aber manchmal trügt der Schein. Ich wusste nämlich, wer vor meinem Haus stand, und ich hatte keinen Grund zur Angst … eher umgekehrt: Er hatte allen Grund, sich vor mir zu fürchten, denn ich war sein Auftraggeber.« Prosser genoss diesen Moment. Er zündete seine Pfeife an und beobachtete seine beiden Gäste durch die Rauchwolken. »Aber ich dachte, er gehörte zu den Gangstern, die uns verfolgt haben«, sagte Polly. »Genau, meine Liebe: Er war ein Gangster. Der mit dem Pepitahut. Ein berufsmäßiger Killer.« »Wieso waren Sie dann sein Auftraggeber?« Chandler schüttelte ungläubig den Kopf. »Er ist von einem KGB-Agenten engagiert worden, und zwar von mir … Ich bin seit Jahren im Geschäft.« Er paffte ruhig vor sich hin. »Das klingt viel dramatischer, als es ist, doch dazu komme ich später. Die beiden Vollidioten, die bei Ihnen zu Hause aufgekreuzt sind und den ganzen Zirkus ausgelöst haben, waren von mir beauftragt. Sie haben ihre Grenzen schon von Anfang an überschritten, als sie den jungen Davis und Nat Underhill ermordeten. Mit der Qualität dieser Leute geht es erschreckend bergab. Als Nächstes sind sie in ihrer groben Art über Sie hergefallen, und Sie haben’s ihnen ordentlich gegeben … Außerdem hatten sie auch bei der Suche nach den Dokumenten kein Glück, was das Ganze noch mehr zur, Lachnummer machte. Sie, Colin, waren untergetaucht. Also standen wir da: ohne Dokumente, ohne Professor Chandler – unsere einzige Spur.« Prosser lehnte sich vor und tätschelte Chandlers Arm. »Kopf hoch, alter Junge! Sie leben, Ihnen geht’s gut, und wenn Oz und Thorny nicht gewesen wären, dann hätten Sie jetzt nicht so eine wunderbare neue Freundin. Es zahlt sich aus, immer das Positive zu sehen, glauben Sie mir. Nun, anschließend nehmen sich die beiden Versager Professor Brennan vor … und er macht einen von ihnen fertig. Ein Hoch auf Brennan!« »Sie sind total verrückt«, bemerkte Polly nüchtern. »Oh, es kommt noch dicker«, versprach Prosser in sanftem und freundlichem Ton. »Zur gleichen Zeit, als die beiden vom KGB angeheuerten Leute nach Ihnen und dem Dokument fahnden und dabei jeden niedermachen, der ihnen in den Weg kommt, tritt die CIA auf den Plan. Aber wie üblich ist der Verein nicht auf dem Laufenden: Sie wissen nur, dass der KGB im Bostoner Bereich aktiv ist, und schicken zwei ihrer Leute von Washington herüber.« »Fennerty und McGonigle!« sagte Polly. »Sehr gut, Fennerty und McGonigle. Gute Leute, aber Leute, die für den Außendienst überhaupt nicht geeignet sind. Schließlich ist das hier in Boston keine große Sache. Sie wissen nichts von einem Dokument, kennen keine Namen außer denen der beiden KGB-Männer. Als sie ihnen folgen, stellen sie fest, dass sie aus irgendeinem Grund Menschen umbringen und hinter Colin Chandler her sind. Also interessieren sie sich auch für ihn … Die Auswirkungen kennen Sie.« »Woher wissen Sie das alles?« Chandler zählte zwei und zwei zusammen. Zwar hörte er Prassers Geschichte, aber er wurde nicht ganz schlau daraus. »Wieso wissen Sie auch Bescheid über die CIA?« »Weil mir auch Fennerty und McGonigle unterstanden haben. Dort mische ich nämlich auch mit. Ich dachte, das wäre klar.«, Er schnippte die Asche weg und blies neue Rauchwolken in die Luft. »Ich werde von beiden Seiten pro Einsatz bezahlt. Für den KGB bin ich CANTAB, für die CIA CRUSTACEAN … Und so habe ich mein Einkommen verdoppelt, als ich der CIA meldete, dass auch das KGB in Aktion getreten ist. Es war die Habgier. Aber wie sonst hätte ich den Rolls-Royce halten können, die Hausangestellten, das Haus? Ich habe nie damit gerechnet, dass so viel Gewalt angewendet würde und der Einsatz so viele Probleme mit sich bringt. Ich dachte, wir würden dem kleinen Studenten das Päckchen abnehmen, die andere Seite ein paar Tage in die Irre führen, das Geld einkassieren. Deshalb hatte ich Fennerty und MacGonigle angefordert – keine Helden, eher Veteranen … Doch plötzlich wurde alles so schwierig: Das Päckchen war weder bei dem Jungen noch bei Underhill, und dann tauchte Ihr Name auf, Colin. Alles geriet außer Kontrolle; ich wusste nicht mehr, was eigentlich gespielt wurde, und hatte Mühe, alles auf die Reihe zu kriegen … Wo waren wir? Ja, bei der Nacht in Maine …« »Was ist passiert, als wir weg waren?«, wollte Polly wissen. »Ich habe den Mann im Pepitahut erschossen. Exekutiert. Es musste sein. Moskau wusste, dass es so kommen würde. Der Mann war völlig durchgeknallt …« »Gut«, sagte Chandler, der allmählich durchblickte, »das mag ja alles stimmen. Aber wenn Sie uns zu unserer Sicherheit auf Stronghold versteckt haben, warum ist dann neulich Nacht Hinz und Kunz dort aufgetaucht?« »Das Problem ist, dass ich dem Ganzen schlicht und einfach nicht mehr gewachsen bin. Für mich wird’s Zeit aufzuhören, mein Bündel zu schnüren und mich in die Sonne zu legen. Ich bin berechenbar geworden, verstehen Sie? Mir tut das in der Seele weh, doch die Tatsache starrt mir förmlich in die Augen … Zwei Herren – einer davon Chef der CIA und der andere sein Gegenspieler in Moskau – haben die Lage gepeilt und sind zum, gleichen Ergebnis gelangt: Stronghold. Ein alter Hund nimmt immer Zuflucht zu den gleichen Tricks, und sie lagen richtig … Und deshalb wurde auf meiner kleinen Insel der dritte Weltkrieg geprobt …« Sein Gesicht fiel in sich zusammen, er sah traurig aus und vergrämt. »Und so viele junge Männer mussten sterben, auch wenn sie Dummköpfe waren … Von Anfang an ist alles schief gelaufen, und ich bin dafür verantwortlich. Ich hätte verhindern können, dass alles so ausartet …« Er sog an der kalten Pfeife und bedachte sie mit einem traurigen, enttäuschten Blick. Das Paar auf dem Grasstreifen fing das Kätzchen wieder ein und verstaute es in der Aktentasche. »Sie dürfen bestimmt in ihrer Wohnung keine Tiere halten«, bemerkte Polly. »Sie müssen das Kätzchen raus und rein schmuggeln, das hab ich auch mal so gemacht … Sie sagen, Sie haben ungefähr dreißig Jahre lang für beide Seiten gearbeitet, ohne erwischt zu werden? Das ist eine sehr lange Zeit, Professor.« »Mein einziger Vorteil war die immense Größe der beiden Organisationen. Sie sind so aufgeblasen, dass ihre Leute zu langsam denken. Die haben keine Ahnung von unserem Gespräch, keine Ahnung von dem, was gespielt wird … Aber die Zeit wird knapp. Wie heißt es doch: Die Schweizer messen die Zeit, die Franzosen horten sie, die Italiener vergeuden sie, die Amerikaner sagen, sie ist Geld, und die Indianer, dass sie nicht existiert. Ich finde, die Zeit ist eine Betrügerin. Das hat jemand so ausgedrückt, den ich mal kannte. Er ist tot … Sicher ist es eine lange Zeit, Miss Bishop. Aber ich halte mich nicht für einen Superspion – ganz und gar nicht. Ich habe mich in einen dieser feigen Techniker verwandelt, über die ich heute früh in der Vorlesung sprach, ein habgieriger Funktionär, der keinen Blick hat für Moral oder für die Sache oder für Ideale. Ich habe alles für Geld getan; denn kurz nach dem Krieg sah ich, wie der Hase lief: Beide Seiten wurden austauschbar … und es spielte keine Rolle, welchem Herrn man diente – verstehen Sie? Vielleicht sind sie, mir schon lange auf die Schliche gekommen, vielleicht wissen sie, dass ich als Doppelagent arbeite, aber es ist ihnen egal. Vielleicht betrachten sie’s als meine Pension … Wir wissen, dass die andere Seite weiß, und damit sind wir wie Kurzwarenverkäufer, alles eine Branche. Wir verstehen eben unser Geschäft, das ist es. Alles ist nur ein Spiel; das ist so und war so, zumindest seit ich dabei bin …« Er machte eine Pause und seufzte unter dem Gewicht seiner Erinnerungen. »Nein, das nehme ich zurück: Es war kein Spiel, als sie mich während des Krieges mit dem Fallschirm in Griechenland und Jugoslawien abgesetzt haben. Damals ging es um Prinzipien; mit Demokratie hatte das wenig zu tun. Aber ich war gegen die Nazis, wie die Partisanen auch, und alle waren sie Kommunisten. Doch das ist lange her, und es ist obendrein nicht wie geplant gelaufen. Danach immer die gleiche Leier … Was hätten sie dann davon, wenn sie mich ins Gefängnis stecken würden? Oder umbringen? Rein gar nichts … Zu gewissen Zeiten war ich ein sehr hilfreicher Vermittler, beinahe ein diplomatischer Unterhändler. Würde mir etwas zustoßen, gäbe es nur übereilte Vergeltungsaktionen. Sinnlos. Ich bin also meinen Geschäften nachgegangen und war beiden Seiten nützlich. Deshalb bin ich und war ich völlig ungefährdet. Entweder sie wissen nichts, oder es ist ihnen gleich. Ich bin eine Institution, die sich beide leisten können.« »Aber Sie haben’s mir erzählt«, wandte Polly ein. »Was, wenn ich den Leuten die Geschichte präsentiere?« »Kommen Sie, meine Liebe, Sie sind nicht bei der Sache. Als realistische Frau wissen Sie, welchen Druck Ihre Regierung mehr oder weniger diskret ausüben kann, wenn sie wirklich geärgert oder bloßgestellt wird – oder beides. Was hätten Sie damit erreicht? Nichts, offen gesagt … Die weltweite Entspannung wäre einen Augenblick gestört, die Leute würden die Achseln zucken, weil sie nach Watergate auf alles gefasst sind, der junge Davis und Nat Underhill wären immer noch tot, und die Männer, die sie auf dem Gewissen haben, leben auch, nicht mehr.« Er lächelte sie mitfühlend an. »Das ergibt keine Story, Miss Bishop. Den Leuten wäre es egal, selbst wenn sie Ihnen glauben würden, und ich könnte eine überaus glaubwürdige Erklärung abgeben, in der ich meine Verdienste um unser Land aufführte. Etliche hohe Tiere in der Regierung würden für mich in die Bresche springen …« »Aber wie, zum Teufel, können Sie damit leben?« »Colin, Sie haben nicht zugehört: Ich bin keiner von Ihren großen Männern, sondern nur ein Mensch, genau wie alle, mit denen ich je zusammengearbeitet habe. Sie versuchen, uns Ihrem hohen Standard anzugleichen, doch leider leben wir in einer anderen Zeit. Geben Sie’s auf, Colin. Bleiben Sie bei der Geschichte, wo Sie hingehören.« »Ich habe eine Frage«, sagte Polly, die, wie es schien, gute Miene zum Spiel machte, als habe sie die Realität der Stunde akzeptiert. »Warum haben Sie nicht das ganze Theater verhindert und die Dokumente dem KGB übergeben? Das hätte Sie nicht im Geringsten kompromittiert, und Sie wären trotzdem von beiden Seiten bezahlt worden. In erster Linie waren Sie in dem Fall ja dem KGB verpflichtet. Warum haben Sie es sich selbst und allen Beteiligten so schwer gemacht?« Prosser nahm ein neues Streichholz und steckte seine Pfeife an. Dann lehnte er sich zurück. Die untergehende Sonne warf lange Schatten in die Bucht. Auf der Commonwealth rollte zäh der Verkehr. Chandler hatte Kopfschmerzen. »Meine erste Verpflichtung«, sagte er langsam, während er mit den Knöcheln über seinen weißen Schnurrbart strich, »meine erste Verpflichtung hat sich in jener Nacht in Maine verschoben, als ich sah, worum es in den Dokumenten wirklich ging. Es ging nicht um langweilige Zahlen über Produktionseinheiten oder Truppenstärken oder darum, wie empfänglich ein Kongressabgeordneter für den Vorschlag wäre, seine Stimme zu verkaufen. Nein, es ging um etwas, das ich im Lauf der Jahre fast vergessen hatte., Sie werden sich darüber freuen, Colin: Ich dachte an die Geschichte und an die großen Männer, die sie gelebt haben. Geschichte: die einzige Spur des Weges, den ein Mensch gegangen ist, alles, das wir besitzen – das einzig wirkliche Erbe unserer Vorfahren. Schon, als ich die Dokumente nur oberflächlich studierte, habe ich mir ein Urteil gebildet. Und gegen dieses Urteil wog ich die Käuflichkeit meiner Auftraggeber auf und überlegte, was diese Charakterzwerge mit den Papieren anfangen würden … Ich sah bereits, wie sie den Inhalt verfälschten und zurecht schneiderten und Leuten in die Hände spielten, die sich nicht mal im Traum vorstellen konnten, welche innere Stärke George Washington und seine Männer brauchten, um den Winter zu überleben; nicht nur zu überleben, sondern am Ende auch zu siegen.« Er setzte sich rasch auf und klopfte auf den Tisch. »Bei Gott – jeder Mensch hat seine Grenzen, und ich habe meine erreicht. Es hat mir nie was ausgemacht, unsere Gegenwart zu manipulieren, aber in der Zeit der Giganten herumstochern, Dinge von damals verändern? Das geht verdammt zu weit. Ich sage Ihnen, mein Blut ist richtig in Wallung geraten! Sollte der KGB die Dokumente kriegen, um sich einen billigen Scherz zu erlauben? Niemals! Nur über meine Leiche … und ich sage Ihnen, in der ganzen langen Zeit habe ich nichts gefunden, für das sich das Sterben lohnt …« »Was ist Ihr endgültiges Urteil über Davis’ Brief?«, fragte Chandler. »Erstens, der junge Mann fantasierte. Er hat in einer Leichenhalle gewohnt, seine Freunde sind gestorben, es gab buchstäblich nichts zu essen und fast keine Hoffnung mehr. Weiß Gott, was er wirklich gehört hat, als er halb erfroren da stand und vor Angst fast den Verstand verlor? Wir werden es nie erfahren. Und was hat er wirklich gesehen? Einen großen, stämmigen Mann, der ein Papier unterschrieb. Danach ein Schusswechsel, bei dem er sich in die Hose gemacht hat. Der, ohne Zweifel mutige Junge stand unter ungeheurem Stress. Und zweitens kennen wir all die schäbigen Machenschaften jener Zeit, die das Ziel hatten, Washington vom Sockel zu stürzen. Der Mann war ja für einen großen Teil der Bevölkerung wie ein Gott, sie hätten solche Widerwärtigkeiten für keinen anderen erduldet. Es gab viele Gerüchte, Unterstellungen, Anklagen, auch gefälschte Dokumente, um das wahre Gesicht des schrecklichen George Washington zu zeigen …« Prosser zuckte die Achseln. »Es ist eine Fälschung. George Washington hat das Stück Papier nie unterschrieben … Nat Underhill hätte es erkennen müssen, dann wäre alles nicht passiert. Aber für ihn sollte es echt sein. Ein Schlussstein seiner Karriere. Ich verstehe das …« Spät am Abend klingelte das Telefon in Chandlers Arbeitszimmer. Polly hatte gerade ihren Mantel angezogen, um nach Hause zu fahren. Winterliche Kälte lag in der Luft. Sie hatten Prassers Erklärungen mit einer Mischung aus Staunen und Resignation diskutiert und wussten nicht, ob sie über die absurde Nichtigkeit der ganzen Affäre lachen oder weinen sollten. Der Anruf unterbrach ihren Gutenachtkuss. »Was ist los, Colin, verdammt noch mal! Erst dachte ich, ich bin tot. Dann bin ich zwar am Leben, aber in Quarantäne. Ohne Fingernägel und mit einer Mordserkältung. Hast du schon mal probiert, mit verbundenen Händen ein Kleenex aus der Schachtel zu ziehen? Versuch’s erst gar nicht …« »Hugh!«, rief Chandler. »Der alte Prosser war gerade hier, Prosser höchstpersönlich! Er sagt, mit dir ist alles in Ordnung, und ich werde morgen entlassen. Ich dachte, ich hätte einen Herzanfall gehabt, aber man weiß ja nicht, wie so was ist. Auf jeden Fall hatte ich eine Muskelzerrung und …« »Morgen?« »Du schuldest mir einmal Abholen, altes Haus!«,SAMSTAG
Chandlers Telefon klingelte erneut am Samstagmorgen um sieben. Er fuhr hoch, als sei er mit Eiswasser überschüttet worden. Wo zum Teufel war Polly? Es gefiel ihm nicht mehr, allein zu schlafen. Stunden hatte er zum Einschlafen gebraucht, nachdem sie gegangen war. Er hatte sie überreden wollen, bei ihm zu bleiben: Sie sollte noch eine Kanne Kaffee aufbrühen in seinem wunderbar renovierten Haus, mit ihm am Küchentisch sitzen und über ihre Erlebnisse reden, aber sie wollte unbedingt gehen. Sie habe auch eine Wohnung, sei gern mal dort allein mit Ezzard, den sie vermisst habe. Er war klug genug gewesen, sie gehen zu lassen. Aber jetzt klingelte das Telefon, und er griff voller Hoffnung nach dem Hörer. Sie war es. Er freute sich wie ein kleiner Junge und sank lächelnd in die Kissen zurück. »Colin, mir ist beim Aufwachen etwas Schreckliches eingefallen: Wir haben Nora Thompson vergessen!« »Nora Thompson«, wiederholte er. »Mein Gott, die Arme ist noch im Parker House. Wahrscheinlich denkt sie, die Erde hat uns verschluckt!« »Jedenfalls müssen wir uns um sie kümmern.« »Sie hatte doch einen schönen Urlaub – alles frei, wenn du dich erinnerst.« »Holst du mich in einer Stunde ab? Ich muss für eine Dreiviertelstunde in die heiße Wanne. In meinem ganzen Leben war ich noch nicht so stocksteif, das merke ich erst jetzt.« »Mir geht’s genauso. Bis dann.« Der Morgen war klar, frisch und kalt. Als er an der Grünanlage von Cambridge vorbei fuhr, lag duftender Bodennebel über dem Rasen. Polly wartete auf dem Gehsteig und machte Atemübungen. Sie trug einen marineblauen Matrosenmantel, graue Hosen und Mokassins. Ihr Mund war, kühl und frisch, als er sie küsste. Beim Frühstück hörte die überraschte Nora Thompson eine sorgfältig redigierte Version der Geschichte und glaubte ihren Versicherungen, dass nun alles vorüber sei. Die Welt sei nun für sie wieder sicher und sie könne friedlich nach Hause gehen. »Ich wusste schon seit ein paar Tagen, was in dem Päckchen war«, erklärte sie. »Wie das?«, fragte Colin mit großen Augen. »Ein Professor aus Oxford hat mich zurückgerufen, einer von Mr. Underhills Liste. Er sagte, ein Belgier, der mit dem armen Mr. Underhill in Bukarest zu Abend gegessen hat, habe ihm von dem Dokument erzählt. Können Sie das fassen? Er erzählt mir alles über George Washingtons Unterschrift, und dass er für die Engländer spioniert hat. Ich frage ihn, ob er das glaubt, ob er’s für die Wahrheit hält. Er sagt ganz von oben herab: ›Ich hege keinen Zweifel, dass Ihr Mr. Underhill ein Dokument in Händen hatte, aber das Dokument ist Quatsch. Mumpitz! Er hätte es besser wissen müssen.‹ Sagt er wörtlich.« Polly warf Chandler einen Blick zu. »Das scheint die generelle Meinung zu sein. Professor Prosser, Colins Fakultätsvorstand, war mehr oder weniger der gleichen Ansicht.« »Stimmt. Er sagt, es sei alles Unsinn.« »Dann sind diese Menschen für nichts und wieder nichts gestorben«, schloss Nora Thompson wehmütig. Am Nachmittag holten sie Hugh vom Krankenhaus ab. Er sah ein wenig spitz und blass aus, was er darauf schob, dass das Essen schwierig sei, mit Verbänden wie dicke Fäustlinge an den Händen. Sonst war er in guter Stimmung, auch wenn er nicht genau wusste, was eigentlich passiert war. »Prosser hat gesagt, ich habe einen der Mistkerle umgebracht. Das ist mir eine Genugtuung. Er meinte, ich hätte wahrscheinlich keine Anklage zu erwarten. Und jetzt hört: Er, hat mir verraten, dass darüber spekuliert wird, ob die Zange und der kleine Asthmatiker russische Agenten waren. Jesus, was sagt man dazu! Toller Kerl, dieser Prosser. Verdammt gute Idee, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Und nun erzählen Sie mal, Miss Bishop – Polly, wenn ich Sie so nennen darf –, wie haben Sie’s geschafft, sich diesen Kerl hier so viele Tage vom Leib zu halten? Oder waren es Wochen? Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, wenn ich ehrlich sein soll.« »Hugh«, sagte Colin, als sie sich über die Massachusetts Avenue der Universität näherten. »Ja, mein Junge?« »Hugh, wir haben dir etwas zu erzählen.« »Was du nicht sagst …« Von Sonne und Kälte begleitet, schlenderten die drei durch das Gewirr der Straßen, die in den Harvard Square mündeten. Die Welt wirkte unberührt, ein bisschen wie neu geschaffen. Polly und Colin wechselten sich bei ihrem Bericht ab und ließen nichts aus. Am Fuß der Treppe zur Widener Library waren sie fertig. »Und das soll ich euch glauben?« Hugh hatte wieder Farbe im Gesicht und sah bereits ein wenig voller aus. »Kann man so was erfinden?«, fragte Polly. »Das ist ein Argument«, bestätigte Hugh, »Was sagst du, Colin?« »Es stimmt, so wahr mir Gott helfe.« »Dann ist also alles bloß ein Spielchen.« Er dachte über seine Behauptung nach und zuckte mit den Schultern. »Warum auch nicht? Immer noch besser, als zu glauben, dass hinter der ganzen Scheiße irgendein Sinn steckt … Wenn Prosser richtig liegt, erklärt das jedenfalls eine Menge. Unsere ganze Welt ist ja mehr oder weniger ein schlechter Scherz. Das passt dazu.« »Nur hart für die Leute, die sterben müssen«, warf Polly ein. Sie hakte sich erst bei Colin, dann bei Hugh ein. »Auch hart für die Leute, denen man die Fingernägel, rausreißt.« »Das Schlimmste dabei ist«, sagte Chandler, »dass keiner wusste, dass es ein Spiel ist.« »Und was ist mit Washington?«, wollte Hugh wissen. »Der Junge damals in Valley Forge sagt, er hat ihn gesehen.« Colin antwortete: »Ich ziehe vor, zu glauben, dass er sich geirrt hat.« Polly fand, dass es für Hugh am besten wäre, bei Chandler zu wohnen, bis seine Hände wieder zu gebrauchen waren. Es ging nicht an, argumentierte sie, dass jemand die Folter der KGB- Gangster überlebte, nur um dann vor vollen Töpfen zu verhungern. Sie packten also in Hughs Wohnung alles Nötige zusammen und fuhren zu Colins Haus, wo sie ein Zimmer für den Gast vorbereiteten. Sie bestellten Pizza, und Chandler entkorkte eine Flasche Champagner. Sie tranken auf ihr Überleben, auf die heroischen Harvard-Professoren, auf Bert Prosser und seinen Rolls-Royce … »Und auf Polly Bishop«, erklärte Colin, stockte und erhob sein Glas. »Los, mach schon, Mann!«, rief Hugh. »Auf Polly Bishop, die ich von ganzem Herzen liebe.« Obwohl sie sich sehr bemühte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr eine Träne durch die langen dunklen Wimpern kullerte. Colin küsste sie weg. »Hört mal!«, meldete sich Hugh. »War da was an der Tür? Kommt etwa die Pizza schon?« Er spazierte in die Diele. Polly schniefte, während Colin sie liebevoll ansah und das Gefühl hatte, als wäre er im Märchen. »Was, zum Teufel, ist das?«, hörten sie Hugh aus der Diele. Dann knallte die Tür. Kurz darauf erschien er mit einer großen Pappkiste, die er mit dem Fuß über den Boden schob. »Keine Pizza, sondern das hier und ein Auto, das schnell weg gefahren, ist. Steht nicht so da! Ich bin noch nicht in der Lage, das Ding aufzumachen!« »Kein Absender«, sagte Polly. »Ich mach’s auf«, erklärte Colin. »Hört man was ticken?« Er riss die Klebstreifen ab und schlug den Deckel zurück. Langsam arbeiteten seine Hände sich durch die Holzwolle hindurch, bis er etwas Glattes und Kaltes zu fassen bekam, das er vorsichtig aus dem Karton zog, bis es ganz zu sehen war: cremig weiß, edel, perfekt. Sie waren so perplex, dass sie nur stumm da standen. Es war eine perfekte Kopie der Büste von George Washington.,EPILOG
,CAMBRIDGE
Als sein Herr die Treppe herunterkam, hielt Ogden den schwarzen Mantel mit dem Samtkragen in der Hand. Prosser trug Abendkleidung und war auf dem Weg zu einem formalen Abendessen im Club eines Freundes, eigentlich ein jährliches Treffen von alten Herren, die vor dem College die gleiche Privatschule besucht hatten. Ihm gefiel es, so viele Männer beisammen zu sehen, die außer ihrer damaligen Jugend wenig Gemeinsamkeiten hatten. Im Allgemeinen machte ihn der Abend selbstzufrieden – eine Stimmung, der er sich in der letzten Zeit nicht oft hingeben konnte. »Heute Abend fahre ich selber«, sagte er zu Ogden, während er in die schmalen Ärmel fuhr. »Ich weiß, Sir. Klassentreffen.« »Ist mit dem Rolls was nicht in Ordnung, Ogden?« »Im Gegenteil, Sir.« »Na gut. Ich habe Sie heute Nachmittag so eifrig daran basteln sehen, dass ich dachte, es gäbe ein Problem.« Ogden hatte ihm fast dreißig Jahre lang gedient – seit er sich einen guten Butler plus Kammerdiener plus Mädchen für alles leisten konnte. »Mir war nicht bewusst, dass Sie mich beobachtet haben, Sir. Ich habe den Wagen nur ein bisschen überprüft, um sicher zu sein, dass er gut läuft, wenn Sie heute Abend fahren. Lassen Sie mich noch Ihren Kragen abbürsten.« Mrs. Grasse tauchte am anderen Ende der Diele auf und sah zu ihnen hin. »Ach, Mrs. Grasse, würden Sie mir bitte noch ein paar Kekse hinstellen und eine Thermosflasche Kakao? Die Vollkornkekse.« »Ja, Professor, ich denke dran. Sie fahren wieder zum Klassentreffen? Sie sind ein Gewohnheitsmensch, Professor.« »Kann schon sein.« Er zog seine Handschuhe über, rückte den, weißen Seidenschal zurecht und strich über die Knopfleiste seines Mantels. »Also dann gute Nacht, und schönen Abend. Vielleicht gehen Sie ins Kino.« »Ich freue mich auf einen ruhigen Fernsehabend«, sagte Ogden. »Auf Wiedersehen, Professor.« In dem Moment, als die Tür hinter dem Professor ins Schloss fiel, drehte Ogden sich um und scheuchte die füllige Mrs. Grasse mit einer Handbewegung weg. »Schnell«, sagte er ungeduldig. »In den Keller! Nein, ich mache die Tür hinter mir zu.« Zehn Sekunden nachdem Prosser das Haus verlassen hatte, war die Diele leer, die Tür zum Keller fest verschlossen. Wieder einmal zahlte es sich aus, vorsichtig zu sein. Als der Rolls-Royce beim Drehen des Zündschlüssels mit einem gewaltigen Knall explodierte, gingen alle Fenster zu Bruch und füllten die Diele mit Glassplittern. Der vordere Teil der Garage war verschwunden.,FLORIDA
Der Nachmittagshimmel überspannte die sichtbare Welt wie die blaue innere Schale eines Rotkehlchen-Eis – ein glockenförmiger metaphysischer Deckel, unter dem alles für immer und ewig eitel Freude und Sonnenschein versprach. Vom Außenfeld wehte eine sanfte Brise herein, welche die Rufe der Spieler mit sich trug, während das träge Spiel in die sechste Runde ging. Die Pirates hatten eine Führung von sechs zu drei über die White Sox herausgespielt, aber sie schickten soeben einen unbedarften Neuling zur Abwurfstelle. »Es könnte noch ein gutes Spiel werden«, bemerkte Maxim Petrow. Er trug eine gelbe wasserdichte Windjacke, die er in Havanna erstanden hatte. Die Sonne brannte auf seinem Gesicht. »Der Werfer ist noch ein richtiger Grünschnabel, den können die White Sox vielleicht schlagen.« Er biss ein Stück von seinem mit Senf zugekleisterten heißen Würstchen herunter und leckte sich den Mund ab. »Baseball ist was für Mädchen«, sagte sein Freund. Er trank einen gewaltigen Schluck kaltes Bier und reichte den übertrieben großen Becher Petrow, der damit den Rest seines heißen Würstchens herunterspülte und sich gleich ein neues nahm. »Arden, was Ihnen fehlt, ist das Fingerspitzengefühl, um die unglaublichen Raffinessen des Spiels zu erkennen. Für Sie ist es langweilig, für mich ist es ein Feuerwerk von Konflikten. Ich liebe es, verflixt noch mal! Vielleicht sollte ich doch zu Ihnen überlaufen.« Arden Sanger zuckte zusammen. »Sagen Sie nicht so was. Nicht mal im Spaß.« »Na gut. Aber ich liebe Baseball.« Ein Schläger der White Sox raste an der rechten Seitenlinie entlang. Mehrere hundert Zuschauer klatschten halbherzig. Die meisten von ihnen waren, alt oder Invaliden oder beides. »Und halten Sie keine Reden über Fingerspitzengefühl«, gab Sanger mürrisch zurück. »Nicht, nachdem Sie die beiden Verrückten in Boston auf die Menschheit losgelassen haben.« »Aber ich habe sie gar nicht losgelassen, wie Sie sehr wohl wissen. Der Auftrag war so einfach: ein Jux, wie ich Ihnen schon sagte. Wir haben Prosser minderwertiges Material geschickt. Ich kann nicht für jeden Fehler die Verantwortung übernehmen …« Bei diesem Gedanken runzelte er die Stirn. »Dann hätte ich keine Zeit mehr für andere Dinge. Ich dachte, die beiden wären die Richtigen für die leichte Aufgabe … Ich habe mich getäuscht.« »Das können Sie laut sagen.« Sanger trank das Bier aus. »Sie müssen zugeben, es wäre eine Schande für Sie gewesen: der Vater Ihrer Nation ein Verräter.« Er lachte reumütig. Sanger brummte etwas. »Sie haben das Bier ausgetrunken«, sagte Petrow vorwurfsvoll. »Ich habe noch ein halbes Würstchen.« Mit einem Wink bestellte Sanger einen weiteren Becher. »Wenn man Ihrer Logik folgt«, dozierte Petrow, während ein anderer Schläger der White Sox punktete und damit auf vier zu sechs verkürzte, »dann müsste ich sagen, dass Sie eine ganze Landetruppe ausgelöscht haben und dazu einen teuren Fischkutter.« Er nahm das Bier in Empfang, Sanger zahlte. »Fischkutter«, wiederholte Sanger säuerlich. »Kann ich was dafür, wenn Ihre Leute nicht schießen können? Wir hatten auch Verluste.« »Sicher. Aber wir haben jeden Mann verloren.« Er schüttelte den Kopf und leckte sich den Schaum aus den Mundwinkeln. »Was für ein Pfusch …« Er setzte wieder den Becher an. »Sie wissen, dass Sie uns etwas schuldig sind. Wir haben darüber gesprochen. Einverstanden?«, »Wohl oder übel. Eine Hand wäscht die andere.« »Und wir? Was kriegen wir dafür?« »Sie haben es schon.« Sanger starrte geradeaus auf das Spielfeld. »Tatsächlich?« »Der Alte«, sagte Sanger. »Wir wollten unseren guten Willen zeigen.« »An den hatte ich nicht gedacht. Der Alte … Das kommt uns beiden zugute.« Einem Schläger der White Sox gelangen zwei rasche Treffer. Im Augenblick sah es so aus, als wäre der kleine Werfer aus dem Schneider. Beim nächsten Wurf glückte dem Schläger ein Home-Run. »Was habe ich gesagt?« Petrow wünschte, er würde um Mitternacht nicht nach Moskau zurückfliegen müssen. »Unentschieden.«]15
Similar documents

Tess Gerritsen In der Schwebe scanned 05-2006/V1.0 Emma Watson, medizinische Forscherin mit großen Ambitionen, will das Verhalten des menschlichen Organismus im Weltraum studieren. Aber auf ihrer Weltraumstation kommt es zu seltsamen Vorfällen: Emma entdeckt im All eine Kultur von Einzellern, die ih

Pauline Gedge Der fremde Pharao Herrscher der Zwei Länder 01 Inhaltsangabe Seit Ende der zwölften Dynastie, etwa 1800 vor Christus, werden die Ägypter von einer fremden Macht regiert, die sie Setius nennen. Deren Könige sorgen sich we- nig um das Wohl des Landes, plündern seinen Reichtum und vernach

Wenn uns etwas unumstößlich erscheint, so das Fortschreiten der Zeit, die Unum- kehrbarkeit von Vergangenheit und Zukunft. Ohne sie gäbe es kein Leben, keine Erfahrung, keine Wirklichkeitserkenntnis. Die Physik zeigt jedoch, daß durch die fundamentalen Naturgesetze für diese Phänomene keine Richtung

HARLIE – ein denkendes Wesen, das dem Denken von Wissenschaftlern und Technikern entsprang. HARLIE – ein künstlicher Organismus aus tausenden von Kilometern Leitungen und Schaltungen. HARLIE – ein neuartiger Computer, der selbständig denkt und einen eigenen Willen entfaltet, ein ICH. HARLIE – ein Be

Die Autorin Frances Fyfield (eigentlich Hegarty) wurde 1948 in Derbyshire geboren.. Seit 1976 arbeitet sie in London als Anwältin, speziell im Bereich des Straf- rechts. Darüber hinausist sie für die juristische Berichterstattung der Zeit- schrift ›Woman's Realm‹ zuständig. Frances Fyfield hat bishe

Tess Gerritsen Verrat in Paris s&p 05/2006 Ein atemberaubendes Verwirrspiel um eine internationale Spionageaffäre beginnt, als Beryl nach Paris kommt. Sie will Nachforschungen über den mysteriösen Tod ihrer Eltern anstellen, zwei Mitarbeiter des Geheimdienstes, die bei ungeklärten Umständen ums Lebe

BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 24 293 1. Auflage: November 2001 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Titel der amerikanischen Originalausgabe: Rocket Ship Galileo © 1947 by Robert A. Heinlein © für die deutschsprachige Ausgabe 2001 by Verl

BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 21211 Dieser Roman ist auf deutsch bereits unter folgendem Titel erschienen: ›Weltraummollusken erobern die Erde‹ © Copyright 1951 by Robert Heinlein © Copyright 1951 by World Editions, Inc. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1994 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe G

Taschenbücher von ROBERT A. HEINLEIN im BASTEI-LÜBBE-Programm: 24001 Sternenkrieger 24118 Das neue Buch Hiob 24124 Die Katze, die durch Wände geht 24163 Die Sternenbestie 24176 Die Tür in den Sommer 21211 Die Marionettenspieler Robert A. Heinlein Farnhams Oase Science Fiction Roman Ins Deutsche über

Clifford C. Russell – Kip nennen ihn seine Eltern und Freunde – hat seinen Schulabschluß bestanden. Seine große Sehnsucht ist es, Ingenieurwissenschaften zu studieren, um eines Tages einen der begehrten Jobs auf der Mondstation zu bekommen. Bei einem Wettbewerb gewinnt er einen ausran- gierten Rauma

IsidorHellerDER GOLEM eBOOK-Bibliothek Isidor Heller DER GOLEM Eine böhmisch-jüdische Sage (1842) eBOOK ebook-bibliothek.org BIBLIOTHEK littera scripta manet Isidor Heller (1816 – 1879) 1. Ausgabe, Juli 2006 © eBOOK-Bibliothek 2006 für diese Ausgabe Textbearbeitung nach: „Sonntags-Blätter für heimat

Das Buch Michael Harner ist einer der renommiertesten Experten im Bereich der Schamanenforschung und gehört zu den großen schamanischen Praktikern. Vor allem ihm ist es zu verdanken, daß der westlichen Welt der praktische Nutzen dieses uralten Heilsystems nahegebracht wurde. In seinem Grund- lagenbu

Harry Harrison Sternwelt Zu den Sternen Band 3 Heyne STERNWELT erschien ursprünglich als HEYNE-BUCH Nr. 06/3912 Titel der amerikanischen Originalausgabe STARWORLD Deutsche Übersetzung: Thomas Schlück Copyright © 1980 by Harry Harrison; mit freundlicher Genehmigung des Autors und seiner Agentur E. J.

Ann Granger IN DUNKLER TIEFE SOLLST DU RUHN ROMAN Inhalt Tammy Franklin ist erst zwölf Jahre alt, doch sie hat bereits viel zu viel Erfahrungen mit dem Tod gemacht. Vor zwei Jahren starb ihre Mutter nach einer langen Krankheit, und nun wird die Leiche ihrer Stiefmutter in der Nähe eines Eisenbahngle

Der irdische Agent McGavin besitzt alle Eigenschaften, die einen Helden ausmachen: Kraft, Mut, meisterhafte Körperbe- herrschung, scharfe Intelligenz - und er hat eine »Spezial«- Ausbildung hinter sich. Aber er hat auch einen schwachen Punkt, eine Achillesferse: sein Gewissen ... Als man ihn in eine

MONOGRAPHIEN ZUR PHILOSOPHISCHEN FORSCHUNG Begründet von Georgi Schischkoff Band 194 Die Wiederholung Analysen zur Grundstruktur menschlicher Existenz im Verständnis Sören Kierkegaards Victor Guarda Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum • Hain • Scriptor • Hanstein MONOGRAPHIEN ZUR PHILOSOP

Sue Grafton Ausgespielt s&p 06/2006 Kinsey Millhone soll auf eine junge Frau aufpassen, die zwei Jahre im Gefängnis gesessen hat, und ihr dabei helfen, in die Normalität zurückzufinden. Keine allzu schwierige Aufgabe für eine erfahrene Privatdetektivin. Doch Reba Lafferty hat eine düstere Vergangenh

Axel Hacke & Michael Sowa DER WEISSE NEGER WUMBABA Kleines Handbuch des Verhörens Verlag Antje Kunstmann Malcolm, You Sexy Thing: Wie dieses Buch entstand Jedes Buch braucht Leser, wenn es fertig ist. Aber dieses kleine Buch hier benötigte Leser schon, bevor es entstan- den war, ja: Es hätte ohne di

Buch Sergius Golowin verfolgt die Spuren der Katze mit großer Detailkenntnis und viel Humor durch die Kulturgeschichte. Er weiß sachkundig von ihrer Bedeutung im alten Ägypten, bei den Griechen oder in der nordischen Mythologie zu berichten; schildert uns ihren Einfluß auf das Brautwerben im Alpenra

Eduard von Keyserling eB B Das Landhaus Eduard von Keyserling Das Landhaus (1913) eBOOK ebook-bibliothek.org BIBLIOTHEK littera scripta manet Eduard von Keyserling (15.05.1855 – 28.09.1918) 1. Ausgabe, Juni 2006 © eBOOK-Bibliothek 2006 für diese Ausgabe © Brad Harrison 2006 für das Titelbild Der Bal

›Ein düsterer Thriller … Jablokov vermischt die Welt eines Ray- mond Chandlers und Dashiell Hammetts mit dem CYBERPUNK von William Gibson und Bruce Sterling.‹ Starlog Manchmal hat die Erinnerung ein Eigenleben. Früher einmal war er Theo Bronkman, einer der sieben verlore- nen Seelen, die während des

BRUCE T. HOLMES DIE LETZTE GENERATION Science Fiction Roman Deutsche Erstveröffentlichung WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN p0t0si HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4469 Titel der amerikanischen Originalausgabe ANVIL OF THE HEART Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst Das Umschlagbild schuf Ji

TILL EULENSPIEGEL Zwölf seiner Geschichten frei nacherzählt von ERICH KÄSTNER mit elf farbigen Bildern und vielen Zeichnungen von WALTER TRIER VERLAG KURT DESCH MÜNCHEN ALLE RECHTE VORBEHALTEN LIZENZAUSGABE EÜR DEUTSCHLAND: VERLAG KURT DESCH MÜNCHEN MIT GENEHMIGUNG DES ATRIUM VERLAGES ZÜRICH, 1950 S

ERICH KÄSTNER DAS DOPPELTE LOTTCHEN EIN ROMAN FÜR KINDER ILLUSTRIERT VON WALTER TRIER »Das doppelte Lottchen« gehört wohl zu den schönsten Büchern, die je für Kinder geschrieben worden sind. Erich Kästners Lust zum Fabulieren, sein köstlicher Humor machen alles Schwere leicht und den Kindern verstän

Tami Hoag Sünden der Nacht s&p 05/2006 Eiskaltes Entsetzen packt die Bürger einer idyllischen Kleinstadt in Minnesota: Ein unschuldiges Kind aus ihrer Mitte wurde Opfer einer brutalen Entführung. Für die unerfahrene, aber hochtalentierte FBI-Agentin Megan O’Malley beginnt damit ein verzweifelter Wet

JOEL HOUSSIN DIE GEIER Science Fiction Roman Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN p0t0si HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4462 Titel der französischen Originalausgabe LES VAUTOURS Deutsche Übersetzung von Georges Hausemer Das Umschlagbild schuf Klaus Holitzka Redaktion: Friedel W