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Robert Silverberg (Hrsg.) Der siebte Schrein Fantasy von Stephen King, Terry Pratchett, Terry Goodkind u. a. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Legends. New Short Novels« bei Tom Doherty Associates, Inc., New York Copyright © 1998 by Agberg, Ltd. Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Satz: Gramma GmbH, München Druck und Bindung: Ebner, Ulm Printed in Germany ISBN 3-453-15299-9 FÜR MARTY UND RALPH, die ganz sicher wissen, warum INHALT Robert Silverberg – VORWORT Step...
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Robert Silverberg (Hrsg.) Der siebte Schrein

Fantasy von Stephen King, Terry Pratchett, Terry Goodkind u. a. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN, Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Legends. New Short Novels« bei Tom Doherty Associates, Inc., New York Copyright © 1998 by Agberg, Ltd. Copyright © 1999 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Satz: Gramma GmbH, München Druck und Bindung: Ebner, Ulm Printed in Germany ISBN 3-453-15299-9, FÜR MARTY UND RALPH, die ganz sicher wissen, warum,

INHALT

Robert Silverberg – VORWORT Stephen King – DIE KLEINEN SCHWESTERN VON ELURIA (Der Dunkle Turm) Terry Pratchett – DAS MEER UND KLEINE FISCHE (Die Scheibenwelt) Terry Goodkind – DIE KNOCHENSCHULD (Das Schwert der Wahrheit) Orson Scott Card – DER GRINSENDE MANN (Die Legenden von Alvin Maker) Robert Silverberg – DER SIEBTE SCHREIN (Majipoor) Ursula K. Le Guin – DRACHENKIND (Erdsee) Tad Williams – DER BRENNENDE MANN (Die Chronik von Osten Aard) George R. R. Martin – DER HECKENRITTER (Das Lied von Eis und Feuer) Anne McCaffrey – DIE LÄUFERIN VON PERN (Pern), Raymond E. Feist – DER HOLZJUNGE (Die Midkemia-Saga) Robert Jordan – DER NEUE FRÜHLING (Das Rad der Zeit),

Vorwort

Dies ist ein Buch der Visionen und Wunder – elf exotische, handfeste neue Geschichten der bekanntesten und besten zeitgenössischen Schöpfer von Fantasy-Literatur, jede in dem speziellen Universum der Phantasie angesiedelt, das seinen Erfinder weltberühmt gemacht hat. Fantasy ist der älteste Zweig der Literatur – so alt wie die menschliche Phantasie selbst. Es ist durchaus vorstellbar, daß derselbe künstlerische Impuls, der vor fünfzehn-, zwanzig- und sogar dreißigtausend Jahren die außergewöhnlichen Höhlenmalereien von Altamira und Chauvet hervorgebracht hat, ebenfalls erstaunliche Geschichten von Göttern und Dämonen, Talismanen und Zaubersprüchen, Drachen und Werwölfen und wundersamen Ländern jenseits des Horizonts hervorgebracht hat – Geschichten, die in Tierfelle gekleidete Schamanen gebannten Zuhörern im Europa der Eiszeit an den Lagerfeuern erzählten. Und auch im heißen Afrika, im prähistorischen China, im alten Indien und in Nord- und Südamerika: im Grunde überall, und das über einen Zeitraum von Tausenden oder Hunderttausenden von Jahren. Mir gefällt der Gedanke, daß der Impuls, Geschichten zu erzählen, universell ist – daß es Geschichtenerzähler gibt, seit Wesen auf dieser Welt existieren, die man als »Menschen« bezeichnen kann – und daß diese Geschichtenerzähler ihre Fähigkeit und Energie und Begabung die ganze lange Evolution hindurch speziell der Schöpfung außerordentlicher Fabeln und Wunder gewidmet haben. Natürlich werden wir nie wissen, welche Märchen die Geschichtenerzähler der Cro-Magnon-Menschen ihrem faszinierten Publikum in den kalten Nächten im prähistorischen, Frankreich erzählt haben. Aber ganz bestimmt haben sie ausgeprägte Elemente des Phantastischen enthalten. Die ältesten erhaltenen Geschichten sprechen dafür. Wenn man Fantasy als Literatur definieren kann, die eine Welt jenseits der gewöhnlichen Realität und den Kampf des Menschen beschreibt, sich der Herrschaft über jene Welt zu vergewissern, dann ist die älteste Geschichte, die uns überliefert wurde – das sumerische Epos vom Helden Gilgamesch, das ungefähr aus dem Jahr 2500 v. Chr. stammt –, in der Tat Fantasy, denn ihr Thema ist Gilgameschs Suche nach dem ewigen Leben. Homers Odyssee, in der es von Gestaltwandlern und Zauberern und Hexen und Zyklopen und menschenfressenden Kreaturen mit vielen Köpfen nur so wimmelt, quillt ebenfalls über von phantastischen Elementen, genau wie eine Vielzahl anderer griechischer und römischer Sagen. Tasten wir uns an unsere eigene Zeit heran, begegnen wir dem grauenhaften Ungeheuer Grendel aus dem angelsächsischen Beowulf, der Schlange von Midgard, dem Drachen Fafnir und dem apokalyptischen Fenriswolf der altnordischen Sagen, dem unglücklichen, nach Unsterblichkeit strebenden Dr. Faust aus dem deutschen Volksbuch, den Myriaden Zauberern aus Tausendundeine Nacht, den überlebensgroßen Helden des walisischen Mabinogion und des persischen Schah-name und einer unendlichen Vielzahl weiterer fremder und wunderbarer Schöpfungen. Auch in der modernen Zeit verschwand die Neigung zur Erschaffung des Phantastischen nicht, in der Zeit, in der Mikroskope und Teleskope, Dampfmaschinen und Eisenbahnen, Telegraphen und Phonographen und elektrisches Licht entstanden. Daß so vieles, das man zuvor für unmöglich gehalten hatte, nun Wirklichkeit geworden war, tat unserer Faszination gegenüber dem Unglaublichen und Unsichtbaren keinen Abbruch. Was ist schon phantastischer, als den Klang eines ganzen Symphonie-Orchesters von einer einzigen flachen Plastikscheibe aufsteigen zu hören? Oder in ein Gerät zu sprechen, das man in der Hand hält, und Zehntausende Meilen, entfernt gehört und verstanden zu werden? Aber dasselbe Jahrhundert, das uns die Erfindungen von Thomas Alva Edison und Alexander Graham Bell gab, brachte uns auch Lewis Carrolls zwei unvergleichliche Geschichten über die Abenteuer von Alice in anderen Wirklichkeiten, H. Rider Haggards zahlreiche Romane über untergegangene Zivilisationen und Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein. Auch im zwanzigsten Jahrhundert – dem Jahrhundert von Luftverkehr und Atomenergie, Fernsehen und Computern, chirurgischen Eingriffen am offenen Herzen und Geschlechtsumwandlungen – verloren wir den Geschmack an Geschichten vom Außergewöhnlichen nicht. Eine ganze Schar Phantasten des Maschinenzeitalters – James Branch Cabell und A. Merritt und Lord Dunsany, E. R. Eddison und Mervyn Peake und L. Frank Baum, H. P. Lovecraft und Robert E. Howard und J. R. R. Tolkien, um nur einige der bekanntesten zu nennen – versorgten die Welt auch weiterhin ausreichend mit phantastischen Geschichten. Allerdings fand doch ein Umschwung im zwanzigsten Jahrhundert statt, als die Science-fiction ihren Siegeszug begann – der Zweig der Fantasy, in dem immenses Geschick auf die Aufgabe verwendet wird, das Unmögliche, oder zumindest das Unwahrscheinliche, als vollkommen plausibel darzustellen. Als die Science-fiction – deren grundsätzliche Form vor über hundert Jahren durch Jules Verne und H. G. Wells definiert und in modernen Zeiten durch Schriftsteller wie Robert A. Heinlein, Isaac Asimov und Aldous Huxley weiterentwickelt wurde – ihre ungeheure Faszination auf das Lesepublikum des Atomzeitalters auszuüben begann, betrachtete man »reine« Fantasy (das heißt Fantasy, in der kein Versuch einer empirischen Erklärung der Wunder unternommen wurde) als etwas, das weitgehend für Kinder bestimmt war, so wie Sagen und Märchen. Natürlich verschwand die ältere Spielart der Fantasy niemals. Aber zumindest in den Vereinigten Staaten führte sie fast fünfzig Jahre lang ein Schattendasein. In dieser Zeit nahm die Science-, fiction für das Lesepublikum in Form von Magazinen mit Titeln wie Amazing Stories und Astounding Science Fiction Gestalt an, und die Leserschaft bestand vorwiegend aus Jungs und ernsten jungen Männern mit einer Vorliebe für technische Details und naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Das einzige amerikanische Magazin, das sich dem Stoff verschrieben hatte, den wir als Fantasy definieren, war das 1923 gegründete Weird Tales, aber dieses Magazin veröffentlichte nicht nur Fantasy, sondern eine Vielzahl anderer Genre-Literatur, die man heute nicht mehr als Fantasy betrachten würde – reine Horrorgeschichten zum Beispiel, ohne jedes spekulative Element. Die Trennlinie zwischen Fantasy und Science-fiction ist nicht immer leicht zu finden, aber einige Unterscheidungen sind recht klar, wenn nicht unverrückbar. Geschichten über Androiden und Roboter, Raumschiffe, Außerirdische, Zeitmaschinen, Viren aus dem All, galaktische Imperien und dergleichen kann man für gewöhnlich als Science-fiction bezeichnen. Dies alles sind Themen, die im Rahmen der Naturgesetze, wie wir sie derzeit verstehen, theoretisch möglich sind. (Auch wenn Zeitmaschinen und Raumfahrt mit Überlichtgeschwindigkeit diesen Rahmen sicher bis an seine Grenzen dehnen, wenn nicht darüber hinaus.) Fantasy hingegen benutzt als Material etwas, das man in unserer Kultur generell für unmöglich oder nicht existent hält: Magier und Hexenmeister, Elfen und Trolle, Werwölfe und Vampire, Einhörner und verzauberte Prinzessinnen, wirksame Beschwörungen und Zaubersprüche. Fantasy an sich hatte bis 1939 kein eigenes Magazin, als John W. Campbell, der bedeutendste Herausgeber von Science-fiction seiner Zeit, Unknown (später Unknown Worlds) ins Leben rief, um seinen Autoren eine größere Bandbreite der Phantasie zu ermöglichen, als es die Science-fiction zuließ. Zahlreiche Autoren, die Campbells Astounding Science Fiction zum bemerkenswertesten Magazin seiner Art machten, das je veröffentlicht wurde – Robert A. Heinlein, L. Sprague de Camp, Theodore Sturgeon, Lester del Rey, Jack Williamson –, leisteten auch wichtige Beiträge für, Unknown, und die generelle strukturelle Vorgehensweise war ähnlich: Ein ausgefallener Sachverhalt wurde postuliert und in allen Konsequenzen bis zu einem logischen Ende weitergesponnen. Geschichten über Leute, die gemein zu Wassergnomen waren oder ihre Seele dem Teufel verkauften, landeten in Unknown;die über Zeitreisen oder Flüge zu fernen Planeten wurden in Astounding veröffentlicht. Aber auch wenn Unknown von seinen Lesern und Autoren begeistert begrüßt wurde, fand es nie ein großes Publikum, und als die kriegsbedingte Papierknappheit Campbell 1943 zwang, zwischen seinen beiden Magazinen zu wählen, starb Unknown eines schnellen Todes und wurde nie mehr wiederbelebt. Versuche nostalgischer ehemaliger Autoren von Unknown, nach dem Krieg das spezielle Flair des Magazins einzufangen, blieben weitgehend erfolglos; H. L. Golds Beyond brachte es auf zehn Ausgaben, Lester del Reys Fantasy Fiction nur auf vier. Lediglich das Magazine of Fantasy, von Anthony Boucher und J. Francis McComas herausgegeben, konnte sich auf Dauer etablieren, und selbst da hielt man es für klug, den Titel schon mit der zweiten Ausgabe in Fantasy and Science Fiction zu ändern. Als Science- fiction in den fünfziger Jahren zu einem Eckstein der Taschenbuchindustrie wurde, hinkte die Fantasy wieder hinterher: Wenige Fantasy-Romane erschienen im Taschenbuch, und die meisten – Jack Vances Die sterbende Erde und die frühen Nachdrucke von H. P. Lovecraft und Robert E. Howard sind gute Beispiele – verschwanden bald wieder und wurden zu gesuchten Sammler-Stücken. Das alles änderte sich in den sechziger Jahren, als plötzlich eine Taschenbuchausgabe von J. R. R. Tolkiens Trilogie Der Herr der Ringe erschien (zuvor hatte ein störrischer Verleger sich einer Veröffentlichung im Taschenbuch widersetzt) und in Millionen Lesern einen Hunger nach Fantasy weckte, der bis auf den heutigen Tag unstillbar geblieben ist. Tolkiens Bücher waren ein derart nachdrücklicher kommerzieller Erfolg, daß sich die Verlage überschlugen, um Autoren zu finden, die Nachahmungen der, Trilogie schreiben konnten, und die Welt wurde mit einer Flut von Hobbittesken Romanen überschwemmt, die sich ihrerseits teilweise in erstaunlichen Mengen verkauften. Robert E. Howards Conan-Romane, die einst nur von einer kleinen Gruppe treuer Verehrer bewundert worden waren, fanden etwa zur selben Zeit ein riesiges neues Publikum. Einige Jahre später brachte Ballantine Books, Tolkiens Taschenbuchverlag, eine außergewöhnliche, von Lin Carter herausgegebene Buchreihe unter dem Titel »Adult Fantasy« auf den Markt, in der alle eleganten klassischen Meisterwerke von Autoren der Fantasy wie E. R. Eddison, James Branch Cabell, Lord Dunsany und Mervyn Peake modernen Lesern zugänglich gemacht wurden. Seither ist Fantasy ein vorherrschender Faktor der modernen Verlagsindustrie. Was vor fünfzig Jahren eine vernachlässigte Stiefschwester der Science-fiction war, ist heute ein ungeheuer populäres Genre. Im Windschatten des gewaltigen Erfolgs von Tolkiens Trilogie betraten neue Schriftsteller mit ihren eigenen phantastischen Welten die Bühne und konnten ein großes und begeistertes Publikum gewinnen. Ende der sechziger Jahre begann Ursula K. Le Guin ihre eindringliche und feinfühlige Erdsee-Serie, während sich Anne McCaffrey des uralten phantastischen Drachenmotivs für ihre Pern-Romane annahm, die an der Grenze zwischen Fantasy und Science-fiction angesiedelt sind. Einige Jahre später eroberte Stephen King eine erstaunlich zahlreiche Leserschaft, indem er die archetypischen Ängste der Menschheit anzapfte und zu kraftvollen Romanen formte, die das dunklere Terrain der Fantasy besetzten. Terry Pratchett dagegen hat in überragender Weise das komische Potential satirischer Fantasy demonstriert. Schriftsteller wie Orson Scott Card und Raymond E. Feist haben mit ihren Büchern über Alvin Maker und mit der Schlangenkrieg- Saga eine riesige Anhängerschaft gefunden. In jüngster Zeit haben Robert Jordans monumentaler Zyklus vom Rad der Zeit, George R. R. Martins Bücher über das Lied von Eis und Feuer und Terry Goodkinds Geschichten um das Schwert der Wahrheit, ebenso einen festen Platz im Pantheon moderner Fantasy erobert wie Tad Williams´ Chronik von Osten Ard. Und hier haben wir sie alle in einer einzigen umfangreichen Anthologie vereint, in der Fantasy-Enthusiasten wochenlang schmökern können. Eine neue Erdsee-Geschichte, eine neue Geschichte von Pern, ein neues Abenteuer des Zyklus um den Dunklen Turm, eine neue Episode in Terry Pratchetts verspielter Scheibenwelt-Serie und alle anderen, die Sie hier finden werden – ein derartiges Buch hat es noch nie gegeben. Es war keine leichte Aufgabe, eine derartig vorzügliche Sammlung erstklassiger Stars in einem einzigen Band zu versammeln. Aus diesem Grund gilt meine Dankbarkeit für besondere Unterstützung Martin H. Greenberg, Ralph Vicinanza, Stephen King, John Helfers und Virginia Kidd, die mir auf die eine oder andere Weise meine herausgeberische Tätigkeit deutlich leichter gemacht haben, als sie andernfalls gewesen wäre. Und obwohl es sich eigentlich von selbst versteht, danke ich auch meiner Frau Karen, die mir in jeder Phase dieses komplizierten Projekts hilfreich zur Seite gestanden hat – nicht nur, weil sie ein großartiger Mensch ist, sondern auch, weil sie die fraglos beste Idee des ganzen Projekts hatte. Robert Silverberg Dezember 1997 Anmerkung des Verlags: Die deutschen Übersetzungen der im Buch genannten Titel wurden der Vollständigkeit halber komplett aufgeführt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß nicht alle genannten Buchtitel im Handel lieferbar sind., Der Dunkle Turm STEPHEN KING, SCHWARZ (1988) DREI (1989) TOT (1992) GLAS (1997) Diese Romane, in denen thematische Elemente aus Robert Brownings Gedicht »Herr Roland kam zum Finstern Turm« Verwendung finden, erzählen die Geschichte von Roland, dem letzten Revolvermann, der sich aus Gründen, die der Autor noch erklären muß, auf die Suche nach dem Dunklen Turm macht. Unterwegs begegnet Roland den Trümmern einer einst blühenden Gesellschaft, von feudaler Natur, aber technisch hochentwickelt, die Verfall und Ruin preisgegeben ist. King verschmilzt Elemente von Fantasy und Science-fiction zu einer surrealistischen Mischung aus Vergangenheit und Zukunft. In Schwarz, dem ersten Buch, wird Roland vorgestellt, der den Mann in Schwarz, einen rätselhaften Zauberer, durch eine weite Wüste verfolgt. In Rückblenden erfährt der Leser, daß Roland Mitglied einer adligen Familie in der Welt des Dunklen Turms war und diese Welt möglicherweise mit Hilfe des Mannes in Schwarz zerstört wurde, vielleicht aber auch nicht. Unterwegs begegnet Roland seltsamen Bewohnern dieser namenlosen Welt, einschließlich eines Jungen namens Jake, der in späteren Bänden eine wichtige Rolle spielen soll, obwohl er am Ende des ersten Buches getötet wird. Roland holt den Mann in Schwarz ein und erfährt, daß er den Dunklen Turm finden muß, um Antwort auf die Fragen zu erhalten, warum er zu seiner Suche aufbrechen muß und was sich in dem Turm befindet. Im nächsten Buch, Drei, rekrutiert Roland drei Menschen von der Erde unserer Zeit, die ihn auf seinem Weg zum Dunklen Turm begleiten müssen. Es sind Eddie, ein rauschgiftsüchtiger Drogenkurier für die Mafia, Suzannah, eine Querschnittsgelähmte mit multipler Persönlichkeit, und Jake, dessen Ankunft erschreckend für Roland ist, weil er ihn in seiner eigenen Welt auf, der Suche nach dem Mann in Schwarz geopfert hatte. Roland rettet Jakes Leben auf der Erde, aber die daraus resultierende Paradoxie treibt ihn fast in den Wahnsinn. Außerdem muß Roland den beiden anderen helfen, gegen ihre eigenen Dämonen zu kämpfen – im Fall Eddies seine Heroinabhängigkeit und Schuldgefühle wegen seiner Unfähigkeit, den Tod seines Bruders zu verhindern, und bei Suzannah der Krieg zwischen ihren verschiedenen Persönlichkeiten, einer gütigen und sanften Frau und einer rassistischen Psychopathin. Alle drei lösen ihre Probleme mit Hilfe der anderen, und das Quartett bricht gemeinsam zur Suche nach dem Turm auf. Tot, das dritte Buch, beschreibt den ersten Abschnitt dieser Reise und schildert im Detail die Herkunft der drei Erdenmenschen. Das Buch erreicht seinen Höhepunkt, als Jake von einem Kult entführt wird, der in den Ruinen einer verfallenen Stadt existiert, und von einem Mann beherrscht wird, der nur Flagg heißt (eine Figur, die auch in einigen anderen Romanen Kings als die Verkörperung des Bösen aufgetreten ist). Roland rettet Jake, und die Gruppe flieht mit einem Einschienenzug aus der Stadt, dessen Künstliche-Intelligenz- Progamm Denkfähigkeit auf Kosten seiner geistigen Gesundheit erlangt hat. Die Einschienenbahn fordert sie zu einem Rätselwettstreit mit ihrem Leben als Einsatz heraus, das sie nur behalten dürfen, wenn es ihnen gelingt, die Maschine zu schlagen, die von sich behauptet, daß sie jedes jemals erdachte Rätsel kennt. In Glas, dem vierten Band der Serie, setzen Roland, Jake, Eddie und Suzannah ihre Reise zum Dunklen Turm fort und kommen durch eine verlassene Gegend von Mittwelt, die auf unheimliche Weise an die Erde des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert. Im Verlauf ihrer Reise stoßen sie auf eine sogenannte Schwachstelle, ein gefährliches Loch in der Barriere zwischen verschiedenen Zeiten und Orten. Roland weiß, worum es sich handelt, und muß einsehen, daß seine Welt noch schneller zusammenbricht, als er befürchtet hatte. Die Schwachstelle ruft, die Erinnerung in ihm wach, wie er zum erstenmal auf eine ähnliche Schwachstelle stieß, vor vielen Jahren, als er gerade zum Revolvermann geworden war, auf einer Reise nach Westen, die er mit seinen Freunden Cuthbert und Alain unternommen hatte. Diese Geschichte – wie die drei Jungen eine Verschwörung gegen die herrschende Regierung aufdecken und Roland sich zum erstenmal verliebt, in ein Mädchen namens Susan Delgado – bildet den Hauptteil des Buches. Den drei Freunden gelingt es, die Verschwörer zu vernichten, aber während des Kampfes wird Susan von den Bewohnern der Stadt Hambry getötet. Die Erzählung vermittelt Jake, Eddie und Suzannah neue Einblicke in Rolands Herkunft und führt ihnen Motive vor Augen, die ihn veranlassen könnten, sie zu opfern, um sein wichtigstes Ziel zu erreichen, das darin besteht, seine Welt zu retten. Am Ende des Buches setzen die vier ihre Reise zu dem Turm fort.,

STEPHEN KING Die Kleinen Schwestern

von Eluria [Vorbemerkung des Autors: Die Bücher um den Dunklen Turm beginnen mit Roland von Gilead, dem letzten Revolvermann, der in einer verwahrlosten Welt, die sich »weitergedreht« hat, einen Magier in schwarzem Gewand verfolgt. Roland verfolgt Walter schon sehr lange. Im ersten Buch des Zyklus kann er ihn schließlich einholen. Diese Geschichte jedoch spielt zu einer Zeit, als Roland immer noch auf der Suche nach Walters Spur ist. Es ist daher nicht erforderlich, daß Sie die Bücher kennen, um die folgende Geschichte verstehen und – hoffentlich – genießen zu können. S. K.] I. Vollerde. Die leere Stadt. Die Glocken. Der tote Junge. Der umgestürzte Wagen. Das grüne Volk. An einem Tag in Vollerde, der so heiß war, daß er ihm die Atemluft aus der Brust zu saugen schien, bevor sein Körper sie verarbeiten konnte, kam Roland von Gilead an das Tor einer kleinen Stadt in den Desatoya Mountains. Inzwischen reiste er allein, und obendrein würde er bald zu Fuß reisen. Die ganze letzte Woche hatte er gehofft, einen Pferdedoktor zu finden, vermutete aber, daß ein solcher Mann ihm jetzt auch nichts mehr nützen würde, selbst wenn es in dieser Stadt einen geben sollte. Sein Reittier, ein zweijähriger Rotschimmel, war ziemlich am Ende., Das Stadttor, das noch den Blumenschmuck des einen oder anderen Festes trug, stand einladend offen, aber die Stille dahinter paßte ganz und gar nicht dazu. Der Revolvermann hörte kein Klipp-klapp von Pferdehufen, kein Knirschen von Wagenrädern, keine Händler, die ihre Ware auf dem Marktplatz feilboten. Die einzigen Geräusche waren das leise Zirpen der Grillen (zumindest irgendeines Insekts; es klang ein wenig melodischer als Grillen), ein seltsames Geräusch wie Klopfen auf Holz und das leise, verträumte Läuten kleiner Glocken. Auch die Blumen, die in die schmiedeeisernen Schnörkelornamente des Stadttors geflochten waren, waren längst verdorrt. Zwischen Rolands Knien gab Topsy zweimal ein hohles Niesen von sich – Ki-tschah! Ki-tschah! – und stolperte seitwärts. Roland stieg ab, teils aus Respekt vor dem Pferd, teils aus Respekt vor sich selbst – er wollte sich kein Bein unter Topsy brechen, sollte sich Topsy ausgerechnet diesen Augenblick aussuchen, um zur Lichtung am Ende seines Weges zu galoppieren. Der Revolvermann stand in seinen staubigen Stiefeln und ausgebleichten Jeans unter der sengenden Sonne, streichelte das matte Fell am Hals des Rotschimmels, hielt immer wieder inne, um mit den Fingern durch Topsys verfilzte Mähne zu fahren, und einmal, um die Fliegen zu verscheuchen, die sich in Topsys Augenwinkeln niedergelassen hatten. Sollten sie ihre Eier dort legen, damit ihre Maden ausgebrütet werden konnten, wenn Topsy tot war, aber nicht vorher. Auf diese Weise sorgte Roland für das Pferd, so gut er konnte, und lauschte dabei den fernen, verträumten Glocken und dem seltsamen Klopfgeräusch. Nach einer Weile hörte er mit seiner geistesabwesenden Pferdepflege auf und betrachtete nachdenklich das offene Tor. Das Kreuz über der Mitte war ein wenig ungewöhnlich, aber ansonsten stellte das Tor ein typisches Beispiel seiner Art dar, eine Einrichtung des Westens, die nicht nützlich war, sondern auf, Tradition beruhte – alle kleinen Städte, die er im Verlauf des letzten Zehnmonats besucht hatte, schienen ein derartiges Tor zu haben, durch das man kam (prunkvoll), und eines, durch das man ging (nicht so prunkvoll). Keines war erbaut worden, um Besucher fernzuhalten; dieses hier ganz bestimmt nicht. Es befand sich zwischen zwei rosa Lehmziegelmauern, die sich beiderseits der Straße rund sechs Meter ins Geröll erstreckten und dann einfach aufhörten. Selbst wenn das Tor geschlossen und mit noch so vielen Schlössern gesichert wurde, mußte man nur die paar Schritte um das eine oder andere Stück Lehmziegelmauer herumgehen. Hinter dem Tor konnte Roland etwas erkennen, das in fast jeder Hinsicht wie eine völlig normale Hochstraße aussah – ein Gasthaus, zwei Saloons (einer hieß Zum Wilden Schwein; das Schild des anderen war so verblaßt, daß man es nicht lesen konnte), ein Krämerladen, eine Schmiede und eine Stadthalle. Außerdem ein kleines, aber hübsches Holzhaus mit einem bescheidenen Glockenturm auf dem Dach, einem soliden Sandsteinfundament und einem goldenen Kreuz auf der Doppeltür. Das Kreuz, das wie jenes über dem Tor aussah, kennzeichnete dieses Haus als eine Kultstätte derer, die den Jesusmann verehrten. Es war keine verbreitete Religion in Mittwelt, aber alles andere als unbekannt; dasselbe hätte man heutzutage über die meisten Formen der Anbetung sagen können, einschließlich jener von Baal, Asmodeus und hundert anderen. Der Glauben hatte sich, wie alles andere auf der Welt, auch weitergedreht. Soweit es Roland betraf, war der Gott des Kreuzes nur eine von vielen Religionen, die lehrten, daß Liebe und Mord untrennbar miteinander verbunden waren – daß Gott letzten Endes immer Blut trank. Derweil blieb das singende Zirpen von Insekten, das sich fast wie das von Grillen anhörte. Das verträumte Läuten der Glocken. Und das seltsame hölzerne Pochen, als würde eine Faust auf eine Tür schlagen. Oder auf einen Sargdeckel., Hier stimmt ganz entschieden etwas nicht, dachte der Revolvermann. Obacht, Roland; diesem Ort haftet ein rötlicher Geruch an. Er führte Topsy durch das Tor mit dem Schmuck welker Blumen und die Hochstraße hinab. Auf der Veranda des Krämerladens, wo alte Männer sitzen sollten, die sich über die Ernte, Politik und die Torheit der jüngeren Generation unterhielten, stand nur eine Reihe einsamer Schaukelstühle. Unter einem lag, wie von einer unachtsamen (und längst dahingegangenen) Hand fallen gelassen, eine verkohlte Maiskolbenpfeife. Das Pferdegatter vor dem Wilden Schwein war gleichermaßen einsam und verlassen; die Fenster des Saloons selbst waren dunkel. Eine der Schwingtüren war abgerissen worden und lehnte an der Wand des Gebäudes; die andere hing schief in den Angeln; ihre verblaßten grünen Lamellen waren mit einer rostroten Substanz bespritzt, die Farbe sein konnte, aber wahrscheinlich keine war. Die Fassade des Pferdestalls war unversehrt wie das verwüstete Gesicht einer Frau, die Zugang zu guten Kosmetika hat, aber die Scheune dahinter war ein verkohltes Skelett. Das Feuer mußte an einem Regentag ausgebrochen sein, dachte der Revolvermann, sonst wäre die ganze verdammte Stadt in Flammen aufgegangen; eine große Kirmes und Volksbelustigung für alle, die es hätten sehen können. Rechts von Roland, auf halbem Weg zu der Stelle, wo die Straße in den Dorfplatz überging, lag die Kirche. Rasenbegrenzungen auf beiden Seiten trennten das Gelände der Kirche auf einer Seite von der Stadthalle ab, auf der anderen von dem kleinen Haus des Predigers und seiner Familie (das hieß, wenn er einer Jesus-Sekte angehörte, die ihren Schamanen erlaubte, Frauen und Kinder zu haben; einige Sekten, die eindeutig von Irren beherrscht wurden, verlangten wenigstens den Anschein eines Zölibats). Blumen standen in den Rasenstreifen, die zwar verdorrt aussahen, aber zum größten Teil nicht ganz abgestorben waren. Was immer hier geschehen war und die Stadt entvölkert hatte, war also vor nicht allzu langer Zeit, geschehen. Vor einer Woche vielleicht. Höchstens zweien, angesichts der Hitze. Topsy nieste wieder – Ki-tscha! – und ließ müde den Kopf hängen. Der Revolvermann sah, was das Glockenläuten verursachte. Über dem Kreuz an der Kirchentür war eine Kordel in einem langen, durchhängenden Bogen befestigt worden. Schätzungsweise zwei Dutzend kleine silberne Glöckchen hingen daran. Heute ging kaum ein Lüftchen, dennoch reichte es aus, daß die Glöckchen nie ganz verstummten .und wenn richtiger Wind aufkam, dachte Roland, würde das Geräusch, das das Geklingel der Glöckchen erzeugte, längst nicht so angenehm sein; mehr wie das schrille Schnattern von Klatschbasen. »Hallo!« rief Roland und sah über die Straße, wo das große Schild einer falschen Fassade das Hotel Zum Guten Bett anpries. »Hallo, Stadt!« Niemand antwortete, außer den Glocken, den harmonischen Insekten und dem seltsamen Klopfen auf Holz. Keine Antwort, keine Bewegung .aber es waren Leute hier. Leute oder irgend etwas. Er wurde beobachtet. Die winzigen Härchen in seinem Nacken hatten sich aufgerichtet. Roland ging weiter, führte Topsy Richtung Stadtmitte und wirbelte bei jedem Schritt den Staub der unbefestigten Hochstraße auf. Nach vierzig Schritten blieb er vor einem flachen Gebäude stehen, dessen Tür ein einziges knappes Wort zierte: GESETZ. Das Büro des Sheriffs (falls sie so etwas derart weit von den Inneren entfernt überhaupt hatten) hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Kirche – Holzbretter mit unheilvollen rostroten Flecken auf einem Fundament aus Stein. Die Glocken hinter ihm raschelten und flüsterten. Er ließ den Rotschimmel mitten auf der Straße stehen und ging die Stufen zum Büro mit der Aufschrift GESETZ hinauf. Allzu deutlich bemerkte er die Glocken, die Sonne, die ihm in den Nacken schien, und den Schweiß, der an seinen Seiten hinablief. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen. Er machte, sie auf, wich zusammenzuckend zurück und hob halb die Hand, als die Hitze, die sich im Inneren gestaut hatte, mit einem lautlosen Seufzen entwich. Wenn es in sämtlichen geschlossenen Gebäuden so heiß war, überlegte Roland, würden die Scheunen für die Pferde bald nicht mehr die einzigen verbrannten Skelette sein. Und da kein Regen den Flammen Einhalt gebot (und es mit Sicherheit keine freiwillige Feuerwehr gab, nicht mehr), würde diese Stadt nicht mehr lange auf dem Antlitz der Erde existieren. Er trat ein und versuchte, an der heißen Luft zu nippen, statt sie in vollen Zügen einzuatmen. Das leise Summen von Fliegen hörte er sofort. Es gab eine einzige Zelle, geräumig und leer, deren Gittertür offenstand. Ein Paar schmutzige Lederschuhe – bei einem waren die Nähte aufgeplatzt – lag unter einer Pritsche, die von derselben rostroten Substanz getränkt war, die er am Wilden Schwein bemerkt hatte. Dies war die Stelle, wo sich die Fliegen tummelten; sie krabbelten über den Fleck, taten sich daran gütlich. Auf dem Schreibtisch lag eine Kladde. Roland drehte sie zu sich um und las, was auf dem roten Einband stand:

Register von Missetaten & Wiedergutmachung

in den Jahren unseres Herrn

Eluria

Nun kannte er immerhin den Namen der Stadt – Eluria. Hübsch, aber auch irgendwie verhängnisvoll. Doch unter den gegebenen Umständen, überlegte sich Roland, hätte wahrscheinlich jeder Name verhängnisvoll gewirkt. Er wollte schon wieder gehen, als er eine geschlossene, mit einem Holzriegel gesicherte Tür sah. Er ging hin, blieb einen Moment davor stehen und zog dann einen der großen Revolver, die er tief an den Hüften trug. Er, blieb noch ein wenig länger mit gesenktem Kopf stehen, dachte nach (sein alter Freund Cuthbert hatte immer gesagt, daß die Rädchen in Rolands Kopf sich langsam, aber äußerst präzise drehten) und schob den Riegel zurück. Er machte die Tür auf, trat sofort zurück, brachte den Revolver in Anschlag und rechnete damit, daß ein Toter (womöglich Elurias Sheriff) mit durchschnittener Kehle und ausgestochenen Augen herausfallen würde, Opfer einer MISSETAT, die auf WIEDERGUTMACHUNG wartete – Nichts. Nun, ein halbes Dutzend fleckige Overalls, vermutlich für Insassen mit längeren Haftstrafen bestimmt, zwei Bogen, ein Köcher mit Pfeilen, ein alter, staubiger Motor, ein Gewehr, das wahrscheinlich vor hundert Jahren zum letztenmal abgefeuert worden war, und ein Mop .aber im Denken des Revolvermanns lief das alles auf nichts hinaus. Nur eine Rumpelkammer. Er ging zum Schreibtisch zurück, schlug das Register auf und blätterte es durch. Sogar die Seiten waren warm, als wäre das Buch gebacken worden. In gewisser Weise, dachte er, war es das auch. Wäre die Hochstraße anders angelegt gewesen, hätte er mit einer großen Zahl religiöser Vergehen in den Aufzeichnungen gerechnet, so aber überraschte ihn nicht, daß er keine fand – wenn die Kirche des Jesusmannes zusammen mit zwei Saloons existieren konnte, mußte das Kirchenvolk ziemlich vernünftig gewesen sein. Roland fand die üblichen geringfügigen Verstöße und einige nicht ganz so geringfügige – ein Mord, ein Pferdediebstahl, das Behelligen einer Lady (was wahrscheinlich Vergewaltigung bedeutete). Der Mörder war zur Hinrichtung in einen Ort namens Lexingworth gebracht worden. Roland hatte noch nie davon gehört. Ein Eintrag gegen Ende lautete: Grünes Volk von hinnen geschickt. Das sagte Roland nichts. Der letzte Eintrag war folgender:, 12/Ve/99. Chas. Freeborn, Viehdieb zur Verurteilung Die Angabe 12/Ve/99 sagte Roland nichts, aber er dachte sich, daß Ve für Vollerde stehen könnte. In jedem Fall sah die Tinte so frisch aus wie das Blut auf der Pritsche in der Zelle, und der Revolvermann hatte den begründeten Verdacht, daß Chas. Freeborn, der Viehdieb, inzwischen die Lichtung am Ende seines Weges erreicht hatte. Er ging hinaus in die Hitze und zu dem raschelnden Klang der Glocken. Topsy sah Roland düster an und ließ den Kopf wieder sinken, als gäbe es im Staub der Hochstraße etwas zum Grasen. Als wollte er jemals wieder grasen, was das anging. Der Revolvermann nahm die Zügel hoch, klopfte an seinen verblaßten, farblosen Jeans den Staub davon ab und ging weiter die Straße entlang. Das hölzerne Klopfgeräusch wurde mit jedem seiner Schritte lauter (er hatte seinen Revolver nicht in das Holster gesteckt, als er das GESETZ verlassen hatte, und nun steckte er ihn auch nicht weg), und als er sich dem Dorfplatz näherte, wo sich unter normalen Umständen der Markt von Eluria befunden hätte, sah Roland endlich eine Bewegung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes befand sich ein langer Wassertrog, wie es aussah aus Eisenholz (»Seequoiah«, wie manche hier draußen dazu sagten), den offenbar in glücklicheren Zeiten ein rostiges Stahlrohr gespeist hatte, das nun ausgetrocknet über das südliche Ende des Trogs ragte. Über einer Seite dieser städtischen Oase, etwa in der Mitte, ragte ein Bein in ausgebleichten grauen Hosen hervor, das in einem angenagten Cowboystiefel steckte. Angenagt hatte es ein großer Hund, vielleicht zwei Schattierungen dunkler grau als die Kordhose. Unter anderen Umständen, so vermutete Roland, hätte der Köter den Stiefel längst heruntergezogen, aber vielleicht waren Fuß und Wade darin geschwollen. Jedenfalls war der Hund dabei, das Hindernis einfach durchzubeißen. Er packte den Stiefel und schüttelte ihn hin und her. Ab und zu stieß der Absatz gegen das Holz des, Trogs und erzeugte ein hohles Klopfen. Offenbar hatte der Revolvermann so falsch gar nicht gelegen, als er an Sargdeckel gedacht hatte. Warum nimmt er nicht einfach ein paar Schritte Anlauf, springt in den Trog und nimmt sich, was er will? fragte sich Roland. Es kommt kein Wasser aus dem Rohr, also kann er keine Angst davor haben, zu ertrinken. Topsy gab wieder dieses hohle, müde Niesen von sich, und als der Hund als Reaktion darauf herumwirbelte, wurde Roland klar, warum es das Tier auf die harte Tour machte. Eine seiner Vorderpfoten war gebrochen gewesen und schief verheilt. Zu gehen mußte Schwerarbeit für ihn sein, zu springen kam nicht in Frage. Auf der Brust hatte der Hund einen Flecken schmutzigen weißen Fells. In diesem weißen Fleck wuchs schwarzes Fell ungefähr in der Form eines Kreuzes. Möglicherweise ein Jesus- Hund, der auf ein Stückchen nachmittäglicher Kommunion hoffte. Allerdings hatte das Knurren, das sich der Brust des Hundes entrang, nichts besonders Religiöses an sich, so wenig wie seine Triefaugen. Er zog die Oberlippe zu einem zitternden Zähnefletschen zurück und entblößte dabei ein stattliches Gebiß. »Verschwinde«, sagte Roland. »Solange du noch kannst.« Der Hund wich zurück, bis er die Hinterläufe an den angenagten Stiefel drückte. Er betrachtete den Mann, der auf ihn zukam, mit furchtsamem Blick, schien aber fest entschlossen, seinen Fund zu verteidigen. Der Revolver in Rolands Hand hatte keine Bedeutung für ihn. Das überraschte den Revolvermann nicht – Roland vermutete, daß der Hund noch nie einen gesehen und somit keine Ahnung hatte, daß er etwas anderes war als eine Art Keule, die man nur einmal werfen konnte. »Hau endlich ab«, sagte Roland, aber der Hund bewegte sich immer noch nicht. Er hätte das Tier erschießen sollen – es war für sich genommen zu nichts mehr nütze, und ein Hund, der Geschmack an Menschenfleisch gefunden hatte, war auch keinem anderen mehr zu etwas nütze –, aber irgendwie schien Roland das nicht, angebracht. Das einzige noch lebende Wesen in dieser Stadt zu töten (abgesehen von den zirpenden Insekten), schien förmlich, als wolle man das Unglück auf sich ziehen. Er feuerte vor der heilen Vorderpfote des Hundes in den Staub, und der Knall donnerte in den heißen Tag und brachte die Insekten vorübergehend zum Schweigen. Es schien, als könnte der Hund doch laufen, aber in einem hinkenden Trott, der Roland in den Augen weh tat .und ein wenig auch im Herzen. Auf der anderen Seite des Dorfplatzes, bei einem umgestürzten Wagen (an dessen Seite sich noch mehr getrocknete Blutspritzer zu befinden schienen), blieb das Tier stehen und warf einen Blick zurück. Es stieß ein verlorenes Heulen aus, bei dem sich Rolands Nackenhärchen noch weiter aufrichteten. Dann wandte sich der Hund ab, schlug einen Bogen um den umgestürzten Wagen herum und hinkte einen Pfad zwischen zwei Hütten entlang. Das war der Weg zum hinteren Tor von Eluria, vermutete Roland. Der Revolvermann führte sein sterbendes Pferd weiter, ging über den Platz zu dem Trog aus Eisenholz und sah hinein. Der angenagte Stiefel gehörte keinem Mann, sondern einem Jungen, der gerade erst zum Mann heranwuchs – und er wäre wahrlich ein großer Mann geworden, schätzte Roland, auch wenn man bedenken mußte, daß sein Körper aufgebläht war, da er eine unbekannte Zeitspanne in gut zwanzig Zentimeter tiefem Wasser lag, das unter der Sommersonne zu sieden schien. Die Augen des Jungen, jetzt nur noch milchige Kugeln, starrten blind wie die Augen einer Statue zu dem Revolvermann auf. Sein Haar schien die weiße Farbe des Alters zu haben, aber das lag am Wasser; wahrscheinlich war er ein Flachskopf gewesen. Seine Kleidung war die eines Cowboys, obwohl er kaum älter als vierzehn oder sechzehn gewesen sein konnte. Um den Hals, den man verschwommen unter Wasser erkannte, das in der Sommersonne langsam zu einem Fleischeintopf wurde, trug er ein goldenes Medaillon. Roland streckte die Hand ins Wasser, was ihm nicht benagte, aber er verspürte eine gewisse Verpflichtung. Er legte die Finger, um das Medaillon und zog. Die Kette riß, und Roland hob das tropfende Ding hoch. Er erwartete eigentlich das Sigul des Jesusmannes – das Kreuz oder Kruzifix genannt wurde –, aber statt dessen hing ein kleines Rechteck an der Kette. Das Objekt schien aus reinem Gold zu sein. Folgende Inschrift war darin eingraviert:

James Geliebt von seiner Familie. Geliebt von GOTT.

Roland, den der Ekel fast daran gehindert hatte, in das verseuchte Wasser zu greifen (als jüngerer Mann hätte er es nie und nimmer über sich gebracht), war nun doch froh, daß er es getan hatte. Vielleicht lief er nie jemandem über den Weg, der diesen Jungen geliebt hatte, aber er verstand genug von Ka, um zu begreifen, daß es dennoch der Fall sein mochte. Wie auch immer, es war richtig gewesen. Und es war richtig, dem Jungen ein anständiges Begräbnis zuteil werden zu lassen .das hieß, vorausgesetzt, er konnte den Leichnam aus dem Trog hieven, ohne daß er in der Kleidung zerfiel. Roland überlegte noch und versuchte, seine mögliche Pflicht unter diesen Umständen gegen den stärker werdenden Wunsch abzuwägen, aus dieser Stadt zu verschwinden, als Topsy schließlich tot umfiel. Der Rotschimmel sackte mit einem Knirschen des Sattelzeugs und einem letzten wiehernden Stöhnen zusammen, und prallte auf den Boden. Roland drehte sich um und sah acht Leute auf der Straße, die in einer Reihe auf ihn zukamen wie Treiber, die versuchen, Vögel oder Niederwild aufzuscheuchen. Ihre Haut sah grün und wächsern aus. Leute mit solcher Haut würden wahrscheinlich in der Dunkelheit leuchten wie Gespenster. Ihr Geschlecht war schwer zu schätzen, aber was für eine Rolle hätte es auch gespielt – für sie oder einen anderen? Sie waren, Langsame Mutanten, und sie schritten mit der gebückten Zielstrebigkeit von Leichen dahin, die ein geheimnisvoller Zauber wiederbelebt hatte. Der Staub hatte ihre Schritte wie ein Teppich gedämpft. Nachdem der Hund vertrieben war, hätten sie gut und gerne in Angriffsreichweite gelangen können, wenn Topsy Roland nicht den Gefallen getan hätte, in einem derart passenden Augenblick zu sterben. Schußwaffen konnte Roland keine sehen; sie waren mit Keulen bewaffnet. Es handelte sich vorwiegend um Tisch- und Stuhlbeine, aber Roland sah eine Keule, die mehr gemacht als zweckentfremdet aussah – eine Anzahl rostiger Nägel ragten daraus hervor, und Roland vermutete, daß sie sich einmal im Besitz eines Rausschmeißers im Saloon befunden hatte, möglicherweise desjenigen, der im Wilden Schwein das Sagen hatte. Roland hob die Pistole und richtete sie auf den Burschen in der Mitte der Reihe. Nun konnte er das Schlurfen ihrer Füße und das feuchte Schniefen ihres Atems hören. Als hätten sie alle einen schlimmen Brustkatarrh. Sind wahrscheinlich aus den Minen gekommen, dachte Roland. Irgendwo hier in der Gegend gibt es Radiumminen. Das würde die Haut erklären. Mich wundert, daß die Sonne sie nicht tötet. Vor seinen Augen starb dann tatsächlich einer von ihnen, zumindest brach er zusammen – derjenige am Ende, eine Kreatur mit einem Gesicht wie geschmolzenes Kerzenwachs. Er (Roland war ziemlich sicher, daß es sich um einen Mann handelte) fiel mit einem leisen, blubbernden Aufschrei auf die Knie und tastete nach der Hand des Dings, das neben ihm ging – etwas mit einem knotigen Kahlkopf und roten, nässenden Schwären am Hals. Diese Kreatur schenkte ihrem gestürzten Gefährten keine Beachtung, sondern hielt den Blick ihrer trüben Augen auf Roland gerichtet und schlurfte ungefähr im Gleichschritt mit seinen verbliebenen Gefährten weiter., »Bleibt stehen, wo ihr seid!« sagte Roland. »Nehmt euch in acht vor mir, wenn ihr den Abend noch erleben wollt! Nehmt euch sehr in acht vor mir!« Er sagte es vor allem zu dem in der Mitte, der uralte rote Hosenträger über einem zerfetzten Hemd trug und einen schmutzigen Bowler aufhatte. Dieser Herr hatte nur ein gutes Auge und betrachtete Roland mit einer Gier, die ebenso grauenerregend wie unmißverständlich war. Die Gestalt neben Bowler (Roland dachte, daß dies eine Frau sein könnte, mit verkümmerten Hängebrüsten unter der Jacke) warf das Stuhlbein, das sie in der Hand hielt. Die Richtung stimmte, aber der Wurf war zehn Meter zu kurz. Roland spannte den Hahn seines Revolvers und feuerte. Diesmal prasselte der Sand, den das Geschoß aufgewirbelt hatte, auf die zerfetzten Überreste der Schuhe von Bowler statt auf die Pfote eines lahmen Hundes. Das grüne Volk nahm nicht Reißaus, wie der Hund, aber sie blieben stehen und sahen Roland mit ihrer dumpfen Gier an. Waren die verschwundenen Bewohner von Eluria in den Mägen dieser Kreaturen gelandet? Roland konnte es nicht glauben .obgleich er sehr wohl wußte, daß solche wie sie keinerlei Skrupel vor Kannibalismus hatten. (Und vielleicht war es gar nicht wirklich Kannibalismus; wie konnte man derartige Wesen als Menschen betrachten, was auch immer sie einmal gewesen sein mochten?) Sie waren zu langsam, zu dumm. Wenn sie es gewagt hätten, in die Stadt zurückzukehren, nachdem der Sheriff sie verjagt hatte, wären sie verbrannt oder zu Tode gesteinigt worden. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, steckte Roland das Medaillon, das er dem toten Jungen abgenommen hatte, und die Kette in die Tasche seiner Jeans, weil er seine andere Hand frei haben wollte, um den zweiten Revolver zu ziehen, falls die Erscheinungen nicht zur Vernunft kamen. Sie standen da und starrten ihn an, während ihre seltsam verzerrten Schatten sich hinter ihnen auf dem Boden, abzeichneten. Was nun? Sollte er ihnen sagen, daß sie dorthin zurückkehren sollten, woher sie gekommen waren? Roland wußte nicht, ob sie das tun würden, und er hatte ohnehin beschlossen, daß er sie lieber irgendwo hatte, wo er sie sehen konnte. Wenigstens hatte sich die Frage, ob er hier bleiben und den Jungen namens James begraben sollte, erledigt; dieses Rätsel war gelöst worden. »Keine Bewegung«, sagte er in der Niedersprache und begann seinen Rückzug. »Der erste, der sich bewegt –« Bevor er zu Ende sprechen konnte, machte einer von ihnen – ein Troll mit tonnenförmiger Brust und dem Schmollmund einer Kröte, der offenbar Kiemen auf beiden Seiten seiner Halswülste hatte – einen Sprung vorwärts und schnatterte mit einer schrillen und seltsam kraftlosen Stimme. Es hätte sich um eine Form von Gelächter handeln können. Er schwang etwas, das wie das Bein eines Klaviers aussah. Roland schoß. Die Brust von Mr. Kröte stürzte ein wie ein baufälliges Dach. Er taumelte mehrere Schritte rückwärts, versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und griff sich mit der freien Hand an die Brust. Er stolperte über seine eigenen Füße, die in schmutzigen roten Samtslippern mit aufwärtsgekrümmten Spitzen steckten, fiel hin und gab ein eigentümliches und irgendwie einsames Röcheln von sich. Er ließ seine Keule los, rollte sich auf die Seite, versuchte aufzustehen und sackte in den Staub zurück. Die grelle Sonne schien ihm in die offenen Augen, und vor Roland stiegen weiße Rauchwölkchen von seiner Haut empor, die ihren grünen Farbton rasch verlor. Außerdem war ein Zischen zu hören, als hätte jemand auf eine heiße Herdplatte gespuckt. Spart wenigstens eine Erklärung, dachte Roland und ließ den Blick über die anderen schweifen. »Na gut; er war der erste, der sich bewegt hat. Wer möchte der zweite sein?« Offenbar keiner. Sie standen nur da, beobachteten ihn, kamen nicht näher .wichen aber auch nicht zurück. Er dachte (wie bei dem Kruzifix-Hund), daß er sie töten sollte, wie sie da standen,, daß er einfach seinen zweiten Revolver ziehen und sie niedermähen sollte. Es wäre eine Frage von Sekunden und mit seinen geübten Händen ein Kinderspiel, selbst wenn einige wegliefen. Aber er konnte es nicht. Nicht kaltblütig, einfach so. So ein Killer war er nicht .jedenfalls noch nicht. Sehr langsam trat er den Rückzug an, indem er sich erst um den Wassertrog herumtastete und ihn dann zwischen sich und sie brachte. Als Bowler einen Schritt nach vorne machte, ließ Roland den anderen in der Reihe keine Zeit, seinem Beispiel zu folgen; er feuerte zwei Zentimeter vor dem Fuß von Bowler eine Kugel in den Staub der Hochstraße. »Das war die letzte Warnung«, sagte er, immer noch in der Niedersprache. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn verstanden, und es kümmerte ihn auch nicht weiter. Er nahm an, daß sie die Melodie dieses Liedes nur zu gut verstanden. »Die nächste Kugel, die ich abfeuere, frißt das Herz von jemandem. Es läuft so ab, daß ihr bleibt und ich gehe. Ihr habt nur diese eine Chance. Folgt ihr mir, sterbt ihr alle. Es ist zu heiß für Spiele, und ich habe mein –« »Buh!« rief eine rauhe, verschleimte Stimme hinter ihm. Sie drückte unzweifelhaft Freude aus. Roland sah einen Schatten aus dem Schatten des umgestürzten Wagens wachsen, den er fast erreicht hatte, und hatte gerade noch Zeit zu begreifen, daß sich ein anderer vom grünen Volk dahinter versteckt haben mußte. Als er sich umdrehte, landete eine Keule auf Rolands Schulter und machte seinen rechten Arm bis zum Handgelenk taub. Er hielt die Waffe fest und schoß einmal, aber die Kugel bohrte sich in eines der Wagenräder, zertrümmerte eine hölzerne Speiche und versetzte das Rad mit einem hohen Quietschen in Bewegung. Hinter sich hörte Roland das grüne Volk auf der Straße heisere, kläffende Schreie ausstoßen, als sie losstürmten. Das Ding, das sich hinter dem umgestürzten Wagen versteckt hatte, war ein Monster mit zwei Köpfen, die aus einem Hals wuchsen, von denen einer das verkümmerte, schlaffe Gesicht eines Toten hatte. Der andere war zwar genauso grün, aber, lebendiger. Wulstige Lippen formten ein fröhliches Grinsen, als er die Keule hob, um erneut zuzuschlagen. Roland zog mit der linken Hand – die nicht taub und gelähmt war. Ihm blieb gerade noch Zeit, eine Kugel in das Grinsen des Hinterwäldlers zu schießen, so daß der in einem Sprühregen von Blut und Zähnen rückwärts geschleudert wurde und ihm die Keule aus den erschlaffenden Fingern fiel. Dann waren die anderen bei ihm und schlugen und knüppelten auf ihn ein. Es gelang dem Revolvermann, den ersten paar Schlägen auszuweichen, und einen Augenblick glaubte er, es könnte ihm gelingen, sich schnell hinter den umgestürzten Wagen zurückzuziehen, sich zurückzuziehen, umzudrehen und seine Revolver sprechen zu lassen. Ganz bestimmt würde ihm das gelingen. Ganz bestimmt sollte seine Suche nach dem Dunklen Turm nicht auf der sonnenversengten Straße einer kleinen, entlegenen Stadt im Westen namens Eluria enden, wo ihm ein halbes Dutzend Langsame Mutanten mit grüner Haut den Tod brachten. Sicher konnte Ka nicht so grausam sein. Aber Bowler erwischte ihn mit einem bösartigen Schlag von der Seite, und Roland prallte gegen das langsam kreisende Hinterrad des Wagens. Als er auf Hände und Knie ging, davonkroch und dabei versuchte, sich zu drehen und den Hieben auszuweichen, die auf ihn niederprasselten, sah er, daß es inzwischen viel mehr als ein halbes Dutzend waren. Mindestens dreißig grüne Männer und Frauen kamen auf den Dorfplatz zu. Dies war kein Klan, sondern ein verdammter Stamm. Und das im hellen, heißen Tageslicht! Langsame Mutanten waren seiner Erfahrung nach Kreaturen, die die Dunkelheit liebten, fast so etwas wie große Pilze mit Gehirn, und solche wie diese hatte er noch nie gesehen. Sie – Die Kreatur in der roten Jacke war eine Frau. Ihre bloßen Brüste, die unter der schmutzigen roten Jacke baumelten, waren das letzte, das er klar und deutlich sah, als die Meute sich um ihn drängte und mit Knüppeln auf ihn einschlug. Die Keule mit den Nägeln landete auf seiner rechten Wade, die dummen rostigen, Fangzähne bohrten sich tief hinein. Er versuchte wieder, einen seiner großen Revolver zu heben (seine Sehkraft schwand, aber das würde ihnen nichts nützen, wenn er zu schießen anfing; er war schon immer der Begabteste von allen gewesen; Jamie DeCurry hatte einmal behauptet, daß Roland mit verbundenen Augen schießen könnte, weil er Augen in den Fingern hätte), aber er wurde ihm aus der Hand in den Staub getreten. Obwohl er den glatten Sandelholzgriff des anderen noch spüren konnte, dachte er dennoch, daß die Waffe so gut wie weg war. Er konnte sie riechen – den durchdringenden, fauligen Geruch von verwesendem Fleisch. Oder waren das nur seine Hände, die er im kläglichen und vergeblichen Bemühen hob, seinen Kopf zu schützen? Seine Hände, die er in das verseuchte Wasser getaucht hatte, wo Fetzen und Streifen der Haut des toten Jungen geschwommen waren? Die Keulen prasselten auf ihn herab, überall, als wollte das grüne Volk ihn nicht nur erschlagen, sondern dabei gleich noch weichklopfen. Und als er in die Dunkelheit sank und überzeugt war, daß er sterben müßte, hörte er die Insekten singen, den Hund bellen, den er verschont hatte, und die Glocken läuten, die über der Kirchentür hingen. Diese Geräusche verschmolzen zu einer seltsam lieblichen Musik. Dann war auch sie verklungen; die Dunkelheit verschlang alles.

II. Aufstieg. In der Schwebe. Weiße Schönheit. Zwei

andere. Das Medaillon. Der Revolvermann kehrte nicht in die Welt zurück wie nach einem Schlag, wenn man das Bewußtsein langsam wiedererlangte (das hatte er schon mehrmals erlebt), und auch nicht wie beim Erwachen aus dem Schlaf. Seine Rückkehr glich einem Aufstieg. Ich bin tot, dachte er einmal im Verlauf dieses Vorgangs .als sein Denkvermögen zumindest teilweise wiederhergestellt worden war. Ich bin tot und steige in das Leben nach dem Tod empor. So muß es sein. Der Gesang, den ich höre, ist der Gesang der toten Seelen., Völlige Schwärze wich dem dunklen Grau von Regenwolken, dann dem helleren Grau von Nebel. Dieses hellte sich zur einförmigen Klarheit von Morgennebel auf, durch den Augenblicke später die Sonne bricht. Und über allem lag dieses Gefühl des Aufstiegs, als wäre er in einem milden, aber unentrinnbaren Aufwind gefangen. Als das Gefühl des Aufsteigens nachließ und die Helligkeit vor seinen Augen zunahm, begann Roland schließlich zu glauben, daß er noch lebte. Der Gesang überzeugte ihn. Keine toten Seelen, keine himmlischen Heerscharen der Engel, wie sie manchmal von den Predigern des Jesusmanns beschrieben wurden, sondern nur diese Insekten. Ein bißchen wie Grillen, aber lieblicher. Wie er sie in Eluria gehört hatte. Mit diesem Gedanken schlug er die Augen auf. Sein Glaube, daß er noch am Leben war, wurde auf eine harte Probe gestellt, denn Roland hing in der Schwebe in einer Welt weißer Schönheit – sein erster, verwirrter Gedanke war, daß er sich im Himmel befand und in einer Schönwetterwolke schwebte. Ringsum ertönte das zirpende Singen der Insekten. Und nun konnte er auch die Glocken läuten hören. Er versuchte, den Kopf zu drehen, und schwankte in einer Art Harnisch. Er konnte ihn knirschen hören. Der leise Gesang der Insekten, der sich anhörte wie Grillen im Gras am Ende eines Tages daheim in Gilead, geriet ins Stocken, der Rhythmus wechselte. In diesem Augenblick schienen Schmerzen wie ein Baum in Rolands Rücken zu wachsen. Er hatte keine Ahnung, woraus die brennenden Äste bestehen mochten, aber der Stamm war ganz sicher seine Wirbelsäule. Weitaus schlimmere Schmerzen pochten in einem seiner Beine – in seiner Verwirrung konnte der Revolvermann nicht feststellen, in welchem. Da hat mich die Keule mit den Nägeln getroffen, dachte er. Und weitere Schmerzen in seinem Kopf. Sein Schädel fühlte sich wie eine aufgeschlagene Eierschale an. Er schrie auf und konnte kaum glauben, daß das heisere Krächzen, das er hörte, aus seiner, eigenen Kehle kam. Außerdem bildete er sich ein, daß er in weiter Ferne den Kreuzhund bellen hören konnte. Liege ich im Sterben? Bin ich wieder einmal ganz am Ende aufgewacht? Eine Hand strich über seine Stirn. Er konnte sie spüren, aber nicht sehen – Finger wanderten über seine Haut und verweilten hier und da, um einen Knoten oder eine Falte zu massieren. Köstlich, wie ein Schluck kühlen Wassers an einem heißen Tag. Er wollte die Augen schließen, doch da kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Angenommen, diese Hand wäre grün, und die Frau, der sie gehörte, trüge eine zerrissene rote Jacke über ihren Hängebrüsten? Und wenn es so ist? Was könntest du tun? »Psst, Mann«, sagte die Stimme einer jungen Frau .vielleicht war es auch die Stimme eines Mädchens. Mit Sicherheit war die erste Person, an die Roland dachte, Susan, das Mädchen aus Mejis, die ihn mit Ihr angesprochen hatte. »Wo .wo ..« »Psst, nicht bewegen! ´s ist viel zu früh.« Der Schmerz in seinem Rücken klang ab, aber das Bild des Schmerzes in Form eines Baums blieb bestehen, denn seine Haut selbst schien sich zu bewegen wie Laub in einer sanften Brise. Wie konnte das sein? Er ließ die Frage auf sich beruhen – ließ alle Fragen auf sich beruhen – und konzentrierte sich auf die kleine, kühle Hand, die seine Stirn streichelte. »Psst, hübscher Mann. Gottes Liebe sei mit dir. Aber schwer verwundet bist du. Sei still. Werde gesund.« Der Hund hatte aufgehört zu bellen (wenn das nicht sowieso Einbildung gewesen war), und Roland bemerkte wieder dieses leise Knirschen. Es erinnerte ihn an Pferdezaumzeug oder etwas (Henkerstrick) woran er jetzt nicht denken wollte. Er bildete sich ein, daß er einen Druck unter seinen Oberschenkeln, seinen Pobacken und möglicherweise .ja, seinen Schultern spüren konnte., Ich bin gar nicht im Bett. Ich glaube, ich bin über einem Bett. Kann das sein? Er fragte sich, ob er in einer Schlinge sein konnte. Er glaubte sich zu erinnern, wie einmal ein Bursche, als er selbst noch ein Junge gewesen war, im Zimmer des Pferdedoktors hinter dem Großen Saal ähnlich aufgehängt gewesen war. Ein Stallbursche, der sich so schlimme Petroleumverbrennungen zugezogen hatte, daß man ihn nicht in ein Bett legen konnte. Der Mann war gestorben, aber nicht schnell genug; zwei Nächte waren seine schrillen Schreie durch die duftende sommerliche Luft über dem Versammlungsfeld gehallt. Bin ich demnach verbrannt, nichts weiter als ein Stück Schlacke mit Beinen, das in einer Schlinge hängt? Die Finger berührten seine Stirn in der Mitte und rieben das Stirnrunzeln weg, das sich dort bildete. Und es war, als hätte die Stimme, die zu der Hand gehörte, seine Gedanken gelesen und mit den Spitzen der empfindsamen, besänftigenden Finger aufgesogen. »Du wirst wieder gesund, wenn Gott will, Sai«, sagte die Stimme, die zu der Hand gehörte. »Aber die Zeit gehört Gott, nicht dir.« Nein, hätte er gesagt, wenn er dazu imstande gewesen wäre. Die Zeit gehört dem Turm. Dann sank er wieder so unbeschwert, wie er aufgestiegen war, nach unten, weg von der Hand und den traumhaften Geräuschen von Insekten und läutenden Glocken. Es folgte ein Intervall, der Schlaf gewesen sein konnte oder vielleicht Bewußtlosigkeit, aber bis ganz nach unten sank er nicht mehr. Einmal glaubte er, die Stimme des Mädchens zu hören, aber sicher war er nicht, weil die Stimme diesmal vor Wut oder Angst, oder beidem, verzerrt klang. »Nein!« schrie sie. »Ihr könnt es ihm nicht wegnehmen, und das wißt ihr! Geht eures Weges und redet nicht mehr davon, los!« Als er zum zweitenmal das Bewußtsein wiedererlangte, war er körperlich nicht kräftiger, aber geistig ein wenig mehr er selbst., Als er die Augen aufschlug, sah er nicht das Innere einer Wolke, sondern als erstes fiel ihm wieder derselbe Ausdruck ein – weiße Schönheit. In gewisser Weise war es der schönste Ort, den Roland je in seinem Leben besucht hatte .was teilweise natürlich daran lag, daß er noch ein Leben hatte, aber überwiegend daran, daß es hier so elfenhaft und friedlich war. Es war ein riesiges Zimmer, hoch und lang. Als Roland schließlich den Kopf drehte – vorsichtig, so vorsichtig –, um seine Größe abzuwägen, schätzte er, daß der Raum von einem Ende zum anderen mindestens zweihundert Meter lang sein mußte. Es war schmal, aber seine Höhe vermittelte den Eindruck einer immensen Geräumigkeit. Es gab keine Wände oder Decken in dem Sinne, wie er sie kannte, obwohl es ein wenig so war, als befände er sich in einem großen Zelt. Über ihm schien die Sonne auf bauschige Bahnen dünner weißer Seide, die das Licht dämpften und es in die hellen Wölbungen verwandelte, die er zunächst für Wolken gehalten hatte. Unter diesem Seidenbaldachin war der Raum so grau wie die Dämmerung. Die Wände, ebenfalls aus Seide, warfen Falten wie Segel in einer leichten Brise. An jeder Bahn befand sich ein durchhängendes Seil mit kleinen Glöckchen. Diese berührten den Stoff, und wenn sich die Wände bauschten, läuteten sie in einem leisen und bezaubernden Einklang wie ein Glockenspiel. Ein Gang verlief in der Mitte des langen Raumes; auf beiden Seiten standen Betten, jedes mit sauberen weißen Laken bezogen und gestärkten weißen Kissen am Kopf. Rund vierzig standen jenseits des Mittelgangs, alle leer, und vierzig auf Rolands Seite. Hier waren zwei weitere Betten belegt, eines rechts von Roland. Dieser Bursche – Es ist der Junge. Der in dem Trog gelegen hat. Bei dem Gedanken bekam Roland eine Gänsehaut auf den Armen, und ein häßlicher abergläubischer Schrecken durchfuhr ihn. Er betrachtete den schlafenden Jungen genauer. Kann nicht sein. Du bist nur verwirrt, das ist alles; es kann nicht sein., Aber auch nach eingehender Betrachtung konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Es sah zumindest so aus, als sei es der Junge aus dem Trog, wahrscheinlich krank (weshalb hätte er sich sonst an diesem Ort befinden sollen?), aber längst nicht tot; Roland konnte sehen, wie sich seine Brust langsam hob und senkte und die Finger, die über die Bettkante hingen, gelegentlich zuckten. Du hast ihn nicht gut genug sehen können, um wirklich sicher zu sein, und nach ein paar Tagen in diesem Trog hätte ihn seine eigene Mutter nicht mehr mit Sicherheit erkennen können. Aber Roland, der eine Mutter gehabt hatte, wußte es besser. Und er wußte auch, daß er das goldene Medaillon am Hals des Jungen gesehen hatte. Kurz vor dem Angriff des grünen Volks hatte er es dem Leichnam des Jungen abgenommen und in die Tasche gesteckt. Nun hatte es jemand – wahrscheinlich die Besitzer dieses Ortes, die das unterbrochene Leben des Burschen, der James hieß, auf wundersame Weise wiederhergestellt hatten – Roland abgenommen und dem Jungen wieder um den Hals gelegt. Hatte das Mädchen mit der wunderbar kühlen Hand es getan? Hielt sie Roland infolgedessen für einen Ghul, der die Toten bestahl? Der Gedanke gefiel ihm nicht. Tatsächlich machte ihn diese Vorstellung nervöser als der Gedanke, daß der aufgeblähte Leichnam des jungen Cowboys irgendwie seine normale Größe wiedererhalten hatte und wiederbelebt worden war. Weiter unten auf dieser Seite des Mittelgangs, rund ein Dutzend freie Betten von dem Jungen und Roland Deschain entfernt, sah der Revolvermann den dritten Insassen dieses seltsamen Lazaretts. Dieser Bursche sah aus, als wäre er mindestens viermal so alt wie der Junge, doppelt so alt wie der Revolvermann. Er hatte einen langen Bart, mehr grau als schwarz, der ihm in zwei verfilzten Strähnen auf die Brust reichte. Das zugehörige Gesicht war sonnenverbrannt, runzlig und aufgedunsen unter den Augen. Ein dicker, dunkler Wulst, den Roland für eine Narbe hielt, verlief von seiner linken Wange über, den Nasenrücken. Der bärtige Mann schlief entweder oder war bewußtlos – Roland konnte ihn schnarchen hören –, und er hing neunzig Zentimeter über seinem Bett, von einer komplexen Anordnung weißer Gurte gehalten, die in der trüben Luft schimmerten. Die Gurte überkreuzten sich und bildeten eine Reihe von Achten um den ganzen Körper des Mannes herum. Er sah aus wie ein Insekt in einem exotischen Spinnennetz. Er trug ein gazeartiges weißes Nachthemd. Einer der Gurte verlief unter seinen Pobacken und hob seinen Schritt in einer Weise an, als würde er die Wölbung seiner Genitalien der grauen und verträumten Luft darbieten. Weiter unten konnte Roland die dunklen Schattenrisse seiner Beine sehen. Sie wirkten verkrümmt wie uralte, abgestorbene Bäume. Roland mochte gar nicht daran denken, an wie vielen Stellen sie gebrochen sein mußten, um so auszusehen. Und doch schienen sie sich zu bewegen. Wie konnte das sein, wenn der bärtige Mann bewußtlos war? Vielleicht eine Täuschung durch das Licht oder die Schatten .vielleicht bewegte sich das gazeartige Nachthemd des Mannes in der leichten Brise oder .Roland wandte den Blick ab, sah zu den bauschigen Seidenbahnen hoch über sich empor und versuchte, seinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Was er gesehen hatte, war nicht von Wind oder den Schatten oder sonst etwas verursacht worden. Die Beine des Mannes bewegten sich irgendwie, ohne sich zu bewegen .wie sich Rolands Rücken deutlich fühlbar bewegt hatte, ohne sich zu bewegen. Er wußte nicht, was ein derartiges Phänomen verursachen konnte – und wollte es auch nicht wissen, jedenfalls noch nicht. »Ich bin nicht bereit«, flüsterte er. Seine Lippen fühlten sich sehr trocken an. Er machte die Augen wieder zu, wollte schlafen, wollte nicht darüber nachdenken, was die verkrümmten Beine des Mannes über seinen eigenen Zustand aussagen mochten. Aber- Aber du solltest dich besser bereit machen. Das war die Stimme, die sich stets zu melden schien, wenn er versuchte, sich durchzumogeln oder eine Arbeit aufzugeben oder, den einfachsten Weg um ein Hindernis herum zu suchen. Es war die Stimme von Gort, seinem alten Lehrmeister. Der Mann, dessen Stock sie als Jungs alle gefürchtet hatten. Aber seinen Stock hatten sie nicht so sehr gefürchtet wie seinen Mund. Seinen Spott, wenn sie schwach waren, seine Verachtung, wenn sie sich beschwerten oder versuchten, über ihr Los zu jammern. Bist du ein Revolvermann, Roland? Wenn ja, dann solltest du dich besser bereit machen. Roland schlug die Augen wieder auf und drehte den Kopf nach links. Dabei spürte er, wie sich etwas an seiner Brust verschob. Sehr langsam nahm er die rechte Hand aus der Schlinge. Die Schmerzen in seinem Rücken erwachten murmelnd. Er verharrte reglos, bis er sicher war, daß sie nicht mehr schlimmer werden würden (jedenfalls wenn er vorsichtig war), dann schob er die Hand das restliche Stück bis zur Brust. Er berührte fein gesponnenes Tuch. Baumwolle. Er preßte das Kinn auf das Brustbein und sah, daß er das gleiche Nachthemd trug wie das, von dem der Körper des bärtigen Mannes verhüllt wurde. Roland schob die Hand unter die Halsöffnung des Nachthemds und fühlte eine feine Kette. Ein Stück weiter unten stießen seine Finger auf ein rechteckiges Stück Metall. Er glaubte zu wissen, was es war, mußte aber Gewißheit haben. Er zog es heraus, wobei er sich immer noch mit großer Vorsicht bewegte und versuchte, seine Rückenmuskulatur nicht zu belasten. Ein goldenes Medaillon. Er riskierte Schmerzen und hob es hoch, bis er die Gravur lesen konnte:

James Geliebt von seiner Familie. Geliebt von GOTT.

Er steckte es in das Nachthemd zurück und sah wieder zu dem schlafenden Jungen im Nachbarbett – im Bett, nicht darüber, aufgehängt. Die Decke war nur bis zu den Rippen des Jungen hochgezogen, das Medaillon lag auf seiner Brust, auf dem makellosen Weiß des Nachthemds. Dasselbe Medaillon, das Roland nun trug. Außer .Roland glaubte, daß er verstand, und dieses Verstehen war eine Erleichterung. Er sah wieder zu dem bärtigen Mann und bemerkte etwas höchst Seltsames: Der dicke, schwarze Wulst der Narbe auf Wange und Nase des bärtigen Mannes war verschwunden. Wo er gewesen war, befand sich nun das rosarote Mal einer heilenden Wunde .möglicherweise einer Schnitt- oder Hiebverletzung. Ich habe es mir eingebildet. Nein, Revolvermann, entgegnete Corts Stimme. Deinesgleichen ist nicht mit Einbildungskraft bedacht. Wie du sehr wohl weißt. Die wenigen Bewegungen hatten ihn wieder müde gemacht .vielleicht war es aber auch das Denken gewesen, das ihn wirklich müde gemacht hatte. Die singenden Insekten und läutenden Glocken taten sich zusammen und ließen eine Art Schlummerlied erklingen, dem er sich nicht entziehen konnte. Als Roland diesmal die Augen zumachte, schlief er.

III. Fünf Schwestern. Jenna. Die Ärzte von Eluria. Das Medaillon. Ein Schweigegelübde.

Als Roland wieder erwachte, war er zunächst sicher, daß er immer noch schlief. Träumte. Einen Alptraum hatte. Einst, zu der Zeit, als er Susan Delgado getroffen und sich in sie verliebt hatte, hatte er eine Hexe namens Rhea gekannt – die erste echte Hexe von Mittwelt, der er je begegnet war. Sie war schuld an Susans Tod, auch wenn Roland selbst dabei eine Rolle gespielt hatte. Als er nun die Augen aufschlug und Rhea nicht nur einmal, sondern fünfmal sah, dachte er: Das kommt davon, wenn man sich an alte Zeiten erinnert. Als ich Susan heraufbeschworen habe, da habe ich auch Rhea vom Coos heraufbeschworen. Rhea und ihre Schwestern., Die fünf trugen wallende Gewänder so weiß wie die Wände und Deckenbahnen. Ihre steinalten Vettelgesichter wurden von ebenfalls weißen Hauben eingerahmt, und im Vergleich dazu wirkte ihre Haut so grau und runzlig wie ausgetrocknete Erde. Von den Seidenbändern, die ihr Haar gefangenhielten (wenn sie denn tatsächlich Haare hatten), hingen wie Gebetsriemen Kordeln mit winzigen Glöckchen, die läuteten, wenn sie sich bewegten oder redeten. In Brusthöhe war eine blutrote Rose auf ihre schneeweißen Gewänder gestickt .das Sigul des Dunklen Turms. Als er das sah, dachte Roland: Ich träume nicht. Diese Hexen sind real. »Er wacht auf!« rief eine mit einer grausig koketten Stimme. »Oooo!« »Ooooh!« »Ah!« Sie flatterten herum wie Vögel. Die in der Mitte trat vor, und dabei schienen ihre Gesichter alle zu wabern wie die Seidenwände der Station. Er sah, daß sie doch nicht alt waren – vielleicht in mittlerem Alter, aber nicht alt. Doch. Sie sind alt. Sie haben sich verändert. Diejenige, die nun das Kommando übernahm, war größer als die anderen und hatte eine breite, leicht gewölbte Stirn. Sie beugte sich über Roland, und die Glöckchen, die ihr Gesicht umrahmten, klingelten. Irgendwie wurde Roland bei dem Geräusch übel, und er fühlte sich schwächer als noch einen Augenblick zuvor. Ihre hellbraunen Augen waren stechend. Möglicherweise gierig. Sie berührte seine Wange einen Moment, und ein taubes Gefühl schien sich von der Stelle auszubreiten. Dann sah sie nach unten, worauf ein Ausdruck, den man beunruhigt hätte nennen können, ihr Gesicht verzerrte. Sie nahm die Hand weg. »Du wachst auf, hübscher Mann. Das tust du. ´s ist gut.« »Wer seid ihr? Wo bin ich?«, »Wir sind die Kleinen Schwestern von Eluria«, sagte sie. »Ich bin Schwester Mary. Hier sind Schwester Louise, Schwester Michela, Schwester Coquina –« »Und Schwester Tamra«, sagte die letzte. »Ein hübsches Mädchen von eins-und-zwanzig Jahren.« Sie kicherte. Ihr Gesicht flimmerte, und einen Moment sah sie wieder so alt wie die Welt aus. Hakennase, graue Haut. Roland mußte wieder an Rhea denken. Sie kamen näher, umringten den komplizierten Harnisch, in dem er freischwebend hing, und als Roland zurückschreckte, loderten die Schmerzen in seinem Rücken und dem verletzten Bein wieder auf. Er stöhnte. Die Bänder, die ihn festhielten, ächzten. »Ooooo!« »Es tut weh!« »Tut ihm weh!« »So schrecklich weh!« Sie drängten sich noch näher, als faszinierten die Schmerzen sie. Und nun konnte er sie riechen, einen trockenen, erdigen Geruch. Die namens Schwester Michela streckte die Hand aus – »Geht weg! Laßt ihn in Ruhe! Hab´ ich es euch nicht schon mal gesagt?« Sie sprangen erschrocken zurück, als die Stimme ertönte. Schwester Mary sah besonders erbost aus. Aber sie zog sich mit einem letzten finsteren Blick (Roland hätte es beschworen) auf das Medaillon zurück, das auf seiner Brust lag. Als er das letzte Mal erwacht war, hatte er es unter das Nachthemd geschoben, aber nun war es wieder draußen. Eine sechste Schwester erschien und zwängte sich grob zwischen Mary und Tamra hindurch. Diese hier war vielleicht tatsächlich erst eins-und-zwanzig und hatte rosige Wangen, glatte Haut und dunkle Augen. Ihre weiße Tracht bauschte sich wie ein Traum. Die rote Rose auf ihrer Brust zeichnete sich ab wie ein Fluch. »Geht! Laßt ihn in Ruhe!«, »Oooo, meine Liebe!« rief Schwester Louise mit einer lachenden und zugleich wütenden Stimme. »Da ist Jenna, das Baby – und hat sie sich nicht in ihn verliebt?« »Das hat sie!« lachte Tamra. »Baby gehört ihm mit ganzem Herzen!« »Oh, so ist es!« stimmte Schwester Coquina zu. Mary drehte sich zu dem Neuankömmling um und schürzte die Lippen zu einem verkniffenen Lächeln. »Du hast hier nichts zu suchen, unverschämtes Mädchen.« »Wenn ich es sage, dann doch«, entgegnete Schwester Jenna. Nun schien sie selbstbewußter zu sein. Eine schwarze Haarlocke war unter ihrer Haube hervorgerutscht und lag auf ihrer Stirn wie ein Komma. »Geht jetzt! Er ist nicht in der Verfassung für eure Scherze und euer Gelächter.« »Gib uns keine Befehle«, sagte Schwester Mary, »denn wir machen niemals Scherze. Das weißt du, Schwester Jenna.« Das Gesicht des Mädchens wurde etwas sanfter, und Roland sah, daß sie sich fürchtete. Da bekam er Angst um sie. Und auch um sich. »Geht«, wiederholte sie. »´s ist nicht die Zeit. Gibt es keine anderen zu versorgen?« Schwester Mary schien zu überlegen. Die anderen beobachteten sie. Schließlich nickte sie und sah lächelnd auf Roland herab. Wieder schien ihr Gesicht zu wabern, wie etwas, das man hinter Hitzeflimmern sieht. Was er darunter sah (oder zu sehen glaubte), war gräßlich und argwöhnisch. »Gehab dich wohl, hübscher Mann«, sagte sie zu Roland. »Bleib ein Weilchen bei uns, und wir werden dich heilen.« Habe ich eine andere Wahl? dachte Roland. Die anderen lachten, ein Vogelzwitschern, das im Halbdunkel aufstieg wie Girlanden. Schwester Michela warf ihm tatsächlich eine Kußhand zu. »Kommt, meine Damen!« rief Schwester Mary. »Wir lassen Jenna bei ihm im Andenken an ihre Mutter, die wir über alles geliebt haben!« Und damit führte sie die anderen weg, fünf weiße, Vögel, die den Mittelgang hinunterschwebten, so daß ihre Röcke hierhin und dorthin nickten. »Danke«, sagte Roland und sah zu dem Mädchen auf, dem die kühle Hand gehörte .denn er wußte, daß sie es war, die ihn getröstet hatte. Sie nahm seine Finger, als wollte sie es ihm beweisen, und liebkoste sie. »Sie wollen dir nichts Böses«, sagte sie .aber Roland sah, daß sie kein Wort davon glaubte, und er auch nicht. Er steckte hier in Schwierigkeiten, in großen Schwierigkeiten. »Was ist das für ein Haus?« »Unser Haus«, sagte sie nur. »Das Heim der Kleinen Schwestern von Eluria. Unser Kloster, wenn du so willst.« »Dies ist kein Kloster«, sagte Roland und betrachtete die freien Betten hinter ihr. »Es ist ein Lazarett. Oder nicht?« »Ein Hospital«, sagte sie und streichelte weiter seine Finger. »Wir dienen den Ärzten .und sie dienen uns.« Roland faszinierte die Haarlocke auf ihrer milchweißen Stirn – er hätte sie gestreichelt, wenn er gewagt hätte, die Hand zu heben. Nur um zu spüren, wie sie sich anfühlte. Er fand sie wunderschön, weil sie das einzige Dunkle in dem ganzen Weiß war. Das Weiß hatte seinen Reiz für ihn verloren. »Wir sind Krankenschwestern .oder waren es, bevor die Welt sich weitergedreht hat.« »Gehört ihr zu dem Jesusmann?« Einen Moment sah sie überrascht aus, fast erschrocken, dann lachte sie herzlich. »Nein, wir doch nicht!« »Wenn ihr Krankenschwestern seid .Pflegerinnen .wo sind die Ärzte?« Sie sah ihn an und biß sich auf die Lippe, als müßte sie eine Entscheidung treffen. Roland fand ihre Zweifel über die Maßen bezaubernd und stellte fest, daß er, krank hin oder her, zum erstenmal eine Frau als Frau ansah, seit Susan Delgado gestorben war, und das war lange her. Seitdem hatte sich die ganze Welt verändert, und das nicht zum Besseren. »Möchtest du das wirklich wissen?«, »Ja, natürlich«, sagte er ein wenig überrascht. Und ein wenig beunruhigt. Er erwartete, daß ihr Gesicht flimmern und sich verändern würde wie die Gesichter der anderen. Aber dazu kam es nicht. Und sie hatte auch nicht diesen unangenehmen Geruch nach toter Erde an sich. Warte, ermahnte er sich. Traue nichts hier, am allerwenigsten deinen Sinnen. Noch nicht. »Ich schätze, du mußt es wissen«, sagte sie seufzend. Dabei läuteten die Glöckchen an ihrer Stirn, die dunkler waren als jene, die die anderen trugen – nicht schwarz, so wie ihr Haar, aber irgendwie verkohlt, als hätten sie im Rauch eines Lagerfeuers gehangen. Ihr Klang freilich war reinstes Silber. »Versprich mir, daß du nicht schreien und den Pube in jenem Bett dort wecken wirst.« »Den Pube?« »Den Jungen. Versprichst du es?« »Aye«, sagte er und verfiel in den halbvergessenen Dialekt des Äußeren Bogens, ohne es zu merken. Susans Dialekt. »Es ist lange her, daß ich zum letztenmal geschrien habe, meine Hübsche.« Daraufhin errötete sie eindeutig, natürlichere und lebendigere Rosen als die auf ihrer Brust stiegen in ihre Wangen. »Nenne nicht hübsch, was du nicht richtig sehen kannst«, sagte sie. »Dann nimm die Haube ab, die du trägst.« Ihr Gesicht konnte er deutlich sehen, aber mehr als alles andere wollte er ihr Haar sehen – sehnte sich fast verzweifelt danach. Eine schwarze Flut in all diesem verträumten Weiß. Natürlich konnte es geschoren sein, weil alle in ihrem Orden es so trugen, aber irgendwie glaubte er das nicht. »Nein, ´s ist verboten.« »Von wem?« »Der großen Schwester.« »Die sich Mary nennt?«, »Aye, sie.« Sie wandte sich ab, hielt inne, sah über die Schulter. Bei einem anderen Mädchen ihres Alters, das ebenso hübsch war, hätte dieser Blick frivol gewirkt. Bei diesem Mädchen war er nur ernst. »Denk an dein Versprechen.« »Aye, kein Schrei.« Sie ging mit schwingendem Rock zu dem bärtigen Mann. Im Halbdunkel warf sie nur den Hauch eines Schattens auf die freien Betten, an denen sie vorbeischritt. Als sie den Mann erreichte (der bewußtlos war, dachte Roland, und nicht nur schlief), drehte sie sich noch einmal zu Roland um. Er nickte. Schwester Jenna trat auf der anderen Seite des Betts dicht an den hängenden Mann heran, so daß Roland sie durch die Schlingen und Schlaufen aus gewobener weißer Seide sah. Sie legte die Hand behutsam auf die linke Seite seiner Brust, beugte sich über ihn .und schüttelte den Kopf von einer Seite auf die andere, als würde sie heftig etwas verneinen. Die Glöckchen an ihrer Stirn läuteten hell, und Roland verspürte erneut seltsame Regungen in seinem Rücken, gefolgt von einer sanften Aufwallung von Schmerz. Es war, als wäre er erschauert, ohne richtig zu erschauern, oder wie in einem Traum. Was als nächstes geschah, entlockte ihm fast doch einen Schrei; er mußte die Zähne zusammenbeißen. Wieder schienen sich die Beine des bewußtlosen Mannes zu bewegen, ohne sich zu bewegen .weil sich das bewegte, was auf ihnen war. Die haarigen Schienbeine, Knöchel und Füße des Mannes ragten unter dem Saum seines Nachthemds hervor. Eine schwarze Welle von Käfern glitt an ihnen entlang. Sie zirpten heftig, wie eine Kolonne, die beim Marschieren singt. Roland erinnerte sich an die schwarze Narbe auf Wange und Nase des Mannes – die Narbe, die verschwunden war. Das waren natürlich auch solche Käfer gewesen. Und sie waren auch auf ihm. So konnte er zittern, ohne zu zittern. Sie waren überall auf seinem Rücken. Labten sich an ihm., Nein, es war nicht so leicht, wie er gedacht hatte, einen Schrei zu unterdrücken. Die Käfer liefen zu den Zehenspitzen des schwebenden Mannes und sprangen in Wellen von ihm herunter wie Geschöpfe, die von einem Ufer in einen Tümpel sprangen. Sie sammelten sich rasch und unproblematisch auf dem blütenweißen Laken darunter und marschierten als rund dreißig Zentimeter breites Bataillon auf den Boden hinunter. Roland konnte sie nicht richtig sehen, die Entfernung war zu groß und das Licht zu schwach, dachte aber, daß sie ungefähr doppelt so groß wie Ameisen waren und etwas kleiner als die dicken Honigbienen, die zu Hause über die Blumenbeete geschwirrt waren. Sie sangen, während sie marschierten. Der bärtige Mann sang nicht. Als die Schwärme der Käfer, die seine verkrümmten Beine bedeckt hatten, sich zurückzogen, erschauerte er und stöhnte. Die junge Frau legte ihm die Hand auf die Stirn und tröstete ihn, was Roland trotz des Ekels, den er empfand, ein wenig eifersüchtig machte. Aber war das, was er sah, wirklich so gräßlich? In Gilead waren Egel bei gewissen Leiden zur Anwendung gekommen – vorwiegend bei Schwellungen am Gehirn, an Achselhöhlen und Lenden. Was das Gehirn betraf, waren die Egel, so häßlich sie waren, unbedingt der nächsten Stufe vorzuziehen, die in einer Schädelbohrung bestand. Und doch hatten sie etwas Abstoßendes an sich, vielleicht nur, weil er sie nicht sehen konnte und es schrecklich war, sich vorzustellen, daß sie über seinen ganzen Rücken wuselten, während er hier hilflos hing. Aber nicht sangen. Warum nicht? Weil sie fraßen? Schliefen? Beides gleichzeitig? Das Stöhnen des bärtigen Mannes klang ab. Die Käfer marschierten auf dem Boden zu einer der sanft wallenden Seidenwände. Roland verlor ihre Spur in den Schatten., Jenna kam mit besorgten Blicken zu ihm zurück. »Hast dich gut gehalten. Aber ich sehe, wie du dich fühlst; es steht dir im Gesicht geschrieben.« »Die Ärzte«, sagte er. »Ja. Ihre Macht ist sehr groß, aber ..« Sie senkte die Stimme. »Ich fürchte, dem Alten können sie nicht mehr helfen. Seine Beine sind ein bißchen besser, und die Wunden in seinem Gesicht sind fast verheilt, aber er hat Verletzungen, wo die Ärzte nicht hinkommen.« Sie strich mit einer Hand über ihre Leibesmitte, womit sie die verletzten Stellen andeutete, wenn schon nicht die Art der Verletzungen. »Und ich?« fragte Roland. »Bist vom grünen Volk geschnappt worden«, sagte sie. »Mußt sie mächtig geärgert haben, daß sie dich nicht gleich getötet haben. Statt dessen haben sie dich mit Seilen gefesselt und verschleppt. Tamra, Michela und Louise waren draußen und haben Krauter gesammelt. Sie haben gesehen, wie das grüne Volk mit dir gespielt hat, und ihm Einhalt geboten, aber –« »Machen die Muties immer, was ihr sagt, Schwester Jenna?« Sie lächelte, vielleicht weil sie sich freute, daß er sich an ihren Namen erinnerte. »Nicht immer, aber meistens. Diesmal haben sie es, sonst hättest du schon deine Lichtung am Ende des Weges gefunden.« »Das nehme ich an.« »Die Haut auf deinem Rücken war fast völlig abgezogen – rot warst du vom Nacken bis zur Taille. Die Narben wirst du immer tragen, aber die Ärzte haben dich schon gut wiederhergestellt. Und ihr Gesang ist recht schön, oder nicht?« »Ja«, sagte Roland, aber der Gedanke, daß diese schwarzen Biester über seinen Rücken krabbelten und auf seinem rohen Fleisch saßen, stieß ihn immer noch ab. »Ich schulde dir Dank und spreche ihn freimütig aus. Wenn ich etwas für dich tun kann –« »Dann sag mir deinen Namen. Tu das.«, »Ich bin Roland von Gilead. Ein Revolvermann. Ich hatte Revolver, Schwester Jenna. Hast du sie gesehen?« »Ich habe keine Schießeisen gesehen«, sagte sie, wandte aber den Blick ab. Die Rosen erblühten wieder auf ihren Wangen. Sie mochte eine gute Krankenschwester sein, und hübsch, aber Roland fand, daß sie eine schlechte Lügnerin war. Das freute ihn. Gute Lügner gab es viele. Ehrlichkeit, auf der anderen Seite, war Mangelware. Laß die Unwahrheit vorerst durchgehen, sagte er zu sich. Ich fürchte, sie sagt sie aus Furcht. »Jenna!« Der Ruf ertönte aus den dunkleren Schatten am anderen Ende des Lazaretts – das dem Revolvermann heute länger denn je vorkam –, und Schwester Jenna zuckte schuldbewußt zusammen. »Komm her! Du hast genug Worte gewechselt, um zwanzig Männer zu unterhalten! Laß ihn schlafen!« »Aye!« rief sie und drehte sich zu Roland um. »Verrate nicht, daß ich dir die Ärzte gezeigt habe.« »Meine Lippen sind versiegelt, Jenna.« Sie verharrte, biß sich wieder auf die Lippe und schob plötzlich ihre Haube zurück. Die Haube fiel unter leisem Glockengeläut auf ihren Rücken. Das aus seinem Gefängnis befreite Haar umspielte ihre Wangen wie Schatten. »Bin ich hübsch? Bin ich es? Sag mir die Wahrheit, Roland von Gilead – keine Schmeichelei. Schmeichelei ist nur eine Kerzenlänge lang gütig.« »Hübsch wie eine Sommernacht.« Was sie in seinem Gesicht sah, schien sie mehr zu erfreuen als seine Worte, denn sie lächelte strahlend. Sie zog die Haube wieder auf und steckte das Haar mit blitzschnellen, knappen Bewegungen ihrer Finger darunter. »Sehe ich anständig aus?« »So anständig wie hübsch«, sagte er, dann hob er vorsichtig einen Arm und zeigte auf ihre Stirn. »Eine Locke schaut heraus .genau da.«, »Aye, es ist immer diese eine, die mir einen Streich spielt.« Mit einer komischen kurzen Grimasse schob sie die Locke zurück. Roland überlegte sich, wie gern er ihre rosigen Wangen geküßt hätte .und vielleicht obendrein auch ihren rosigen Mund. »Alles an seinem Platz«, sagte er. »Jenna!« Der Ruf klang ungeduldiger denn je. »Meditation!« »Ich komme sofort!« rief sie zurück und raffte ihre voluminösen Röcke, um zu gehen. Aber sie wandte sich noch einmal um, und nun war ihr Gesicht sehr streng und ernst. »Eines noch«, sagte sie mit einer Stimme, die nur ein Hauch lauter als ein Flüstern war. Sie warf hastig einen Blick hinter sich. »Das goldene Medaillon, das du trägst – das trägst du, weil es deins ist. Hast du verstanden .James?« »Ja.« Er drehte den Kopf ein wenig und sah den schlafenden Jungen an. »Das ist mein Bruder.« »Wenn sie dich fragen, ja. Alles andere würde Jenna in große Schwierigkeiten bringen.« In wie große, fragte er nicht, aber sie hatte sich ohnehin schon entfernt und schien mit dem gerafften Rock in einer Hand an den freien Betten vorbei durch den Mittelgang zu schweben. Die Rosen waren aus ihrem Gesicht verschwunden, so daß ihre Wangen und Stirn wie Asche wirkten. Er erinnerte sich an die gierigen Mienen der anderen, wie sie sich immer enger um ihn geschart hatten .und wie ihre Gesichter geflimmert hatten. Sechs Frauen, fünf alt und eine jung. Ärzte, die sangen und auf dem Boden davonkrabbelten, wenn sie von läutenden Glöckchen verscheucht wurden. Und eine merkwürdige Krankenstation mit rund hundert Betten, eine Station mit Decke und Wänden aus Seide .und alle Betten leer, bis auf drei. Roland wußte nicht, weshalb Jenna das Medaillon des toten Jungen aus seiner Hosentasche genommen und es ihm um den Hals gelegt hatte, vermutete aber, wenn sie es herausfanden, würden die Kleinen Schwestern von Eluria sie dafür töten., Roland machte die Augen zu, und der leise Gesang der Ärzte- Insekten lullte ihn wieder in den Schlaf.

IV. Ein Teller Suppe. Der Junge im Nachbarbett. Die Nachtschwestern.

Roland träumte, daß ein sehr großer Käfer (möglicherweise ein Ärzte-Käfer) um seinen Kopf flog und mehrfach gegen seine Nase stieß – Zusammenstöße, die eher ärgerlich als schmerzhaft waren. Er schlug wiederholt nach dem Käfer, und obwohl seine Hände unter normalen Umständen unheimlich schnell waren, verfehlte er ihn immer. Und jedesmal, wenn er ihn verfehlte, kicherte der Käfer. Ich bin langsam, weil ich krank war, dachte er. Nein, in einen Hinterhalt geraten bin. Von Langsamen Mutanten über die Erde geschleift, von den Kleinen Schwestern von Eluria gerettet. Plötzlich sah Roland deutlich das Bild vom Schatten eines Mannes vor sich, der aus dem Schatten eines umgestürzten Wagens wuchs; hörte eine rauhe, hämische Stimme rufen: »Buh!« Er erwachte und zuckte so heftig zusammen, daß sein ganzer Körper in der Verflechtung von Schlingen schwankte, und die Frau, die neben seinem Kopf gestanden und gekichert hatte, während sie ihm leicht mit einem Holzlöffel auf die Nase schlug, so hastig zurückwich, daß ihr der Teller in der anderen Hand aus den Fingern glitt. Rolands Hände schossen vor, und sie waren so schnell wie eh und je – seine vergeblichen Versuche, den Käfer zu fangen, waren nur ein Teil seines Traums gewesen. Er fing den Teller, bevor mehr als ein paar Tropfen verschüttet werden konnten. Die Frau – Schwester Coquina – sah ihn mit großen, runden Augen an. Die plötzliche Bewegung hatte Schmerzen in seinem ganzen Rücken ausgelöst, aber sie waren längst nicht mehr so schlimm wie zuvor, und er verspürte auch keine Bewegung mehr auf der, Haut. Vielleicht schliefen die »Ärzte« nur, aber er hatte den Verdacht, daß sie fort waren. Er streckte die Hand nach dem Löffel aus, mit dem Coquina ihn geneckt hatte (ihn überraschte nicht im geringsten, stellte er fest, daß jemand wie sie einen kranken und schlafenden Mann derart necken konnte; es hätte ihn nur überrascht, wenn es Jenna gewesen wäre), und sie gab ihm den Löffel – immer noch mit großen Augen. »Wie schnell du bist!« sagte sie. »´s war wie ein Zaubertrick, und dabei warst du noch gar nicht richtig wach!« »Vergiß es nie, Sai«, sagte er und kostete die Suppe. Winzige Stücke Hühnerfleisch schwammen darin. Unter anderen Umständen wäre sie ihm wahrscheinlich fad vorgekommen, aber unter diesen schmeckte sie wie Ambrosia. Er schlang sie gierig hinunter. »Was meinst du damit?« fragte sie. Das Licht war jetzt sehr gedämpft, die Wandbespannung auf der anderen Seite rosa- orange getönt, was auf Sonnenuntergang schließen ließ. In diesem Licht sah Coquina recht jung und hübsch aus .aber Roland war sicher, daß es eine Täuschung war; eine Art von zauberischem Make-up. »Ich meine nichts im besonderen.« Roland legte den Löffel weg, weil es zu langsam damit ging, und führte statt dessen den ganzen Teller zum Mund. Auf diese Weise verschlang er die Suppe in vier großen Schlucken. »Ihr seid gütig zu mir gewesen – « »Aye, das waren wir!« sagte sie leicht verschnupft. »– und ich hoffe, es gibt keine versteckten Motive für eure Güte. Falls doch, Schwester, denken Sie daran, daß ich schnell bin. Und was mich selbst betrifft, ich bin nicht immer gütig gewesen.« Sie antwortete nicht, nahm nur den Teller, den Roland ihr reichte. Ganz zaghaft, vielleicht weil sie seine Finger nicht berühren wollte. Ihr Blick fiel auf die Stelle, wo das Medaillon wieder unter seinem Nachthemd verborgen lag. Er sagte nichts, mehr, weil er seine Drohung nicht abschwächen wollte, indem er sie daran erinnerte, daß der Mann, der sie ausgesprochen hatte, unbewaffnet war, so gut wie nackt, und in der Luft hing, weil sein Rücken das Gewicht seines Körpers noch nicht tragen konnte. »Wo ist Schwester Jenna?« fragte er. »Oooo«, sagte Schwester Coquina und zog die Brauen hoch. »Wir mögen sie, nicht wahr? Sie läßt unser Herz ..« Sie legte die Hand auf die Rose an ihrer Brust und bewegte sie schnell auf und ab. »Keineswegs, keineswegs«, sagte Roland, »aber sie war gütig. Ich bezweifle, daß sie mich mit einem Löffel geneckt hätte, wie einige das gerne tun.« Schwester Coquinas Lächeln erlosch. Sie sah wütend und besorgt zugleich aus. »Sag nichts davon zu Schwester Mary, wenn sie später vorbeischaut. Ich könnte Ärger bekommen.« »Was geht mich das an?« »Ich könnte mich an jemand rächen, der mich in Schwierigkeiten bringt, indem ich die kleine Jenna in Schwierigkeiten bringe«, sagte Schwester Coquina. »Sie steht sowieso schon im schwarzen Buch der Großen Schwester. Schwester Mary hat gar nicht gefallen, wie Jenna deinetwegen mit ihr gesprochen hat .und noch weniger gefällt ihr, daß Jenna die Dunklen Glocken trug, als sie zu uns zurückgekommen ist.« Kaum waren diese Worte aus ihrem Mund, schlug Schwester Coquina eine Hand vor dieses vorlaute Organ, als wäre ihr klar geworden, daß sie zuviel gesagt hatte. Roland faszinierte, was sie gerade gesagt hatte, aber er wollte es ihr nicht gerade jetzt zeigen, daher antwortete er nur: »Ich werde nichts über Sie verraten, wenn Sie Schwester Mary nichts über Jenna verraten.« Coquina wirkte erleichtert. »Aye, dann sind wir uns einig.« Sie beugte sich verschwörerisch nach vorne. »Sie ist im Haus der Besinnung. Dorthin müssen wir zum Meditieren, wenn die Große Schwester meint, daß wir unartig gewesen sind. Jenna muß dort bleiben und über ihre Unverschämtheit nachdenken, bis, Schwester Mary sie herausläßt.« Nach einer Pause fügte sie unvermittelt hinzu: »Wer ist das da neben dir? Kennst du ihn?« Roland drehte den Kopf und sah, daß der junge Mann erwacht war und zugehört hatte. Seine Augen waren so dunkel wie die von Jenna. »Ob ich ihn kenne?« fragte Roland mit dem, wie er hoffte, angemessenen Anflug von Verachtung in der Stimme. »Sollte ich meinen eigenen Bruder nicht kennen?« »Ist er das wirklich, wo du so alt bist und er so jung?« Eine weitere Schwester schälte sich aus der Dunkelheit: Schwester Tamra, die sich als einsundzwanzig bezeichnet hatte. Kurz bevor sie an Rolands Bett trat, war ihr Gesicht das einer Vettel, die die Achtzig längst überschritten hatte .oder die Neunzig. Dann flimmerte es und war wieder das feiste, gesunde Antlitz einer dreißigjährigen Matrone. Abgesehen von den Augen. Ihre Netzhäute blieben gelblich, die Augenwinkel verklebt, der Blick wachsam. »Er ist der jüngste, ich der älteste«, sagte Roland. »Zwischen uns liegen sieben andere und zwanzig Jahre im Leben unserer Eltern.« »Wie süß! Und wenn er dein Bruder ist, wirst du seinen Namen kennen, oder nicht? Wirst ihn sehr gut kennen.« Bevor der Revolvermann herumstottern konnte, sagte der junge Mann: »Sie denken, du hättest einen einfachen Namen wie John Norman vergessen. Was sind sie doch für Herzblättchen, was, Jimmy?« Coquina und Tamra sahen den blassen Jungen im Bett neben Roland sichtlich wütend an .Sie waren eindeutig übertrumpft worden, zumindest vorerst. »Ihr habt ihm eure Brühe gegeben«, sagte der Junge (dessen Medaillon ihn zweifellos als John, Geliebt von seiner Familie, Geliebt von GOTT auswies). »Warum geht ihr nicht und laßt uns ein Schwätzchen halten?« »Nun!« schnaufte Schwester Coquina. »Mir gefällt die Dankbarkeit hier in der Gegend, das tut sie!«, »Ich bin dankbar für das, was mir gegeben wurde«, antwortete Norman und sah sie unverwandt an. »Aber nicht für das, was die Leute nehmen wollen.« Tamra schnaubte durch die Nase, drehte sich so brüsk um, daß ihr wirbelnder Rock Roland einen Luftzug ins Gesicht schickte, und rauschte davon. Coquina blieb noch einen Moment. »Seid artig, und vielleicht kommt jemand, den ihr lieber mögt als mich, schon am Morgen aus seiner Klausur statt erst in einer Woche.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und folgte Schwester Tamra. Roland und John Norman warteten, bis beide fort waren, dann drehte sich Norman zu Roland um und fragte mit leiser Stimme: »Mein Bruder. Tot?« Roland nickte. »Ich habe das Medaillon mitgenommen, falls ich einem seines Volkes begegnen sollte. Es gehört rechtmäßig dir. Ich bedaure deinen Verlust.« »Danke-Sai.« John Normans Unterlippe bebte ein wenig, beruhigte sich wieder. »Ich wußte, daß ihn die grünen Männer erledigt hatten, auch wenn es mir die alten Hühnchen hier nicht sagen wollten. Sie haben viele erledigt und den Rest verwundet.« »Vielleicht wußten es die Schwestern nicht mit Sicherheit.« »Sie wußten es. Zweifle nicht daran. Sie sagen nicht viel, aber sie wissen eine Menge. Die einzige, die anders ist, ist Jenna. Sie hat die alte Streitaxt gemeint, als sie von ›deiner Freundin‹ gesprochen hat. Aye?« Roland nickte. »Und sie hat etwas von Dunklen Glocken gesagt. Darüber würde ich gern mehr erfahren, wenn möglich.« »Sie ist etwas Besonderes, das ist Jenna. Mehr wie eine Prinzessin – jemand, der sich durch seine Abstammung eine Stellung verdient hat, die man ihr nicht verwehren kann – und nicht wie die anderen Schwestern. Ich liege hier und sehe so aus, als schliefe ich – ich glaube, das ist sicherer –, aber ich habe sie reden hören. Jenna ist erst kürzlich zu ihnen zurückgekehrt, und diese Dunklen Glocken haben etwas Besonderes zu bedeuten .., aber Mary ist nach wie vor diejenige, die das Kommando hat. Ich glaube, die Dunklen Glocken sind nur etwas Zeremonielles, wie die Ringe, die die alten Barone vom Vater an den Sohn weitergegeben haben. War sie es, die dir Jimmys Medaillon um den Hals gelegt hat?« »Ja.« »Nimm es nicht ab, was immer du auch tust.« Sein Gesicht sah verkniffen und grimmig aus. »Ich weiß nicht, ob es am Gold oder an dem Gott liegt, aber sie kommen nicht gern in seine Nähe. Ich glaube, das ist der einzige Grund, warum ich noch hier bin.« Nun senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Sie sind keine Menschen.« »Nun, vielleicht ein bißchen zauberhaft und magisch, aber ..« »Nein!« Der Junge stützte sich unter sichtlicher Anstrengung auf einen Ellbogen. Er sah Roland ernst an. »Du denkst an Haberfrauen und Hexen. Das sind keine Haber, und auch keine Hexen. Sie sind keine Menschen!« »Was sind sie dann?« »Weiß nicht.« »Wie bist du hierhergekommen, John?« John Norman erzählte Roland mit leiser Stimme, was ihm seines Wissens zugestoßen war. Er, sein Bruder und vier weitere junge Männer, die schnell waren und gute Pferde besaßen, waren als Scouts angeheuert worden, um Erkundungsritte durchzuführen und einen Zug von sieben Wagen zu beschützen, die Handelsware – Saatgut, Nahrungsmittel, Werkzeug, Post und vier bestellte Bräute – zu einem nicht eingemeindeten kleinen Ort namens Tejuas, etwa zweihundert Meilen westlich von Eluria, transportieren sollten. Die Scouts ritten abwechselnd vor und hinter dem Wagenzug; ein Bruder ritt jeweils mit einer Gruppe, denn wenn sie zusammen waren, stritten sie sich wie .nun .»Wie Brüder«, schlug Roland vor. John Norman brachte ein kurzes, gequältes Lächeln zustande. »Aye«, sagte er., Das Trio, zu dem John gehörte, war als Nachhut geritten, etwa zwei Meilen hinter der Wagenkolonne, als die grünen Mutanten in Eluria ihren Hinterhalt gelegt hatten. »Wie viele Wagen hast du gesehen, als du dort warst?« fragte er Roland. »Nur einen. Umgekippt.« »Wie viele Tote?« »Nur deinen Bruder.« John Norman nickte grimmig. »Ich glaube, sie haben ihn wegen des Medaillons nicht genommen.« »Die Muties?« »Die Schwestern. Die Muties kümmert weder Gold noch Gott. Diese Weiber dagegen ..« Er sah in die Dunkelheit, die mittlerweile fast undurchdringlich war. Roland spürte wieder, wie Müdigkeit über ihn kam, aber ihm wurde erst später klar, daß ein Schlafmittel in der Suppe gewesen war. »Die anderen Wagen?« fragte Roland. »Die nicht umgekippt wurden?« »Die Muties werden sie mitgenommen haben, und die Waren dazu«, sagte Norman. »Sie kümmert weder Gold noch Gott, die Schwestern machen sich nichts aus Handelsware. Wahrscheinlich haben sie ihre eigenen Nahrungsquellen, an die ich lieber nicht denken will. Schlimme Sachen .wie diese Käfer.« Er und die anderen Reiter der Nachhut galoppierten nach Eluria, aber als sie dort eintrafen, war der Kampf vorbei. Männer lagen überall, manche tot, aber viele noch am Leben. Wenigstens zwei der bestellten Bräute waren ebenfalls noch am Leben gewesen. Überlebende, die noch gehen konnten, wurden vom grünen Volk zusammengetrieben – John Norman erinnerte sich sehr gut an den mit dem Bowler und an die Frau mit der zerlumpten roten Jacke. Norman und die anderen beiden hatten versucht, zu kämpfen. Er hatte gesehen, wie einer seiner Partner einen Pfeil in den Bauch bekam, danach hatte er nichts mehr gesehen – jemand, hatte ihm von hinten eins über den Schädel geschlagen, und dann waren die Lichter ausgegangen. Roland überlegte, ob der Täter »Buh!« gerufen hatte, bevor er zuschlug, fragte aber nicht. »Als ich wieder erwachte, war ich hier«, sagte Norman. »Ich sah, daß einige der anderen – die meisten – diese verfluchten Käfer auf sich hatten.« »Die anderen?« Roland betrachtete die freien Betten. In der zunehmenden Dunkelheit leuchteten sie wie weiße Inseln. »Wie viele wurden hierher gebracht?« »Mindestens zwanzig. Sie wurden gesund .die Käfer haben sie geheilt .und dann verschwanden sie einer nach dem anderen. Du bist eingeschlafen, und wenn du aufgewacht bist, war wieder ein Bett frei. Einer nach dem anderen, bis nur noch ich und der da unten übrig waren.« Er sah Roland ernst an. »Und jetzt du.« »Norman.« Rolands Kopf schwirrte. »Ich –« »Ich schätze, ich weiß, was mit dir nicht stimmt«, sagte Norman. Er schien aus weiter Ferne zu sprechen .möglicherweise von jenseits der Erdkrümmung. »Es liegt an der Suppe. Aber ein Mann muß essen. Eine Frau auch. Jedenfalls wenn sie eine normale Frau ist. Die hier sind nicht normal. Nicht mal Schwester Jenna ist normal. Nett heißt nicht unbedingt normal.« Immer weiter entfernt. »Und am Ende wird sie wie die anderen sein. Denk an meine Worte.« »Kann mich nicht bewegen.« Selbst das auszusprechen kostete gewaltige Anstrengung. Als müßte er Felsen verrücken. »Nein.« Norman lachte plötzlich. Es war ein schockierendes Geräusch und hallte in der zunehmenden Schwärze, die Rolands Kopf ausfüllte. »Was sie dir in die Suppe getan haben, ist nicht nur Schlafmedizin, es ist auch Kann-mich-nicht-bewegen- Medizin. Mit mir ist eigentlich alles in Ordnung, Bruder .was meinst du also, warum ich noch hier bin?«, Norman sprach jetzt nicht mehr von jenseits der Erdkrümmung, sondern vielleicht vom Mond. Er sagte: »Ich glaube nicht, daß einer von uns jemals wieder die Sonne auf ein flaches Fleckchen Erde scheinen sehen wird.« Da irrst du dich, versuchte Roland zu antworten, und wollte noch mehr hinzufügen, aber nichts kam heraus. Er segelte zur dunklen Seite des Mondes und verlor sämtliche Worte in der Leere, die er dort vorfand. Aber völlig verlor er nie das Bewußtsein. Vielleicht war die Dosis »Medizin« in Schwester Coquinas Suppe zu knapp bemessen gewesen, vielleicht hatten sie auch nur noch nie einen Revolvermann gehabt, mit dem sie ihren Schabernack treiben konnten, und wußten nicht, daß sie es jetzt mit einem zu tun hatten. Abgesehen natürlich von Schwester Jenna – die wußte es. Irgendwann in der Nacht holten ihn flüsternde, kichernde Stimmen und das leise Klingeln von Glöckchen aus der Dunkelheit zurück, wo er weder ganz schlafend noch völlig bewußtlos gewesen war. Um ihn herum sangen die »Ärzte« so konstant, daß er es kaum registrierte. Roland schlug die Augen auf. Er sah blasses, erratisches Licht in der Dunkelheit tanzen. Das Kichern und Flüstern war näher. Roland versuchte, den Kopf zu drehen, und konnte es zuerst nicht. Er ruhte sich aus, konzentrierte seine ganze Willenskraft zu einem harten blauen Ball und versuchte es noch einmal. Diesmal konnte er den Kopf drehen, nur ein wenig, aber ein wenig war genug. Es waren fünf der Kleinen Schwestern – Mary, Louise, Tamra, Coquina, Michela. Sie kamen gemeinsam den langen Mittelgang des Lazaretts entlang, lachten miteinander wie Kinder über einen Streich und trugen lange Wachskerzen in silbernen Haltern; die Glöckchen an den Stirnbändern ihrer Hauben ließen kurze silberne Tonfolgen erklingen. Sie versammelten sich um das Bett des bärtigen Mannes. Aus ihrem Kreis schien Kerzenlicht als, flackernde Säule auf, die abbrach, bevor sie die halbe Strecke bis zur Seidendecke zurückgelegt hatte. Schwester Mary sprach knapp. Roland erkannte ihre Stimme, verstand aber die Worte nicht – es war weder Nieder- noch Hochsprache, sondern eine vollkommen andere Sprache. Ein Ausdruck fiel ihm auf – can de lach, mi him en tow –, aber er hatte keine Ahnung, was das bedeuten konnte. Ihm fiel auf, daß er nur noch das Klingeln der Glöckchen hören konnte – die Ärzte-Käfer waren verstummt. »Ras me! On! On!« rief Schwester Mary mit einer rauhen, kräftigen Stimme. Die Kerzen erloschen. Das Licht, das hinter ihren Hauben geleuchtet hatte, als sie sich um den bärtigen Mann versammelten, erlosch ebenfalls, und alles wurde wieder dunkel. Roland, dem kalt war, wartete darauf, was als nächstes passieren würde. Er versuchte, Hände oder Füße zu beugen, konnte es aber nicht. Es war ihm gelungen, den Kopf um etwa fünfzehn Grad zu drehen; sonst war er gelähmt wie eine Fliege, die fein säuberlich eingesponnen in einem Spinnennetz hing. Das leise Klingeln der Glöckchen in der Schwärze .und dann saugende Geräusche. Kaum hörte er sie, wurde Roland klar, daß er darauf gewartet hatte. Ein Teil von ihm hatte die ganze Zeit gewußt, was die Kleinen Schwestern von Eluria waren. Hätte Roland die Hände heben können, er hätte sie auf die Ohren gepreßt, um die Geräusche nicht hören zu müssen. So aber konnte er nur reglos liegen, zuhören und warten, bis sie aufhörten. Lange Zeit – die ihm wie eine Ewigkeit vorkam – hörten sie nicht auf. Die Frauen schlürften und grunzten wie Schweine, die halbflüssige Nahrung aus einem Trog fraßen. Einmal war sogar ein herzhafter Rülpser zu vernehmen, gefolgt von neuerlichem flüsterndem Kichern (das verstummte, als Schwester Mary ein einziges barsches Wort ausstieß – »Hais!« ). Und einmal hörte man einen leisen, stöhnenden Schrei – von dem bärtigen Mann, da war Roland ganz sicher. Wenn ja, war es sein letzter auf dieser Seite der Lichtung., Nach einiger Zeit ließen die Geräusche ihrer Nahrungsaufnahme nach. Die Käfer fingen wieder an zu singen – zuerst zögernd, dann selbstsicherer. Das Flüstern und Kichern fing wieder an. Die Kerzen wurden angezündet. Roland hatte inzwischen den Kopf in die andere Richtung gedreht. Sie sollten nicht wissen, was er gesehen hatte, aber das war nicht alles; er verspürte ohnehin nicht den Wunsch, noch mehr zu sehen. Er hatte genug gesehen und gehört. Aber das Kichern und Flüstern kam nun in seine Richtung. Roland machte die Augen zu und konzentrierte sich auf das Medaillon auf seiner Brust. Ich weiß nicht, ob es am Gold oder an dem Gott liegt, aber sie kommen nicht gern in seine Nähe, hatte John Norman gesagt. Es war gut, sich daran zu erinnern, als die Kleinen Schwestern näher kamen und in ihrer seltsamen anderen Zunge tuschelten und flüsterten, aber in der Dunkelheit schien das Medaillon einen schwachen Schutz zu bieten. Leise, in weiter Ferne, hörte Roland den Kreuzhund bellen. Als die Schwestern ihn umringten, stellte der Revolvermann fest, daß er sie riechen konnte. Es war ein unterschwelliger übler Geruch, wie von verdorbenem Fleisch. Aber wonach sollten sie auch sonst riechen, Wesen ihrer Art? »So ein hübscher Mann ist er.« Schwester Mary. Sie sagte es in einem tiefen, nachdenklichen Tonfall. »Aber so ein häßliches Sigul trägt er.« Schwester Tamra. »Wir nehmen es ihm ab!« Schwester Louise. »Und dann bekommen wir unsere Küsse!« Schwester Coquina. »Küsse für alle!« rief Schwester Michela so fieberhaft enthusiastisch, daß sie alle lachten. Roland stellte fest, daß er doch nicht ganz gelähmt war. Ein Teil von ihm war tatsächlich aus seinem Schlaf erwacht, als er ihre Stimmen gehört hatte, und ragte steil empor. Eine Hand wurde unter das Nachthemd geschoben, das er trug, berührte das steife Glied, umfaßte es, liebkoste es. Roland lag stumm vor Entsetzen da und tat, als schliefe er, während sich fast augenblicklich eine feuchte Wärme aus ihm ergoß. Die Hand, blieb einen Moment, wo sie war, der Daumen glitt auf dem erschlaffenden Schaft auf und ab. Dann ließ sie los und wanderte ein wenig höher. Fand die feuchte Pfütze auf seinem Bauch. Kichern, sanft wie der Wind. Läutende Glöckchen. Roland machte die Augen einen winzigen Spalt auf und betrachtete die uralten Gesichter, die im Licht ihrer Kerzen auf ihn herabsahen – funkelnde Augen, gelbe Wangen, vorstehende Zähne, die über die Unterlippen ragten. Schwester Michela und Schwester Louise schienen Ziegenbärtchen gewachsen zu sein, aber das war natürlich nicht dunkles Haar, sondern das Blut des bärtigen Mannes. Mary hielt die hohle Hand hoch. Sie hielt sie einer Schwester nach der anderen hin; jede leckte im Kerzenschein von der Handfläche. Roland machte die Augen ganz zu und wartete darauf, daß die Schwestern verschwanden. Schließlich waren sie fort. Ich werde nie wieder schlafen, dachte er, und fünf Minuten später hatte er sich und die Welt vergessen.

V. Schwester Mary. Eine Nachricht. Ein Besuch von Ralph. Normans Schicksal. Noch einmal Schwester Mary.

Als Roland erwachte, war hellichter Tag, das Seidendach über ihm erstrahlte weiß und wogte in einer sanften Brise. Die Ärzte- Käfer sangen zufrieden. Links von ihm schlief Norman tief und fest und hatte dabei den Kopf so weit auf eine Seite gedreht, daß seine stoppelige Wange auf der Schulter ruhte. Roland und John Norman waren die einzigen. Das Bett, wo der bärtige Mann gelegen hatte, war leer, die Decke hochgezogen und ordentlich eingesteckt, das Kissen frisch bezogen und gestärkt. Das Geflecht von Schlingen, in dem sein Körper gehangen hatte, war fort., Roland erinnerte sich an die Kerzen – wie ihr Leuchten sich vereint hatte, wie eine Säule zur Decke emporgestiegen war und die Schwestern beleuchtet hatte, als sie sich um den bärtigen Mann versammelten. Kicherten. Während ihre verdammten Glöckchen läuteten. Nun kam Schwester Mary, als hätte er sie mit seinen Gedanken gerufen, und glitt mit Schwester Louise im Schlepptau hastig auf ihn zu. Louise trug ein Tablett und sah nervös aus. Mary runzelte die Stirn und war offenbar übellaunig. Mürrisch zu sein, nachdem du so gut gegessen hast? dachte Roland. Pfui, Schwester. Sie kam ans Bett des Revolvermanns und sah auf ihn herab. »Ich habe keinen Grund, dir zu danken, Sai«, sagte sie ohne Umschweife. »Habe ich um deinen Dank gebeten?« antwortete er mit einer Stimme, die sich so staubig und kaum benutzt anhörte wie die Seiten eines alten Buches. Sie ging nicht darauf ein. »Du hast eine, die lediglich frech und unzufrieden mit ihrem Platz war, zur regelrechten Rebellin gemacht. Nun, ihre Mutter war genauso und ist, nicht lange nachdem sie Jenna an ihren angestammten Platz zurückgebracht hat, daran gestorben. Heb die Hand, undankbarer Mann!« »Ich kann nicht. Ich kann mich überhaupt nicht bewegen.« »Oh, du Falscher! Kennst du nicht das Sprichwort: ›Halt deine Mutter nicht zum Narren, es sei denn, sie ist außer Sicht‹? Ich weiß sehr genau, was du kannst und was nicht. Jetzt heb die Hand!« Roland hob die rechte Hand und versuchte, mehr Anstrengung vorzutäuschen, als es tatsächlich kostete. Er glaubte, daß er heute morgen kräftig genug war, um sich aus den Schlingen zu befreien .aber was dann? Bis er richtig gehen konnte, würden noch Stunden vergehen, auch ohne eine weitere Dosis »Medizin« .und hinter Schwester Mary hob Schwester Louise den Deckel von einem frischen Teller Suppe. Als Roland sie sah, knurrte sein Magen., Die Große Schwester hörte es und lächelte schmal. »Ein kräftiger Mann bekommt auch im Bett Appetit, wenn er nur lange genug drin liegt. Findest du nicht auch, Jason, Bruder von John?« »Mein Name ist James. Wie du sehr gut weißt, Schwester.« »Wirklich?« Sie lachte wütend. »Oh, la! Und wenn ich deine kleine Herzallerliebste fest und lange genug auspeitschen lassen würde – sagen wir, bis ihr das Blut wie Schweißtropfen aus dem Rücken quillt –, würde ich nicht einen anderen Namen aus ihr herausprügeln? Oder hast du ihn ihr während eurer kurzen Unterhaltung nicht anvertraut?« »Wenn ihr ein Leid geschieht, töte ich dich.« Sie lachte wieder. Ihr Gesicht flimmerte; ihr fester Mund verwandelte sich in etwas, das wie eine sterbende Qualle aussah. »Sprich uns nicht vom Töten, Hübscher, auf daß wir nicht zu dir davon sprechen.« »Schwester, wenn du und Jenna einander nicht ausstehen könnt, warum entbindest du sie dann nicht von ihrem Gelübde und läßt sie ihres Weges ziehen?« »Solche wie uns kann man niemals von ihrem Gelübde entbinden oder gehen lassen. Ihre Mutter hat es versucht und ist zurückgekommen, sie sterbend und ihr Kind krank. Wir waren es, die Jenna gesundgepflegt haben, als ihre Mutter nichts weiter war als Staub im Wind, der Richtung Endwelt weht, und wie wenig sie es uns dankt! Außerdem trägt sie die Dunklen Glocken, das Sigul unserer Schwesternschaft. Unseres Ka-tet. Und nun iß – dein Bauch sagt, daß du hungrig bist!« Schwester Louise hielt ihm die Schüssel hin, aber ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Umriß des Medaillons auf seiner Brust, unter dem Nachthemd. Gefällt dir nicht, was? dachte Roland, und dann fiel ihm Louise bei Kerzenschein ein, das Blut des Frachtzugführers am Kinn, ihre uralten Augen gierig, als sie sich nach vorn beugte, um seine Flüssigkeit von Schwester Marys Hand zu lecken. Er wandte den Kopf ab. »Ich will nichts.«, »Aber du hast Hunger!« wandte Louise ein. »Wenn du nicht ißt, James, wie willst du wieder zu Kräften kommen?« »Schickt Jenna. Ich esse, was sie bringt.« Schwester Marys Stirnrunzeln war pechschwarz. »Du wirst sie nicht mehr sehen. Sie ist nur aus dem Haus der Besinnung entlassen worden, nachdem sie feierlich versprochen hat, die Zeit für ihre Meditation zu verdoppeln .und sich vom Lazarett fernzuhalten. Nun iß, James, oder wer immer du bist. Nimm zu dir, was in der Suppe ist, oder wir schneiden dich mit Messern auf und reiben es dir mit Flanelltüchern hinein. Uns ist es so oder so einerlei. Oder nicht, Louise?« »Ganz recht«, sagte Louise. Sie hielt ihm immer noch den Teller hin. Dampf und der köstliche Duft von Huhn stiegen davon auf. »Aber dir dürfte es nicht einerlei sein.« Schwester Mary grinste humorlos und entblößte ihre unnatürlich großen Zähne. »Fließendes Blut ist gefährlich hier drinnen. Die Ärzte mögen es nicht. Es regt sie auf.« Nicht nur die Käfer wurden beim Anblick von Blut erregt, das wußte Roland. Er wußte auch, er hatte keine andere Wahl, was die Suppe betraf. Er nahm Louise den Teller ab und aß langsam. Er hätte viel darum gegeben, den zufriedenen Gesichtsausdruck von Schwester Marys Gesicht wischen zu können. »Gut«, sagte er, als er ihr den Teller zurückgegeben und sie sich vergewissert hatte, daß er ganz leer war. Seine Hand wurde ihm zu schwer und sank auf die Schlinge zurück, die für sie gerichtet worden war. Er konnte spüren, wie sich die Welt wieder von ihm zurückzog. Schwester Mary beugte sich nach vorne, so daß das wallende Oberteil ihrer Tracht die Haut seiner linken Schulter berührte. Er konnte sie riechen, ein überreifes und trockenes Aroma, und hätte gewürgt, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. »Nimm dieses widerliche Goldding ab, wenn du wieder ein wenig bei Kräften bist – wirf es in den Pißtopf unter dem Bett., Wo es hingehört. Ich bekomme Kopfschmerzen, und mein Hals ist wie zugeschnürt, wenn ich auch nur in der Nähe davon bin.« Unter immenser Anstrengung sagte Roland: »Wenn du es willst, nimm es weg. Wie könnte ich dich daran hindern, du Miststück?« Wieder verwandelte das Stirnrunzeln ihr Gesicht in so etwas wie eine Gewitterwolke. Er glaubte, sie hätte ihn geohrfeigt, wenn sie gewagt hätte, ihn so nahe bei dem Medaillon zu berühren. Aber die Fähigkeit, ihn anzufassen, schien an der Gürtellinie zu enden. »Ich finde, du hättest diesen Punkt ein bißchen gründlicher durchdenken sollen«, sagte sie. »Ich kann Jenna immer noch auspeitschen lassen, wenn ich will. Sie trägt die Dunklen Glocken, aber ich bin die Große Schwester. Daran solltest du immer denken.« Sie ging. Schwester Louise folgte ihr und warf im Weggehen einen Blick – eine seltsame Mischung aus Furcht und Lust – über die Schulter zurück. Roland dachte: Ich muß hier raus – ich muß einfach. Statt dessen schwebte er an jenen dunklen Ort zurück, der nicht ganz Schlaf war. Vielleicht schlief er auch; jedenfalls eine Weile; vielleicht träumte er. Wieder liebkosten Finger seine Finger, küßten Lippen erst sein Ohr und flüsterten dann hinein: »Schau unter dein Kissen, Roland .aber laß niemand wissen, daß ich hier gewesen bin.« Irgendwann danach schlug Roland wieder die Augen auf und rechnete halb damit, Schwester Jennas hübsches Gesicht über sich schweben zu sehen. Und die dunkle Haarlocke, die wieder unter ihrer Haube hervorlugte. Aber es war niemand da. Die Seidenbahnen über ihm leuchteten hell, und obwohl es unmöglich war, hier drinnen die Zeit einigermaßen akkurat zu schätzen, vermutete Roland, daß es gegen Mittag sein mußte. Vielleicht drei Stunden, seit er den zweiten Teller Suppe von den Schwestern bekommen hatte., An seiner Seite schlief John Norman und atmete mit einem pfeifenden, nasalen Schnarchen. Roland versuchte, die Hand zu heben und unter das Kissen zu schieben. Die Hand ließ sich nicht bewegen. Er konnte mit den Fingerspitzen wackeln, aber das war alles. Er wartete, beruhigte seinen Geist, so gut er konnte, und nahm alle Geduld zusammen. Es war nicht leicht, sich in Geduld zu fassen. Er mußte immerzu daran denken, was Norman gesagt hatte – daß es siebenundzwanzig Überlebende des Hinterhalts gegeben hatte .jedenfalls anfänglich. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen, bis nur noch ich und der da unten übrig waren. Und jetzt du. Das Mädchen war nicht da. Sein Verstand sprach mit der leisen, kummervollen Stimme Alains, eines seiner alten Freunde, der jetzt schon so viele Jahre tot war. Sie würde es nicht wagen, während sie von den anderen beobachtet wird. Das war nur ein Traum, den du gehabt hast. Aber Roland glaubte, daß es vielleicht mehr als ein Traum gewesen war. Nach einer gewissen Zeitspanne später – die langsame Verschiebung der Helligkeit über ihm ließ ihn vermuten, daß es eine Stunde gewesen war – versuchte Roland wieder, die Hand zu bewegen. Diesmal gelang es ihm, sie unter das Kissen zu schieben. Es war aufgeschüttelt und weich und ordentlich in die breite Schlinge gesteckt, die den Hals des Revolvermanns hielt. Zuerst fand er nichts, tastete aber langsam mit den Fingern tiefer und berührte schließlich etwas, das sich wie ein steifes Bündel dünner Stangen anfühlte. Er wartete, sammelte noch etwas Kraft (jede Bewegung bereitete ihm soviel Mühe, als würde er in Leim schwimmen) und tastete noch tiefer. Fühlte sich wie ein Strohblumenstrauß an. Etwas wie ein Band war darum gewickelt. Roland sah sich um und vergewisserte sich, daß die Station noch verlassen war und Norman schlief, dann zog er hervor, was sich unter dem Kissen befand. Es waren sechs verblassende trockene Halme mit rotbraunen Rispen. Sie verströmten einen, seltsamen Hefeduft, bei denen Roland an frühmorgendliche Ausflüge denken mußte, die er als Kind in die Küche hinter dem Großen Saal unternommen hatte, um zu betteln – Ausflüge, die er für gewöhnlich mit Cuthbert unternommen hatte. Die Halme waren mit einem breiten Band aus weißer Seide zusammengebunden und rochen wie verbrannter Toast. Unter dem Band befand sich eine Lage Tuch. Es schien, als wäre das Tuch, wie alles andere an diesem verfluchten Ort, aus Seide. Roland atmete schwer und konnte Schweißperlen auf seiner Stirn spüren. Er war immer noch allein – gut. Er nahm das Stück Tuch und faltete es auseinander. In verwischten, sorgfältig ausgeführten Kohlebuchstaben stand folgende Botschaft darauf: RISPEN KNABBERN. NUR EINMAL JEDE STUNDE. ZU VIEL, KRÄMPFE ODER TOD. MORGEN NACHT. KANN NICHT FRÜHER. SEI VORSICHTIG! Keine Erklärung, aber Roland hielt auch keine für erforderlich. Und er hatte auch keine Alternative; wenn er hier blieb, würde er sterben. Sie mußten ihm nur das Medaillon abnehmen, und er war davon überzeugt, daß Schwester Mary schlau genug war, das irgendwie zu bewerkstelligen. Er knabberte an einer der trockenen Rispen. Der Geschmack erinnerte nicht im geringsten an den Toast, den sie als Kinder in der Küche erbettelt hatten; er war bitter im Hals und heiß im Magen. Keine Minute nachdem Roland daran geknabbert hatte, verdoppelte sich sein Herzschlag. Seine Muskeln erwachten, aber nicht auf angenehme Weise wie nach einem gesunden Schlaf; sie fühlten sich zuerst zittrig an und dann ganz hart, als wären sie völlig verkrampft. Das Gefühl ließ rasch wieder nach, und bevor sich Norman rund eine Stunde später regte, hatte sich sein Herzschlag wieder normalisiert, aber er begriff, warum Jenna ihn in ihrer Notiz gewarnt hatte, nicht mehr als einmal daran zu knabbern – es war ein starkes Zeug., Er schob das Bukett der Halme wieder unter das Kissen und achtete sorgfältig darauf, die wenigen Pflanzenkrümel wegzuwischen, die auf das Laken gefallen waren. Dann verwischte er mit den Daumenballen die fein säuberlichen Kohleworte auf dem Stück Seide. Als er fertig war, hatte er nur noch ein quadratisches Stück Stoff mit sinnlosen schwarzen Schlieren darauf. Auch dieses Quadrat steckte er unter das Kissen. Als Norman erwachte, sprachen er und der Revolvermann kurz über die Heimat des jungen Scouts – Delain, das manchmal scherzhaft als Drachenhort oder Lügnerhimmel bezeichnet wurde. Alle Ammenmärchen hatten angeblich ihren Ursprung in Delain. Der Junge bat Roland, sein Medaillon und das seines Bruders zu ihren Eltern nach Hause zu bringen, wenn Roland dazu in der Lage wäre, und so gut wie möglich zu erklären, was James und John, den Söhnen von Jesse, zugestoßen war. »Das wirst du alles selbst machen«, sagte Roland. »Nein.« Norman versuchte, die Hand zu heben, um sich vielleicht an der Nase zu kratzen, brachte aber nicht einmal das fertig. Er konnte die Hand etwa fünfzehn Zentimeter anheben, dann fiel sie mit einem leisen Plumps auf die Platte zurück. »Ich glaube nicht. Jammerschade, daß wir uns auf diese Weise begegnet sind, weißt du – ich mag dich.« »Und ich dich auch, John Norman. Ich wünschte, wir hätten uns unter günstigeren Umständen kennengelernt.« »Aye. Nicht in Gesellschaft so faszinierender Damen.« Kurz danach schlief er wieder ein. Roland sprach nie wieder mit ihm .allerdings sollte er noch von ihm hören. Ja. Roland hing über seinem Bett und gab vor zu schlafen, als John Norman seinen letzten Schrei ausstieß. Schwester Michela kam mit der abendlichen Suppe, als Roland gerade Muskelzittern und rasenden Herzschlag überwand, nachdem er zum zweitenmal an dem braunen Riedgras geknabbert hatte. Michela betrachtete sein gerötetes Gesicht mit einiger Sorge, mußte aber seine Beteuerungen akzeptieren, daß er, sich nicht fiebrig fühlte; sie brachte es nicht über sich, ihn zu berühren und selbst die Temperatur seiner Haut zu überprüfen – das Medaillon hielt sie ab. Diesmal gab es eine Pastete zur Suppe. Das Brot war wie Leder und das Fleisch darin zäh, aber Roland verschlang es dennoch gierig. Michela beobachtete es mit einem beifälligen Lächeln, hatte die Hände vor sich gefaltet und nickte von Zeit zu Zeit. Als er mit der Suppe fertig war, nahm sie ihm den Teller weg, achtete aber sorgfältig darauf, daß sich ihre Finger nicht berührten. »Du wirst gesund«, sagte sie. »Bald gehst du wieder deiner Wege, und uns bleibt nur die Erinnerung an dich, Jim.« »Ist das wahr?« fragte er ruhig. Sie sah ihn nur an, fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, kicherte und entfernte sich. Roland schloß die Augen, ließ sich in das Kissen zurücksinken und spürte, wie erneut Lethargie über ihn kam. Ihr berechnender Blick .ihre vorwitzige Zunge. Er hatte Frauen Brathühnchen und Hammelkeulen auf dieselbe Weise betrachten sehen, wenn sie abschätzten, wann das Fleisch gar sein würde. Sein Körper wollte unbedingt schlafen, aber Roland blieb noch schätzungsweise eine Stunde wach, dann holte er einen der Halme unter dem Kissen hervor. Mit der frischen Infusion ihrer Kann-mich-nicht-bewegen-Medizin in seinem Körper kostete ihn das größte Anstrengung, und er war nicht sicher, ob es ihm überhaupt gelungen wäre, hätte er nicht in weiser Voraussicht diesen einen Halm aus dem Band herausgezogen gehabt, das die anderen zusammenhielt. Morgen nacht, hatte in Jennas Nachricht gestanden. Wenn das Flucht bedeutete, war allein die Vorstellung lächerlich. Wie er sich im Augenblick fühlte, hätte er bis ans Ende der Zeit in diesem Bett liegen bleiben können. Er kaute. Energie strömte in seinen Körper, verkrampfte seine Muskeln und beschleunigte seinen Herzschlag, aber der Anfall von Vitalität verflog fast so schnell, wie er gekommen war, und, wurde unter der stärkeren Droge der Schwestern begraben. Er konnte nur hoffen .und schlafen. Als er erwachte, war es völlig dunkel, und er stellte fest, daß er Arme und Beine fast normal in dem Netz der Schlingen bewegen konnte. Er zog einen Halm unter dem Kissen hervor und kaute bedächtig. Sie hatte ihm ein halbes Dutzend dagelassen, und die ersten beiden waren inzwischen fast völlig verzehrt. Der Revolvermann schob den Stiel wieder unter das Kissen und fing an zu erschauern wie ein nasser Hund in einem Wolkenbruch. Ich habe zuviel genommen, dachte er. Ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich keine Krämpfe – Sein Herz raste wie ein überdrehter Motor. Und um alles noch schlimmer zu machen, sah er Kerzenschein am anderen Ende des Mittelgangs. Einen Moment später hörte er das Rascheln ihrer Gewänder und das Wischen ihrer Schuhe auf dem Boden. Götter, warum jetzt? Sie werden mich zittern sehen, sie werden merken – Roland beschwor jedes Quentchen Willenskraft und Selbstbeherrschung, das er mobilisieren konnte, schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, seine zuckenden Gliedmaßen zu beruhigen. Wenn er nur im Bett gewesen wäre, statt in diesen verdammten Schlingen, die bei jeder seiner Bewegungen wie aus eigenem Antrieb zu beben schienen! Die Kleinen Schwestern rückten näher. Das Licht ihrer Kerzen erblühte rötlich hinter Rolands geschlossenen Lidern. Heute nacht kicherten sie nicht, tuschelten nicht miteinander. Erst als sie fast bei ihm waren, fiel Roland der Fremde in ihrer Mitte auf – ein Geschöpf, das mit tiefen, verschleimten Atemzügen Luft durch den Rotz in seiner Nase sog. Der Revolvermann hielt die Augen geschlossen und hatte das schlimmste Zucken seiner Arme und Beine unter Kontrolle, aber seine Muskeln waren immer noch knotig und verkrampft und pulsierten unter der Haut. Jeder, der ihn aus der Nähe ansah, würde sofort bemerken, daß etwas nicht mit ihm stimmte. Sein Herzschlag raste unkontrolliert wie ein Pferd unter der Peitsche, sie mußten doch bestimmt sehen –, Aber sie sahen nicht ihn an – jedenfalls noch nicht. »Nimm es ihm ab«, sagte Mary. Sie sprach in einer verballhornten Version der Niedersprache, die Roland kaum verstehen konnte. »Dann ´em annern. Los doch, Ralph.« »Sach, hasse Whik-sky?« fragte der Verschleimte in einem noch unverständlicheren Dialekt als Mary. »Sach, hasse ´backy?« »Ja, ja, Menge Whiskey und Menge zu rauchen, aber erst, wenn du diese vermaledeiten Dinger abgenommen hast!« Ungeduldig. Vielleicht auch ängstlich. Roland drehte vorsichtig den Kopf nach links und öffnete die Augen einen Spalt. Fünf der sechs Kleinen Schwestern von Eluria scharten sich auf der anderen Seite von John Normans Bett und hielten die Kerzen hoch, damit ihr Licht auf ihn fiel. Die Kerzen warfen auch Licht auf ihre eigenen Gesichter, die dem stärksten Mann Alpträume verschafft hätten. In der Schwärze der Nacht hatten sie jedem äußeren Anschein abgeschworen und waren nichts weiter als uralte Kadaver in wallenden Gewändern. Schwester Mary hatte einen von Rolands Revolvern in der Hand. Als er sah, daß sie ihn hielt, verspürte Roland lodernden Haß auf sie und schwor sich, daß sie für ihre Anmaßung bezahlen würde. So seltsam es war, aber das Ding, das am Fußende des Betts stand, sah im Vergleich zu den Schwestern fast normal aus. Es war einer vom grünen Volk. Roland erkannte Ralph sofort. Es würde lange Zeit dauern, bis er diesen Bowler vergaß. Nun ging Ralph langsam um Normans Bett herum und nahm Roland vorübergehend die Sicht auf die Schwestern. Der Mutie ging jedoch bis zu Normans Kopf, so daß Roland die Vetteln wieder durch die kaum geöffneten Lider sehen konnte. Normans Medaillon war entblößt – möglicherweise war der Junge soweit wach geworden, daß er es aus dem Nachthemd gezogen hatte, weil er hoffte, daß es ihn auf diese Weise besser schützen würde. Ralph nahm es in seine Hände, die wie geschmolzenes Wachs aussahen. Die Schwestern verfolgten im, Schein ihrer Kerzen erwartungsvoll, wie der grüne Mann es bis ans Ende der Kette zog .und dann wieder hinlegte. Ihre Gesichter wurden lang vor Enttäuschung. »So was kann ich nich´ brauchen«, sagte Ralph mit seiner verschleimten Stimme. »Will Whik-sky! Will ´backy!« »Wirst du bekommen«, sagte Schwester Mary. »Genug für dich und deinen ganzen verlausten Klan. Aber zuerst mußt du ihm dieses gräßliche Ding abnehmen! Ihnen beiden! Hast du verstanden? Und du sollst uns nicht verspotten.« »Oder was?« fragte Ralph. Er lachte. Es war ein ersticktes und gurgelndes Geräusch, das Lachen eines Mannes, der an einer schrecklichen Hals- und Lungenkrankheit zugrunde geht, aber Roland gefiel es trotzdem besser als das Kichern der Schwestern. »Oder was, Schwessa Mary, sonst wirsde mein Bluid trinken? Mit mei´m Bluid würsde tot umfall´n wode stehs un im Dunkeln leuchten!« Mary hob den Revolver des Revolvermanns und richtete ihn auf Ralph. »Nimm das vermaledeite Ding ab, oder du wirst tot umfallen, wo du stehst.« »Und wahrscheinlich sowieso sterben, wenn ich getan hab, wasde wills.« Darauf sagte Schwester Mary nichts. Die anderen sahen ihn mit ihren schwarzen Augen an. Ralph senkte den Kopf und schien nachzudenken. Roland vermutete, daß sein Freund Bowler auch tatsächlich denken konnte. Schwester Mary und ihre Kohorten mochten das nicht glauben, aber Ralph mußte gerissen sein, wenn er so lange überlebt hatte. Doch als er hierherkam, hatte er natürlich nicht an Rolands Waffen gedacht. »War falsch von Klopfer, euch die Schießer zu geb´n«, sagte er schließlich. »Ohne mir was zu sag´n. Habter ihm Whik-sky dafür geben? Und ´backy?« »Geht dich nix an«, antwortete Schwester Mary. »Du nimmst sofort dieses Goldding vom Hals des Jungen, oder ich schieße dir, eine von den Kugeln jenes Mannes in den verkümmerten Rest deines Gehirns.« »Na gut«, sagte Ralph. »Wie du willst, Sai.« Wieder griff er nach unten und nahm das Goldmedaillon in seine geschmolzene Faust. Das machte er langsam; was danach geschah, geschah schnell. Er zerrte daran, zerriß die Kette und warf das Gold achtlos in die Dunkelheit. Mit der anderen Hand stieß er nach unten, schlug die langen und abgebrochenen Fingernägel in John Normans Hals und riß ihn auf. Blut, das im Licht der Kerzen mehr schwarz als rot aussah, spritzte im Rhythmus des Herzschlags als kräftiger Strahl aus der Wunde des unglückseligen Jungen, der einen einzigen blubbernden Schrei ausstieß. Die Frauen schrien – aber nicht vor Entsetzen. Sie schrien wie Frauen in rasender Erregung. Der grüne Mann war vergessen; Roland war vergessen; alles war vergessen, abgesehen von dem Blut, das aus John Normans Hals spritzte. Sie ließen ihre Kerzen fallen. Mary warf Rolands Revolver auf dieselbe achtlose Weise weg. Als letztes sah der Revolvermann, während Ralph sich in die Schatten flüchtete (Whiskey und Tabak ein andermal, schien sich der gerissene Ralph zu denken; heute nacht konzentrierte er sich am besten ganz darauf, sein eigenes Leben zu retten), wie die Schwestern sich vorbeugten, um soviel wie möglich von dem Strahl abzubekommen, bevor er versiegte. Roland lag mit bebenden Muskeln und klopfendem Herzen in der Dunkelheit und hörte den Harpyien zu, wie sie sich an dem Jungen labten, der im Bett neben ihm lag. Es schien ewig zu dauern, aber schließlich waren sie mit ihm fertig. Die Schwestern zündeten ihre Kerzen wieder an und entfernten sich murmelnd. Als die Droge in der Suppe wieder die Oberhand über die Droge im Riedgras gewann, war Roland dankbar .aber zum erstenmal, seit er hierhergekommen war, wurde sein Schlaf von Alpträumen heimgesucht. In seinem Traum sah er auf den aufgeblähten Leichnam im Trog in der Stadt hinunter und dachte an einen Eintrag in dem, Buch mit der Aufschrift REGISTER VON MISSETATEN & WIEDERGUTMACHUNG. Grünes Volk von hinnen geschickt, hatte da gestanden, und möglicherweise war das grüne Volk von hinnen geschickt worden, aber dann war ein schlimmerer Stamm gekommen. Die Kleinen Schwestern von Eluria nannten sie sich selbst. Und in einem Jahr mochten sie die Kleinen Schwestern von Tejuas oder von Kambero oder von einem anderen entlegenen Kaff im Westen sein. Sie kamen mit ihren Glöckchen und Käfern .von wo? Wer wußte es? Spielte es eine Rolle? Ein Schatten fiel neben seinem auf das Brackwasser in dem Trog. Roland versuchte, sich nach ihm umzudrehen. Er konnte es nicht; er war erstarrt. Dann packte ihn eine grüne Hand an der Schulter und wirbelte ihn herum. Es war Ralph. Den Bowler hatte er auf dem Kopf nach hinten geschoben; John Normans Medaillon, das jetzt blutrot war, hing ihm um den Hals. »Buh!« schrie Ralph und formte mit den Lippen ein zahnloses Grinsen. Er hob den großen Revolver mit den abgenutzten Sandelholzgriffen. Er spannte den Hahn – – und Roland erwachte zusammenzuckend, zitterte am ganzen Körper, und seine Haut war naß und eiskalt. Er warf einen Blick auf das Bett zu seiner Linken. Es war leer, die Decke ordentlich hochgezogen und fein säuberlich eingesteckt, das Kissen mit seinem schneeweißen Bezug darüber. Von John Norman fehlte jede Spur. Es hätte seit Jahren unbenutzt sein können, dieses Bett. Jetzt war Roland allein. Götter steht ihm bei, er war der letzte Patient der Kleinen Schwestern von Eluria, dieser reizenden und geduldigen Krankenschwestern. Der letzte lebende Mensch an diesem grauenhaften Ort, der letzte, in dessen Adern warmes Blut floß. Roland, der in der Schwebe hing, umklammerte das Goldmedaillon mit der Faust und betrachtete über den Mittelgang hinweg die lange Reihe freier Betten. Nach einer kleinen Weile holte er einen der Halme unter seinem Kissen hervor und knabberte daran., Als Mary fünfzehn Minuten später kam, nahm Roland die Suppe und heuchelte eine Schwäche, die er gar nicht verspürte. Diesmal gab es Haferbrei statt Suppe .aber er zweifelte nicht daran, daß die Zutat, auf die es ankam, noch dieselbe war. »Wie gut du heute morgen aussiehst, Sai«, sagte die Große Schwester. Sie sah ebenfalls gut aus – kein Flimmern verriet den uralten Vampir, der sich in ihr verbarg. Sie hatte gut gegessen, und das Mahl hatte sie gefestigt. Roland drehte sich bei dem Gedanken der Magen um. »Ich wette, du bist im Handumdrehen wieder auf den Beinen.« »Das ist Quatsch«, sagte Roland mit einem übellaunigen Knurren. »Stell mich auf die Beine, und du kannst mich im nächsten Augenblick vom Boden aufheben. Ich frage mich allmählich, ob ihr nicht etwas in das Essen tut.« Darüber lachte sie herzlich. »Ach, ihr Jungs! Stets bereit, eure Schwäche auf ein ränkeschmiedendes Weib zu schieben! Welche Angst ihr vor uns habt – aye, tief drinnen in euren Kleinjungenherzen, welche Angst ihr habt!« »Wo ist mein Bruder? Ich habe geträumt, daß es seinetwegen einen Aufruhr in der Nacht gab, und jetzt ist sein Bett leer.« Ihr Lächeln wurde verkniffen. Ihre Augen funkelten. »Er bekam Fieber und einen schlimmen Anfall. Wir haben ihn zum Haus der Besinnung gebracht, das schon häufiger ein Heim für Träger ansteckender Krankheiten gewesen ist.« Ins Grab habt ihr ihn gebracht, dachte Roland. Das ist vielleicht ein Haus der Besinnung, aber davon verstehst du so oder so nichts, Sai. »Ich weiß, daß du nicht der Bruder dieses Jungen bist«, sagte Mary und sah ihm beim Essen zu. Roland konnte bereits spüren, wie das Mittel in dem Haferbrei ihm die Kraft raubte. »Sigul hin, Sigul her, ich weiß, daß du nicht sein Bruder bist. Warum lügst du? ´s ist eine Sünde gegen Gott.« »Wie kommst du auf so einen Gedanken, Sai?« fragte Roland und war neugierig, ob sie die Revolver erwähnen würde. »Die Große Schwester weiß, was sie weiß. Warum gibst du´s nicht zu, Jimmy? Ein Geständnis ist gut für die Seele, sagt man.«, »Schick mir Jenna, um die Zeit zu vertreiben, und vielleicht erzähle ich dir viel«, sagte Roland. Der winzige Ansatz von Schwester Marys Lächeln verschwand wie Kreideschrift in einem Regenschauer. »Warum möchtest du mit ihresgleichen reden?« »Sie ist ziemlich schön«, sagte Roland. »Im Gegensatz zu anderen.« Sie zog die Lippen von ihren übergroßen Zähnen zurück. »Du wirst sie nicht mehr sehen, Hübscher. Du hast ihr Flausen in den Kopf gesetzt, das hast du, und so etwas dulde ich nicht.« Sie wandte sich ab und wollte gehen. Roland versuchte immer noch, Schwäche zu heucheln und hoffte, daß er nicht übertrieb (die Schauspielerei war nie seine Stärke gewesen), als er ihr die leere Haferbreischüssel entgegenstreckte. »Möchtest du das nicht mitnehmen?« »Setz sie auf und trag sie als Nachthaube, mir egal. Oder schieb sie dir in den Arsch. Du wirst reden, bevor ich mit dir fertig bin, Hübscher – reden, bis ich dir befehle, zu schweigen, und dann wirst du betteln, daß du weiterreden darfst!« Mit dieser Drohung rauschte sie wie eine Königin davon und raffte mit beiden Händen ihren Rocksaum vom Boden hoch. Roland hatte gehört, daß Wesen von ihrer Art nicht im hellen Tageslicht existieren konnten, und dieser Teil der alten Geschichten war offenbar eine Lüge. Aber anscheinend stimmte ein anderer Teil fast völlig: Ein verschwommener, amorpher Schemen hielt mit ihr Schritt und wanderte über die Reihe freier Betten rechts von ihr, aber sie warf überhaupt keinen richtigen Schatten.

VI. Jenna. Schwester Coquina. Tamra, Michela, Louise. Der Kreuzhund. Was im Salbei geschah.

Es war einer der längsten Tage in Rolands Leben. Er döste, aber nie tief; die Rispen taten ihre Wirkung, und langsam glaubte er, daß er mit Jennas Hilfe tatsächlich hier herauskommen würde., Blieb die Frage seiner Revolver – aber vielleicht konnte sie ihm auch dabei behilflich sein. Er verbrachte die langen Stunden damit, daß er an alte Zeiten dachte – an Gilead und seine Freunde, an den Rätselwettbewerb, den er einmal auf dem Jahrmarkt von Weite Erde fast gewonnen hätte. Am Ende hatte ein anderer die Gans mit nach Hause genommen, aber er hatte seine Chance gehabt, aye. Er dachte an seine Mutter und seinen Vater; er dachte an Abel Vannay, der hinkend durch ein Leben sanftmütiger Güte gegangen war, und an Eldred Jonas, der hinkend durch ein Leben des Bösen gegangen war .bis Roland ihn eines schönen Tages in der Wüste aus dem Sattel gepustet hatte. Er dachte, wie immer, an Susan. Wenn du mich liebst, dann liebe mich, hatte sie gesagt .und das hatte er getan. Das hatte er getan. Auf diese Weise verging die Zeit. Ungefähr in stündlichen Intervallen holte er einen der Halme unter seinem Kissen hervor und kaute darauf. Nun zitterten seine Muskeln nicht mehr so heftig, wenn der Wirkstoff in seinen Kreislauf gelangte, und auch sein Herz schlug nicht mehr so schnell. Die Medizin in den Rispen mußte nicht mehr so erbittert gegen die Medizin der Schwestern kämpfen, dachte Roland; die Rispen blieben siegreich. Die diffuse Helligkeit der Sonne wanderte über die weiße Seidendecke der Station, und schließlich erhob sich wieder das Halbdunkel, das stets auf der Höhe der Betten zu lauern schien. An der Westwand erblühte die rosa, ins Orange spielende Farbe des Sonnenuntergangs. An diesem Abend brachte ihm Schwester Tamra das Essen – Suppe und wieder eine Pastete. Außerdem legte sie eine Wüstenlilie neben seine Hand. Sie lächelte, als sie das tat. Ihre Wangen leuchteten. Sie alle leuchteten heute, wie Egel, die sich vollgesogen hatten, bis sie fast platzten., »Von deiner Freundin, Jimmy«, sagte sie. »Sie ist so nett zu dir! Die Lilie bedeutet: ›Vergiß mein Versprechen nicht.‹ Was hat sie dir denn versprochen, Jimmy, Bruder von Johnny?« »Daß sie mich wiedersehen wird und wir uns unterhalten.« Tamra lachte so sehr, daß die Glöckchen an ihrer Stirn läuteten. Sie schlug vor ekstatischer Wonne die Hände zusammen. »Süß wie Honig! O ja!« Sie bückte sich und sah Roland lächelnd an. »Traurig, daß so ein Versprechen niemals eingehalten werden kann. Du wirst sie nie wiedersehen, hübscher Mann.« Sie nahm die Schüssel. »Die Große Schwester hat´s entschieden.« Sie stand lächelnd auf. »Warum nimmst du dieses häßliche goldene Sigul nicht ab?« »Lieber nicht.« »Dein Bruder hat es abgenommen – schau!« Sie zeigte in den Mittelgang, und Roland erblickte das Goldmedaillon weit hinten, wo es gelandet war, als Ralph es weggeworfen hatte. Schwester Tamra sah ihn, immer noch lächelnd, an. »Er hat sich zu der Überzeugung durchgerungen, daß es ein Teil dessen ist, was ihn krank macht, und es weggeworfen. Du solltest dasselbe tun, wenn du schlau bist.« Roland wiederholte: »Lieber nicht.« »So«, sagte sie abweisend und ließ ihn allein mit den freien Betten, die im dunkler werdenden Raum leuchteten. Roland hielt trotz seiner zunehmenden Müdigkeit durch, bis die heißen Farben, die auf der Westwand der Krankenstation bluteten, zu Asche erkaltet waren. Dann kaute er an einer der Rispen und fühlte Stärke in seinem Körper erblühen – echte Stärke, keinen zappelnden, herzklopfenden Ersatz. Er sah zu dem Medaillon, das im letzten Lichtschein glänzte, und leistete einen letzten Schwur für John Norman: Er würde es zusammen mit dem anderen zu Normans Familie bringen, wenn Ka wollte, daß er im Lauf seiner Reise auf sie stieß. Der Revolvermann döste und fühlte sich zum erstenmal an diesem Tag wirklich unbeschwert. Als er erwachte, war es dunkel. Die Ärzte-Käfer sangen ungewöhnlich schrill. Er hatte einen der, Halme unter dem Kissen hervorgeholt und knabberte daran, als eine kalte Stimme sagte: »Aha – die Große Schwester hat recht gehabt. Du hast Geheimnisse vor uns.« Roland schien das Herz in der Brust stehenzubleiben. Er drehte sich um und sah Schwester Coquina, die sich aufrichtete. Sie hatte sich hereingeschlichen, während er döste, und sich unter dem Bett rechts neben ihm versteckt, um ihn zu beobachten. »Woher hast du das?« fragte sie. »War es –« »Er hat es von mir.« Coquina wirbelte herum. Jenna kam den Mittelgang entlang auf sie zu. Sie hatte ihre Tracht abgelegt. Die Haube mit dem Band der Glöckchen an der Stirn trug sie noch, aber ihr Saum ruhte auf den Schultern eines schlichten karierten Hemdes. Darunter trug sie Jeans und zerkratzte Wüstenstiefel. Sie hielt etwas in der Hand. Es war so dunkel, daß Roland es nicht deutlich sehen konnte, aber er glaubte – »Du«, flüsterte Schwester Coquina, von grenzenlosem Haß erfüllt. »Wenn ich das der Großen Schwester sage –« »Du wirst niemandem etwas sagen«, sagte Roland. Hätte er seine Flucht aus den Schlingen, die ihn gefangenhielten, geplant, wäre es zweifellos zu einer Katastrophe gekommen, aber der Revolvermann machte wie immer seine Sache am besten, wenn er am wenigsten nachdachte. Er hatte die Arme binnen eines Augenblicks befreit; ebenso sein linkes Bein. Aber mit dem rechten verfing er sich am Knöchel, so daß es sich verdrehte und er sich mit den Schultern auf dem Bett befand und mit dem Bein in der Luft hing. Coquina drehte sich zischend wie eine Katze zu ihm um. Sie fletschte die Lippen und entblößte Zähne, die spitz wie Nadeln waren. Sie rannte mit gespreizten Fingern auf ihn zu. Die Nägel an den Enden sahen scharf und gezackt aus. Roland packte das Medaillon und hielt es ihr entgegen. Sie schrak, immer noch zischend, davor zurück und wirbelte mit einem Rauschen weißer Röcke zu Schwester Jenna herum. »Dir, werd ich´s zeigen, du unruhestiftende Hure!« schrie sie mit tiefer, schroffer Stimme. Roland bemühte sich, sein Bein zu befreien, konnte es aber nicht. Es hing fest in der beschissenen Schlinge, in der sich sein Knöchel irgendwie verstrickt zu haben schien. Jenna hob die Hände, und Roland sah, daß er recht gehabt hatte: Sie hatte seine Revolver mitgebracht, in den Holstern an den beiden alten Revolvergurten, die er nach dem letzten Brand aus Gilead mitgenommen hatte. »Erschieß sie, Jenna! Erschieß sie!« Statt dessen schüttelte Jenna, die immer noch die Revolvergurte hochhielt, nur den Kopf, wie an dem Tag, als Roland sie überredet hatte, ihre Haube abzunehmen, damit er ihr Haar sehen konnte. Die Glöckchen läuteten so schrill, daß sich das Geräusch wie ein Dorn in den Kopf des Revolvermanns zu bohren schien. Die Dunklen Glocken. Das Sigul ihres Ka-tet. Was – Das Geräusch der Ärzte-Käfer schwoll zu einem schrillen, pfeifenden Schrei an, der unheimliche Ähnlichkeit mit dem Klingeln der Glöckchen hatte, die Jenna trug. Nun hatten sie nichts Liebliches mehr an sich. Schwester Coquinas Hände, die sich um Jennas Kehle legen wollten, begannen zu zittern; Jenna selbst war nicht einmal zusammengezuckt, noch hatte sie geblinzelt. »Nein«, flüsterte Coquina. »Das kannst du nicht tun!« »Ich habe es getan«, sagte Jenna, und da sah Roland die Käfer. Als sie von den Beinen des bärtigen Mannes heruntergeklettert waren, hatte Roland ein Bataillon gesehen. Was nun aus den Schatten herauskam, war die größte aller Armeen; wären es Männer statt Insekten gewesen, hätten es gut und gerne mehr sein können als alle Männer zusammen, die in der langen und blutigen Geschichte von Mittwelt jemals Waffen getragen hatten. Aber es war nicht der Anblick, wie sie auf den Dielen des Mittelgangs heranrückten, an den Roland sich immer erinnern und der ihn ein Jahr oder länger in seinen Alpträumen, heimsuchen würde; es war die Art und Weise, wie sie die Betten bedeckten. Sie wurden schwarz auf beiden Seiten des Mittelgangs, immer zwei auf einmal, wie trübe rechteckige Lichter, die paarweise abgeschaltet wurden. Coquina kreischte und schüttelte ihrerseits den Kopf, um mit ihren eigenen Glocken zu läuten. Ihr Klang war dünn und sinnlos im Vergleich zum schrillen Läuten der Dunklen Glocken. Immer noch rückten die Käfer an, verdunkelten den Boden, schwärzten die Betten. Jenna rannte an der kreischenden Schwester Coquina vorbei, ließ Rolands Waffen neben ihm zu Boden gleiten und richtete die verdrehte Schlinge mit einer einzigen ruckartigen Bewegung zurecht. Roland zog sein Bein heraus. »Komm«, sagte sie. »Ich habe sie gerufen – sie hier festzuhalten dürfte mir nicht so leichtfallen.« Nun stieß Schwester Coquina keine Angstschreie mehr aus, sondern Schmerzensschreie. Die Käfer hatten sie gefunden. »Nicht hinsehen«, sagte Jenna und half Roland auf die Füße. Er dachte, daß er noch nie in seinem Leben so glücklich gewesen war, auf ihnen zu stehen. »Komm. Wir müssen uns beeilen – sie wird die anderen aufwecken. Ich habe deine Stiefel und Kleidungsstücke an dem Pfad versteckt, der von hier wegführt – ich habe getragen, soviel ich konnte. Wie geht es dir? Bist du kräftig genug?« »Dank deiner Hilfe.« Roland wußte nicht, wie lange er bei Kräften bleiben würde .was im Augenblick auch keine Frage war, die eine Rolle spielte. Er sah, wie sich Jenna zwei der Halme schnappte – in seinem Bemühen, aus den Schlingen zu entkommen, waren sie auf dem ganzen Bett verstreut worden –, und dann liefen sie den Mittelgang entlang, weg von den Käfern und Schwester Coquina, deren Schreie allmählich verstummten. Roland schnallte seine Revolver um und band sie fest, ohne stehenzubleiben. Sie passierten nur drei Betten auf beiden Seiten, bevor sie die Zeltklappe erreichten .und es war ein Zelt, wie er nun sah,, kein riesiger Pavillon. Die Seidenwände und die Decke bestanden aus fadenscheinigen Segeltuchplanen, die dünn genug waren, um das Licht eines Dreiviertel-Kußmonds durchzulassen. Und die Betten waren gar keine Betten, sondern nur eine Doppelreihe schäbiger Pritschen. Er drehte sich um und sah einen schwarzen, zuckenden Wulst, wo Schwester Coquina gewesen war. Als er sie sah, kam Roland ein unangenehmer Gedanke. »Ich habe John Normans Medaillon vergessen!« Ein starkes Gefühl des Bedauerns – fast der Trauer – durchfuhr ihn wie ein Windstoß. »Ich habe es vom Boden aufgehoben.« Er wußte nicht, was ihn glücklicher machte – der Anblick des Medaillons oder die Tatsache, daß sie es in der Hand hielt. Es bedeutete, daß sie nicht wie die anderen war. Aber als wollte sie ihm den Gedanken austreiben, bevor er richtig Fuß fassen konnte, sagte sie: »Nimm es, Roland – ich kann es nicht mehr halten.« Und als er es nahm, sah er unmißverständliche Brandmale an ihren Fingern. Er nahm ihre Hand und küßte jede Brandblase. »Danke-Sai«, sagte sie, und er stellte fest, daß sie weinte. »Danke, Liebster. So geküßt zu werden ist wunderbar und rechtfertigt alle Schmerzen. Jetzt ..« Roland sah, wie sie sich abwandte, und folgte ihrem Blick. Lichter kamen wippend einen Pfad herunter. Dahinter sah er das Gebäude, in dem die Kleinen Schwestern wohnten – kein Kloster, sondern eine halbverfallene Hazienda, die aussah, als wäre sie tausend Jahre alt. Es waren drei Kerzen; als sie näher kamen, sah Roland, daß es nur drei Schwestern waren; Mary war nicht bei ihnen. Er zog die Waffen. »Oooo, er ist ein Revolvermann, das ist er!« Louise. »Ein furchteinflößender Mann!« Michela. »Und er hat seine Liebste und seine Schießeisen gefunden!« Tamra., »Seine Hurenschlampe!« Louise. Sie lachten wütend. Hatten keine Angst. Jedenfalls nicht vor seinen Waffen. »Steck sie weg«, sagte Jenna, und als sie hinsah, stellte sie fest, daß er es bereits getan hatte. Derweil waren die anderen näher gekommen. »Ooo, seht nur, sie weint!« Tamra. »Und hat ihre Tracht abgelegt!« Michela. »Vielleicht weint sie um ihr gebrochenes Gelübde.« »Warum die Tränen, Hübsche?« Louise. »Weil er meine Finger geküßt hat, wo sie verbrannt waren«, sagte Jenna. »Ich bin bisher noch nie geküßt worden. Darum mußte ich weinen.« »Ooooo!« »Rei-zend!« »Als nächstes wird er ihr sein Ding reinstecken. Noch reizender!« Jenna ertrug ihren Spott ohne eine Spur von Zorn. Als sie fertig waren, sagte sie: »Ich gehe mit ihm. Geht beiseite!« Sie glotzten sie an, und ihr falsches Lachen wich Entsetzen. »Nein!« flüsterte Louise. »Bist du verrückt? Du weißt, was passieren wird!« »Nein, und ihr auch nicht«, sagte Jenna. »Außerdem ist es mir egal.« Sie wandte sich halb ab und streckte die Hand zum Eingang des uralten Lazarettzelts aus. Im Mondschein hatte es einen verblaßten Olivfarbton, ein altes rotes Kreuz war auf das Dach gemalt. Roland fragte sich, wie viele Städte die Schwestern mit diesem Zelt besucht hatten, das von außen so klein und schlicht und von innen so riesig und grandios wirkte. Wie viele Städte in wie vielen Jahren? Nun drängten sich die Ärzte-Käfer am Mund der Zelttür wie eine schwarze, glänzende Zunge. Sie hatten aufgehört zu singen. Ihr Schweigen war irgendwie schrecklich. »Geht beiseite, oder ich hetze sie auf euch«, sagte Jenna., »Das würdest du nicht tun!« rief Schwester Michela mit leiser, erschrockener Stimme. »Aye. Ich habe sie schon auf Schwester Coquina losgelassen. Sie ist jetzt Bestandteil ihrer Medizin.« Ihr Stöhnen war wie ein kalter Wind, der durch abgestorbene Bäume weht. Und das Mißbehagen galt nicht nur ihrer eigenen Haut. Was Jenna getan hatte, war eindeutig völlig unvorstellbar für sie. »Dann bist du verdammt«, sagte Schwester Tamra. »Solche eures Schlags sollten nicht von Verdammnis sprechen! Geht beiseite!« Sie gehorchten. Roland ging an ihnen vorbei, und sie wichen vor ihm zurück .aber vor ihr wichen sie mehr zurück. »Verdammt?« fragte er, als sie die Hazienda umrundet und den Pfad dahinter erreicht hatten. Der Kußmond leuchtete über einem wilden Geröll von Felsbrocken. In seinem Licht konnte Roland eine kleine schwarze Öffnung tief unten am Hang erkennen. Er vermutete, daß es die Höhle war, die die Schwestern Haus der Besinnung nannten. »Was haben sie damit gemeint, verdammt?« »Vergiß es. Wir müssen uns jetzt nur um Schwester Mary Sorgen machen. Mir gefällt nicht, daß wir sie nicht gesehen haben.« Sie versuchte, schneller zu gehen, aber er packte sie am Arm und drehte sie um. Er konnte immer noch die Käfer singen hören, aber leise; sie ließen die Heimat der Schwestern hinter sich. Und Eluria auch, wenn der Kompaß in seinem Kopf noch richtig funktionierte; er glaubte, daß die Stadt in der anderen Richtung lag. Die leere Hülle der Stadt, verbesserte er sich. »Sag mir, was sie gemeint haben.« »Vielleicht nichts. Frag mich nicht, Roland – was würde es nützen? ´s ist geschehen, die Brücke ist verbrannt. Ich kann nicht zurück. Und wollte es auch nicht, wenn ich es könnte.« Sie senkte den Blick, biß sich auf die Lippen, und als sie wieder aufschaute, sah Roland frische Tränen über ihre Wangen rollen. »Ich habe, mit ihnen gespeist. Es gab Zeiten, da konnte ich nicht anders, sowenig wie du dich weigern konntest, ihre widerliche Suppe zu essen, obwohl du gewußt hast, was darin ist.« Roland erinnerte sich, wie John Norman gesagt hatte: Ein Mann muß essen .eine Frau auch. Er nickte. »Ich wollte so nicht weitermachen. Wenn es eine Verdammnis gibt, dann soll es die meiner Wahl sein, nicht ihrer. Meine Mutter hat es gut gemeint, als sie mich zu ihnen zurückbrachte, aber sie hat sich geirrt.« Sie sah ihn schüchtern und furchtsam an .aber direkt in die Augen. »Ich werde dich auf deinem Weg begleiten, Roland von Gilead. Solange ich darf oder solange du mich haben willst.« »Du kannst mich gern auf meinem Weg begleiten«, sagte er. »Und deine –« Gesellschaft wird ein Segen für mich sein, hatte er fortfahren wollen, aber bevor er es sagen konnte, meldete sich eine Stimme aus dem Geflecht der Mondschatten vor ihnen zu Wort, wo der Weg aus dem felsigen, unfruchtbaren Tal hinausführte, wo die Schwestern ihren Zauber ausgeübt hatten. »Es ist eine traurige Pflicht, eine so einverständige Flucht zu unterbrechen, aber unterbrechen muß ich sie dennoch.« Schwester Mary kam aus den Schatten. Ihre feine weiße Tracht mit der roten Rose darauf war zu dem geworden, was sie in Wirklichkeit war: das Leichentuch einer Toten. In den schmutzigen Falten der Haube war ein runzliges, teigiges Gesicht gefangen, aus dem zwei schwarze Augen starrten. Sie sahen wie verfaulte Datteln aus. Darunter funkelten, durch das Lächeln des Dings bloßgelegt, vier riesige Fangzähne. Über der straffen Haut von Schwester Marys Stirn läuteten Glöckchen .aber nicht die Dunklen Glocken, dachte Roland. Immerhin. »Gib den Weg frei«, sagte Jenna. »Oder ich hetze die can tam auf dich.« »Nein«, sagte Schwester Mary und kam näher, »das wirst du nicht. Sie entfernen sich nicht so weit von den anderen. Du, kannst den Kopf schütteln und diese verdammten Glocken läuten, bis die Klöppel herausfallen, und sie werden nicht kommen.« Jenna ließ es darauf ankommen und schüttelte den Kopf heftig von einer Seite auf die andere. Die Dunklen Glocken läuteten durchdringend, aber ohne diesen zusätzlichen, fast übersinnlichen Ton, der sich wie ein Dorn in Rolands Kopf gebohrt hatte. Und die Ärzte-Käfer – die Jenna can tam genannt hatte – kamen nicht. Die Leichenfrau, die noch breiter grinste (Roland hatte den Verdacht, daß Mary selbst nicht sicher gewesen war, wie das Experiment ausgehen würde, bis die Probe aufs Exempel gemacht worden war), kam weiter auf sie zu und schien dabei über dem Boden zu schweben. Ihr Blick fiel auf Roland. »Und steck das weg«, sagte sie. Roland schaute an sich hinab und sah, daß er einen seiner Revolver in der Hand hielt. Er konnte sich nicht erinnern, daß er ihn gezogen hatte. »Wenn´s nicht gesegnet oder in das heilige Naß einer Sekte getaucht worden ist – Blut, Wasser, Samen –, kann dieses Ding solchen wie mir nichts anhaben, Revolvermann. Denn ich bin mehr Schemen als Substanz .aber solchen wie dir trotzdem ebenbürtig.« Sie dachte, daß er trotzdem versuchen würde, sie zu erschießen; er sah es ihren Augen an. Diese Schießeisen sind alles, was du hast, sagten ihre Augen. Ohne sie könntest du genausogut noch in dem Zelt sein, das wir für dich geträumt haben, in den Schlingen hängen und darauf warten, daß wir uns an dir laben. Anstatt zu schießen, steckte er den Revolver wieder ins Holster und warf sich mit ausgestreckten Armen auf sie. Schwester Mary stieß einen Schrei aus, der vorwiegend ihrer Überraschung entsprang, aber nicht lang war; Rolands Finger schlossen sich um ihren Hals und würgten das Geräusch ab, ehe es richtig angefangen hatte., Ihr Fleisch fühlte sich obszön an – es schien nicht nur zu leben, sondern sich unter seinen Händen zu verändern, als wollte es von ihm fortkriechen. Er konnte spüren, daß es wie Flüssigkeit floß, strömte, und dieses Gefühl war unbeschreiblich gräßlich. Und doch verstärkte er seinen Klammergriff und war fest entschlossen, das Leben aus ihr herauszuwürgen. Dann zuckte der blaue Blitz (nicht in der Luft, sollte er später denken; der Blitz fand in seinem Kopf statt, ein einziger Blitzschlag, als sie einen kurzen, aber heftigen Sturm in seinem Gehirn auslöste), und seine Hände flogen von ihrem Hals weg. Einen Moment sahen seine geblendeten Augen große, feuchte Vertiefungen in ihrem grauen Fleisch – Vertiefungen in Form seiner Hände. Dann wurde er nach hinten geschleudert, landete mit dem Rücken auf dem Geröll, rutschte ein Stück und stieß mit dem Kopf so heftig an einen vorstehenden Felsen, daß er einen zweiten, nicht ganz so grellen Blitz sah. »Nee, mein hübscher Mann«, sagte sie, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und lachte mit ihren schrecklichen stumpfen Augen. »Solche wie mich erwürgt man nicht, und ich werde dich für diese Frechheit ganz langsam nehmen – dich an hundert Stellen schneiden, aber nicht tief, und meinen Durst stillen. Aber vorher muß ich mich um dieses abtrünnige Mädchen kümmern .und dabei werde ich ihr auch gleich diese verdammten Glocken abnehmen.« »Komm her und sieh, ob du das kannst!« schrie Jenna mit bebender Stimme und schüttelte den Kopf von einer Seite auf die andere. Die Dunklen Glocken läuteten spöttisch und provozierend. Marys Grimasse eines Lächelns verschwand. »Oh, ich kann es«, schnaufte sie. Ihr Mund klaffte auf. Im Mondschein funkelten ihre Fangzähne im Zahnfleisch wie Nadeln aus Knochen in einem blutroten Nadelkissen. »Ich kann und ich –« Über ihnen ertönte ein Knurren. Es schwoll an und zersplitterte zu einer Salve fauchenden Bellens. Mary wandte sich nach links, und in dem Augenblick, bevor das fauchende Ding, von dem Felsen sprang, auf dem es stand, konnte Roland deutlich Schrecken und Bestürzung im Gesicht der Großen Schwester sehen. Es stürzte sich auf sie, ein dunkler Schatten vor den Sternen, Beine ausgestreckt, wodurch es wie eine unheimliche Fledermaus aussah, aber noch bevor es mit der Frau zusammenstieß, über den halb erhobenen Armen auf ihrer Brust landete und die eigenen Zähne in ihren Hals grub, wußte Roland genau, worum es sich handelte. Als der Schemen sie auf den Rücken warf, stieß Schwester Mary ein schnatterndes Kreischen aus, das in Rolands Kopf schmerzte wie die Dunklen Glocken selbst. Er sprang keuchend auf die Füße. Das schattenhafte Ding zerriß Schwester Mary, Vorderpfoten auf beiden Seiten ihres Kopfes, Hinterpfoten auf das Leichentuch über ihrer Brust gestemmt, wo die Rose gewesen war. Roland packte Jenna, die in einer Art von starrer Faszination auf Schwester Mary hinabsah. »Komm schon!« brüllte er. »Bevor er beschließt, daß er von dir auch ein Stück abbeißen will!« Der Hund schenkte ihnen keine Beachtung, als Roland Jenna an ihm vorbeizog. Er hatte den größten Teil von Schwester Marys Kopf abgerissen. Ihr Fleisch schien sich irgendwie zu verändern – wahrscheinlich verweste es sehr schnell –, aber was immer passierte, Roland wollte es nicht sehen. Und er wollte auch nicht, daß Jenna es sah. Halb gehend, halb laufend schafften sie es zur Kuppe des Hangs, und als sie dort angekommen waren, machten sie beide im Mondschein eine Pause, ließen die Köpfe hängen, hielten einander an den Händen und atmeten keuchend. Das Knurren und Fauchen unter ihnen war ein wenig abgeklungen, aber immer noch deutlich zu hören, als Schwester Jenna den Kopf hob und ihn fragte: »Was war es? Du weißt es – das habe ich deinem Gesicht angesehen. Und wie konnte es sie, angreifen? Wir haben alle Macht über Tiere, aber sie hat – hatte – die größte.« »Nicht über dieses.« Roland mußte an den unglücklichen Jungen im Bett neben seinem denken. Norman hatte nicht gewußt, warum das Medaillon die Schwestern auf Armeslänge fernhielt – ob es am Gold oder am Gott lag. Nun kannte Roland die Antwort. »Es war ein Hund. Nur ein Stadtköter. Ich habe ihn auf dem Platz gesehen, bevor das grüne Volk mich niedergeschlagen und zu den Schwestern gebracht hat. Ich nehme an, die anderen Tiere, die weglaufen konnten, sind weggelaufen, aber der nicht. Er hatte von den Kleinen Schwestern von Eluria nichts zu fürchten, und ich glaube, irgendwie wußte er das. Er trägt das Zeichen des Jesusmannes auf der Brust. Schwarzes Fell auf weißem. Nur eine Laune der Natur, nehme ich an. Wie auch immer, er hat sie besiegt. Ich wußte, daß er in der Nähe herumstreunt. Ich habe ihn ein- oder zweimal bellen hören.« »Warum?« flüsterte Jenna. »Warum kam er? Warum blieb er? Und warum hat er sich so auf sie gestürzt?« Roland von Gilead antwortete wie immer, wenn derart nutzlose, rätselhafte Fragen gestellt wurden: »Ka. Komm jetzt! Gehen wir so weit weg von hier, wie wir können, ehe wir uns den Tag über verkriechen.« So weit sie konnten – das waren höchstens acht Meilen, wie sich herausstellte .wahrscheinlich sogar, dachte Roland, als die beiden sich auf einem Fleckchen duftenden Salbeis unter einem Felsüberhang niederließen, ein gutes Stück weniger. Vielleicht fünf. Er selbst war es, der sie bremste; besser gesagt, die Reste des Gifts in der Suppe. Als ihm klar wurde, daß er ohne Hilfe nicht weitergehen konnte, bat er sie um einen der Halme. Sie weigerte sich und sagte, daß das Mittel darin und die ungewohnte Anstrengung dazu führen konnten, daß sein Herz barst. »Außerdem«, sagte sie, als sie sich an die Wand der kleinen Nische lehnten, die sie gefunden hatten, »werden sie uns nicht folgen. Die Übriggebliebenen – Michela, Louise, Tamra – werden zusammenpacken und weiterziehen. Sie wissen, wann es Zeit, wird, zu verschwinden; darum konnten die Schwestern so lange überleben. Konnten wir so lange überleben. In mancher Hinsicht sind wir stark, aber in anderer schwach. Das hat Schwester Mary vergessen. Ich glaube, ihre Arroganz wurde ihr ebenso zum Verhängnis wie der Kreuzhund.« Sie hatte nicht nur seine Stiefel und Kleidungsstücke jenseits der Kuppe des Grats versteckt, sondern auch die kleinere seiner beiden Taschen. Als sie sich dafür entschuldigen wollte, daß sie die größere Tasche und seinen Schlafsack nicht mitgebracht hatte (sie hatte es versucht, sagte sie, aber sie waren einfach zu schwer gewesen), brachte Roland sie zum Schweigen, indem er ihr einen Finger an die Lippen hielt. Er hielt es für ein Wunder, daß er überhaupt soviel zurückbekommen hatte. Und außerdem (das sagte er nicht, aber vielleicht wußte sie es trotzdem) waren die Revolver das einzige, worauf es wirklich ankam. Die Revolver seines Vaters, und dessen Vaters, bis zu den Tagen von Arthur Eld zurück, als Träume und Drachen noch auf Erden gewandelt waren. »Ist mit dir alles in Ordnung?« fragte er, als sie sich hinlegten. Der Mond war untergegangen, aber bis zur Dämmerung würden mindestens noch drei Stunden vergehen. Der liebliche Duft von Salbei umgab sie. Ein purpurner Duft dachte er dann .und auch später. Er konnte bereits spüren, wie der Duft eine Art Zauberteppich unter ihnen wob, auf dem er bald in den Schlaf schweben würde. Er dachte, daß er noch nie so müde gewesen war. »Roland, ich weiß es nicht.« Aber er glaubte, daß sie es da schon gewußt hatte. Ihre Mutter hatte sie einmal zurückgebracht; noch einmal würde sie keine Mutter zurückbringen. Und sie hatte mit den anderen gegessen, hatte die Kommunion der Schwestern empfangen. Ka war ein Rad; es war auch ein Netz, aus dem keiner je entkam. Aber da war er zu müde, um viel darüber nachzudenken .und was hätte das Nachdenken auch genutzt? Wie sie gesagt hatte, die Brücke war verbrannt. Selbst wenn sie in das Tal, zurückkehrten, dachte Roland, würden sie nichts anderes finden als die Höhle, die die Schwestern Haus der Besinnung genannt hatten. Die überlebenden Schwestern würden ihr Zelt der schlimmen Träume zusammengepackt haben und weitergezogen sein – nur ein Geräusch von Glocken und singenden Insekten, die in der nächtlichen Brise entschwanden. Er sah sie an, hob eine Hand (die sich schwer anfühlte) und berührte die Locke, die ihr wieder in die Stirn hing. Jenna lachte verlegen. »Die entkommt mir immer. Sie ist eigensinnig. Wie ihre Herrin.« Sie hob eine Hand, um sie wieder zurückzustecken, aber Roland hielt ihre Finger, bevor sie es konnte. »Sie ist wunderschön«, sagte er. »Schwarz wie die Nacht und schön wie die Ewigkeit.« Er richtete sich auf – was Anstrengung kostete; Müdigkeit zerrte wie sanfte Hände an seinem Körper. Er küßte die Locke. Sie machte die Augen zu und seufzte. Er spürte, wie sie unter seinen Lippen zitterte. Die Haut ihrer Stirn war sehr kalt; die dunkle Kurve der eigensinnigen Locke wie Seide. »Schieb deine Haube zurück, wie du es schon mal getan hast«, sagte er. Sie gehorchte wortlos. Einen Augenblick sah er sie nur an. Jenna erwiderte den Blick ernst, ohne den Blick von seinem abzuwenden. Er strich mit den Händen durch ihr Haar und spürte sein sanftes Gewicht (wie Regen, dachte er, Regen mit Gewicht), dann nahm er sie an den Schultern und küßte beide Wangen. Er wich einen Moment zurück. »Würdest du mich küssen, wie ein Mann eine Frau küßt, Roland? Auf den Mund?« »Aye.« Und er küßte ihre Lippen, woran er schon gedacht hatte, als er noch in dem Seidenzelt des Lazaretts lag. Sie erwiderte den Kuß so bezaubernd unbeholfen wie jemand, der vorher noch nie geküßt hat, außer vielleicht im Traum. Da überlegte Roland, ob er mit ihr schlafen sollte – es war lange, lange her, und sie war, wunderschön –, aber statt dessen schlief er ein, während er sie noch küßte. Er träumte von dem Kreuzhund, der bellend durch eine weite, offene Landschaft lief. Er folgte ihm, weil er den Grund für seine Aufregung erfahren wollte, was auch bald geschah. Am gegenüberliegenden Rand der Ebene stand der Dunkle Turm, dessen rußige Mauersteine sich vor dem düsteren orangeroten Ball einer untergehenden Sonne abzeichneten und dessen furchteinflößende Fenster spiralförmig aufwärts verliefen. Bei diesem Anblick hörte der Hund auf zu bellen und fing an zu heulen. Glocken – besonders schrill und schrecklich wie ein Weltuntergang – ertönten. Dunkle Glocken, das wußte er, aber ihr Klang war hell wie Silber. Als sie zu läuten anfingen, glomm ein tödliches rotes Licht in den dunklen Fenstern des Turms – das Rot vergifteter Rosen. Ein Schrei unerträglicher Schmerzen hallte in die Nacht. Der Traum verwehte binnen eines Augenblicks, aber der Schrei blieb und ging in ein Stöhnen über. Dieser Teil war real – so real wie der Turm, der düster an seinem Platz am äußersten Ende von Endwelt wartete. Roland erwachte in der Helligkeit der Dämmerung und dem milden Purpurduft von Wüstensalbei. Er hatte beide Revolver gezogen und stand auf den Füßen, noch ehe ihm völlig klar wurde, daß er wach war. Jenna war fort. Ihre Stiefel lagen leer neben seiner Tasche. Ein Stück davon entfernt lag ihre Jeans so flach wie abgestreifte Schlangenhäute. Über ihnen ihr Hemd. Zu seinem Erstaunen stellte Roland fest, daß es noch in der Hose steckte. Dahinter lag ihre leere Haube mit dem Band der Glocken auf dem pulverförmigen Sand. Einen Augenblick dachte er, daß sie läuteten, weil er das Geräusch, das er hörte, zuerst falsch einschätzte. Keine Glöckchen, sondern Insekten. Die Ärzte-Käfer. Sie sangen im Salbei und hörten sich ein wenig wie Grillen an, nur weitaus lieblicher., »Jenna?« Keine Antwort .es sei denn, die Käfer antworteten. Denn ihr Gesang verstummte plötzlich. »Jenna?« Nichts. Nur der Wind und der Duft von Salbei. Ohne nachzudenken, was er tat (wie die Schauspielerei gehörte auch logisches Denken nicht zu seinen Stärken), bückte er sich, hob die Haube auf und schüttelte sie. Die Dunklen Glocken ertönten. Einen Augenblick geschah nichts. Dann kamen tausend winzige Geschöpfe aus dem Salbei gekrochen und versammelten sich auf dem rissigen Erdboden. Roland dachte an das Bataillon, das am Bett des alten Mannes heruntergekrabbelt war, und wich einen Schritt zurück. Dann hielt er die Stellung. Wie die Käfer ihre. Er glaubte zu verstehen. Teilweise beruhte dieses Verstehen darauf, wie sich Schwester Marys Fleisch unter seinen Händen angefühlt hatte .wie es sich veränderlich angefühlt hatte, nicht eins, sondern viele. Teilweise beruhte es auf dem, was sie gesagt hatte:Ich habe mit ihnen gespeist. Solche wie sie starben vielleicht nie .aber sie konnten sich verändern. Die Insekten erschauerten, eine dunkle Wolke, die die weiße, feine Erde bedeckte. Roland schüttelte die Glocken wieder. Ein Erschauern lief wie eine feine Welle durch die Käfer, und dann bildeten sie einen Umriß. Sie zögerten, als wüßten sie nicht, wie sie weitermachen sollten, zogen sich zurück, fingen von vorne an. Was sie schließlich auf dem weißen Sand zwischen den wehenden Büscheln fliederfarbenen Salbeis formten, war einer der großen Buchstaben: der Buchstabe C. Aber es war gar kein Buchstabe, sah der Revolvermann; es war eine Locke. Sie fingen an zu singen, und für Roland hörte es sich an, als würden sie seinen Namen singen., Die Glocken fielen aus seiner kraftlosen Hand, und als sie auf den Boden prallten und dort läuteten, löste sich die Masse der Käfer auf und zerstob in alle Richtungen. Er überlegte, ob er sie zurückrufen sollte – wenn er mit den Glocken läutete, könnte es ihm gelingen –, aber zu welchem Zweck? Mit welchem Sinn? Frag mich nicht, Roland, ´s ist geschehen, die Brücke verbrannt. Trotzdem war sie ein letztesmal zu ihm gekommen und hatte ihre Willenskraft auf tausend verschiedene Teile ausgedehnt, die die Fähigkeit zu denken verloren haben sollten, als das Ganze den Zusammenhalt verlor .und doch hatte sie irgendwie gedacht – ausreichend, um den Umriß zu formen. Wieviel Anstrengung mochte das gekostet haben? Sie schwärmten weiter und weiter aus, manche verschwanden im Salbei, manche krabbelten an den Wänden des Felsüberhangs hinauf und verschwanden in Ritzen, wo sie vielleicht abwarten würden, bis die Hitze des Tages vorüber war. Alle waren fort. Sie war fort. Roland setzte sich auf den Boden und schlug die Hände vor das Gesicht. Er glaubte, er müsse weinen, aber der Drang ließ zur rechten Zeit nach; als er den Kopf wieder hob, waren seine Augen so trocken wie die Wüste, in die er dereinst gelangen sollte, immer noch auf der Spur von Walter, dem Mann in Schwarz. Wenn es eine Verdammnis gibt, hatte sie gesagt, dann soll es die meiner Wahl sein, nicht ihrer. Er wußte selbst ein wenig über die Verdammnis .und er hatte den Verdacht, daß ihre Lektionen längst nicht beendet waren, sondern gerade erst angefangen hatten. Sie hatte ihm die Tasche gebracht, in der sein Tabak war. Er drehte sich eine Zigarette und rauchte sie, auf die Knie gekauert. Er rauchte sie bis auf eine winzige Kippe, während er ihre leere Kleidung betrachtete und an den festen Blick ihrer dunklen Augen dachte. An die Brandwunden an ihren Fingern von der Kette des Medaillons. Und dennoch hatte sie es aufgehoben, weil, sie gewußt hatte, daß er es haben wollte; hatte die Schmerzen in Kauf genommen, und nun trug Roland beide um den Hals. Als die Sonne ganz aufgegangen war, zog der Revolvermann weiter nach Westen. Mit der Zeit würde er ein anderes Pferd finden, oder ein Maultier, aber im Augenblick war er damit zufrieden, zu laufen. Den ganzen Tag quälte ihn ein klingelndes, singendes Geräusch in den Ohren, ein Geräusch wie das der Glocken. Mehrmals blieb er stehen und drehte sich um, überzeugt, daß er einen dunklen Umriß sehen würde, der über den Boden strömte, ihm folgte, wie uns die Schatten unserer besten und schlimmsten Erinnerungen folgen, aber es war nie ein Umriß da. Er war allein im flachen Hügelland westlich von Eluria. Ganz allein., Die Scheibenwelt TERRY PRATCHETT, DIE FARBEN DER PHANTASIE (1985) DAS LICHT DER PHANTASIE (1989) DAS ERBE DES ZAUBERERS (1989) GEVATTER TOD (1990) DER ZAUBERHUT (1990) PYRAMIDEN (1990) WACHEN! WACHEN! (1991) MACBEST (1992) ERIC (1992) VOLL IM BILDE (1993) ALLES SENSE! (1994) TOTAL VERHEXT (1994) EINFACH GÖTTLICH (1995) LORDS UND LADIES (1996) ROLLENDE STEINE (1996) HELLE BARDEN (1996) ECHT ZAUBERHAFT (1997) MUMMENSCHANZ (1997) SCHWEINSGALOPP (1998) Die Scheibenwelt ist eine flache Welt, von vier Elefanten getragen, die auf einer riesigen Schildkröte stehen, die wiederum endlos durch das All schwimmt. Pratchett nimmt diese klassische mythologische Vorstellung als Ausgangspunkt, ergießt fröhlich seinen Spott über eine ganze Reihe von Opfern – Shakespeare, Schöpfungstheorie, heroische Fantasy, usw., usw. – und unternimmt dabei Ausflüge in so entlegene Gebiete wie das alte Ägypten, das Reich der Azteken und das Italien der Renaissance, um sich weiteres Rohmaterial zu verschaffen. Wenn er nicht satirisch historische Epochen oder Kulturen aufs Korn nimmt, läßt Pratchett seine Geschichten meistens rund um Ankh- Morpork kreisen, einen Schmelztiegel von einer Fantasy-Stadt, die eine Mischung aus dem Florenz der Renaissance, dem viktorianischen London und dem heutigen New York ist., Die Serie benutzt Fantasy als einen Zerrspiegel und präsentiert uns durch ihn ein verschrobenes, aber deutlich erkennbares Bild der Belange des zwanzigsten Jahrhunderts. (Beispielsweise bekommen Chancengleichheit und gesetzliche Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Minderheiten eine völlig neue Dimension, wenn man Vampire, Werwölfe und Zombies unter seinen Mitbürgern hat ..) Man kann die Bücher grob in vier Gruppen unterteilen: In der Rincewind-Serie (Die Farben der Phantasie, Das Licht der Phantasie, Der Zauberhut, Eric, Echt zauberhaft) ist der Held ein unfähiger, feiger (oder äußerst klar denkender) Magier, der unablässig versucht, einer Gefahr auszuweichen, nur um dadurch in eine zehnmal schlimmere Lage zu geraten. Wie unglückselig seine Mißgeschicke auch sind, am Ende schafft er es immer, zu triumphieren und auf der Scheibenwelt einen Anschein von Ordnung wiederherzustellen, was immer man dort unter Ordnung versteht. Das primäre Ziel der Satire in dieser Gruppe ist die heroische Fantasy einschließlich aller Genre-Stereotypen – Trolle, Zauberer und ähnliche Fauna. Der Zauberhut, zum Beispiel, ist eine Parodie der Lovecraftschen Unterwelt; Eric ist eine Veralberung des Faustischen Teufelspakt-Themas. Der Esme-Wetterwachs-Zyklus (Das Erbe des Zauberers, Macbest, Total verhext, Lords und Ladies, Mummenschanz) stellt eine der populärsten Figuren der Serie vor, eine Hexe von eiserner Konstitution, stählerner Moral und einem Stolz wie Stahlbeton, die in jeder Situation die Oberhand behält; wie ein Held im Western ist sie eigentlich eine böse Hexe, die Gutes tut. Eine Neufassung von Das Phantom der Oper bildet die Grundlage von Mummenschanz, und in Lords und Ladies wird Shakespeares Ein Sommernachtstraum aufs Korn genommen, indem dessen vornehmere Feen durch garstige, heimtückische Elfen aus der keltischen Folklore ersetzt werden. Die Bücher aus dem Tod-Zyklus (Gevatter Tod, Alles Sense!, Rollende Steine) schildern die Prüfungen von Tod, einem humorlosen Geschöpf, das insgeheim eine Schwäche für die, Menschheit hat und dessen Unvermögen, eben diese Menschen zu verstehen, echtes Pathos schafft. In Gevatter Tod macht der Tod Urlaub und überläßt die Arbeit bis zu seiner Rückkehr seinen noch weichherzigeren Lehrlingen. Alles Sense! zeigt den Tod, wie er – vorübergehend – sterblich wird und lernt, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein. In den Stadtwache-Büchern (Wachen! Wachen!, Helle Barden) wird Fantasy mit Elementen jener Gattung des Kriminalromans kombiniert, die das Vorgehen der Polizei schildert, und die Resultate sind entsprechend munter. In Wachen! Wachen! muß die schmuddelige, aber grundehrliche Stadtwache von Ankh- Morpork gegen einen Drachen kämpfen, der den Patrizier der Stadt ermorden und durch eine Marionette ersetzen will. Helle Barden erzählt von einem Serienkiller, der mit der einzigen Feuerwaffe der Scheibenwelt (vom Scheibenwelt-Äquivalent Leonardo da Vincis erfunden) Amok läuft. Der Solo-Roman Pyramiden injiziert eine Dosis modernes Denken in eine Version des Ägyptens der Pharaonen. Voll im Bilde nutzt die Werkzeugkiste der Scheibenwelt, um den wahren Zauber von Filmen zu untersuchen. Einfach göttlich bietet einen grimmig-humorvollen Blick auf den Aufstieg einer Religion, deren einzige »Wahrheit« darin besteht, daß die Scheibenwelt in Wahrheit kugelförmig ist, nicht flach. In »Das Meer und kleine Fische« präsentiert Pratchett ein neues Abenteuer von Esme (auch: Oma) Wetterwachs, einer vom Konkurrenzdenken geprägten Seele, die der Überzeugung ist, »als zweite durchs Ziel gehen« sei ein anderer Ausdruck für verlieren ..,

TERRY PRATCHETT Das Meer und kleine Fische

Der ganze Ärger begann, und das nicht zum erstenmal, mit einem Apfel. Ein ganzer Sack davon lag auf dem ausgebleichten und fleckenlosen Tisch von Esme Wetterwachs. Rot und rund, glänzend und fruchtig – wenn sie die Zukunft gekannt hätten, hätten sie ticken müssen wie Bomben. »Behalt sie alle, der alte Hopcroft hat gesagt, ich kann so viele haben, wie ich will«, sagte Nanny Ogg. Sie warf ihrer Hexenschwester einen scheelen Blick zu. »Köstlich, ein wenig runzlig, aber verdammt haltbar.« »Er hat einen Apfel nach dir benannt?« fragte Oma. Jedes Wort war ein saurer Tropfen in der Luft. »Wegen meinen rosigen Wangen«, sagte Nanny Ogg. »Und ich hab sein Bein geheilt, als er letztes Jahr von der Leiter gefallen ist. Und ich hab ihm eine Tinktur für seinen Kahlkopf gebraut.« »Aber die hat nicht geholfen«, sagte Oma. »Diese Perücke, die er trägt, die ist scheußlich anzusehen bei einem Mann, der noch lebt.« »Aber es hat ihn gefreut, daß ich mich dafür interessiert habe.« Oma Wetterwachs ließ den Sack nicht aus den Augen. Obst und Gemüse wuchsen fabelhaft bei den heißen Sommern und kalten Wintern in den Bergen. Percy Hopcroft war der beste Züchter und definitiv ein leidenschaftlicher Mann, wenn es um sexuelle Eskapaden mit einem Kamelhaarpinsel im Gartenbau ging., »Er verkauft seine Apfelbäume überall«, fuhr Nanny Ogg fort. »Komisch, was, wenn man sich vorstellt, daß ziemlich bald Tausende Leute Nanny Ogg vernaschen können.« »Weitere Tausende«, sagte Oma spitz. Nannys wilde Jugend war ein offenes Buch, wenn auch nur mit einem unscheinbaren Einband erhältlich. »Danke, Esme.« Nanny Ogg sah einen Moment sehnsüchtig drein und öffnete dann den Mund in spöttischer Besorgnis. »Oh, du bist doch nicht etwa eifersüchtig, Esme, oder? Du mißgönnst mir meinen kurzen Augenblick im Sonnenschein nicht?« »Ich? Eifersüchtig? Warum sollte ich eifersüchtig sein. Es ist nur ein Apfel. Nicht, daß es etwas Wichtiges wäre.« »Das dachte ich mir auch. Nur ein bißchen Firlefanz, um einer alten Dame zu schmeicheln«, sagte Nanny. »Und wie steht es so bei dir?« »Prima. Prima.« »Hast du dein Winterholz schon beisammen?« »Größtenteils.« »Gut«, sagte Nanny. »Gut.« Sie saßen schweigend beieinander. An der Fensterscheibe flatterte tanzend ein Schmetterling, den die für die Jahreszeit ungewöhnliche Wärme geweckt hatte, um hinaus in die Septembersonne zu gelangen. »Deine Kartoffeln .hast du sie schon geerntet?« fragte Nanny. »Ja.« »Wir hatten dieses Jahr eine gute Ernte.« »Gut.« »Hast du deine Bohnen schon eingesalzen?« »Ja.« »Ich gehe davon aus, du freust dich schon auf den Wettstreit nächste Woche?« »Ja.« »Ich nehme an, du hast geübt?« »Nein.«, Nanny hatte den Eindruck, als würden die Schatten in den Ecken des Zimmers trotz der Sonne dunkler werden. Die Luft selbst wurde dunkler. Die Hütte einer Hexe ist empfänglich für die Stimmung ihrer Besitzerin. Aber sie ließ sich nicht beirren. Narren stürmen drauflos, aber im Vergleich mit kleinen alten Damen, die nichts mehr zu fürchten haben, sind sie lahme Enten. »Kommst du am Sonntag zum Essen?« »Was kochst du?« »Schweinefleisch.« »Mit Apfelsoße?« »Ja –« »Nein«, sagte Oma. Ein Quietschen ertönte hinter Nanny. Die Tür war aufgeschwungen. Jemand, der keine Hexe war, hätte nach einer logischen Erklärung gesucht, hätte gesagt, daß es natürlich nur der Wind war. Und Nanny Ogg war durchaus bereit, diesem Beispiel zu folgen, aber sie hätte hinzugefügt: Warum war es nur der Wind, und wie hatte es der Wind geschafft, den kleinen Riegel zu öffnen? »Oh, nun ja, ich kann nicht den ganzen Tag hier sitzen und plaudern«, sagte sie und stand rasch auf. »Um diese Jahreszeit ist immer viel los, nicht wahr?« »Ja.« »Dann geh ich mal.« »Wiedersehen.« Der Wind blies die Tür wieder zu, als Nanny den Weg hinunter lief. Sie hatte den Eindruck, daß sie möglicherweise ein wenig zu weit gegangen war. Aber nur ein wenig. Das Problem daran, eine Hexe zu sein – zumindest das Problem daran, eine Hexe zu sein, soweit es manche Leute betraf –, war einfach, daß man hier auf dem Land festsaß. Aber Nanny machte das nichts aus. Hier draußen gab es alles, was sie wollte. Alles, was sie immer gewollt hatte, war hier, allerdings waren ihr in ihrer Jugend manchmal die Männer knapp geworden. Es war, ganz schön, fremde Gegenden zu besuchen, aber wirklich von Bedeutung waren sie nicht. Es gab interessante neue Getränke, und das Essen machte Spaß, aber fremde Gegenden besuchte man, um zu tun, was eben getan werden mußte, und dann kam man wieder hierher zurück, an einen Ort, der real war. Nanny Ogg liebte es klein und beschaulich. Natürlich, überlegte sie, als sie über den Rasen ging, hatte sie nicht diese Aussicht vor dem Fenster. Nanny lebte unten im Ort, aber Oma konnte über den Wald und die Ebenen bis zum weiten runden Horizont der Scheibenwelt sehen. Eine derartige Aussicht, überlegte sich Nanny, konnte einem wahrscheinlich den Verstand direkt aus dem Kopf saugen. Man hatte ihr gesagt, daß die Welt rund und flach war, was dem gesunden Menschenverstand entsprach, und auf dem Rücken von vier Elefanten durch das All zog, die auf dem Rücken einer Schildkröte standen, was nicht unbedingt einen Sinn ergeben mußte. Das alles passierte DA DRAUSSEN irgendwo, und so konnte es mit Nannys Segen und ausgesprochener Interesselosigkeit auch bleiben, solange sie in einer persönlichen Welt mit einem Durchmesser von rund zehn Meilen leben konnte, die sie mit sich herumschleppte. Aber Esme Wetterwachs brauchte mehr, als dieses kleine Königreich fassen konnte. Sie war die andere Art Hexe. Und Nanny sah es als ihre Aufgabe an, zu verhindern, daß sich Oma Wetterwachs langweilte. Die Sache mit den Äpfeln war ziemlich unbedeutend, ein garstiger kleiner Triumph, wenn man es recht überlegte, aber Esme brauchte etwas, um jeden Tag lebenswert zu machen, und wenn es Zorn und Eifersucht sein mußten, dann sollten sie es eben sein. Oma würde nun etwas aushecken, um sich einen kleinen Sieg zu verschaffen, eine kleine Demütigung, von der nur sie beide je erfahren würden, und damit war der Fall erledigt. Nanny war überzeugt, daß sie mit ihrer Freundin zurechtkommen konnte, wenn sie übellaunig war, aber nicht, wenn sie sich langweilte. Eine Hexe, die sich langweilt, ist zu allem fähig., Die Leute sagten Sachen wie »damals mußten wir selbst für unsere Unterhaltung sorgen«, als würde das einen gewissen moralischen Wert vermitteln, was vielleicht sogar zutraf, aber man wollte auf keinen Fall, daß sich eine Hexe langweilte und anfing, für ihre eigene Unterhaltung zu sorgen, denn Hexen hatten manchmal äußerst exzentrische Vorstellungen davon, was unterhaltsam war. Und Esme war zweifellos die mächtigste Hexe, die die Berge seit Generationen gesehen hatten. Nun stand der Wettstreit bevor, und der sorgte stets dafür, daß es Esme Wetterwachs ein paar Wochen lang gutging. Sie sprach auf Wettbewerbe an wie Forellen auf Fliegen. Nanny Ogg freute sich immer auf den Hexenwettstreit. Man verbrachte einen schönen Tag draußen, und dann war da natürlich das große Freudenfeuer. Wer hätte je von einem Hexenwettstreit ohne ein anschließendes schönes Freudenfeuer gehört? Und hinterher konnte man Kartoffeln in der Asche rösten. Der Nachmittag zerschmolz zum Abend, die Schatten in Ecken und unter Hockern und Tischen krochen hervor und wuchsen zusammen. Oma wippte leicht mit ihrem Stuhl, während sich die Dunkelheit um sie legte. Ihr Gesichtsausdruck war zutiefst konzentriert. Die Scheite im Kamin zerfielen zu Glut, die nach und nach erlosch. Die Nacht wurde schwärzer. Die alte Uhr auf dem Kaminsims tickte, und eine ganze Zeitlang war kein anderes Geräusch zu hören. Dann ertönte ein leises Rascheln. Die Papiertüte auf dem Tisch bewegte sich und wurde zusammengeknüllt wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Langsam stieg ein deutlicher Fäulnisgeruch in die Luft. Nach einer Weile kam die erste Made herausgekrochen., Nanny Ogg war zu Hause und schenkte sich gerade ein Glas Bier ein, als es klopfte. Sie stellte den Krug seufzend beiseite und ging die Tür aufmachen. »Oh, hallo, meine Damen. Was treibt ihr in dieser Gegend? Und obendrein an einem so kühlen Abend?« Nanny ging ins Zimmer zurück, gefolgt von drei weiteren Hexen. Sie trugen die schwarzen Mäntel und spitzen Hüte, die traditionsgemäß mit ihrem Beruf in Verbindung gebracht werden, in diesem Fall aber dazu dienten, daß jede anders aussah. Mit nichts kann man seine Individualität besser zum Ausdruck bringen, als mit einer Uniform. Einmal hier gezupft und einmal da gekniffen, das schafft kleine Einzelheiten, die in scheinbarer, nun, Uniformität um so augenfälliger sind. Der Hut von Gammer Beavis beispielsweise hatte eine sehr flache Krempe und eine Spitze, mit der man sich das Ohr hätte säubern können. Nanny mochte Gammer Beavis. Sie war vielleicht ein wenig zu gebildet, was man ihr beim Sprechen manchmal deutlich anmerkte, aber sie reparierte ihre Schuhe selbst und schnupfte Tabak, und in Nanny Oggs bescheidener Weltsicht bedeutete das, daß jemand IN ORDNUNG war. Die Kleidung des alten Mütterchens Dismass hatte das unordentliche Aussehen von jemandem, der wegen einer Netzhautablösung in seinem zweiten Gesicht gleichzeitig in einer Vielzahl von Zeiten lebte. Bei normalen Menschen ist geistige Verwirrung schon schlimm genug, aber viel schlimmer ist es, wenn der Verstand einen okkulten Touch hat. Man konnte nur hoffen, daß sie lediglich ihre Unterwäsche auf der Oberkleidung trug. Nanny wußte, daß es immer schlimmer mit ihr wurde. Manchmal hörte man ihr Klopfen an der Tür, schon Stunden bevor sie eintraf. Ihre Fußabdrücke tauchten dafür erst Tage später auf. Beim Anblick der dritten Hexe überkam Nanny Niedergeschlagenheit, aber nicht, weil Lätizia Ohrwurm eine böse Frau war. Sogar ganz im Gegenteil. Sie wurde als anständig,, wohlmeinend und gütig betrachtet, zumindest von weniger aggressiven Tieren und von Kindern der sauberen Variante. Und sie erwies einem immer einen guten Dienst. Das Problem war, sie erwies einem auch dann einen guten Dienst, wenn dieser gute Dienst nicht gut für einen war. Am Ende war man geistig ziemlich bedient, und das war nicht gut. Und sie war verheiratet. Nanny hatte persönlich nichts dagegen, daß Hexen verheiratet waren. Es war nicht so, als gäbe es Regeln in dieser Hinsicht. Sie selbst hatte viele Männer gehabt, und mit dreien war sie sogar verheiratet gewesen. Aber Herr Ohrwurm war ein pensionierter Zauberer mit einer verdächtig großen Menge Gold, und Nanny argwöhnte, daß Lätizia die Zauberei betrieb, um sich zu beschäftigen, etwa so, wie andere Frauen einer gewissen Schicht Knieschoner für die Kirche sticken oder die Armen besuchen mochten. Und sie hatte Geld. Nanny hatte kein Geld und war deshalb prädestiniert dafür, andere nicht zu mögen, die es hatten. Lätizia besaß einen derart feinen schwarzen Samtmantel, daß er aussah, als sei ein Loch in die Welt geschnitten worden. Nanny nicht. Nanny wollte keinen feinen Samtmantel und strebte nicht nach derlei Dingen. Also sah sie nicht ein, warum andere Leute sie haben sollten. »Abend, Gytha. Wie geht´s dir denn so?« fragte Gammer Beavis. Nanny nahm die Pfeife aus dem Mund. »Fit wie eine Fiedel. Kommt rein.« »Ist dieser Regen nicht furchtbar?« sagte Mütterchen Dismass. Nanny sah zum Himmel, der frostig purpurn war. Aber wahrscheinlich regnete es gerade, wo Mütterchens Geist weilte. »Dann komm rein und trockne dich ab«, sagte sie freundlich. »Mögen Glückssterne über dieser unserer Versammlung leuchten«, sagte Lätizia. Nanny nickte verständnisvoll. Lätizia hörte sich immer an, als hätte sie ihre Hexenkunst aus einem nicht sehr phantasievollen Buch gelernt. »Ja, richtig«, sagte sie., Es folgte höfliches Geplauder, während Nanny Tee und Gebäck bereitstellte. Dann sagte Gammer Beavis in einem Tonfall, der eindeutig besagte, daß der offizielle Teil des Besuchs begann: »Wir sind hier als das Wettstreitkomitee.« »Ach? Ja?« »Ich gehe davon aus, du nimmst teil?« »O ja. Ich werde meinen bescheidenen Beitrag leisten.« Nanny sah Lätizia an. Deren Gesicht zeigte ein Lächeln, mit dem sie nicht ganz glücklich war. »Das Interesse in diesem Jahr ist groß«, fuhr Gammer fort. »Immer mehr Mädchen interessieren sich für den Beruf.« »Um Jungs zu bekommen, hat man den Eindruck«, sagte Lätizia und schniefte. Nanny gab keinen Kommentar ab. Soweit es sie betraf, schien es ein verdammt guter Verwendungszweck für Hexerei zu sein, Jungs zu bekommen. In gewisser Weise war es einer der wesentlichen Verwendungszwecke. »Das ist schön«, sagte sie. »Großer Andrang sieht immer gut aus. Aber.« »Pardon?« sagte Lätizia. »Ich sagte ›aber‹«, wiederholte Nanny. »Denn irgend jemand wird ›aber‹ sagen, richtig? Diesem Gespräch steht noch ein großes ›Aber‹ bevor. Das sehe ich.« Sie wußte, sie trat die Etikette mit Füßen. Die Plauderei sollte noch mindestens sieben Minuten dauern, bis jemand zur Sache kam, aber Lätizias Anwesenheit ging ihr auf die Nerven. »Es ist wegen Esme Wetterwachs«, sagte Gammer Beavis. »Ja?« sagte Nanny ohne Überraschung. »Ich nehme an, sie nimmt teil?« »Es wäre das erste Mal, daß sie fehlen würde.« »Ich nehme an, du .könntest sie nicht überreden .dieses Jahr nicht teilzunehmen?« sagte sie. Nanny sah schockiert drein. »Du meinst mit einer Axt?« fragte sie. Die drei Hexen lehnten sich gleichzeitig zurück., »Weißt du –«, begann Gammer ein wenig beschämt. »Ganz offen, Frau Ogg«, sagte Lätizia, »es ist ziemlich schwer, andere Leute zur Teilnahme zu bewegen, wenn sie wissen, daß Fräulein Wetterwachs teilnimmt. Sie gewinnt immer.« »Ja«, sagte Nanny. »Es ist ein Wettbewerb.« »Aber sie gewinnt immer!« »Und?« »Bei anderen Wettbewerben«, sagte Lätizia, »darf man normalerweise nur dreimal hintereinander gewinnen und muß dann eine Weile auf die hinteren Plätze verschwinden.« »Ja, aber hier geht es um Hexerei«, sagte Nanny. »Da sind die Regeln anders.« »Inwiefern?« »Es gibt keine.« Lätizia zupfte an ihrem Rock. »Vielleicht wird es Zeit, daß es welche gibt«, sagte sie. »Ah«, sagte Nanny. »Und ihr wollt einfach da rauf gehen und Esme das sagen? Bist du dem gewachsen, Gammer?« Gammer Beavis sah ihr nicht in die Augen. Das alte Mütterchen Dismass sah in die vergangene Woche. »Mir ist klar, daß Fräulein Wetterwachs eine sehr stolze Frau ist«, sagte Lätizia. Nanny Ogg paffte wieder ihre Pfeife. »Genausogut könnten Sie sagen, daß das Meer voll Wasser ist«, sagte sie. Die anderen Hexen schwiegen einen Moment. »Ich wage zu sagen, daß das ein wertvoller Beitrag zu unserem Gespräch war«, sagte Lätizia, »aber ich habe ihn nicht verstanden.« »Wenn es kein Wasser im Meer gibt, dann ist es kein Meer«, sagte Nanny Ogg. »Es ist nur ein verdammt großes Loch im Boden. Bei Esme ist es so ..« Nanny sog wieder lautstark an ihrer Pfeife. »Sie besteht ausschließlich aus Stolz, klar? Sie ist nicht nur eine stolze Person.«, »Dann sollte sie vielleicht lernen, ein klein wenig bescheidener zu sein ..« »Weshalb sollte sie bescheiden sein?« fragte Nanny schneidend. Aber Lätizia hatte, wie viele Leute mit Marshmallow als Schale, einen harten Kern, der sich nicht so leicht zusammendrücken ließ. »Die Frau ist eindeutig ein Naturtalent, und sie sollte wirklich dankbar sein für –« Nanny Ogg hörte ab diesem Punkt nicht mehr zu. Die Frau, dachte sie. So lief also der Hase. Es war in praktisch jeder Branche dasselbe. Früher oder später kam jemand auf die Idee, daß sie organisiert werden mußte, und man konnte in einem Punkt ganz sicher sein, daß die Organisierer ganz bestimmt nicht zu den größten Leuchten ihres Fachs gehörten. Die arbeiteten zu hart. Um ehrlich zu sein, im allgemeinen wurde es auch nicht von den schlechtesten gemacht. Die arbeiteten auch hart. Das mußten sie. Nein, es wurde von denjenigen gemacht, die gerade Zeit und Neigung genug hatten, herumzuwurschteln und sich zu tummeln. Und um abermals ehrlich zu sein, die Welt brauchte Leute, die herumwurschtelten und sich tummelten. Man mußte sie ja nicht besonders mögen. Das Schweigen sagte ihr, daß Lätizia fertig war. »Wirklich? Nehmen wir mal mich«, sagte Nanny. »Ich bin diejenige, die ein Naturtalent ist. Wir Oggs haben die Hexerei im Blut. Ich mußte mir nie wirklich ein Bein dafür ausreißen. Esme dagegen .sie hat ein bißchen, das stimmt, aber viel ist es nicht. Sie sorgt nur dafür, daß es wie der Teufel funktioniert. Und ihr wollt ihr sagen, daß sie das nicht soll?« »Wir hatten gehofft, daß Sie das machen würden«, sagte Lätizia. Nanny machte den Mund auf, um ein oder zwei Flüche auszustoßen, und machte ihn wieder zu., »Ich sag euch was«, sagte sie, »ihr könnt ihr das morgen selbst sagen, und ich komme mit, um sie zurückzuhalten.« Oma Wetterwachs sammelte Kräuter, als sie den Weg hinaufkamen. Alltägliche Kräuter des Krankenzimmers oder der Küche nennt man einfache. Omas Kräuter waren keine einfachen. Sie waren kompliziert, oder sie waren gar nichts. Und es war kein Zimperliesengeschäft mit einem hübschen Körbchen und einem kleinen Scherchen. Oma benutzte ein Messer. Und einen Stuhl, den sie vor sich hielt. Und einen Lederhut, Handschuhe und eine Schürze als zweite Verteidigungslinie. Nicht einmal sie wußte, woher einige der Kräuter kamen. Wurzeln und Samen wurden auf der ganzen Welt gehandelt, vielleicht noch ein Stück weiter. Manche hatten Blüten, die einem nachschauten, wenn man vorbeiging, manche schossen Dornen auf vorüberfliegende Vögel ab, und manche waren an Stöcke gebunden, aber nicht, damit sie nicht umfielen, sondern damit sie am nächsten Tag noch da waren. Nanny Ogg, die sich nie die Mühe gemacht hatte, auch nur ein Kräutlein zu pflanzen, das man nicht rauchen oder für eine Hühnchenfüllung verwenden konnte, hörte sie murmeln: »Ganz recht, ihr Mistviecher –« »Guten Morgen, Fräulein Wetterwachs«, sagte Lätizia Ohrwurm laut. Oma Wetterwachs erstarrte, ließ den Stuhl ganz vorsichtig sinken und drehte sich um. »Es heißt Frau«, sagte sie. »Wie auch immer«, sagte Lätizia strahlend. »Ich darf davon ausgehen, daß es Ihnen gutgeht?« »Bis jetzt«, sagte Oma. Sie nickte den drei anderen Hexen fast unmerklich zu. Es folgte ein vielsagendes Schweigen, das Nanny Ogg abstieß. Sie hätten auf eine Tasse von irgendwas hineingebeten werden sollen. So lief das Ritual ab. Es zeugte von ungeheuer schlechten, Manieren, Leute einfach so herumstehen zu lassen. Fast, aber nicht ganz so schlimm, wie eine alte, alleinstehende Hexe »Fräulein« zu nennen. »Ihr seid wegen dem Wettstreit gekommen«, sagte Oma. Lätizia wurde fast ohnmächtig. »Ähem, woher wissen Sie –« »Weil ihr wie ein Komitee ausseht. Da braucht man nicht viel Grips«, sagte Oma und zog die Handschuhe aus. »Wir haben nie ein Komitee gebraucht. Die Nachricht hat sich einfach rumgesprochen, und wir sind aufgekreuzt. Jetzt kommen plötzlich Leute an und arrangieren alles.« Einen Augenblick sah Oma aus, als würde sie einen ernsten inneren Kampf austragen, dann fügte sie in wegwerfendem Tonfall hinzu: »Der Kessel ist aufgestellt. Ihr kommt besser mit rein.« Nanny entspannte sich. Vielleicht gab es gewisse Gepflogenheiten, über die sich auch Oma Wetterwachs nicht hinwegsetzen konnte. Selbst seinen schlimmsten Feind bat man ins Haus und bot ihm Tee und Bisquits an. Tatsächlich war es so, je größer der Feind, um so besseres Porzellan trug man auf, und um so leckerer waren die Bisquits. Später wünschte man ihnen die schwarze Hölle an den Hals, aber solange sie unter deinem Dach waren, fütterte man sie bis zum Erbrechen ab. Ihren dunklen kleinen Augen entging nicht, daß der Küchentisch glänzte und noch feucht vom Schrubben war. Nachdem die Tassen eingeschenkt und Liebenswürdigkeiten ausgetauscht worden waren, besser gesagt, nachdem Lätizia sie aufgesagt und Oma sie schweigend zur Kenntnis genommen hatte, rutschte die selbsternannte Vorsitzende auf ihrem Stuhl herum und sagte: »Es besteht ein ungeheuer großes Interesse an dem diesjährigen Wettstreit, Fräulein – Frau Wetterwachs.« »Gut.« »Es sieht ganz so aus, als würde die Hexerei in den Spitzhornbergen eine Renaissance erleben.« »Eine Renaissance, ja? Ist ja ein Ding.«, »Sie ist für junge Frauen ein so guter Weg zur Befähigung, finden Sie nicht auch?« Viele Leute konnten verletzende Sachen sagen, das wußte Nanny. Aber Oma Wetterwachs konnte verletzend zuhören. Sie konnte bewirken, daß etwas dumm klang, indem sie es sich nur anhörte. »Einen schönen Hut haben Sie da«, sagte Oma. »Samt, richtig? Nicht aus hiesiger Fertigung, nehme ich an.« Lätizia berührte die Krempe und lachte leise. »Er ist von Boggi´s in Ankh-Morpork«, sagte sie. »Ach? Massenware?« Nanny Ogg sah in die Ecke des Zimmers, wo ein Kegel aus Holz auf einem Podest stand. Bahnen schwarzen Kalikostoffs und Streifen aus Weidenholz waren daran befestigt; die Basis von Omas Frühlingshut. »Maßgeschneidert«, sagte Lätizia. »Und diese Hutnadeln, die Sie da haben«, fuhr Oma fort. »Mondsicheln und Katzen –« »Du hast eine Brosche, die auch sichelförmig ist, Esme, oder nicht?« sagte Nanny Ogg, die entschieden hatte, daß es Zeit für einen Warnschuß wurde. Hin und wieder hatte Oma eine Menge über Hexen und Schmuck zu sagen, wenn sie in ätzender Stimmung war. »Das stimmt, Gytha. Ich habe eine sichelförmige Brosche. Das ist einfach tatsächlich die Form, die sie zufällig hat. Sehr praktische Form, um einen Mantel zu halten, so eine Mondsichel. Aber ich will nichts damit sagen. Wie auch immer, du hast mich unterbrochen, als ich Frau Ohrwurm gerade sagen wollte, wie bezaubernd ihre Haarnadeln sind. Sehr hexenhaft.« Nanny, die hin und her sah wie eine Zuschauerin bei einem Tennisspiel, sah zu Lätizia, um festzustellen, ob dieser tödliche Schuß getroffen hatte. Aber die Frau lächelte wahrhaftig. Manche Leute bekamen das Offensichtliche einfach nicht mit – nicht mal, wenn es ihnen mit dem Vorschlaghammer serviert wurde., »Da wir gerade beim Thema Hexerei sind«, sagte Lätizia mit dem natürlichen Talent für den erzwungenen Themenwechsel, das jede Komiteevorsitzende besitzt, »dachte ich mir, ich könnte mit Ihnen das Thema Ihrer Teilnahme an dem Wettstreit besprechen.« »Ja?« »Finden Sie .äh .halten Sie es nicht für unfair anderen Leuten gegenüber, daß Sie jedes Jahr gewinnen?« Oma Wetterwachs sah zum Boden und dann zur Decke. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich bin besser als sie.« »Glauben Sie nicht, daß das für die anderen Teilnehmer ein bißchen entmutigend ist?« Wieder der Blick vom Boden zur Decke. »Nein«, sagte Oma. »Aber sie treten mit dem Wissen an, daß sie nicht gewinnen werden.« »Ich auch.« »O nein, Sie sind bestimmt –« »Ich meinte, daß ich auch mit dem Wissen antrete, daß sie nicht gewinnen werden«, sagte Oma trocken. »Und sie sollten mit dem Wissen antreten, daß ich nicht gewinnen werde. Kein Wunder, daß sie verlieren, wenn sie nicht von sich überzeugt sind.« »Es dämpft ihren Enthusiasmus schon ziemlich.« Oma sah aufrichtig verwirrt drein. »Was ist schlimm daran, wenn sie versuchen, zweite zu werden?« Lätizia ließ nicht locker. »Wir hatten gehofft, Esme, Sie davon zu überzeugen, daß Sie den Status einer Emeritierten akzeptieren. Sie könnten vielleicht eine nette kleine Ansprache zur Ermutigung halten, den Preis überreichen und .und möglicherweise sogar eine der, ähem, Jurorinnen sein ..« »Es wird Jurorinnen geben?« fragte Oma. »Wir hatten noch nie Jurorinnen. Alle haben einfach gewußt, wer gewonnen hat.« »Das stimmt«, sagte Nanny. Sie erinnerte sich an die Szenen am Ende von einem oder zwei Wettstreiten. Wenn Oma, Wetterwachs gewann, wußten es alle. »Oh, das stimmt wahrhaftig.« »Es wäre eine sehr noble Geste«, fuhr Lätizia fort. »Wer hat entschieden, daß es Jurorinnen gibt?« fragte Oma. »Ähem .das Komitee .das .es .ein paar von uns haben sich zusammengesetzt. Nur um die Sache ein wenig zu steuern ..« »Oh, ich verstehe«, sagte Oma. »Wimpel?« »Pardon?« »Werdet ihr diese Leinen mit kleinen Wimpeln haben? Und vielleicht jemanden, der Äpfel am Stiel verkauft, so etwas?« »Ein paar Girlanden könnten sicher nicht –« »Richtig. Und vergeßt das Freudenfeuer nicht.« »Solange es hübsch und sicher ist.« »Oh. Richtig. Alles muß hübsch sein. Und sicher«, sagte Oma. Frau Ohrwurm seufzte sichtlich vor Erleichterung. »Nun, das hätten wir ja schnell geklärt«, sagte sie. »Wirklich?« fragte Oma. »Ich dachte, wir wären uns einig gewesen –« »Waren wir das? Wirklich?« Sie nahm den Schürhaken vom Herd und stocherte heftig im Feuer. »Ich werde über die Angelegenheit nachdenken.« »Ich frage mich, ob ich einen Moment ganz offen sprechen darf, Frau Wetterwachs?« sagte Lätizia. Der Schürhaken erstarrte mitten in der Bewegung. »Ja?« »Sehen Sie, die Zeiten ändern sich. Nun glaube ich zu wissen, warum Sie es als notwendig erachten, so dominant und unfreundlich zu allen zu sein, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen als Freundin sage, daß alles viel einfacher für Sie wäre, wenn Sie sich ein wenig entspannen und versuchen würden, etwas netter zu sein, so wie unsere Schwester Gytha hier.« Nanny Oggs Lächeln war zu einer Maske erstarrt. Lätizia schien es nicht zu bemerken., »Sämtliche Hexen im Umkreis von fünfzig Meilen scheinen Ehrfurcht vor Ihnen zu haben«, fuhr sie fort. »Nun will ich nicht leugnen, daß Sie einige brauchbare Fähigkeiten besitzen, aber bei der Hexerei geht es heutzutage nicht mehr darum, ein alter Sauertopf zu sein und die Leute zu erschrecken. Ich sage Ihnen das als Freundin –« »Schauen Sie jederzeit wieder rein, wenn Sie in der Nähe sind«, sagte Oma. Das war das Zeichen. Nanny Ogg stand hastig auf. »Ich dachte, wir könnten uns unterhalten –«, wandte Lätizia ein. »Ich begleite euch bis zum Weg hinunter«, sagte Nanny und zerrte die anderen Hexen von ihren Stühlen. »Gytha!« sagte Oma schneidend, als die Gruppe an der Tür angekommen war. »Ja, Esme?« »Ich nehme an, du kommst danach wieder zurück?« »Ja, Esme.« Nanny sputete sich, um das Trio auf dem Pfad einzuholen. Lätizia hatte einen entschlossenen Schritt am Leib, fand Nanny. Es war falsch gewesen, sie nach den schwabbeligen Wangen, dem übertrieben toupierten Haar und der albernen Art zu beurteilen, wie sie beim Reden mit den Händen fuchtelte. Sie war immerhin eine Hexe. Und wenn man eine Hexe vor den Kopf stieß .nun, dann bekam man es mit einer Hexe zu tun, die man gerade vor den Kopf gestoßen hatte. »Sie ist keine nette Person«, trällerte Lätizia. Aber es war das Trällern eines großen Raubvogels. »Damit haben Sie recht«, sagte Nanny. »Aber –« »Es ist höchste Zeit, daß sie ein bißchen zurechtgestutzt wurde.« »Nu-un ..« »Sie schubst Sie auf übelste Art herum, Frau Ogg. Und das bei einer verheirateten Dame in Ihrem reifen Alter!« Nur einen Moment kniff Nanny die Augen zusammen., »So ist sie eben«, sagte sie. »In meinen Augen eine ziemlich kleinkarierte und garstige Art!« »O ja«, sagte Nanny nur. »Wie Arten nun mal so sind. Aber sehen Sie, Sie –« »Wirst du etwas zum Verkaufsstand beisteuern, Gytha?« fragte Gammer Beavis hastig. »Oh, ein paar Flaschen, denke ich«, sagte Nanny und regte sich wieder ab. »Oh, selbstgemachter Wein?« sagte Lätizia. »Wie schön.« »So etwas wie Wein, ja. Nun, da ist die Straße«, sagte Nanny. »Ich werde nur .ich werde nur auf einen Sprung zurückgehen und gute Nacht sagen.« »Wissen Sie, es ist erniedrigend, wie Sie ihr nachlaufen«, sagte Lätizia. »Ja. Nun. Man gewöhnt sich an die Leute. Gute Nacht euch allen.« Als sie in die Hütte zurückkam, stand Oma Wetterwachs mit einem Gesicht wie ein ungemachtes Bett und verschränkten Armen mitten in der Küche. Mit einem Fuß klopfte sie auf den Boden. »Sie hat einen Zauberer geheiratet«, sagte Oma, kaum daß ihre Freundin eingetreten war. »Erzähl mir nicht, daß das richtig ist!« »Nun, Zauberer können heiraten, weißt du. Sie müssen nur den Stab und den spitzen Hut an den Nagel hängen. Es gibt kein Gesetz, das es ihnen verbietet, vorausgesetzt daß sie der Zauberei abschwören. Sonst sollen sie mit ihrer Arbeit verheiratet sein.« »Ich könnte mir denken, daß es eine Arbeit ist, mit ihr verheiratet zu sein«, sagte Oma. Sie verzog das Gesicht zu einem sauren Lächeln. »Hast du dieses Jahr viel eingemacht?« fragte Nanny und verband eine Menge neue Assoziationen mit dem Wort »Essig«, das ihr gerade in den Kopf gekommen war. »Meine Zwiebeln haben alle die Goldlarve.« »Jammerschade. Du magst doch Zwiebeln.«, »Selbst Goldlarven müssen essen«, sagte Oma. Sie sah finster zur Tür. »Nett«, sagte sie. »Sie hat einen gestrickten Bezug auf dem Deckel ihrer Toilette«, sagte Nanny. »Rosa?« »Ja.« »Nett.« »Sie ist nicht schlecht«, sagte Nanny. »Sie macht gute Arbeit drüben in Fiedlers Ellenbogen. Die Leute sprechen gut von ihr.« Oma schniefte. »Sprechen sie auch gut von mir?« fragte sie. »Nein, sie sprechen leise von dir, Esme.« »Gut. Hast du ihre Hutnadeln gesehen?« »Ich fand sie ziemlich .nett, Esme.« »So ist das heute mit der Hexerei. Nur Juwelen und keine Unterwäsche.« Nanny die der Meinung war, daß beides annehmbare Alternativen waren, bemühte sich, einen Damm gegen die steigende Flut des Zorns zu bauen. »Eigentlich könntest du es als Ehre betrachten, wenn sie nicht wollen, daß du teilnimmst«, sagte sie. »Das ist nett.« Nanny seufzte. »Manchmal lohnt es sich, nett zu sein, Esme«, sagte sie. »Ich tue nie jemandem was Böses, wenn ich ihm was Gutes tun kann, Gytha, das weißt du. Ich brauche nur keine Rüschen und schicken Etiketten.« Nanny seufzte. Das stimmte natürlich. Oma war eine altmodische Hexe. Sie tat den Leuten nichts Gutes, sie tat, was richtig für sie war. Aber Nanny wußte auch, daß die Leute nicht immer zu schätzen wußten, was richtig für sie war. Wie neulich der alte Pollitt, als er vom Pferd gefallen war. Gewollt hatte er ein Schmerzmittel. Gebraucht hatte er die paar Sekunden Qual, als Oma das Gelenk wieder eingerenkt hatte. Das Problem war, die Leute erinnerten sich an die Schmerzen., Man kam viel besser mit den Leuten zurecht, wenn man alles ein bißchen verbrämte, Interesse vorgab und Sachen sagte wie: »Wie geht es Ihnen?« Esme schenkte sich das alles, weil sie es sowieso wußte. Nanny Ogg wußte es auch, aber sie wußte gleichermaßen, daß es den Leuten echt an die Nieren ging, wenn man durchblicken ließ, daß man es wußte. Sie legte den Kopf schief. Oma klopfte immer noch mit dem Fuß. »Schmiedest du Pläne, Esme? Ich kenne dich. Du hast diesen Gesichtsausdruck.« »Was für einen Gesichtsausdruck, sag?« »Den Gesichtsausdruck, den du hattest, als dieser Bandit nackt auf einem Baum gefunden wurde, wo er die ganze Zeit weinte und von dem schrecklichen Ding faselte, das ihn verfolgte. Komisch nur, daß wir nie irgendwelche Pfotenabdrücke gefunden haben. Den Gesichtsausdruck.« »Für das, was er getan hat, hatte er noch mehr verdient.« »Ja .klar, du hattest diesen Gesichtsausdruck auch kurz bevor der alte Hoggett grün und blau geprügelt in seinem Schweinestall gefunden wurde und nicht darüber reden wollte.« »Du meinst den alten Hoggett, der seine Frau geprügelt hat? Oder den alten Hoggett, der nie wieder die Hand gegen eine Frau erheben wird?« fragte Oma. Das, wozu sie die Lippen geschürzt hatte, hätte man ein Lächeln nennen können. »Und es ist der Gesichtsausdruck, den du hattest, bevor die Lawine auf das Haus des alten Millson herunter ist, als er dich eine alte Schabracke genannt hatte, die sich in Sachen einmischt, die sie nichts angehen ..«, sagte Nanny. Oma zögerte. Nanny war ziemlich sicher, daß das natürliche Ursachen gehabt hatte, und auch, daß Oma von dieser Vermutung wußte und Stolz und Ehrlichkeit in ihr wetteiferten – »Das mag so sein«, sagte Oma unverbindlich. »Wie jemand, der zum Wettstreit gehen und .etwas anstellen könnte«, sagte Nanny., Der Blick ihrer Freundin hätte die Luft zum Kochen bringen müssen. »Ach? Das denkst du von mir? Soweit ist es mit uns gekommen, ja?« »Lätizia denkt, wir sollten mit der Zeit gehen –« »Und? Ich gehe mit der Zeit. Wir sollten mit der Zeit gehen. Niemand hat gesagt, daß wir ihr einen Schubs geben sollen. Ich nehme an, du möchtest gehen, Gytha. Ich will mit meinen Gedanken allein sein!« Als Nanny erleichtert nach Hause eilte, drehten sich ihre eigenen Gedanken darum, daß Oma nicht gerade die beste Reklame für die Hexerei war. Oh, sie war eine der Besten, keine Frage. Jedenfalls in einem gewissen Metier. Aber ein Mädchen, das gerade ins Leben trat, konnte sich schon fragen: Ist es das? Man arbeitete hart und versagte sich manches, und was man am Ende bekam, war harte Arbeit und Entsagung? Oma war nicht ganz ohne Freunde, aber überwiegend erntete sie Respekt. Die Leute lernten auch, Gewitterwolken zu respektieren. Sie bewässerten den Boden. Man brauchte sie. Aber sie waren nicht nett. Nanny Ogg ging mit drei Flanellnachthemden ins Bett, weil bereits scharfe Fröste die Herbstluft mit Stacheln versahen. Außerdem war ihre Geistesverfassung besorgt zu nennen. Sie wußte, es war eine Art Krieg erklärt worden. Oma konnte schreckliche Dinge tun, wenn sie gereizt wurde, und die Tatsache, daß sie Leuten zustießen, die es nicht anders verdienten, machte sie nicht weniger schrecklich. Nanny Ogg wußte, daß Oma etwas ziemlich Furchtbares plante. Ihr persönlich gefiel es nicht, etwas zu gewinnen. Gewinnen war eine Gewohnheit, die man nur schwer wieder los wurde, und brachte einem einen gefährlichen Status ein, der schwer zu verteidigen war. Man ging nervös durchs Leben und hielt stets Ausschau nach dem nächsten Mädchen mit einem besseren Besenstiel und einem geschickteren Händchen am Frosch., Sie wälzte sich unter den Bergen von Eiderdaunen herum. Im Weltbild von Oma Wetterwachs gab es keinen Platz für einen zweiten Platz. Man gewann, oder man war ein Verlierer. Es war nichts Schlimmes daran, ein Verlierer zu sein, davon abgesehen natürlich, daß man nicht der Gewinner war. Nanny hatte sich stets bemüht, eine gute Verliererin zu sein. Die Leute mochten einen, wenn man fast gewann, und spendierten einem Getränke. »Sie hat knapp verloren« war ein viel besseres Kompliment als: »Sie hat knapp gewonnen.« Wer zweiter wurde, hatte mehr Spaß, sagte sie sich. Aber das war kein Gedanke, für den Oma viel Zeit hatte. In ihrer eigenen dunklen Hütte saß Oma Wetterwachs und sah zu, wie das Feuer erlosch. Es war ein Zimmer mit grauen Wänden, die Farbe, die alter Verputz weniger vom Schmutz als vielmehr vom Alter bekommt. Es gab nicht einen einzigen Gegenstand darin, der nicht nützlich gewesen wäre, zweckdienlich und eine Existenzberechtigung hatte. Jede ebene Oberfläche in Nanny Oggs Hütte hatte als Unterbringung für Zierat und Topfpflanzen Verwendung gefunden. Die Leute machten Nanny Ogg Geschenke. Billiger Jahrmarktstinnef, sagte Oma immer dazu. Jedenfalls in der Öffentlichkeit. Was sie insgeheim in ihrem Kopf darüber dachte, sagte sie nie. Sie wiegte sich sanft, als die letzte Glut erlosch. In den grauen Stunden der Nacht ist der Gedanke, daß die Leute wahrscheinlich nur deshalb zu deiner Beerdigung kommen, um sich zu vergewissern, daß du wirklich tot bist, schwer zu ertragen. Am nächsten Tag machte Percy Hopcroft seine Hintertür auf und sah direkt in die blauen Augen von Oma Wetterwachs. »Oweh«, murmelte er unhörbar. Oma hüstelte verlegen. »Herr Hopcroft. Ich bin wegen den Äpfeln gekommen, die Sie nach Frau Ogg benannt haben«, sagte sie., Percys Knie fingen an zu zittern, und seine Perücke rutschte ihm vom Hinterkopf, als wollte sie den hoffentlich sicheren Boden erreichen. »Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, daß Sie das getan haben, denn das hat sie sehr glücklich gemacht«, fuhr Oma in einem Tonfall fort, der jemandem, der sie kannte, eigenartig monoton vorgekommen wäre. »Sie hat eine Menge prima Arbeit getan, und es wird Zeit, daß sie eine kleine Belohnung dafür bekommt. Es war eine sehr nette Geste. Und aus diesem Grund habe ich Ihnen dieses kleine Geschenk gebracht –«, Hopcroft machte einen Sprung rückwärts, als Oma rasch in ihre Schürze griff und eine kleine schwarze Flasche herausholte,»- das sehr selten ist, wegen den seltenen Kräutern, die darin enthalten sind. Die selten sind. Äußerst seltene Kräuter.« Schließlich dämmerte Hopcroft, daß er die Flasche nehmen sollte. Er nahm sie sehr behutsam am Hals, als könnte sie pfeifen oder Beine bekommen. »Äh .danke sehr«, murmelte er. Oma nickte steif. »Gesegnet sei dieses Haus«, sagte sie, wandte sich um und ging den Weg hinab. Hopcroft machte die Tür sorgfältig zu und warf sich dagegen. »Du packst auf der Stelle!« rief er seiner Frau zu, die an der Küchentür mitgehört hatte. »Was? Unser ganzes Leben ist hier! Wir können nicht einfach weglaufen!« »Besser laufen als hinken, Frau! Was will sie von mir? Was will sie? Sie ist niemals nett!« Frau Hopcroft wich keinen Millimeter. Sie hatte das Haus gerade in Schuß gebracht, und sie hatten eine neue Pumpe gekauft. Manches ließ man ungern zurück. »Laß uns einfach abwarten und nachdenken«, sagte sie. »Was ist in der Flasche?« Hopcroft hielt die Flasche auf Armeslänge von sich. »Willst du es herausfinden?«, »Hör auf zu zittern, Mann! Sie hat dich nicht richtig bedroht, oder?« »Sie hat gesagt: ›Gesegnet sei dieses Haus.‹ Für mich klingt das verdammt bedrohlich. Das war Oma Wetterwachs, wie sie leibt und lebt.« Er stellte die Flasche auf den Tisch. Sie starrten sie beide an und standen in der vorsichtigen Haltung von Leuten da, die bereit sind loszurennen, falls irgend etwas passieren sollte. »Auf dem Etikett steht ›Haarwuxmittel‹«, sagte Frau Hopcroft. »Ich nehme es nicht!« »Sie wird uns später danach fragen. So ist sie.« »Wenn du nur einen Moment glaubst, daß ich –« »Wir können es an dem Hund ausprobieren.« »Das ist eine gute Kuh.« Wilhelm Hühnerbang wurde auf dem Melkschemel aus seinen Gedanken gerissen und sah sich auf der Wiese um, während er mit den Händen weiter das Euter des Tiers bearbeitete. Ein spitzer schwarzer Hut ragte über der Hecke auf. Er zuckte vor Schrecken so sehr zusammen, daß er sich in den linken Stiefel molk. »Gibt eine Menge Milch, was?« »Ja, Frau Wetterwachs!« Wilhelm bibberte. »Das ist gut. Möge sie das noch lange tun, das sage ich. Ihnen einen schönen Tag.« Danach entschwand der Hut die Straße hinauf. Hühnerbang sah ihm nach. Dann schnappte er sich den Eimer, lief mit quatschenden Schritten in die Scheune und rief seinen Sohn. »Ramsch! Komm sofort hier runter!« Sein Sohn tauchte mit der Gabel in der Hand auf dem Heuschober auf. »Was liegt an, Paps?« »Du gehst sofort mit Daphne zum Markt, hast du verstanden?«, »Was? Aber sie ist unsere beste Milchkuh, Paps!« »War sie, Sohn! Oma Wetterwachs hat sie gerade mit einem Fluch belegt! Verkauf sie sofort, ehe ihr die Hörner abfallen!« »Was hat sie gesagt, Paps?« »Sie hat gesagt .sie hat gesagt .›Möge sie noch lange Milch geben‹ ..« Hühnerbang zögerte. »Hört sich nicht schrecklich nach einem Fluch an, Paps«, sagte Ramsch. »Ich meine .nicht wie´n normaler Fluch. Eigentlich klingt es ein wenig hoffnungsvoll«, sagte sein Sohn. »Nun .es war die Art .wie .sie es .gesagt hat ..« »Was für eine Art, Paps?« »Nun .irgendwie .fröhlich.« »Alles in Ordnung mit dir, Paps?« »Es war .die Art ..« Hühnerbang verstummte. »Nun, es ist nicht richtig«, fuhr er fort. »Es ist nicht richtig! Sie hat kein Recht, herumzuspazieren und fröhlich zu den Leuten zu sein! Und mein Stiefel ist voll Milch!« Heute nahm sich Nanny Ogg etwas Zeit und kümmerte sich um ihre geheime Destille im Wald. Als Destille bildete sie das bestgehütete Geheimnis, das man sich vorstellen konnte, da jeder im ganzen Königreich genau wußte, wo sie sich befand, und ein Geheimnis, das von so vielen Leuten gewahrt wurde, mußte in der Tat ein großes Geheimnis sein. Sogar der König wußte es und hatte Verstand genug, so zu tun, als wüßte er es nicht, und das hieß, er mußte keine Steuern von ihr verlangen, und sie mußte sich nicht weigern, welche zu bezahlen. Und jedes Jahr zu Schweinewacht bekam er ein Faß des Stöffchens, das war, wie Honig sein könnte, wenn Bienen keine Antialkoholiker wären. Und jeder begriff die Situation, niemand mußte Geld bezahlen, und so war die Welt im bescheidenen Rahmen ein glücklicherer Ort. Und niemand war verflucht, bis ihm die Zähne ausfielen. Nanny döste. Eine Destille im Auge zu behalten war ein Job rund um die Uhr. Aber schließlich wurde der Lärm der Leute, die wiederholt ihren Namen riefen, zuviel für sie., Natürlich würde keiner auf die Lichtung kommen. Dann hätten sie ja zugeben müssen, daß sie wußten, wo die Lichtung lag. Aus diesem Grund stapften sie in den umliegenden Gebüschen herum. Sie zwängte sich hindurch und wurde mit einigen Blicken gespielter Überraschung empfangen, die jeder Truppe von Schmierenschauspielern Ehre gemacht hätten. »Und, was wollt ihr alle?« fragte sie. »Oh, Frau Ogg, wir haben uns gedacht, daß Sie .einen Spaziergang im Wald machen könnten«, sagte Hühnerbang, während ein Geruch, der Glas hätte reinigen können, in der Luft hing. »Sie müssen etwas unternehmen! Es geht um Frau Wetterwachs!« »Was hat sie getan?« »Sagen Sie´s ihr, Herr Schinkenstich!« Der Mann neben Hühnerbang nahm hastig den Hut ab und hielt ihn respektvoll in der Ai-Señor-die-Bandidos-haben-unser- Dorf-überfallen-Position. »Nun, gnä´ Frau, mein Freund und ich haben einen Brunnen gegraben, und da kam sie vorbei –« »Oma Wetterwachs?« »Ja, gnä´ Frau, und sie sagte –« Schinkenstich schluckte. »›Sie werden hier kein Wasser finden, mein guter Mann. Sie sollten besser in der Mulde beim Kastanienbaum suchen!‹ Und wir haben trotzdem weitergegraben und keinen Tropfen Wasser gefunden!« Nanny zündete ihre Pfeife an. Seit der Zeit, als ein verstreuter Funke das Faß, auf dem sie saß, hundert Meter in die Luft geschleudert hatte, rauchte sie nicht mehr bei der Destille. Glücklicherweise hatte eine Fichte ihren Sturz abgebremst. »Aha .und dann haben Sie in der Mulde beim Kastanienbaum gegraben?« fragte sie heiter. Schinkenstich sah schockiert drein. »Nein, gnä´ Frau! Man kann unmöglich sagen, was wir dort finden sollten!« »Und sie hat meine Kuh verflucht!« sagte Hühnerbang. »Wirklich? Was hat sie gesagt?«, »Sie sagte, ›möge sie eine Menge Milch geben!‹« Hühnerbang verstummte. Wieder einmal, wo er es nun aussprach .»Nun, es war die Art, wie sie es gesagt hat«, fügte er kläglich hinzu. »Und was war das für eine Art?« »Nett.« »Nett?« »Lächelnd und so weiter! Ich wage nicht einmal mehr, das Zeug zu trinken!« Nanny stand vor einem Rätsel. »Ich verstehe das Problem nicht ganz –« »Sagen Sie das Herrn Hopcrofts Hund«, sagte Hühnerbang. »Hopcroft wagt ihretwegen nicht mehr, das arme Tier allein zu lassen! Die ganze Familie wird verrückt! Er schert, seine Frau wetzt die Scheren, und die zwei Jungs sind dauernd unterwegs und suchen nach frischen Stellen, um die Haare zu entsorgen!« Geduldige Fragen Nannys brachten ans Licht, welche Rolle das Haarwuxmittel dabei gespielt hatte. »Und er hat ihm wieviel gegeben?« »Die halbe Flasche, Frau Ogg.« »Obwohl Esme auf dem Etikett schreibt: ›Einen guten Teelöffel einmal die Woche‹? Und selbst dann muß man weite Hosen anziehen.« »Er hat gesagt, er war so nervös, Frau Ogg! Ich meine, was treibt sie für ein Spiel? Unsere Frauen behalten die Kinder im Haus. Ich meine, angenommen, sie lächelt sie an?« »Ja?« »Sie ist eine Hexe!« »Das bin ich auch, und ich lächle sie an«, sagte Nanny Ogg. »Sie laufen mir immer nach, weil sie Süßigkeiten wollen.« »Ja, aber .Sie sind .ich meine .Sie .ich meine .Sie sind nicht .will sagen, nun –« »Und sie ist eine gute Frau«, sagte Nanny. Der gesunde Menschenverstand veranlaßte sie, hinzuzufügen: »Auf ihre Weise. Ich gehe davon aus, daß wirklich Wasser in der Mulde ist und, Hühnerbangs Kuh gute Milch gibt, und wenn Hopcroft nicht liest, was auf den Etiketten von Flaschen steht, dann verdient er einen Kopf, in dem man sein Spiegelbild sehen kann, und wenn ihr glaubt, daß Esme Wetterwachs Kinder verfluchen würde, habt ihr nicht mehr Verstand als ein Erdwurm. Sie könnte sie beschimpfen, das ja, den ganzen Tag lang. Aber nicht verfluchen. So niederträchtig ist sie nicht.« »Ja, ja«, stöhnte Hühnerbang fast, »aber es scheint nicht richtig zu sein, das wollen wir damit sagen. Wenn sie herumläuft und nett ist, da weiß ein Mann ja gar nicht mehr, ob er ein Bein hat, auf dem er stehen kann.« »Oder hinken«, sagte Schinkenstich düster. »Schon gut, schon gut, ich kümmere mich darum«, sagte Nanny. »Die Leute sollten nicht herumspazieren und nicht machen, was man von ihnen erwartet«, sagte Hühnerbang kläglich. »Das macht die Leute nervös.« »Und wir werfen ein Auge auf Ihre Des-«, sagte Schinkenstich, der plötzlich rückwärts taumelte, sich den Bauch hielt und stöhnte. »Beachten Sie ihn gar nicht, das ist der Streß«, sagte Hühnerbang und rieb sich den Ellbogen. »Waren Sie Kräuter pflücken, Frau Ogg?« »Ganz recht«, sagte Nanny und eilte über das abgefallene Laub davon. »Soll ich dann das Feuer für Sie löschen?« rief Hühnerbang ihr nach. Oma saß vor dem Haus, als Nanny den Weg heraufgelaufen kam. Sie sortierte einen Sack alter Kleidungsstücke aus. Abgelegte Sachen lagen um sie herum. Und sie summte. Nanny Ogg machte sich ernstlich Sorgen. Die Oma Wetterwachs, die sie kannte, konnte Musik nicht ausstehen., Und sie lächelte, als sie Nanny sah; jedenfalls zog sie die Mundwinkel nach oben. Das war echt besorgniserregend. Normalerweise lächelte Oma nur, wenn jemandem, der es verdiente, etwas Schlimmes zugestoßen war. »Oh, Gytha, wie schön, dich zu sehen!« »Alles in Ordnung, Esme?« »Habe mich nie besser gefühlt, Teuerste.« Das Summen ging weiter. »Äh .sortierst Lappen aus, ja?« sagte Nanny. »Machst du endlich diese Decke?« Oma Wetterwachs war fest davon überzeugt, daß sie eines Tages eine Flickendecke nähen würde. Aber das war eine Aufgabe, die Geduld erforderte, und daher hatte sie in fünfzehn Jahren nur drei Flicken geschafft. Aber sie sammelte trotzdem alte Kleidungsstücke. Wie viele Hexen. Es war eben eine Hexensache. Alte Kleidungsstücke hatten Persönlichkeit, wie alte Häuser. Wenn es um Kleidungsstücke ging, die noch ein bißchen tragbar waren, kannte eine Hexe keinen Stolz. »Es ist irgendwo da drin ..«, murmelte Oma. »Aha, da haben wir es ..« Sie zog ein Kleid heraus. Es war überwiegend rosa. »Ich wußte, daß es da ist«, fuhr sie fort. »Und kaum getragen. Und es hat ungefähr meine Größe.« »Du willst es tragen?« fragte Nanny. Omas Ich-schneide-dich-an-den-Knien-entzwei-Blick ihrer stechenden blauen Augen fiel auf Nanny. Sie wäre erleichtert gewesen über eine Antwort wie: »Nein, ich werde es essen, du tumbe alte Närrin.« Statt dessen entspannte sich ihre Freundin und sagte ein wenig besorgt: »Glaubst du, es steht mir nicht?« Es hatte einen Spitzenkragen. Nanny schluckte. »Normalerweise trägst du Schwarz«, sagte sie. »Nun, ein wenig öfter als normalerweise. Eigentlich immer.«, »Und einen traurigen Anblick biete ich damit«, sagte Oma unverdrossen. »Es wird höchste Zeit, daß ich mich etwas herausputze, findest du nicht?« »Und es ist so sehr .rosa.« Oma legte es beiseite, nahm Nanny zu ihrem Entsetzen an der Hand und sagte ernst: »Und, weißt du, ich glaube allmählich, ich war ein viel zu störrischer Ziegenbock, was diese Sache mit dem Wettbewerb angeht, Gytha –« »Störrische Ziege«, sagte Nanny Ogg geistesabwesend. Einen Moment lang wurden Omas Augen wieder zu zwei Saphiren. »Was?« »Ähem .du wärst eine störrische Ziege«, murmelte Nanny. »Kein Ziegenbock.« »Ach? Oh, ja. Danke für den Hinweis. Nun, ich dachte mir, es wird wirklich Zeit, daß ich ein wenig in den Hintergrund trete und dem Nachwuchs eine Chance gebe. Ich meine, ich muß sagen, ich .bin wirklich nicht sehr nett zu den Leuten gewesen, oder ..« »Ähem ..« »Ich habe versucht, nett zu sein«, fuhr Oma fort. »Leider muß ich sagen, daß es sich nicht so entwickelt hat, wie ich dachte.« »Du warst nie richtig .gut darin, nett zu sein«, sagte Nanny. Oma lächelte. So genau sie auch hinsah, Nanny konnte nichts anderes erkennen als aufrichtige Anteilnahme. »Vielleicht werde ich mit etwas Übung besser«, sagte sie. Sie tätschelte Nannys Hand. Und Nanny sah ihre Hand an, als wäre etwas Gräßliches damit geschehen. »Es ist nur .alle sind nun mal daran gewöhnt, daß du .streng bist«, sagte sie. »Ich dachte mir, ich könnte etwas Marmelade und Kuchen für den Verkaufsstand machen«, sagte Oma. »Oh .gut.« »Gibt es irgendwelche Kranke, die eine Visite wollen?«, Nanny sah zwischen die Bäume. Es wurde immer schlimmer. Sie durchforstete ihre Erinnerung nach jemand in der Umgegend, dem es elend genug ging, daß er sich einen Krankenbesuch wünschte, aber noch gut genug, daß er den Schock eines Krankenbesuchs durch Oma Wetterwachs überlebte. Wenn es um angewandte Psychologie und die kernigere Variante von Physiotherapie ging, war Oma unerreicht; tatsächlich konnte sie physiotherapeutisch sogar aus der Ferne wirken, denn viele schmerzgeplagte Seelen waren aus den Betten aufgestanden und gegangen, nun ja, gerannt, wenn sie nur hörten, daß Oma auf dem Weg zu ihnen war. »Im Augenblick geht es allen recht gut«, sagte Nanny diplomatisch. »Irgendwelche alten Leute, die aufgemuntert werden wollen?« Beide Frauen gingen übereinstimmend davon aus, daß alte Leute nicht auf sie zutraf. Eine siebenundneunzigjährige Hexe hätte sich nicht angesprochen gefühlt. Alt wurden andere Leute. »Alle derzeit recht munter«, sagte Nanny. »Vielleicht könnte ich den Kinderchen Märchen erzählen?« Nanny nickte. Das hatte Oma schon einmal versucht, als sie kurz die Stimmung dazu überkommen hatte. Soweit es die Kinder betraf, hatte es ziemlich gut funktioniert. Sie hatten gebannt und mit offenen Mündern und offensichtlichem Vergnügen traditionellen Volkslegenden gelauscht. Die Probleme hatten erst angefangen, als sie nach Hause gegangen waren und ihre Eltern gefragt hatten, was Wörter wie »ausweiden« bedeuteten. »Ich könnte in einem Schaukelstuhl sitzen, während ich erzähle«, fügte Oma hinzu. »So macht man das, soweit ich mich erinnere. Und ich könnte ihnen meine speziellen süßen Karameläpfel zubereiten. Wäre das nicht hübsch?« Nanny nickte wieder, in einem gräßlichen Tagtraum versunken. Ihr wurde klar, daß nur sie allein einem großen Ausverkauf der Nettigkeit im Weg stand., »Karamel«, sagte sie. »Von der Art, die wie Glas zerbricht, oder mehr die, nach deren Verzehr sich unser junger Pewsey den Mund mit einem Löffel aufstemmen lassen mußte?« »Ich denke, ich weiß, was ich letztesmal falsch gemacht habe.« »Du weißt, daß du und Zucker euch nicht vertragt, Esme. Erinnerst du dich noch an die Dauerlutscher, die du gemacht hast?« »Die waren dauerhaft, Gytha.« »Aber nur, weil unser Pewsey seinen erst aus dem Mund bekam, als wir ihm zwei Zähne mit herausgezogen haben. Du solltest dich an Eingemachtes halten. Du und Eingemachtes, ihr kommt klar miteinander.« »Ich muß etwas machen, Gytha. Ich kann nicht die ganze Zeit ein alter Miesepeter sein. Das weiß ich! Ich helfe beim Wettbewerb. Ich wette, da muß eine Menge getan werden, oder?« Nanny grinste innerlich. Also das war es. »Aber ja«, sagte sie. »Ich bin sicher, Frau Ohrwurm wird dir mit Vergnügen sagen, was zu tun ist«, sagte sie. Und sie wäre eine schöne Närrin, wenn sie es tut, dachte sie, weil ich sehe, daß du etwas im Schilde führst. »Ich werde mit ihr reden«, sagte Oma. »Ich bin sicher, ich könnte bei einer Million Sachen helfen, wenn ich mich darauf konzentriere.« »Ich bin sicher, das wirst du«, sagte Nanny voll Inbrunst. »Ich habe das Gefühl, du wirst einen entscheidenden Beitrag liefern.« Oma kramte wieder in ihrem Sack. »Du wirst doch auch dabeisein, Gytha, oder nicht?« »Ich?« sagte Nanny. »Um nichts auf der Welt würde ich das verpassen.« Nanny stand besonders früh auf. Wenn es zu unangenehmen Zwischenfällen kommen sollte, wollte sie einen Logenplatz haben., Zuerst fielen ihr die Wimpel auf. Als Nanny zum Wettstreit ging, sah sie sie in schrecklich bunten Girlanden von Baum zu Baum hängen. Und sie hatten etwas seltsam Vertrautes. Man sollte meinen, für jemanden mit einer Schere wäre es rein technisch unmöglich, kein einziges Dreieck ausschneiden zu können, aber jemand hatte es geschafft. Und es war auch deutlich zu sehen daß die Wimpel aus alten, fein säuberlich zerschnittenen Kleidungsstücken gemacht waren. Nanny wußte das, weil nicht viele normale Wimpel einen Kragen haben. Auf dem Feld, wo der Wettstreit stattfand, stellten Leute Stände auf und fielen über Kinder. Die Mitglieder des Komitees standen unsicher unter einem Baum und sahen mitunter unsicher zu einer rosa Gestalt ganz oben auf einer hohen Leiter auf. »Sie war schon hier, bevor es hell wurde«, sagte Lätizia, als Nanny näher kam. »Sie sagt, sie ist die ganze Nacht wach gewesen und hat ihre Wimpel gemacht.« »Erzähl ihr von den Kuchen«, sagte Gammer Beavis finster. »Sie hat Kuchen gemacht?« fragte Nanny. »Aber sie kann nicht backen!« Das Komitee schlurfte auseinander. Viele der Damen steuerten etwas zu essen für den Wettstreit bei. Es war eine Tradition und ein eigenständiger, zwangloser Wettbewerb. Im Mittelpunkt der Reihe abgedeckter Teller stand eine große Platte, auf der sich .etwas türmte, etwas von unbestimmbarer Farbe und Form. Es sah aus, als hätte eine Herde kleiner Kühe jede Menge Rosinen gefuttert und dann Durchfall bekommen. Es waren Ur-Kuchen, prähistorische Kuchen, Kuchen mit großem Gewicht und immenser Präsenz, die nichts zwischen den anderen Zuckergußmemmen verloren hatten. »Sie hatte nie eine Begabung dafür«, sagte Nanny kläglich. »Hat jemand einen probiert?« »Hahaha«, sagte Gammer ernst. »Hart, was?« »Man könnte einen Troll damit totschlagen.«, »Aber sie war so .irgendwie .stolz darauf«, sagte Lätizia. »Und dann ist da .die Marmelade.« Es war ein großer Topf. Er schien mit erstarrter purpurner Lava gefüllt zu sein. »Hübsche .Farbe«, sagte Nanny. »Hat jemand gekostet?« »Wir kriegten den Löffel nicht mehr raus«, sagte Gammer. »Oh, ich bin sicher –« »Wir haben ihn nur mit dem Hammer reinbekommen.« »Was hat sie vor, Frau Ogg? Sie hat einen schwachen und rachsüchtigen Charakter«, sagte Lätizia. »Sie sind ihre Freundin«, fügte sie in einem Tonfall hinzu, der andeutete, daß dies gleichermaßen ein Vorwurf wie eine Feststellung war. »Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vorgeht, Frau Ohrwurm.« »Ich dachte, sie würde fernbleiben.« »Sie hat gesagt, sie wolle hilfreich zur Seite stehen und das Jungvolk ermutigen.« »Sie hat etwas vor«, sagte Lätizia finster. »Diese Kuchen sind ein Plan, meine Autorität zu untergraben.« »Nein, so kocht sie immer«, sagte Nanny. »Sie hat es einfach nicht drauf.« Deine Autorität, hm? »Sie ist mit den Wimpeln fast fertig«, vermeldete Gammer. »Jetzt wird sie versuchen, sich wieder nützlich zu machen.« »Nun .ich schätze, wir könnten sie bitten, das Glückstauchen zu übernehmen.« Nannys Blick war leer. »Sie meinen, wo die Kinder in einer großen Badewanne voll Kleie herumtasten, um zu sehen, was sie herausziehen können?« »Ja.« »Sie wollen Oma Wetterwachs das machen lassen?« »Ja.« »Sie hat aber einen merkwürdigen Sinn für Humor, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Guten Morgen alle zusammen!«, Es war die Stimme von Oma Wetterwachs. Nanny Ogg kannte sie fast ihr ganzes Leben. Aber nun hatte sie wieder diesen seltsamen Unterton. Sie klang nett. »Wir haben uns gefragt, ob Sie die Aufsicht bei der Kleiewanne übernehmen könnten, Fräulein Wetterwachs.« Nanny zuckte zusammen. Aber Oma sagte nur: »Mit Vergnügen, Frau Ohrwurm. Ich kann es kaum erwarten, ihre kleinen Gesichter zu sehen, wenn sie die feinen Sachen herausziehen.« Ich auch nicht, dachte Nanny. Als sich die anderen verzogen hatten, ging sie zu ihrer Freundin. »Warum machst du das?« fragte sie. »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, Gytha.« »Ich habe gesehen, wie du schreckliche Geschöpfe mit Blicken bezwungen hast, Esme. Einmal habe ich gesehen, wie du ein Einhorn gefangen hast, um Himmels willen. Was hast du vor?« »Ich weiß immer noch nicht, was du meinst, Gytha.« »Bist du wütend, weil sie dich nicht teilnehmen lassen, und bist nun auf schreckliche Rache aus?« Einen Moment sahen beide auf das Feld. Es füllte sich allmählich. Leute kegelten um Schweine und versuchten ihr Glück an der eingefetteten Stange. Die Freiwillige Kapelle von Lancre versuchte ein Medley populärer Musikstücke; jammerschade nur, daß jeder Musiker ein anderes spielte. Kleine Kinder zankten sich. Es würde ein richtig heißer Tag werden, möglicherweise der letzte in diesem Jahr. »Wirst du an dem Wettbewerb teilnehmen, Gytha?« »Du hast meine Frage nicht beantwortet!« »Was war das für eine Frage?« Nanny beschloß, nicht gegen eine verschlossene Tür zu hämmern. »Ja, wie es aussieht, werde ich es versuchen«, sagte sie. »Dann hoffe ich sehr, daß du gewinnst. Ich würde dich anfeuern, aber das wäre den anderen gegenüber nicht fair. Ich, werde mich im Hintergrund halten und so still wie ein kleines Mäuschen sein.« Nanny versuchte es mit List. Ein breites rosa Grinsen überzog ihr Gesicht, und sie stieß ihre Freundin an. »Na klar, na klar«, sagte sie. »Aber .mir kannst du es sagen, ja? Ich möchte es nicht gern verpassen, wenn es soweit ist. Wenn du mir also einfach ein kleines Zeichen geben könntest, wenn es losgeht, ja?« »Wovon redest du da, Gytha?« »Esme Wetterwachs, manchmal könnte ich dir wirklich eine verdammt laute Ohrfeige geben!« »Herrje.« Nanny Ogg fluchte nicht oft oder gebrauchte Wörter außerhalb der Grenzen dessen, was die Lancrastrianer als »farbenprächtige Sprache« betrachteten. Sie sah aus, als würde sie gewohnheitsmäßig schlimme Wörter gebrauchen und hatte sich gerade ein richtig gutes ausgedacht, aber meistens achten Hexen sehr geflissentlich darauf, was sie sagen. Man kann nie wissen, was die Wörter anstellen, wenn sie außer Hörweite sind. Aber nun fluchte sie leise und entfachte dadurch kleine, kurze Feuer in dem trockenen Gras. Das versetzte sie genau in die richtige Stimmung für den Flüchewettstreit. Man behauptete, daß dieser Wettbewerb früher einmal mit einer lebenden, atmenden Versuchsperson durchgeführt worden war, zumindest bei den ersten Festen, aber für einen Familientag war das nicht richtig, und daher waren die Flüche mehrere Jahrhunderte lang gegen den Unglücklichen Charlie gerichtet worden, der, wie man es auch drehte und wendete, nichts weiter als eine Vogelscheuche war. Und da Flüche im allgemeinen an den Verstand des Verfluchten adressiert sind, stellte das ein ziemliches Problem dar, denn nicht einmal »Möge dein Stroh schimmeln und deine Karotte abfallen« machte großen Eindruck auf einen Kürbis. Aber es wurden Punkte für Stil und Erfindungsreichturn vergeben., Jedenfalls hielt sich der Andrang in Grenzen. Alle wußten, auf welches Ereignis es ankam, und der Unglückliche Charlie war es nicht. In einem Jahr hatte Oma Wetterwachs den Kürbis explodieren lassen. Niemand war je dahintergekommen, wie sie das bewerkstelligt hatte. Wenn der heutige Tag zu Ende ging, würde eine sich verabschieden, und alle anderen würden wissen, daß diese Person die Siegerin war, was immer auch der Punktestand sagen mochte. Man konnte den Preis für die Hexe mit dem spitzesten Hut gewinnen, und die Besendressur, aber das war nur für das Publikum. Was zählte, das war der Trick, an dem man den ganzen Sommer über gearbeitet hatte. Nanny hatte den letzten Startplatz gezogen, die Nummer neunzehn. Dieses Jahr hatten sich eine Menge Hexen gemeldet. Die Nachricht, daß Oma Wetterwachs nicht teilnahm, hatte sich herumgesprochen, und in der okkulten Gemeinschaft verbreitet sich nichts so schnell wie Neuigkeiten, da sie nicht nur am Boden reisen müssen. Viele spitze Hüte waren zu sehen und wippten in der Menge. Unter sich sind Hexen im allgemeinen so umgänglich wie Katzen, aber wie bei Katzen gibt es Zeiten und Orte und neutralen Boden, wo sie so etwas wie Frieden miteinander machen. Und was hier ablief, das war eine Art von langsamem, kompliziertem Tanz .Die Hexen spazierten in der Gegend herum und sagten einander guten Tag, beeilten sich, Neuankömmlinge zu begrüßen, und unschuldige Passanten hätten denken können, daß sich alte Freundinnen trafen. Was auf einer Ebene wahrscheinlich auch zutraf. Aber Nanny beobachtete alles mit Hexenaugen und sah die subtile Standortwahl, das vorsichtige Abwägen, die fast unmerkliche Veränderung der Haltung, den fein nach Intensität und Länge abgestimmten Blickkontakt. Und wenn eine Hexe, besonders eine vergleichsweise unbekannte, in der Arena war, fanden alle anderen eine Ausrede,, um sie im Auge zu behalten, nach Möglichkeit ohne den Anschein zu erwecken, als wäre es so. Es war tatsächlich so, als würde man Katzen zusehen. Katzen verbringen eine Menge Zeit damit, einander argwöhnisch zu beobachten. Wenn sie kämpfen müssen, dann nur um etwas klarzustellen, das in ihren Köpfen längst zur Gewißheit geworden ist. Das alles wußte Nanny. Und sie wußte auch, daß die meisten Hexen gütig waren (im allgemeinen), sanft (zu den Schwachen), großzügig (zu den Bedürftigen; wer nicht bedürftig war, bekam mehr, als er eigentlich erwartet hatte) und ganz generell einem Leben verschworen, das wirklich mehr Tritte als Küsse bereithielt. Keine einzige wohnte in einem Lebkuchenhaus, allerdings hatten einige der gewissenhafteren Jüngeren mit verschiedenen knusprigen Brotsorten experimentiert. Nicht einmal Kinder, die es verdient hätten, wurden in ihre Öfen geschubst. Im großen und ganzen machten sie, was sie immer gemacht hatten – sie ebneten ihren Nachbarn den Weg in die Welt hinein und aus ihr heraus und halfen ihnen über einige der häßlicheren Hindernisse hinweg, die dazwischen lagen. Man mußte eine besondere Person sein, um das zu tun. Man brauchte ein besonderes Ohr, weil man den Leuten in Situationen begegnete, in denen sie geneigt waren, einem Dinge zu sagen wie: wo das Geld vergraben war, wer der Vater war oder warum sie schon wieder ein blaues Auge hatten. Und man brauchte einen besonderen Mund, von der Art nämlich, die geschlossen bleibt. Es machte einen mächtig, Geheimnisse zu bewahren. Mächtig zu sein, brachte einem Respekt ein. Respekt war eine harte Währung. Und innerhalb dieser Schwesternschaft – nur war es keine Schwesternschaft, es war eine lockere Gemeinschaft chronischer Einzelgänger; eine Gruppe Hexen bildete keine Hexenversammlung, sondern einen kleinen Krieg – war man sich stets seiner Position bewußt. Das hatte nichts mit dem zu tun, was der Rest der Welt als Status betrachtete. Nichts wurde je, gesagt. Aber wenn eine alte Hexe starb, kamen die Hexen aus dem Umland zu ihrer Beerdigung, um ein paar letzte Worte zu sprechen, und danach gingen sie feierlich und allein nach Hause und hatten nur einen kleinen, beharrlichen Gedanken im Hinterkopf: Ich bin eine Stufe raufgerutscht. Und Neuankömmlinge wurden sehr, sehr genau beobachtet. »Morgen, Frau Ogg«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Ich hoffe, Sie erfreuen sich bester Gesundheit?« »Wie geht es Ihnen, Frau Schimmy«, sagte Nanny und drehte sich um. Ihr geistiges Ablagesystem warf eine Karte aus: Klärchen Schimmy, lebt mit ihrer alten Mutter drüben bei Schattenschnitt, nimmt Schnupftabak, kann gut mit Tieren umgehen. »Wie geht´s Ihrer Mutter?« »Wir haben sie letzten Monat begraben, Frau Ogg.« Nanny Ogg mochte Klärchen, weil sie sie nicht sehr oft sah. »Ach ..«, sagte sie. »Aber ich werde ihr trotzdem sagen, daß Sie nach ihr gefragt haben«, sagte Klärchen. Sie sah kurz zum Ring. »Wer ist das dicke Mädchen, das gerade dran ist?« fragte sie. »Die hat ja einen Hintern wie eine Bowlingkugel auf einer kurzen Wippe.« »Das ist Agnes Nitt.« »Eine ausgezeichnete Fluchstimme hat sie. Bei so einer Stimme weiß man, daß man verflucht worden ist.« »O ja, sie ist mit einer guten Stimme zum Fluchen gesegnet«, sagte Nanny höflich. »Esme Wetterwachs und ich haben ihr ein paar Tips gegeben«, fügte sie hinzu. Klärchen drehte den Kopf. Am anderen Ende des Felds saß eine kleine rosa Gestalt allein hinter der Glückswanne. Sie schien kein großes Publikum anzuziehen. Klärchen beugte sich näher. »Was .ähem .macht sie?« »Ich weiß nicht«, sagte Nanny. »Ich glaube, sie hat beschlossen, es mit Fassung zu tragen und nett zu sein.«, »Esme? Nett?« »Ähem .ja«, sagte Nanny. Jetzt, wo sie es jemandem sagte, hörte es sich auch nicht überzeugender an. Klärchen starrte sie an. Nanny sah, wie sie mit der linken Hand ein kurzes Zeichen machte und sich entfernte. Die spitzen Hüte drängten sich mittlerweile umeinander. Sie standen in kleinen Dreier- und Vierergruppen beisammen. Man konnte sehen, wie sich die Spitzen zueinander neigten, wenn lebhafte Unterhaltungen geführt wurden, sich wieder öffneten wie Blüten und dem fernen rosa Klecks zuwandten. Danach scherte ein Hut aus der Gruppe aus und näherte sich zielstrebig einer anderen Gruppe, wo sich derselbe Vorgang wiederholte. Es war ein wenig, als würde man einer sehr langsamen Kernspaltung beiwohnen. Es herrschte große Aufregung, und bald würde es zu einer Explosion kommen. Ab und zu drehte sich jemand um und sah Nanny an, daher lief sie hastig zwischen den Jahrmarktsbuden hindurch, bis sie zur Bude des Zwergs Zakzak Starkimarm kam, der alle Arten von okkultem Schnickschnack anfertigte und an die dafür Empfänglicheren verkaufte. Er nickte ihr fröhlich über einer Auslage zu, wo geschrieben stand: HUFEISEN – GLÜCKSBRINGER, $ 2 DAS STÜCK. »Hallo, Frau Ogg«, sagte er. Nanny stellte fest, daß sie aufgeregt war. »Wieso bringen sie Glück?« fragte sie und hob ein Hufeisen hoch. »Nun, ich bekomme zwei Dollar für jedes«, sagte Kraftarm. »Und das bringt Glück?« »Mir schon«, sagte Starkimarm. »Ich nehme an, Sie möchten auch eines, Frau Ogg? Ich hätte noch eine Kiste mitgebracht, wenn ich gewußt hätte, daß sie so gefragt sind. Einige der Damen haben gleich zwei gekauft.« Die Betonung lag auf dem Wort »Damen«. »Hexen haben Hufeisen als Glücksbringer gekauft?« sagte Nanny., »Als gäbe es kein Morgen mehr«, sagte Zakzak. Er runzelte einen Moment die Stirn. Immerhin waren es Hexen gewesen. »Ähem .es wird doch eins geben .oder nicht?« fügte er hinzu. »Ich bin fast sicher«, sagte Nanny, was ihn nicht sehr zu trösten schien. »Plötzlich läuft sogar der Handel mit schützenden Kräutern wie verrückt«, sagte Zakzak. Und da er ein Zwerg war, was bedeutete, er würde die Sintflut als prima Gelegenheit ansehen, Handtücher zu verkaufen, fügte er hinzu: »Hätten Sie auch Interesse, Frau Ogg?« Nanny schüttelte den Kopf. Wenn es Ärger aus der Richtung gab, aus der ihn jeder erwartete, würde ein Zweiglein Raute nicht viel helfen. Eine große Eiche wäre schon besser, aber nur vielleicht. Die Atmosphäre veränderte sich. Der Himmel war weit und hellblau, aber am Horizont des Geistes zogen Gewitterwolken auf. Die Hexen waren nervös, und da sich so viele versammelt hatten, sprang die Nervosität von einer zur anderen über und strahlte verstärkt auf alle anderen zurück. Was dazu führte, daß selbst Leute, die eine Rune für eine vertrocknete Pflaume hielten, eine tiefe, existentielle Angst verspürten, eine, die darauf hinausläuft, daß man die Kinder anschreit und sich betrinken möchte. Nanny spähte durch eine Lücke zwischen zwei Buden. Die rosa Gestalt saß immer noch geduldig und ein wenig niedergeschlagen hinter dem Faß. Kein Mensch hatte sich bei ihr angestellt. Dann huschte Nanny im Schutz der Zelte von einem zum nächsten, bis sie den Verkaufsstand sehen konnte. Das Geschäft ging nicht schlecht, aber da, einsam und verlassen mitten auf dem Tischtuch, stand der Berg des abscheulichen Kuchens. Und das Glas Marmelade. Eine Hexe hatte ein Schild mit Kreide beschrieben und danebengestellt: ZIEH DEN LÖFFEL AUS DEM GLAS, 3 VERSUCHE EIN PENNY!!!, Sie dachte, sie hätte dafür gesorgt, im verborgenen zu bleiben, aber dann hörte sie das Stroh hinter sich rascheln. Das Komitee hatte sie aufgespürt. »Das ist Ihre Handschrift, nicht wahr, Frau Ohrwurm?« sagte sie. »Das ist grausam. Es ist nicht .nett.« »Wir haben beschlossen, daß Sie zu Fräulein Wetterwachs gehen und mit ihr reden sollen«, sagte Lätizia. »Sie muß damit aufhören.« »Womit aufhören?« »Sie macht etwas mit den Köpfen der Leute! Sie ist hergekommen, um Einfluß auf uns auszuüben, richtig? Alle wissen, daß sie Kopfmagie beherrscht. Wir können es alle spüren! Sie verdirbt jedem den Tag!« »Sie sitzt nur da«, sagte Nanny. »Ah, ja, aber wie sitzt sie da – dürfen wir das fragen?« Nanny spähte wieder um die Bude. »Nun .ganz normal. Sie wissen schon, in der Hüfte und den Knien abgeknickt ..« Lätizia winkt streng mit einem Finger. »Jetzt hören Sie mir gut zu, Gytha Ogg –« »Wenn Sie wollen, daß sie verschwindet, sagen Sie es ihr!« fauchte Nanny. »Ich habe es satt –« Der schrille Schrei eines Kindes ertönte. Die Hexen sahen einander an und rannten über das Feld zur Glückswanne. Ein kleiner Junge wand sich schluchzend auf dem Boden. Es war Pewsey, Nannys jüngstes Enkelkind. Ihr Magen wurde zu Eis. Sie hob ihn auf und sah Oma böse ins Gesicht. »Was hast du mit ihm gemacht, du –«, begann sie. »Willkeinepuppe! Willkeinepuppe! Willensoldat! WillwillwillenSoldat!« Nun betrachtete Nanny die Flickenpuppe in Pewseys klebriger Hand und den Ausdruck beleidigter, tränenreicher Wut auf dem, Teil seines Gesichts, den man um den aufgerissenen Mund herum erkennen konnte – »IchwillwillenSOLDAT!« - und dann die anderen Hexen und das Gesicht von Oma Wetterwachs, und sie spürte, wie eine schreckliche, kalte Scham von den Füßen angefangen in ihr emporstieg. »Ich habe ihm gesagt, er kann sie hineinwerfen und es noch einmal versuchen«, sagte Oma kleinlaut, »aber er wollte einfach nicht hören.« »willwillSOL –« »Pewsey Ogg, wenn du nicht augenblicklich still bist, wird Nanny –«, begann Nanny Ogg und griff auf die schlimmste Strafe zurück, die sie sich ausdenken konnte: »Wird Nanny dir nie wieder Süßigkeiten geben!« Pewsey klappte den Mund zu; der Schock dieser unvorstellbaren Drohung hatte ihn verstummen lassen. Dann baute sich zu Nannys Entsetzen Lätizia Ohrwurm vor Oma auf und sagte: »Fräulein Wetterwachs, wir würden es vorziehen, wenn Sie gingen.« »Falle ich jemandem zur Last?« fragte Oma. »Ich hoffe, ich falle niemandem zur Last. Ich will niemandem zur Last fallen. Er hat nur sein Glück versucht und –« »Sie .machen die Leute nervös.« Jeden Augenblick jetzt, dachte Nanny. Jeden Augenblick wird sie den Kopf heben und die Augen zusammenkneifen, und wenn Lätizia dann nicht zwei Schritte zurückweicht, ist sie viel härter im Nehmen als ich. »Kann ich nicht bleiben und zusehen?« fragte Oma leise. »Ich weiß, was Sie vorhaben«, sagte Lätizia. »Sie wollen den Wettstreit verderben, richtig? Sie können den Gedanken nicht ertragen, besiegt zu werden, und darum planen Sie etwas Gemeines.« Drei Schritte zurück, dachte Nanny. Sonst wird nichts als Knochen zurückbleiben. Jeden Moment .., »Oh, ich möchte nicht, daß jemand denkt, ich würde irgendwas verderben«, sagte Oma. Sie seufzte und stand auf. »Ich gehe nach Hause ..« »Nein, das wirst du nicht tun!« sagte Nanny Ogg scharf und drückte sie wieder auf den Stuhl. »Was denkst du darüber, Beryl Dismass? Und du, Letty Parkin?« »Sie sind alle –«, begann Lätizia. »Sie habe ich nicht gefragt!« Die Hexen hinter Frau Ohrwurm wichen Nannys Blick aus. »Nun, es ist nicht so .ich meine, wir glauben nicht ..«, begann Beryl umständlich. »Das heißt .ich hatte schon immer größten Respekt vor .aber .nun ja, es ist für alle Beteiligten ..« Ihre Stimme brach. Lätizia schaute triumphierend drein. »Wirklich? Ich glaube, dann sollten wir tatsächlich besser gehen«, sagte Nanny giftig. »Mir gefällt die Gesellschaft in der Gegend nicht.« Sie sah sich um. »Agnes? Würdest du mir helfen, Oma nach Hause zu bringen ..« »Ich brauche wirklich keine ..«, begann Oma, aber die beiden anderen nahmen sie an den Armen und drängten sie sanft durch die Menge, die sich teilte, um sie durchzulassen, und sich umdrehte, um ihnen nachzusehen. »Unter den Umständen ist das wahrscheinlich das Beste«, sagte Lätizia. Mehrere der Hexen versuchten, ihr nicht ins Gesicht zu sehen. In Omas Küche lagen überall Stoffetzen auf dem Boden, gelierte Marmelade war von der Tischplatte getropft und hatte einen Haufen auf dem Boden gebildet, der sich nicht entfernen ließ. Der Marmeladentopf war zum Einweichen in der Spüle gelassen worden, aber es war klar, daß das Gußeisen rosten würde, bevor die Marmelade jemals weich wurde. Daneben stand eine Reihe leerer Einmachgläser. Oma setzte sich und faltete die Hände im Schoß. »Möchtest du eine Tasse Tee, Esme?« fragte Nanny Ogg., »Nein, meine Liebe, danke. Geh zum Wettstreit zurück. Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte Oma. »Bist du sicher?« »Ich bleibe nur still hier sitzen. Mach dir keine Gedanken.« »Ich gehe nicht zurück!« zischte Agnes, als sie gingen. »Ich mag es nicht, wie Lätizia lächelt ..« »Du hast mir einmal gesagt, du magst es nicht, wie Esme die Stirn runzelt«, sagte Nanny. »Ja, aber einem Stirnrunzeln kann man vertrauen. Äh .du glaubst doch nicht, daß sie es verliert, oder?« »Wenn ja, wird niemand imstande sein, es zu finden«, sagte Nanny. »Nein, du kommst mit mir zurück. Ich bin sicher, daß sie .etwas im Schilde führt.« Wenn ich nur wüßte, was es ist, dachte sie. Ich bin nicht sicher, ob ich das Warten noch lange ausholten kann. Sie konnte die wachsende Spannung schon spüren, bevor sie das Feld erreicht hatten. Natürlich herrschte immer eine gewisse Spannung, das gehörte zum Wettstreit dazu, aber diese Spannung hatte einen sauren, unangenehmen Beigeschmack. Die Nebenvorstellungen fanden immer noch statt, aber die gewöhnlichen Leute strömten in Scharen davon, weil sie von Empfindungen gequält wurden, die sie nicht klar definieren, deren Einfluß sie sich aber trotzdem nicht entziehen konnten. Was die Hexen selbst betraf, so stellten sie alle Mienen zur Schau wie Schauspieler etwa zwei Minuten vor dem Ende eines Horror- Films, wenn sie wissen, daß das Monster seinen letzten Angriff plant, und nur fraglich ist, durch welche Tür es kommt. Lätizia war von Hexen umringt. Nanny konnte laute Stimmen hören. Sie stieß eine andere Hexe an, die verdrossen zusah. »Was geht da vor, Winnie?« »Oh, Reena Trumpf hat ihre Vorstellung vermasselt, und ihre Freundinnen sagen, sie müßte einen zweiten Versuch bekommen, weil sie so nervös war.« »Das ist eine Schande.«, »Und Virago Johnson ist weggelaufen, weil ihr Wetterzauber völlig schiefgegangen ist.« »Ist wohl unter Wolken abgerauscht, hm?« »Und ich hatte zwei linke Hände, als ich dran war. Du könntest mit Leichtigkeit gewinnen, Gytha.« »Oh, ich habe nie der Preise wegen mitgemacht, Winnie, du kennst mich doch. Was zählt, ist nur der Spaß, dabeizusein.« Die andere Hexe warf ihr einen scheelen Blick zu. »Das hat sich fast glaubwürdig angehört«, sagte sie. Gammer Beavis kam hastig zu ihnen gelaufen. »Du bist dran, Gytha«, sagte sie. »Gib dein Bestes, ja? Die einzige Konkurrentin bis jetzt ist Frau Weber mit ihrem pfeifenden Frosch, und es war so, daß er keinen einzigen Ton halten konnten. Das arme Ding war ein einziges Nervenbündel.« Nanny Ogg zuckte die Achseln und betrat den abgeteilten Bereich. Irgendwo in der Ferne hatte jemand einen hysterischen Anfall, der von einem gelegentlichen besorgten Pfeifen untermalt wurde. Im Gegensatz zur Magie der Zauberer, war bei der Magie der Hexen selten der Einsatz roher Kraft erforderlich. Der Unterschied ist wie der zwischen einem Hammer und einem Schalter. Hexen versuchten im allgemeinen, den kleinen Punkt zu finden, wo winzige Veränderungen große Wirkung erzielten. Um eine Lawine auszulösen, kann man entweder den Berg schütteln, oder man versucht einfach, die richtige Stelle zu finden, um eine Schneeflocke fallen zu lassen. Dieses Jahr hatte Nanny müßig am Mann aus Stroh gearbeitet. Das war der ideale Trick für sie. Er brachte zum Lachen, er war ein bißchen anzüglich, er war viel einfacher, als er aussah, zeigte aber, daß man es ernst nahm, und es war unwahrscheinlich, daß man damit gewann. Verdammt! Sie hatte damit gerechnet, daß der Frosch sie schlagen würde. An manchen Sommerabenden hatte sie ihn wunderschön pfeifen hören. Sie konzentrierte sich., Strohhalme raschelten durch die Stoppeln. Sie mußte sich nur die unmerklichen Winde zunutze machen, die über das Feld wehten, sie hier und da ein wenig abschweifen lassen, spiralförmig in die Höhe treiben und – Sie versuchte, ihre zitternden Hände zu beruhigen. Sie hatte das schon hundertmal gemacht, sie konnte das verdammte Zeug mittlerweile zu Knoten binden. Sie sah das Gesicht von Esme Wetterwachs vor sich, wie sie einfach dasaß und verwirrt und verletzt aussah, während Nanny ein paar Sekunden lang bereit gewesen wäre, ihr den Hals umzu – Einen Moment gelang es ihr, die Beine und eine Andeutung von Armen und Kopf hinzubekommen, Die Zuschauer applaudierten. Dann erwischte ein unberechenbarer Luftzug das Ding, bevor sie sich auf seinen ersten Schritt konzentrieren konnte, und es fiel als nutzloser Haufen Stroh in sich zusammen. Sie machte ein paar hektische Gesten, um es wieder aufzurichten. Es zappelte herum, verfing sich und blieb reglos liegen. Etwas mehr Applaus ertönte, nervös und sporadisch. »Entschuldigung .heute scheine ich es nicht hinzukriegen«, murmelte sie und schlich vom Feld. Die Jurorinnen drängten sich umeinander. »Ich denke, der Frosch hat seine Sache echt gut gemacht«, sagte Nanny, lauter als notwendig war. Der Wind, der vor Augenblicken so widerspenstig gewesen war, wehte jetzt heftiger. Was man als psychische Dunkelheit des Ereignisses hätte bezeichnen können, wurde von der echten Dämmerung verstärkt. Der Schatten des aufgeschichteten Freudenfeuers ragte auf der anderen Seite des Felds auf. Bis jetzt hatte es niemand übers Herz gebracht, es anzuzünden. Fast alle Nicht-Hexen waren nach Hause gegangen. Das Schöne, das der Tag gehabt hatte, war längst dahin., Der Kreis der Jurorinnen löste sich auf; Frau Ohrwurm, deren Lächeln nur an den Mundwinkeln etwas wächsern wirkte, näherte sich der nervösen Menge. »Nun, was war das doch für eine schwere Entscheidung«, sagte sie strahlend. »Aber auch was für ein überraschendes Ergebnis! Es war wirklich eine höchst schwierige Entscheidung –« Zwischen mir und einem Frosch, der nicht pfeifen konnte und mit dem Fuß in seinem Banjo hängengeblieben ist, dachte Nanny. Sie betrachtete die Gesichter ihrer Hexenschwestern. Manche kannte sie seit sechzig Jahren. Wenn sie je ein Buch gelesen hätte, dann hätte sie jetzt ihre Gesichter wie eines lesen können. »Wir wissen alle, wer gewonnen hat, Frau Ohrwurm«, sagte sie und unterbrach den Wortschwall. »Was meinen Sie damit, Frau Ogg?« »Hier ist keine einzige Hexe, die heute richtig bei Verstand war«, sagte Nanny. »Und die meisten haben sogar Glücksbringer gekauft. Hexen? Die Glücksbringer kaufen?« Mehrere Frauen sahen zu Boden. »Ich weiß nicht, warum alle solche Angst vor Fräulein Wetterwachs haben! Ich habe gewiß keine! Glauben Sie, daß sie einen Zauber über Sie gelegt hat?« »Und, wie es aussieht, einen ziemlich starken«, sagte Nanny. »Sehen Sie, Frau Ohrwurm, niemand hat gewonnen, nicht mit den Leistungen, die wir heute gezeigt haben. Das wissen wir alle. Also lassen Sie uns einfach nach Hause gehen, ja?« »Ganz sicher nicht! Ich habe zehn Dollar für diesen Pokal bezahlt, und ich werde ihn überreichen –« Die absterbenden Blätter raschelten an den Bäumen. Die Hexen rückten zusammen. Zweige schlugen gegeneinander. »Es ist der Wind«, sagte Nanny Ogg. »Das ist alles ..« Und dann war Oma einfach da. Es war, als wäre ihnen nur nicht aufgefallen, daß sie schon die ganze Zeit dagewesen war. Sie besaß die Gabe, sich einfach aus dem Vordergrund auszublenden., »Ich wollte nur vorbeischauen und sehen, wer gewonnen hat«, sagte sie. »In den Beifall einstimmen, und so ..« Lätizia ging wutschnaubend auf sie zu. »Haben Sie in den Köpfen der Leute herumgespukt?« kreischte sie. »Und wie sollte ich das machen, Frau Ohrwurm?« fragte Oma unterwürfig. »Bei den vielen Glücksbringern?« »Sie lügen!« Nanny Ogg hörte, wie alle vernehmlich Luft einsogen, sie selbst am lautesten. Hexen lebten von ihren Worten. »Ich lüge nicht, Frau Ohrwurm.« »Leugnen Sie, daß Sie mir den Tag absichtlich verdorben haben?« Einige Hexen vorne in der Menge wichen zurück. »Ich gebe zu, meine Marmelade ist nicht nach jedermanns Geschmack, aber ich habe nie –«, begann Oma mit bescheidener, leiser Stimme. »Sie haben alle beeinflußt!« »- ich habe Ihnen nur helfen wollen, Sie können jeden fragen – « »Sie waren es! Gestehen Sie!« Frau Ohrwurms Stimme klang schrill wie die einer Möwe. »- und ich habe ganz gewiß keine –« Omas Kopf drehte sich mit der Ohrfeige. Einen Augenblick bewegte sich niemand, atmete niemand. Sie hob langsam eine Hand und rieb sich die Wange. »Sie wissen, Sie hätten es mühelos tun können!« Nanny hatte den Eindruck, als würde Lätizias Schrei von den Bergen widerhallen. Der Pokal fiel ihr aus den Händen und landete knirschend in den Stoppeln. Dann kam Bewegung in die erstarrte Szene. Zwei ihrer Hexenschwestern traten vor und legten Lätizia die Hände auf die Schultern, worauf sie sanft und ohne Einwände weggezogen wurde., Alle anderen warteten gespannt, was Oma Wetterwachs tun würde. Sie hob den Kopf. »Ich hoffe, Frau Ohrwurm geht es gut«, sagte sie. »Sie schien mir ein bißchen .außer sich zu sein.« Es folgte Schweigen. Nanny hob den vergessenen Pokal auf und klopfte mit dem Zeigefinger dagegen. »Hmm«, sagte sie. »Nur versilbert, glaube ich. Wenn sie zehn Dollar dafür bezahlt hat, wurde die arme Frau praktisch ausgeraubt.« Sie warf ihn Gammer Beavis zu, die ihn aus der Luft fing. »Kannst du ihn ihr morgen zurückgeben, Gammer?« Gammer nickte und versuchte, Oma nicht in die Augen zu sehen. »Aber davon müssen wir uns nicht alles verderben lassen«, sagte Oma liebenswürdig. »Lassen wir den Tag angemessen zu Ende gehen, ja? Sozusagen traditionell. Röstkartoffeln und Marshmallows und Geschichten am Feuer. Und Vergebung. Und lassen wir Vergangenes vergangen sein.« Nanny konnte die plötzliche Erleichterung spüren, die sich wie ein Fächer ausbreitete. Die Hexen schienen zum Leben zu erwachen, als sei ein Zauber von ihnen genommen worden, der überhaupt nie dagewesen war. Es ging ein allgemeiner Ruck durch die Menge, und ein erstes geschäftiges Treiben fand statt, als sie zu den Satteltaschen an ihren Besenstielen gingen. »Herr Hopcroft hat mir einen ganzen Sack Kartoffeln gegeben«, sagte Nanny, als Unterhaltungen ringsum anschwollen. »Ich gehe sie holen. Kannst du das Feuer anzünden, Esme?« Wegen der plötzlichen Luftveränderung sah sie auf. Omas Augen funkelten in der Dunkelheit. Nanny hatte Verstand genug, sich auf den Boden zu werfen. Oma Wetterwachs´ Hand schnellte wie ein Komet durch die Luft, der Funke flog knisternd davon. Der Scheiterhaufen explodierte. Eine blauweiße Flamme schoß zwischen den aufgeschichteten Ästen hindurch, loderte himmelwärts und ätzte Schatten auf den Wald. Sie blies Hüte von Köpfen und warf Tische um und bildete Gestalten und Schlösser, und Helden berühmter Schlachten, die sich die Hände reichten und im Kreis tanzten. Sie hinterließ ein purpurnes Bild auf den Augen, das sich ins Gehirn brannte – Und sank nieder und war nur ein Freudenfeuer. »Ich hab nix von vergessen gesagt«, sagte Oma. Als Oma Wetterwachs und Nanny Ogg in der Dämmerung nach Hause gingen, wirbelten ihre Stiefel den Nebel auf. Es war im großen und ganzen eine schöne Nacht gewesen. Nach einer Weile sagte Nanny: »Das war nicht nett, was du gemacht hast.« »Ich hab nichts gemacht.« »Ja, schon .Es war nicht nett, was du nicht gemacht hast. Als würde man jemandem, der sich gerade setzen will, den Stuhl wegziehen.« »Leute, die sich nicht vergewissern, wohin sie sich setzen, sollten stehen bleiben«, sagte Oma. Es plätscherte kurz auf das Laub, einer jener kurzen Schauer, die man bekommt, wenn ein paar Regentropfen sich nicht der Gruppe anschließen wollen. »Ja, schon richtig«, sagte Nanny. »Aber es war ein klein bißchen grausam.« »Stimmt.« »Und ein paar Leute könnten denken, daß es ein klein wenig garstig war.« »Stimmt.« Nanny erschauerte. Der Gedanke, der ihr in den wenigen Sekunden durch den Kopf gegangen war, nachdem Pewsey geschrien hatte – »Ich habe euch keinen Grund gegeben«, sagte Oma. »Ich habe den Leuten nichts in die Köpfe gesetzt, was nicht schon da gewesen wäre. »Entschuldige, Esme.« »Recht so.«, »Aber .Lätizia wollte nicht grausam sein, Esme. Ich meine, sie ist gemein und herrschsüchtig und albern, aber –« »Du kennst mich, seit wir Mädchen waren, richtig?« unterbrach Oma sie. »Durch dick und dünn, gut und böse?« »Ja, natürlich, aber –« »Und du hast dich nie dazu herabgelassen, mir zu sagen: ›Ich sage dir das als Freundin‹, oder?« Nanny schüttelte den Kopf. Das sagte wirklich alles. Niemand, der einem auch nur ein bißchen freundlich gesonnen war, würde so etwas je sagen. »Zu was ermächtigt uns die Hexerei überhaupt?« fragte Oma. »Keine Ahnung«, sagte Nanny. »Um ehrlich zu sein, ich habe mit der Hexerei angefangen, um Jungs aufzugabeln.« »Glaubst du, das wüßte ich nicht?« »Warum hast du angefangen? Was wolltest du sein, Esme?« Oma blieb stehen und sah zum frostigen Himmel und dann auf den Boden. »Weiß nicht«, sagte sie. »Quitt, nehme ich an.« Und damit, dachte Nanny, war das Thema erledigt. Rehe sprangen davon, als sie Omas Hütte erreichten. Ein Stapel Feuerholz war fein säuberlich an der Hintertür aufgeschichtet, und auf der Schwelle lagen zwei Säcke. Einer enthielt einen großen Käse. »Sieht so aus, als wären Herr Hopcroft und Herr Hühnerbang hiergewesen«, sagte Nanny. »Hmmm.« Oma las den sorgfältig, aber fehlerhaft geschriebenen Zettel, der an dem zweiten Sack befestigt war: »›Liebe Frau Wetterwax, ich wäre Ihnen ühberaus dankbar, wenn Sie mir gestatten würden, diese neue preißverdächtige Züchtung »Esme Wetterwax« zu nennen. Ich hoffe, Sie sind bei beßter Gesundheit. Percy Hopcroft.‹ Schau, schau, schau. Ich frage mich, wie er auf die Idee gekommen ist.« »Keinen Schimmer«, sagte Nanny. »Das glaub ich dir aufs Wort«, sagte Oma., Sie schnupperte mißtrauisch an dem Sack, zog an der Schnur und holte eine Esme Wetterwachs heraus. Rund, leicht flach und spitz an einem Ende. Es war eine Zwiebel. Nanny Ogg schluckte. »Ich habe ihm gesagt, keine –« »Pardon?« »Oh .nichts ..« Oma Wetterwachs drehte die Zwiebel herum, während die Welt durch das Medium Nanny Ogg auf ihr Schicksal wartete. Dann schien sie zu einer Entscheidung zu kommen, mit der sie zufrieden war. »Sehr nützliches Gemüse, eine Zwiebel«, sagte sie schließlich. »Fest. Scharf.« »Gut für die Verdauung«, sagte Nanny. »Haltbar. Gibt Geschmack.« »Scharf und würzig«, sagte Nanny, die in der Flut ihrer Erleichterung den Überblick über die Metapher verlor. »Lecker mit Käse –« »Soweit müssen wir nicht gehen«, sagte Oma Wetterwachs und legte sie vorsichtig in den Sack zurück. Sie hörte sich fast geschmeichelt an. »Kommst du auf eine Tasse Tee rein, Gytha?« »Ähem .ich sollte los –« »Auch recht.« Oma wollte die Tür zumachen, hielt inne und öffnete sie noch einmal. Nanny konnte ein blaues Auge sehen, das sie durch den Spalt beobachtete. »Aber ich hatte recht, nicht wahr«, sagte Oma. Es war keine Frage. Nanny nickte. »Richtig«, sagte sie. »Das ist nett.«, Das Schwert der Wahrheit TERRY GOODKIND, DAS ERSTE GESETZ DER MAGIE (1995) DER SCHATTEN DES MAGIERS (1995) DIE SCHWESTERN DES LICHTS (1997) DER PALAST DER PROPHETEN (1997) DIE GÜNSTLINGE DER UNTERWELT (1997) DIE DÄMONEN DES GESTERN (1997) DIE NÄCHTE DES ROTEN MONDES (1998) DER TEMPEL DER VIER WINDE (1998) Terry Goodkind platzte 1995 mit der Veröffentlichung von Das Erste Gesetz der Magie in die Fantasy-Szene hinein. Darin, und im Folgeband Der Schatten des Magiers, wird die Geschichte von Richard Cypher erzählt, einem jungen Mann, der erfährt, daß er der Schlüssel ist, um den bösen Zauberer Darken Rahl zu besiegen, der droht, alle Länder und Völker zu unterwerfen. Die weiteren Romane der Serie haben Goodkind auf die Bestsellerlisten gebracht. Als Richard auf Kahlan trifft, eine faszinierende, aber geheimnisvolle Frau, die von vier Häschern verfolgt wird, ahnt er nicht, daß sein Leben als Führer durch den Wald bald vollkommen verändert sein wird. Richard, ein Mann mit seinen eigenen beunruhigenden Geheimnissen, hilft Kahlan, den Zauberer zu finden, den sie sucht, aber als die Grenzen zwischen den Ländern allmählich zusammenbrechen, stellt er fest, daß er nicht nur in einer fremden neuen Welt gefangen, sondern auch unentrinnbar in Kahlans Suche nach Mitteln und Wegen verstrickt ist, Darken Rahl aufzuhalten, den charismatischen und verschlagenen Herrscher des fernen Landes D´Hara. Darken Rahl hat einen Krieg mit Waffen und psychologischen Mitteln gegen das Volk der Midlands vom Zaun gebrochen und strebt nach der Macht, sie alle zu beherrschen. In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Richard und Kahlan, den Quell dieser Macht zu finden, bevor Darken Rahl ihnen ein unbarmherziges Schicksal aufzwingen kann. Richard, der eine tiefe Zuneigung für, Kahlan entwickelt, muß endlose Lektionen über sich ergehen lassen, wie das Böse eine Welt mißbraucht, die keinen Argwohn hegt. Die Serie wird in dem Maß, wie sie einen Kampf um Schicksal und Freiheit schildert, auch zu einer inneren Suche. Im Verlauf der Jagd nach der alles entscheidenden Waffe – das Schwert der Wahrheit – muß er lernen, daß es um weitaus mehr geht als um die simple Frage von Leben und Tod und daß die Trennlinie zwischen moralischen und bösen Entscheidungen häufig durch Apathie, Unwissenheit und Gier umnebelt wird. In Die Schwestern des Lichts und Der Palast der Propheten bemüht sich Richard, die Macht der Magie zu meistern, die ihm von Geburt an zusteht, stellt aber fest, daß die Anstrengung, diese Magie anzuwenden, sein Leben bedroht. Um ihn zu retten, schickt Kahlan ihn in ihrer Verzweiflung mit den Schwestern des Lichts fort. Die Schwestern, die ihm beizubringen versprechen, wie er seine Kräfte unter Kontrolle bringt, schaffen ihn über das Tal der Verlorenen hinaus zum Palast der Propheten in der Alten Welt. Kahlan unternimmt eine weite Reise, um ihren Freund und Mentor zu finden, den Ersten Zauberer Zedd. Unterwegs begegnet sie den Bewohnern einer Stadt, die von der Imperialen Ordnung angegriffen wurde, und muß eine Armee junger Rekruten zu einer Streitmacht ausbilden, die nicht nur diese neue Bedrohung für die Midlands aufhalten, sondern auch Rache nehmen kann. Zu Richards Lehrern gehören, wie sich herausstellt, einige, die sich dem Bewahrer der Unterwelt verschworen haben und Richard benutzen wollen, um ihren Meister zu befreien. Ohne es zu ahnen, hat Richard ihnen bereits geholfen, indem er seine Gabe angewandt und den Schleier zerrissen hat, der das Reich der Toten von der Welt der Lebenden trennt. Richards einzige Hoffnung, alle zu retten, besteht darin, den Stein der Tränen zu finden, aber dazu muß er aus seinem Gefängnis im Palast der Propheten entkommen. Und bevor er fliehen kann, muß er lernen, seine Gabe zu meistern, ehe die Schwestern der Dunkelheit, die ihn vernichten wollen, ihn für ihre Zwecke einspannen können., In den Folgebänden, Die Günstlinge der Unterwelt und Die Dämonen des Gestern, gelüstet es den Kaiser der Imperialen Ordnung danach, die Midlands zu erobern. Zu diesem Zweck versucht er, eine Armee von gegen die Magie eingestellten Eiferern einzusetzen, um die Midlands von allen zu befreien, die von Geburt an magische Kräfte besitzen. Der Kaiser, ein Traumwandler, der selbst über magische Fähigkeiten verfügt, bringt die Schwestern der Dunkelheit in seine Gewalt und setzt sie gegen Richard und Kahlan ein, während das Volk, das sich das Blut der Falte nennt, selbst die Eroberung der Midlands plant. Wenn Richard nicht die Macht ergreifen und die zersplitterten Midlands vereinigen kann, wird die Imperiale Ordnung über das Land kommen, ein Zeitalter der Sklaverei über die Midlands bringen, und die letzten Flammen der Freiheit werden für immer verlöschen. In Der Tempel der vier Winde schickt Kaiser Jagang einen Attentäter aus, um Richard zu töten, und entfesselt dabei eine tödliche Seuche. Die Ausbreitung der Krankheit fordert jeden Tag mehr Menschenleben, während Richard und Kahlan verzweifelt nach einem Heilmittel suchen. Vertrauen und Liebe werden auf einem verschlungenen Pfad von Hingabe und Verrat auf die Probe gestellt. Während tagtäglich Hunderte und danach Tausende ihres Volkes sterben, müssen Richard und Kahlan den Tempel der Winde finden und entscheiden, ob sie bereit sind, den schrecklichen Preis zu zahlen, damit sie ihn betreten dürfen. Die nachfolgende Geschichte spielt einige Jahre vor den Ereignissen in Das erste Gesetz der Magie.,

TERRY GOODKIND Die Knochenschuld

»Was hast du da in dem Sack, Herzchen?« Abby betrachtete einen fernen Schwarm pfeifender Schwäne, anmutige weiße Fleckchen vor den dunklen, gewaltigen Mauern der Feste, deren endlose Reise vorbei an Brustwehren, Bastionen, Türmen und Brücken im Licht der tiefstehenden Sonne führte. Das bedrohliche Gespenst der Feste schien schon den ganzen Tag herüberzustarren, während Abby gewartet hatte. Sie wandte sich der gebückten alten Frau vor ihr zu. »Entschuldige, hast du mich etwas gefragt?« »Ich habe gefragt, was du in dem Sack da hast.« Als die Frau aufschaute, fuhr sie mit der Zungenspitze durch ihre Zahnlücke. »Etwas Kostbares?« Abby drückte den Bärlappsack fest an sich und wich ein wenig vor der grinsenden Frau zurück. »Nur ein paar von meinen Sachen, das ist alles.« Ein Offizier, gefolgt von einer ganzen Schar Adjutanten und Wachen, marschierte unter einem massiven Fallgatter hindurch, das in der Nähe aufragte. Abby und die anderen Bittsteller, die am Ende der steinernen Brücke warteten, drängten sich dichter zur Seite, obwohl die Soldaten genügend Raum hatten, um zu passieren. Der Offizier, dessen grimmiger Blick nichts um sich herum sah, erwiderte den Salut nicht, als die Brückenwachen mit der Faust auf ihre Rüstung über dem Herzen schlugen. Den ganzen Tag herrschte vor der Feste ein unablässiges Kommen und Gehen von Soldaten aus verschiedenen Ländern, und der Bürgerwehr aus der großen Stadt Aydindril in der Niederung. Manchen sah man die Strapazen langer Reisen an. Manche trugen Uniformen, an denen noch Schmutz, Erde und Blut jüngster Schlachten klebten. Abby hatte sogar zwei Offiziere aus ihrer Heimat gesehen, dem Pendisanischen Reich. Für sie hatten die beiden wie Knaben ausgesehen, welche die dünne Glasur ihrer Jugend allzu früh abgestreift hatten, wie eine Schlange, die sich vor ihrer Zeit häutet, so daß die zutage getretene Reife vernarbt erscheint. Darüber hinaus hatte Abby eine derartige Vielzahl bedeutender Leute gesehen, daß sie es kaum glauben konnte: Hexenmeisterinnen, Ratgeber und sogar eine Konfessorin vom Palast der Konfessorinnen unten in der Stadt. Auf ihrem Weg zur Feste herauf hatte es kaum eine Wegbiegung gegeben, von der aus Abby keinen Ausblick auf den prunkvollen Palast aus weißem Stein der Konfessorinnen gehabt hätte. Die Allianz der Midlands, die von der Mutter Konfessorin persönlich angeführt wurde, hielt ihren Rat in dem Palast ab, und dort lebten auch die Konfessorinnen. In ihrem ganzen Leben hatte Abby vorher nur einmal eine Konfessorin gesehen. Die Frau war Abbys Mutter besuchen gekommen, und Abby, damals keine zehn Jahre alt, hatte nicht anders gekonnt, als das lange Haar der Konfessorin anzustarren. Abgesehen von ihrer Mutter war keine Frau in der kleinen Stadt Coney Crossing bedeutend genug, daß sie sich Haare leisten konnten, die bis auf die Schultern reichten. Abbys eigenes feines dunkelbraunes Haar bedeckte die Ohren, aber nicht mehr. Als sie auf dem Weg zur Feste durch die Stadt gekommen war, war es ihr schwergefallen, die Edelfrauen mit Haaren bis auf die Schultern und sogar ein wenig darüber hinaus nicht anzustarren. Aber die Konfessorin, die im schlichten schwarzen Satingewand der Konfessorinnen zur Feste hinaufging, hatte Haare, die ihr bis halb über den Rücken reichten. Sie wünschte sich, sie hätte einen besseren Blick auf den seltenen Anblick derart luxuriösen Haares werfen können, und, auf die Frau, die bedeutend genug war, es zu tragen, aber Abby war wie alle übrigen in ihrer Gesellschaft vor der Brücke auf die Knie gegangen und fürchtete sich wie alle übrigen davor, den gesenkten Kopf zu heben, damit sie dem Blick der anderen nicht begegnete. Man sagte, einer Konfessorin direkt in die Augen zu schauen, konnte einen den Verstand kosten, wenn man Glück hatte, und die Seele, wenn man Pech hatte. Auch wenn Abbys Mutter gesagt hatte, daß das nicht stimmte, daß nur die willentliche Berührung einer solchen Frau das bewirken konnte, wollte Abby nicht ausgerechnet heute, an diesem Tag, herausfinden, ob an den Geschichten etwas dran war. Die alte Frau vor ihr, die mehrere Röcke trug, deren oberster mit Henna gefärbt war, und einen dunklen Schal dazu, sah den vorbeimarschierenden Soldaten nach und beugte sich näher herüber. »Du wärst gut beraten, einen Knochen mitzubringen, Herzchen. Ich habe gehört, daß es Leute in der Stadt gibt, die einen Knochen, wie du ihn brauchst, für den richtigen Preis verkaufen. Zauberer nehmen kein Pökelfleisch als Bezahlung. Sie haben Pökelfleisch.« Sie sah an Abby vorbei zu den anderen und stellte fest, daß sie mit ihren eigenen Belangen beschäftigt waren. »Du solltest besser deine Sachen verkaufen und hoffen, daß du genug für einen Knochen zusammenkriegst. Zauberer wollen nicht, was ein Mädchen vom Land ihnen bringen kann. Ist nicht leicht, einen Zauberer dazu zu bringen, daß er einem einen Gefallen tut.« Sie sah den Soldaten nach, die die andere Seite der Brücke erreicht hatten. »Anscheinend nicht mal für diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen.« »Ich will nur mit ihnen reden. Das ist alles.« »Soweit ich gehört habe, bekommt man für Pökelfleisch nicht mal ein Gespräch.« Sie betrachtete Abbys Hand, mit der sie versuchte, die glatte, runde Form in dem Leinwandsack zu bedecken. »Oder einen Krug, den du gemacht hast. Was ist es, Herzchen?« Die braunen Augen in der runzligen Ledermaske ihres Gesichts schauten plötzlich humorlos und stechend auf. »Ein Krug?«, »Ja«, sagte Abby. »Ein Krug, den ich gemacht habe.« Die Frau lächelte skeptisch und schob eine kurze graue Strähne unter ihre Wollmütze zurück. Sie legte die gichtigen Finger um den Ärmel von Abbys scharlachrotem Kleid und zog ihn ein bißchen hoch, um den Arm betrachten zu können. »Vielleicht könntest du den Preis für einen angemessenen Knochen für deinen Armreif bekommen.« Abby sah auf den Armreif hinab, der aus zwei Drähten bestand, die zu ineinander verschlungenen Kreisen geflochten waren. »Meine Mutter hat mir den gegeben. Er hat nur persönlichen Wert für mich.« Langsam umspielte ein Lächeln die rissigen Lippen der Frau. »Die Geister glauben, es gibt keine größere Macht als das Verlangen einer Mutter, ihr Kind zu beschützen.« Abby zog den Arm behutsam weg. »Die Geister wissen, wie wahr das ist.« Abby, die sich unter dem prüfenden Blick der plötzlich so redseligen Frau unwohl fühlte, suchte nach einer ungefährlichen Stelle, auf der sie die Augen ruhen lassen konnte. Ihr wurde schwindlig, wenn sie in den gähnenden Abgrund unter der Brücke sah, und sie war es satt, die Feste der Zauberer zu betrachten, daher tat sie so, als wäre ihre Aufmerksamkeit wieder von der Schar von Leuten angezogen worden, überwiegend Männern, die mit ihr am Ende der Brücke warteten. Sie beschäftigte sich damit, an der letzten Brotkruste des Laibs zu knabbern, den sie unten auf dem Markt gekauft hatte, bevor sie zur Feste heraufgekommen war. Abby kam sich stets linkisch vor, wenn sie mit Fremden sprach. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viele Menschen gesehen, geschweige denn Menschen, die sie gar nicht kannte. Sie kannte jeden einzelnen in Coney Crossing. Die Stadt machte sie kleinmütig, aber nicht so verzagt wie die Feste, die auf dem Berg darüber in den Himmel ragte, und beides nicht so sehr wie der Grund, aus dem sie hier war., Sie wollte nur nach Hause. Aber es würde kein Zuhause mehr geben, jedenfalls keines, wohin sie zurückkehren konnte, wenn sie dies nicht hinter sich brachte. Alle schauten auf, als Hufschlag unter dem Fallgatter erklang. Große Pferde, alle dunkelbraun oder schwarz und größer, als Abby sie je gesehen hatte, donnerten auf sie zu. Männer mit polierten Brustplatten, Kettenpanzern und Leder, von denen die meisten Lanzen oder Speere mit den Wimpeln hoher Rangabzeichen trugen, trieben ihre Reittiere an. Sie wirbelten Staub und Geröll auf, als sie auf der Brücke beschleunigten und in einem wilden Sturm von Farben und Funken und Licht auf vorbeiflitzendem Metall vorüberstoben. Sandarianische Lanzenreiter, nach den Beschreibungen zu urteilen, die Abby gehört hatte. Sie konnte sich kaum einen Feind vorstellen, der den Mut aufbrachte, gegen Männer wie diese anzutreten. Der Magen drehte sich ihr um. Ihr wurde klar, daß sie sich nichts vorstellen mußte und keinen Grund hatte, ihre Hoffnung auf tapfere Männer wie diese Lanzenreiter zu setzen. Ihre einzige Hoffnung war der Zauberer, und diese Hoffnung schwand zusehends, während sie hier stand und wartete. Aber sie hatte keine andere Wahl, als zu warten. Abby drehte sich gerade noch rechtzeitig zur Feste um, daß sie eine stattliche Frau in einem schlichten Kleid durch die Öffnung in der massiven Steinmauer herausschreiten sah. Die blasse Haut hob sich um so deutlicher von dem schwarzen Haar ab, das in der Mitte gescheitelt war und gut und gerne bis auf ihre Schultern reichte. Einige Männer hatten beim Anblick der Sandarianischen Offiziere getuschelt, aber beim Anblick der Frau verstummten alle. Die vier Soldaten an der steinernen Brücke machten der Frau Platz, als sie sich den Bittstellern näherte. »Hexenmeisterin«, flüsterte die alte Frau Abby zu. Abby hätte die Erklärung der alten Frau nicht gebraucht, um zu wissen, daß es sich um eine Hexenmeisterin handelte. Abby kannte das schlichte Flachskleid, das am Hals mit gelben und roten Perlenstickereien in Form der uralten Symbole ihres, Berufsstands verziert war. Abbys früheste Erinnerungen waren, wie sie von ihrer Mutter auf den Armen gehalten wurde und Perlen berührte, wie sie sie jetzt sah. Die Hexenmeisterin neigte den Kopf vor den Leuten und lächelte. »Bitte vergebt uns, daß wir euch den ganzen langen Tag hier draußen warten ließen. Es geschah nicht aus mangelndem Respekt oder schlechter Gewohnheit, aber durch den Krieg sind solche Vorsichtsmaßnahmen zu unserem Bedauern unvermeidlich. Wir hoffen, daß uns niemand die Verzögerung übelgenommen hat.« Die Menge murmelte, daß dem so sei. Abby bezweifelte, daß es einen unter ihnen gab, der tollkühn genug gewesen wäre, etwas anderes zu behaupten. »Wie steht der Krieg?« fragte ein Mann weiter hinten. Die Hexenmeisterin richtete den Blick gelassen auf ihn. »Mit dem Segen der guten Geister wird er bald zu Ende sein.« »Mögen die Geister dafür sorgen, daß D´Hara zerschmettert wird«, sagte der Mann. Ohne zu antworten, studierte die Hexenmeisterin die Gesichter, die ihr zugewandt waren, und wartete, ob noch jemand sprechen oder eine Frage stellen würde. Niemand sagte etwas. »Dann kommt bitte mit mir. Die Sitzung des Rats ist zu Ende, einige Zauberer werden sich die Zeit nehmen, euch alle zu empfangen.« Als die Hexenmeisterin sich zur Feste umdrehte und sich auf den Weg machte, schritten drei Männer an den Reihen der Bittsteller vorbei und stellten sich an den Anfang der Schlange, direkt vor die alte Frau. Die Frau zupfte einen am Ärmel seiner Samtjacke. »Was bildet ihr euch ein?« sagte sie. »Euch einfach vor mich zu stellen, wo ich schon den ganzen Tag hier warte?« Der älteste der drei, der ein Gewand in dunklem Purpur trug, in dessen Ärmelschlitze rotes Futter eingenäht war, das einen schroffen Kontrast bildete, schien ein Adliger mit seinen beiden Ratgebern oder möglicherweise Leibwächtern zu sein. Er maß die, Frau mit einem finsteren Blick. »Es macht dir doch nichts aus, oder?« Abby fand gar nicht, daß es sich wie eine Frage anhörte. Die alte Frau nahm die Hand weg und verstummte. Der Mann, dessen graue Haarspitzen sich auf den Schultern lockten, warf einen Blick auf Abby. Seine tiefliegenden Augen leuchteten herausfordernd. Sie schluckte und blieb still. Sie hatte auch keine Einwände, jedenfalls keine, die sie in Worte zu kleiden gedachte. Immerhin war der Adlige möglicherweise bedeutend genug, um dafür sorgen zu können, daß sie ihre Audienz nicht bekam. Jetzt, wo sie so kurz davor war, konnte sie es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen. Abby wurde durch ein Kribbeln des Armreifs abgelenkt. Blind tastete sie mit den Fingern über das Gelenk der Hand, mit der sie den Sack hielt. Der Armreif aus Draht fühlte sich warm an. Das war seit dem Tod von Abbys Mutter nicht mehr vorgekommen. Aber an einem Ort, wo soviel Magie konzentriert war wie hier, überraschte sie das eigentlich nicht. Die Menge setzte sich in Bewegung, um der Hexenmeisterin zu folgen. »Gemein sind sie«, flüsterte die Frau über ihre Schulter. »Gemein wie eine Winternacht, und genauso kalt.« »Diese Männer?« flüsterte Abby zurück. »Nein.« Die Frau legte den Kopf schief. »Hexenmeisterinnen. Zauberer auch. Die meine ich. Alle, die mit der Gabe der Magie geboren wurden. Du solltest besser etwas Wichtiges in diesem Sack haben, sonst könnten dich die Zauberer nur so aus Spaß in Staub verwandeln.« Abby nahm den Sack fest in ihre Arme. Die größte Gemeinheit, die ihre Mutter zeit ihres Lebens begangen hatte, hatte darin bestanden, daß sie gestorben war, bevor sie ihre Enkeltochter sehen konnte. Abby schluckte den Drang zu weinen hinunter und betete zu den guten Geistern, daß die alte Frau sich irrte, was die Zauberer betraf, und sie so verständnisvoll wie Hexenmeisterinnen waren. Sie betete inbrünstig, daß dieser Zauberer ihr helfen würde. Sie, betete auch um Vergebung – daß die guten Geister Verständnis haben würden. Abby bemühte sich sehr, einen gelassenen Gesichtsausdruck zu wahren, auch wenn ihr Innerstes in Aufruhr war. Sie drückte eine Faust auf den Bauch. Sie betete um Stärke. Selbst in dieser Situation betete sie um Stärke. Die Hexenmeisterin, die drei Männer, die alte Frau, Abby und nach ihr die restlichen Bittsteller schritten unter dem riesigen Fallgatter aus Eisen hindurch und betraten den Innenhof der Feste. Im Inneren der massiven Schutzmauer, stellte Abby zu ihrer Verblüffung fest, war die Luft warm. Draußen war ein kühler Herbsttag, aber im Inneren herrschten frühlingshaft warme Temperaturen. Die Straße zum Berg hinauf, die steinerne Brücke über den Abgrund und die Öffnung unter dem Fallgatter schienen der einzige Weg in die Feste zu sein, wenn man kein Vogel war. Lotrechte Mauern aus dunklem Stein mit hohen Fenstern säumten den mit Kies bedeckten Hof im Inneren. Einige Türen lagen unmittelbar am Innenhof, direkt gegenüber führte ein übertunnelter Weg tiefer in die Feste hinein. Trotz der warmen Luft fröstelte Abby bis auf die Knochen. Sie war nicht sicher, ob die alte Frau mit ihrer Meinung über Zauberer nicht doch recht hatte. Das Leben in Coney Crossing war weit entfernt von den Belangen der Zauberer. Abby hatte noch nie zuvor einen Zauberer gesehen und kannte auch niemanden, der einen gesehen hatte, abgesehen von ihrer Mutter, und ihre Mutter hatte nie von ihnen gesprochen, immer nur gemahnt, daß man, soweit es um Zauberer ging, nicht einmal seinen eigenen Augen trauen durfte. Die Hexenmeisterin führte sie Granitstufen hinauf, die im Lauf der Zeitalter von zahllosen Füßen glattgeschliffen worden waren, durch eine Tür unter einem Türsturz aus schwarzem Granit mit rosa Flecken und in die eigentliche Feste hinein. Die Hexenmeisterin hob einen Arm in der Finsternis und drängte die Dunkelheit zurück. Lampen an den Wänden flammten auf., Es war simple Magie – keine besonders eindrucksvolle Demonstration der Gabe –, aber mehrere Leute weiter hinten fingen besorgt an zu murmeln, als sie durch den breiten Flur gingen. Abby dachte sich, wenn dieses kleine Zauberkunststück sie schon in Angst versetzte, hatten sie bei den Zauberern nichts verloren. Ihr Weg führte sie über den versenkten Boden eines imposanten Vorzimmers, wie es sich Abby nie hätte vorstellen können. Rote Marmorsäulen ringsum stützten Bögen unter Balkonen. In der Mitte des Raums spritzte ein Springbrunnen Wasser weit nach oben. Das Wasser fiel zurück und floß durch eine Folge von immer größeren halbrunden Schüsseln herab. Offiziere, Hexenmeisterinnen und eine Vielzahl anderer Leute saßen auf weißen Marmorbänken oder drängten sich in kleinen Gruppen und waren scheinbar alle in ernste, vom Plätschern des Wassers übertönte Gespräche vertieft. In einem angrenzenden, wesentlich kleineren Raum gab ihnen die Hexenmeisterin mit einer Geste zu verstehen, daß sie sich auf eine Reihe geschnitzter Eichenbänke an einer Wand setzen sollten. Abby war hundemüde und erleichtert, daß sie sich endlich setzen konnte. Licht von Fenstern über den Bänken fiel auf drei Gobelins, die an der hohen Wand gegenüber hingen. Alle drei zusammen bedeckten fast die ganze Wand und zeigten in ihrer Gesamtheit die Szene einer großen Prozession durch eine Stadt. Abby hatte etwas Ähnliches nie gesehen, aber da ihre Angst ihr gesamtes Denken durchdrang, konnte sie nicht einmal einem derart majestätischen Tableau Freude abgewinnen. Im Zentrum des cremefarbenen Marmorbodens befand sich, aus eingelassenen Messingstreifen gefertigt, ein Kreis mit einem Quadrat darin, dessen Ecken den Kreis berührten. In dem Quadrat befand sich ein zweiter Kreis, gerade groß genug, daß er die Innenseiten des Quadrats berührte. Der innere Kreis enthielt einen Stern mit acht Zacken. Linien gingen von den Spitzen des, Sterns aus und durchbohrten beide Kreise, jede zweite Linie halbierte eine Ecke des Quadrats. Das Muster, das Grazie genannt wurde, wurde häufig von denen mit der Gabe gezeichnet. Der äußere Kreis symbolisierte den Anfang der unendlichen Geisterwelt jenseits. Das Quadrat symbolisierte die Grenze, die die Geisterwelt – die Unterwelt, die Welt der Toten – von dem inneren Kreis trennte, der wieder die Grenze der Welt des Lebens darstellte. In der Mitte von allem befand sich der Stern, der das Licht versinnbildlichte – den Schöpfer. Es war eine Darstellung des Kontinuums der Gabe: Vom Schöpfer ging sie aus, durchdrang das Leben, und im Tode überquerte sie die Grenze zur Ewigkeit, und die Geister befanden sich in der Unterwelt im Gefilde des Bewahrers. Aber es symbolisierte auch eine Hoffnung – die Hoffnung, von der Geburt, das Leben hindurch und darüber hinaus, in der Unterwelt, im Licht des Schöpfers zu bleiben. Man sagte, daß nur den Seelen derer, die im Leben von großer Bosheit gewesen waren, in der Unterwelt das Licht des Schöpfers versagt blieb. Abby wußte, sie würde zu einer Ewigkeit mit dem Bewahrer der Dunkelheit in der Unterwelt verdammt sein. Sie hatte keine Wahl. Die Hexenmeisterin verschränkte die Arme. »Ein Gehilfe wird kommen und Sie nacheinander abholen. Ein Zauberer wird jeden von Ihnen empfangen. Der Krieg tobt; bitte fassen Sie Ihr Anliegen kurz.« Sie sah die Reihe der Leute entlang. »Aus reiner Verpflichtung denen gegenüber, denen wir dienen, empfangen die Zauberer Bittsteller, aber bitte versuchen Sie zu verstehen, daß individuelle Bitten dem höheren Guten häufig entgegensetzt sind. Wenn man sich die Zeit nimmt, einem einzelnen zu helfen, wird häufig vielen die Hilfe versagt. Eine Ablehnung Ihrer Bitte bedeutet demzufolge nicht, daß Ihre Bedürfnisse mißachtet werden, sondern daß man das Wohl aller im Auge behält. In Friedenszeiten kommt es selten vor, daß Zauberer die unbedeutenden Anliegen der Bittsteller erfüllen. In einer Zeit wie, dieser, der Zeit eines großen Krieges, ist es fast unerhört. Bitte verstehen Sie, daß es nichts damit zu tun hat, was wir uns wünschen, sondern eine Frage der Notwendigkeit ist.« Sie sah die Reihe der Bittsteller entlang, aber keiner war bereit, auf sein Anliegen zu verzichten. Abby ganz gewiß nicht. »Nun gut. Uns stehen derzeit zwei Zauberer zur Verfügung, um mit Bittstellern zu sprechen. Wir werden jeden von Ihnen zu einem bringen.« Die Hexenmeisterin wandte sich ab, um zu gehen. Abby erhob sich. »Bitte, Herrin, auf ein Wort?« Die Hexenmeisterin richtete einen beunruhigenden Blick auf Abby. »Sprich.« Abby trat vor. »Ich muß den Ersten Zauberer selbst sprechen. Zauberer Zorander.« Eine Augenbraue wurde hochgezogen. »Der Erste Zauberer ist ein sehr beschäftigter Mann.« Abby griff in den Sack und zog das Halsband vom Gewand ihrer Mutter heraus. Sie trat ins Zentrum der Grazie und küßte die roten und gelben Perlen des Halsbands. »Ich bin Abigail, geboren von Heisa. Bei der Grazie und der Seele meiner Mutter muß ich Zauberer Zorander sprechen. Bitte. Ich habe keine unbedeutende Reise unternommen. Leben stehen auf dem Spiel.« Die Hexenmeisterin sah zu, wie das Perlenband in den Sack zurückgelegt wurde. »Abigail, geboren von Heisa.« Sie sah Abby in die Augen. »Ich werde dem Ersten Zauberer deine Worte überbringen.« »Herrin.« Abby drehte sich um und sah, daß die alte Frau aufgestanden war. »Ich wäre ebenfalls sehr froh, den Ersten Zauberer zu sprechen.« Die drei Männer erhoben sich. Der älteste, der offenbar Herr und Meister der drei war, betrachtete die Hexenmeisterin mit einem Blick so bar jeder Schüchternheit, daß es an Verachtung grenzte. Sein langes graues Haar fiel nach vorne über sein Samtgewand, als er die Reihe der sitzenden Leute musterte, als, wollte er sie herausfordern, aufzustehen. Da alle sitzen blieben, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Hexenmeisterin zu. »Ich will Zauberer Zorander sprechen.« Die Hexenmeisterin musterte die Aufgestandenen und sah die Reihe der Bittsteller auf der Bank an. »Der Erste Zauberer hat sich einen Beinamen verdient: Wind des Todes. Viele von uns fürchten ihn nicht weniger als unsere Feinde. Noch jemand, der das Schicksal herausfordern möchte?« Niemand von denen auf den Bänken brachte den Mut auf, dem scharfen Blick zu begegnen. Bis auf den letzten Mann schüttelten sie alle stumm die Köpfe. »In Kürze wird jemand kommen und Sie zu einem Zauberer führen.« Sie betrachtete erneut die Fünf, die aufgestanden waren. »Sind Sie alle Ihrer Sache sehr, sehr sicher?« Abby nickte. Die alte Frau nickte. Der Edelmann sah finster drein. »Nun gut. Dann kommt mit mir.« Der Adlige und seine beiden Männer traten vor Abby. Die alte Frau schien damit zufrieden zu sein, ihren Platz am Ende der Schlange einzunehmen. Sie wurden durch schmale Flure und breite Korridore, manche dunkel und manche von erstaunlicher Pracht, tiefer in die Feste geführt. Überall standen Soldaten der Bürgerwehr, deren Brustplatten und Kettenpanzer rote Tuniken bedeckten, die mit schwarzen Säumen eingefaßt waren. Alle waren mit Schwertern oder Streitäxten bewaffnet und besaßen obendrein Messer, viele trugen zusätzlich Speere mit Spitzen und Widerhaken aus Stahl. Am oberen Ende einer breiten weißen Marmortreppe öffneten sich die Steingeländer spiralförmig zu einem Raum mit anheimelnder Eichentäfelung. An mehreren der vorstehenden Paneele befanden sich Lampen mit polierten silbernen Spiegeln. Auf einem dreibeinigen Tisch stand eine Lampe mit zwei Schirmen aus geschliffenem Glas, deren Flammen das weiche Licht der Spiegel ergänzten. Ein dicker Teppich mit, verschnörkeltem blauem Muster bedeckte fast den gesamten Holzboden. Auf jeder Seite einer Doppeltür stand ein makellos gekleideter Soldat der Bürgerwehr. Beide Männer waren gleichermaßen hünenhaft. Sie sahen aus, als wären sie mehr als fähig, mit sämtlichen Gefahren fertig zu werden, die die Treppe heraufkommen mochten. Die Hexenmeisterin nickte zu einem Dutzend prall gepolsterter Ledersessel in vier Gruppen. Abby wartete, bis sich die anderen für zwei Gruppen entschieden hatten, und nahm dann allein auf einer anderen Platz. Sie legte den Sack auf den Schoß und ließ die Hände auf seinem Inhalt ruhen. Die Hexenmeisterin nahm eine steife Haltung ein. »Ich werde dem Ersten Zauberer mitteilen, daß er Bittsteller hat, die ihn sprechen wollen.« Ein Soldat öffnete eine Hälfte der Doppeltür für sie. Als sie den großen angrenzenden Raum betrat, konnte Abby einen raschen Blick hineinwerfen. Sie konnte sehen, daß er von verglasten Oberlichtern gut ausgeleuchtet wurde. Im grauen Stein der Wände befanden sich weitere Türen. Bevor die Tür ins Schloß fiel, konnte Abby eine Anzahl anderer Leute sehen, sowohl Männer als auch Frauen, die alle hierhin und dorthin huschten. Abby saß von der alten Frau und den drei Männern abgewandt, während sie mit einer Hand müßig den Sack auf ihrem Schoß streichelte. Sie befürchtete nicht, daß die Männer sie ansprechen könnten, aber sie wollte nicht mit der alten Frau reden; das wäre eine Ablenkung. Sie vertrieb sich die Zeit damit, sich in Gedanken zurechtzulegen, was sie dem Zauberer Zorander sagen wollte. Wenigstens versuchte sie darüber nachzudenken. Was die Hexenmeisterin gesagt hatte, ging Abby nicht mehr aus dem Kopf, daß nämlich der Erste Zauberer der Wind des Todes genannt wurde, und zwar nicht nur von den Bewohnern von D´Hara, sondern auch von seinem eigenen Volk aus den, Midlands. Abby wußte, daß das kein Ammenmärchen war, um Bittsteller von einem vielbeschäftigten Mann fernzuhalten. Abby selbst hatte schon gehört, wie Leute ihren großen Zauberer flüsternd »Der Wind des Todes« nannten. Diese geflüsterten Worte wurden stets voll Furcht ausgesprochen. Die Länder von D´Hara hatten guten Grund, diesen Mann als ihren Gegner zu fürchten; er hatte nach Abbys Informationen einen Großteil ihrer Truppen vernichtet. Natürlich hätten sie den heißen Wind des Todes nicht gespürt, wenn sie nicht, auf Eroberung aus, in die Midlands eingedrungen wären. Wären sie nicht eingedrungen, würde Abby jetzt nicht hier sitzen, in der Feste der Zauberer – sie wäre zu Hause, und alle, die sie liebte, wären in Sicherheit. Abby nahm wieder das seltsame Kribbelgefühl des Armreifs wahr. Sie strich mit den Fingern darüber und spürte die ungewöhnliche Wärme. Es überraschte sie nicht, daß sich der Armreif in unmittelbarer Nähe einer mächtigen Person erwärmte. Ihre Mutter hatte ihr stets gesagt, daß sie es immer tragen sollte und es sich eines Tages als wertvoll für sie erweisen würde. Abby wußte nicht, wie sie das gemeint hatte, und ihre Mutter war gestorben, bevor sie es erklären konnte. Hexenmeisterinnen waren dafür bekannt, daß sie Geheimnisse hüteten, selbst vor ihren eigenen Töchtern. Vielleicht, wenn Abby mit der Gabe geboren worden wäre .Sie warf einen Blick über die Schulter auf die anderen. Die alte Frau saß zurückgelehnt in ihrem Sessel und schaute zur Tür. Die Begleiter des Adligen hatten die Hände gefaltet und sahen sich beiläufig in dem Raum um. Der Adlige selbst legte ein höchst seltsames Verhalten an den Tag. Er hatte sich eine Locke sandfarbenen Haares um den Finger gewickelt. Über diese Locke strich er mit dem Daumen, während er wütend die Tür anstarrte. Abby wünschte sich nur, der Zauberer möge sich beeilen und sie empfangen, aber die Zeit schleppte sich störrisch dahin. Ein wenig wünschte sie sich, er würde sich weigern. Nein, dachte sie,, das wäre untragbar. Wie groß auch ihre Furcht war, wie groß ihr Abscheu, sie mußte es tun. Unvermittelt ging die Tür auf. Die Hexenmeisterin kam heraus und schritt auf Abby zu. Der Adlige sprang auf die Füße. »Ich werde ihn zuerst sprechen.« Seine Stimme klang kalt und bedrohlich. »Das ist keine Bitte.« »Es ist unser Recht, ihn zuerst zu sehen«, sagte Abby, ohne nachzudenken. Als die Hexenmeisterin die Arme verschränkte, entschied Abby, daß es das beste wäre, jetzt fortzufahren: »Ich warte seit der Dämmerung. Diese Frau war die einzige, die vor mir wartete. Diese Männer sind erst gegen Ende des Tages gekommen.« Abby erschrak, als die knochigen Finger der alten Frau sich um ihr Handgelenk legten. »Warum lassen wir diese Männer nicht zuerst gehen, Herzchen? Es geht nicht darum, wer als erster eingetroffen ist, sondern wer das wichtigste Anliegen hat.« Abby wollte schreien, daß ihr Anliegen wichtig war, sah aber ein, daß die alte Frau sie möglicherweise vor ernsten Schwierigkeiten bei der Erledigung ihrer Aufgabe bewahrte. Widerwillig nickte sie der Hexenmeisterin zu. Als die Hexenmeisterin die drei Männer durch die Tür führte, konnte Abby die Blicke der alten Frau im Rücken spüren. Abby drückte den Sack an ihren vor Nervosität kribbelnden Bauch und sagte sich, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis sie den Zauberer sprechen konnte. Die alte Frau schwieg, während sie warteten, und darüber war Abby froh. Gelegentlich sah sie zu der Tür und flehte die guten Geister an, ihr beizustehen. Aber ihr wurde klar, daß das vergeblich war; die guten Geister würden ihr hierbei nicht helfen können. Ein Brüllen ertönte aus dem Zimmer hinter der Tür. Es war ein Geräusch, als würde ein Pfeil durch die Luft sausen oder eine lange Gerte geschwungen werden, aber viel lauter und rapide anschwellend. Es endete mit einem schrillen Klatschen und, einem Lichtblitz, den man unter der Tür und an deren Rändern sehen konnte. Die Tür erbebte in den Scharnieren. Die plötzliche Stille hallte in Abbys Ohren. Sie stellte fest, daß sie die Armlehne umklammert hielt. Beide Türen gingen auf. Die beiden Begleiter des Adligen kamen heraus, gefolgt von der Hexenmeisterin. Die drei blieben im Wartezimmer stehen. Abby holte tief Luft. Einer der beiden Männer hielt den Kopf des Adligen in der Armbeuge. Die blassen Züge des Gesichts waren zu einem stummen Schrei erstarrt. Blut tropfte in Form zäher Fäden auf den Teppich. »Bringt sie hinaus«, zischte die Hexenmeisterin einer der Wachen an der Tür mit zusammengebissenen Zähnen zu. Der Soldat neigte den Speer zur Treppe, drängte sie vorwärts und folgte den beiden Männern nach unten. Scharlachrote Tropfen fielen auf die weißen Marmorstufen, als sie hinuntergingen. Abby saß steif und blaß vor Schock da. Die Hexenmeisterin wirbelte zu Abby und der alten Frau herum. Die Frau erhob sich. »Ich glaube, ich werde den Ersten Zauberer heute lieber nicht behelligen. Ich werde an einem anderen Tag wiederkommen, sollte es erforderlich sein.« Sie beugte sich zu Abby hinüber. »Ich heiße Mariska.« Sie runzelte die Stirn. »Mögen die guten Geister dafür sorgen, daß du erfolgreich bist.« Sie schlurfte zur Treppe, legte eine Hand auf das Marmorgeländer und schritt hinab. Die Hexenmeisterin schnippte mit den Fingern und gab dem verbliebenen Wachsoldaten ein Zeichen. Er sputete sich, die alte Frau zu begleiten, während die Hexenmeisterin sich zu Abby umdrehte. »Der Erste Zauberer wird dich jetzt empfangen.« Abby verschluckte sich beim Luftholen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, als sie aufstand. »Was ist passiert? Warum hat der Erste Zauberer das getan?«, »Der Mann war im Auftrag eines anderen geschickt worden, um dem Ersten Zauberer eine Frage zu stellen. Der Erste Zauberer hat geantwortet.« Abby drückte den Sack an sich, als hinge ihr Leben davon ab, während sie das Blut auf dem Boden betrachtete. »Könnte das auch die Antwort auf meine Frage sein, wenn ich sie stelle?« »Ich weiß nicht, was für eine Frage du stellen willst.« Zum erstenmal wurde die Miene der Hexenmeisterin ein klein wenig sanfter. »Möchtest du, daß ich dich hinausbringe? Du könntest einen anderen Zauberer aufsuchen oder, wenn du etwas eingehender über dein Anliegen nachgedacht hast und es dann immer noch willst, an einem anderen Tag wiederkommen.« Abby kämpfte mit Tränen der Verzweiflung. Es gab keine andere Wahl. Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß ihn sehen.« Die Hexenmeisterin gab einen Stoßseufzer von sich. »Nun gut.« Sie hielt eine Hand unter Abbys Arm, als müßte sie sie stützen. »Der Erste Zauberer wird dich jetzt empfangen.« Abby drückte den Inhalt ihres Sacks an sich, als sie in die Kammer geführt wurde, wo der Erste Zauberer wartete. Fackeln in gußeisernen Halterungen brannten noch nicht. Der Spätnachmittagssonnenschein, der durch die verglasten Dachfenster einfiel, reichte noch aus, das Zimmer zu erhellen. Es roch nach Pech, Lampenöl, gebratenem Fleisch, nassem Stein und altem Schweiß. Im Inneren herrschten Durcheinander und Aufruhr. Überall waren Leute, und alle schienen auf einmal zu reden. Auf rustikalen Tischen, die ohne ersichtliches Muster in dem Raum verteilt waren, drängten sich Bücher, Schriftrollen, Karten, Kreide, nicht angezündete Öllampen, brennende Kerzen, halb aufgegessene Mahlzeiten, Siegelwachs, Federkiele und ein Wirrwarr von allen möglichen seltsamen Gegenständen, von Bällen verknoteter Schnurstücke bis zu halb ausgeschütteten Sandsäcken. Um die Tische standen Leute herum, die sich unterhielten oder miteinander stritten, während andere auf Abschnitte in Büchern deuteten, über Schriftrollen grübelten, oder kleine bemalte Gewichte auf den Karten verschoben. Andere rollten Scheiben gebratenen Fleisches von den Tellern zusammen und knabberten daran, während sie zusahen oder zwischen zwei Bissen ihre Meinung zum besten gaben. Die Hexenmeisterin, die Abby immer noch unter dem Arm hielt, beugte sich zu ihr, während sie sich ihren Weg bahnten. »Du wirst die geteilte Aufmerksamkeit des Ersten Zauberers haben. Andere Leute werden gleichzeitig mit ihm reden. Laß dich nicht ablenken. Er wird dir zuhören und gleichzeitig anderen zuhören oder mit ihnen reden. Beachte die anderen einfach gar nicht, und stell ihm die Frage, die zu stellen du gekommen bist. Er wird dich hören.« Abby war baff. »Während er mit anderen Leuten redet?« »Ja.« Abby spürte, wie die Hand leicht ihren Arm drückte. »Versuche, ruhig zu sein und nicht danach zu urteilen, was vor dir geschehen ist.« Das Töten. Das hatte sie gemeint. Jener Mann war gekommen, um mit dem Ersten Zauberer zu sprechen, und war dafür getötet worden. Und das sollte sie so einfach vergessen? Als sie den Kopf senkte, stellte sie fest, daß sie durch eine Blutspur schritt. Den geköpften Leichnam konnte sie nirgendwo entdecken. Ihr Armreif kribbelte, und sie sah darauf hinab. Die Hand unter ihrem Arm veranlaßte sie, stehenzubleiben. Als Abby aufschaute, sah sie ein verwirrendes Knäuel von Leuten vor sich. Manche kamen von den Seiten hinzugeeilt, während andere sich entfernten. Manche ruderten mit den Armen und sprachen dabei mit großem Nachdruck. So viele redeten durcheinander, daß Abby kaum ein Wort verstehen konnte. Gleichzeitig beugten sich andere näher und flüsterten beinahe. Sie kam sich vor wie in einem menschlichen Bienenstock. Abbys Aufmerksamkeit wurde auf eine Gestalt in Weiß auf einer Seite gelenkt. In dem Moment, als sie das lange Haar und die violetten Augen erblickte, die sie direkt ansahen, erstarrte Abby. Ein leiser Aufschrei entrang sich ihrer Kehle, während sie, sich gleichzeitig auf die Knie fallen ließ und sich verbeugte, bis ihr der Rücken weh tat. Sie bebte und zitterte und rechnete mit dem Schlimmsten. In dem Moment, bevor sie auf die Knie gesunken war, hatte sie gesehen, daß das elegante weiße Satinkleid am Hals quadratisch ausgeschnitten war, genau wie es bei den schwarzen Kleidern gewesen war. Der lange weiße Haarschopf ließ keinerlei Zweifel aufkommen. Abby hatte die Frau nie vorher gesehen, wußte aber ohne Zweifel, wer sie war. Diese Frau konnte man nicht verwechseln. Nur eine von ihnen trug das weiße Kleid. Es war die Mutter Konfessorin persönlich. Sie hörte ein Murmeln über sich, wagte aber nicht, ihm zuzuhören, falls der Tod auf sie herabbeschworen wurde. »Steh auf, mein Kind«, sagte eine deutliche Stimme. Abby wußte, es war die förmliche Antwort der Mutter Konfessorin an jemand von ihrem Volk. Es dauerte einen Moment, bis Abby begriff, daß sie keine Drohung bedeutete, sondern lediglich eine Zurkenntnisnahme. Sie starrte einen Blutfleck auf dem Boden an, während sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Ihre Mutter hatte ihr nie beigebracht, wie sie sich verhalten mußte, sollte sie jemals der Mutter Konfessorin begegnen. Soweit sie wußte, hatte niemand aus Coney Crossing die Mutter Konfessorin je gesehen, geschweige denn kennengelernt. Andererseits hatte auch noch nie jemand von ihnen einen Zauberer getroffen. Über ihr ertönte das geflüsterte Knurren der Hexenmeisterin. »Steh auf.« Abby rappelte sich auf, ließ den Blick aber auf den Boden gerichtet, obwohl der Blutfleck sie mit Übelkeit erfüllte. Sie konnte das Blut riechen, als sei eins ihrer Tiere frisch geschlachtet worden. Der langen Spur nach zu urteilen war der Leichnam zu einer der Türen an der rückwärtigen Wand des Raums geschleift worden. Die Hexenmeisterin sprach gelassen in dem Chaos. »Zauberer Zorander, das ist Abigail, geboren von Heisa. Sie wünscht, mit, Euch zu reden. Abby, das ist der Erste Zauberer Zeddicus Zu´l Zorander.« Abby wagte zaghaft, den Blick zu heben. Mandelbraune Augen sahen sie an. Rechts und links von ihr standen jede Menge Menschen: große, abschreckende Offiziere – einige sahen aus wie Generäle; mehrere ältere Männer in Gewändern, einige schlicht, andere reich verziert; mehrere Männer mittleren Alters, teils in Gewändern und teils in Livree; drei Frauen – alle Hexenmeisterinnen; eine Vielzahl anderer Männer und Frauen und die Mutter Konfessorin. Der Mann im Zentrum des Aufruhrs, der Mann mit den mandelbraunen Augen, war nicht das, was Abby erwartet hatte. Sie hatte einen zotteligen, grimmigen alten Mann erwartet. Dieser Mann war jung – vielleicht nicht älter als sie. Er war schlank und sehnig und trug ein schlichtes Gewand, kaum besser als Abbys Leinwandbeutel – das Kennzeichen seines hohen Amtes. Einen solchen Mann hatte Abby nicht in einem Amt wie dem des Ersten Zauberers erwartet. Sie erinnerte sich daran, was ihre Mutter ihr gesagt hatte – den eigenen Augen nicht zu trauen, wenn es um Zauberer ging. Ringsum sprachen Leute auf ihn ein, stritten mit ihm, ein paar brüllten sogar, aber der Zauberer schwieg und sah ihr in die Augen. Sein Gesicht war durchaus angenehm anzuschauen, von sanftem Äußeren, auch wenn sein lockiges braunes Haar aussah, als wäre es nicht zu bändigen, aber seine Augen .Abby hatte niemals derartige Augen gesehen. Sie schienen alles zu sehen, alles zu wissen, alles zu verstehen. Gleichzeitig waren sie blutunterlaufen und erschöpft, als würde es ihm an Schlaf mangeln. Auch konnte man eine Spur Kummer darin erkennen. Dennoch war er die Ruhe im Zentrum des Sturms. In dem Moment, in dem ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt, schien es, als wäre sonst niemand in dem Raum., Die Haarlocke, die der Adlige sich um den Finger gewickelt hatte, zierte nun einen Finger des Ersten Zauberers. Er führte sie an die Lippen, ehe er den Arm sinken ließ. »Man hat mir gesagt, du bist die Tochter einer Hexenmeisterin.« Seine Stimme war ein ruhiges Gewässer, das durch den Tumult ringsum floß. »Besitzt du die Gabe, Kind?« »Nein, Herr ..« Noch während sie antwortete, wandte er sich einem anderen zu, der soeben aufgehört hatte zu sprechen. »Ich habe gesagt, wenn wir das machen, laufen wir Gefahr, sie zu verlieren. Schickt die Botschaft! Ich wünsche, daß er nach Süden aufbricht.« Der hochgewachsene Offizier, den der Zauberer angesprochen hatte, hob die Arme. »Aber er hat gesagt, er besitzt zuverlässige Informationen, wonach die D´Haraner von ihm aus nach Osten ziehen.« »Darum geht es nicht«, sagte der Zauberer. »Ich möchte, daß der Paß nach Süden abgeriegelt wird. Dahin ist ihre Hauptstreitmacht unterwegs; sie haben Begabte bei sich. Das sind die, die wir töten müssen.« Der hochgewachsene Offizier salutierte, indem er die Faust auf das Herz legte, während sich der Zauberer einer alten Hexenmeisterin zuwandte. »Ja, ganz recht, drei Beschwörungen, bevor wir die Umstellung versuchen. Ich habe den Hinweis darauf gestern nacht gefunden.« Die Hexenmeisterin entfernte sich und machte einem Mann Platz, der in einer fremden Sprache plapperte, während er eine Schriftrolle ausbreitete und hochhielt, damit der Zauberer sie sehen konnte. Der Zauberer betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, las einen Moment und winkte den Mann fort, während er Anweisungen in derselben fremden Sprache gab. Der Zauberer wandte sich an Abby. »Du bist eine Übersprungene?« Abby spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihre Ohren brannten. »Ja, Zauberer Zorander.«, »Kein Grund, sich zu schämen, Kind«, sagte er, während die Mutter Konfessorin ihm vertraulich ins Ohr flüsterte. Aber es war doch etwas, dessen man sich schämen mußte. Die Gabe war nicht von ihrer Mutter auf sie übertragen worden – sie hatte sie übersprungen. Die Menschen von Coney Crossing waren von Abbys Mutter abhängig gewesen. Sie hatte denen geholfen, die krank oder verletzt waren. Sie hatte die Leute in Fragen der Gemeinschaft und der Familie beraten. Für einige hatte sie Hochzeiten arrangiert. Für manche bestimmte sie ein Strafmaß. Manchen erwies sie Gefälligkeiten, die nur durch Magie bewerkstelligt werden konnten. Sie war eine Hexenmeisterin; sie hatte die Leute von Coney Crossing beschützt. Sie wurde öffentlich verehrt. Von manchen wurde sie insgeheim gefürchtet und verabscheut. Sie wurde verehrt für das Gute, das sie den Menschen von Coney Crossing tat. Von manchen wurde sie gefürchtet und verabscheut, weil sie die Gabe hatte – weil sie die Magie beherrschte. Andere wollten nichts so sehr, wie ihr Leben ohne Magie zu leben. Abby besaß keine Magie und konnte weder bei Krankheit noch bei Verletzungen noch bei unbestimmten Ängsten helfen. Sie wünschte sich von Herzen, sie hätte es gekonnt, aber sie konnte es nicht. Als Abby ihre Mutter gefragt hatte, warum sie die ganze undankbare Ablehnung ertrug, hatte ihre Mutter ihr geantwortet, daß es Lohn genug war, zu helfen, und man keine Dankbarkeit dafür erwarten sollte. Sie sagte, wenn man durch das Leben gehe und Dankbarkeit für die Hilfe erwarte, die man anderen zuteil werden lasse, führe man am Ende wahrscheinlich ein erbärmliches Leben. Als ihre Mutter noch am Leben war, war Abby auf subtile Weise geschnitten worden; nach dem Tod ihrer Mutter schnitt man sie ganz unverhohlen. Die Leute in Coney Crossing hatten erwartet, daß sie ihnen dienlich sein würde, wie ihre Mutter ihnen dienlich gewesen war. Die Menschen verstanden nichts von der, Gabe, und daß sie häufig nicht an einen Nachkommen weitergegeben wurde; statt dessen hielten sie Abby für egoistisch. Der Zauberer erklärte einer Hexenmeisterin etwas darüber, wie man einen Bannfluch sprach. Als er fertig war, glitt sein Blick auf der Suche nach jemand anders über Abby. Sie brauchte seine Hilfe, und zwar jetzt. »Was wolltest du mich fragen, Abigail?« Abbys Finger packten den Sack fester. »Es geht um meine Heimat Coney Crossing.« Sie machte eine Pause, während der Zauberer in ein Buch deutete, das ihm hingehalten wurde. Er winkte ihr mit der Hand und bedeutete ihr, daß sie fortfahren sollte, während ein Mann etwas Kompliziertes erklärte, das damit zu tun hatte, wie man einen Doppelfluch ins Gegenteil verkehrte. »Die Lage dort ist schrecklich«, sagte Abby. »Truppen aus D´Hara haben die Grenze überschritten ..« Der Erste Zauberer drehte sich zu einem älteren Mann mit langem weißem Bart um. Aus seiner schlichten Robe schloß Abby, daß auch er ein Zauberer sein mußte. »Ich sage dir, Thomas, es kann getan werden«, beharrte Zauberer Zorander. »Ich sage nicht, daß ich einer Meinung mit dem Rat bin, ich spreche nur davon, was ich herausgefunden habe, und von ihrer einstimmigen Entscheidung, daß es getan werden sollte. Ich behaupte nicht, daß ich die Einzelheiten verstehe, wie es genau funktioniert, aber ich habe es studiert; es kann getan werden. Wie ich dem Rat sagte, ich kann es aktivieren. Ich habe nur noch nicht entschieden, ob ich mit ihnen einverstanden bin, daß es aktiviert werden sollte.« Der Mann, Thomas, strich sich mit einer Hand über das Gesicht. »Ihr meint also, es stimmt, was ich gehört habe? Ihr haltet es wirklich für möglich? Habt Ihr den Verstand verloren, Zorander?« »Ich habe es in einem Buch im Privatgemach des Ersten Zauberers gefunden. Einem Buch aus der Zeit vor dem Krieg mit der Alten Welt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe eine ganze Reihe von Bestätigungsnetzen ausgeworfen, um es zu, überprüfen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Abby zu. »Ja, das muß Anargos Legion sein. Coney Crossing liegt im Pendisanischen Reich.« »Das stimmt«, sagte Abby. »Und diese Armee aus D´Hara marschierte dort durch und –« »Das Pendisanische Reich hat sich geweigert, sich wie der Rest der Midlands unter einen Oberbefehl zu stellen, um der Invasion aus D´Hara entgegenzutreten. Ihre Entscheidung, auf ihrer Unabhängigkeit zu bestehen, hieß auch, daß sie den Feind auf ihre Weise bekämpfen wollen. Sie müssen mit den Folgen ihrer Entscheidung leben.« Der alte Mann zupfte an seinem Bart. »Aber wißt Ihr auch, ob es echt ist? Belegt? Ich meine, das Buch muß Tausende Jahre alt sein. Es könnten Mutmaßungen sein. Bestätigungsnetze verifizieren nicht immer die gesamte Struktur von so einer Sache.« »Das weiß ich so gut wie du, Thomas, aber ich sage dir, es ist echt«, sagte Zauberer Zorander. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Die Geister mögen uns gnädig sein, es ist echt.« Abbys Herz klopfte. Sie wollte ihm ihre Geschichte erzählen, schien aber nicht zu Wort zu kommen. Er mußte ihr helfen. Es war die einzige Möglichkeit. Ein Armeeoffizier kam durch eine der Hintertüren hereingestürmt. Er drängte sich durch die Menge um den Ersten Zauberer herum. »Zauberer Zorander! Ich habe es soeben erfahren! Als wir die Hörner entfesselt haben, die Ihr geschickt hattet, haben sie funktioniert! Die Streitmacht von Urdland hat den Rückzug angetreten!« »Mindestens dreitausend Jahre alt«, sagte der Erste Zauberer zu dem Mann mit dem Bart. Er legte dem neu eingetroffenen Offizier eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm. »Sagen Sie General Brainard, er soll beim Fluß Kern bleiben. Die Brücken nicht niederbrennen, aber halten. Sagen Sie ihm, er soll seine Männer aufteilen. Mit der einen Hälfte soll er verhindern,, daß es sich die Streitmacht von Urdland anders überlegt; hoffen wir, daß es ihnen nicht gelingt, ihren Frontzauberer zu ersetzen. Den Rest seiner Männer soll Brainard nach Norden führen, damit sie mithelfen können, Anargo den Fluchtweg abzuschneiden; das ist unsere Hauptsorge, aber wir brauchen die Brücken vielleicht trotzdem, um Urdland nachzusetzen.« Einer der anderen Offiziere, ein älterer Mann, der aussah, als könnte er selbst ein General sein, wurde rot im Gesicht. »Den Fluß halten? Nachdem die Hörner ihre Aufgabe erfüllt haben und wir sie in die Flucht geschlagen haben? Aber warum! Wir können sie niedermachen, bevor sie die Möglichkeit haben, sich neu zu formieren und sich mit anderen Streitkräften zu vereinen, um uns erneut anzugreifen!« Die mandelbraunen Augen wurden auf den Mann gerichtet. »Und wissen Sie, was jenseits der Grenze wartet? Wie viele Männer werden sterben, wenn Panis Rahl etwas in der Hinterhand hat, womit die Hörner nicht fertig werden können? Wieviel Unschuldige mußten bereits ihr Leben lassen? Wie viele unserer Männer müssen sterben, um sie auf ihrem eigenen Land bluten zu lassen – Land, das wir nicht so gut kennen wie sie?« »Und wie viele von unserem Volk werden sterben, wenn wir nicht verhindern, daß sie uns eines Tages wieder angreifen? Wir müssen sie verfolgen. Panis Rahl wird niemals Ruhe geben. Er wird daran arbeiten, sich etwas anderes auszudenken, um uns alle im Schlaf auszuweiden. Wir müssen sie jagen und bis auf den letzten Mann töten!« »Ich arbeite daran«, antwortete der Erste Zauberer geheimnisvoll. Der alte Mann zupfte an seinem Bart und machte ein sarkastisches Gesicht. »Ja, er glaubt, daß er die Unterwelt selbst auf sie hetzen kann.« Mehrere Offiziere, zwei Hexenmeisterinnen und einige der Männer in Gewändern hielten inne und sahen mit unverhohlener Fassungslosigkeit herüber., Die Hexenmeisterin, die Abby in den Audienzsaal geführt hatte, beugte sich zu ihr. »Du wolltest mit dem Ersten Zauberer sprechen. Sprich! Wenn dich der Mut verlassen hat, werde ich dich hinaus geleiten.« Abby benetzte ihre Lippen. Sie wußte nicht, wie sie inmitten dieser unablässigen Unterhaltungen sprechen sollte, wußte aber, daß es sein mußte, daher fing sie einfach wieder an. »Sir, ich weiß nichts davon, was mein Heimatland, das Pendisanische Reich, getan hat. Ich weiß kaum etwas vom König. Ich weiß nichts vom Rat oder dem Krieg oder sonst etwas. Ich komme aus einem kleinen Ort und weiß nur, daß die Menschen dort große Probleme haben. Unsere Verteidigungslinien wurden vom Feind überrannt. Eine ganze Armee von Männern aus den Midlands marschiert gegen die Leute von D´Hara.« Sie kam sich albern vor, mit einem Mann zu sprechen, der ein halbes Dutzend Unterhaltungen gleichzeitig führte. Am meisten aber verspürte sie Wut und Frustration. Die Menschen würden sterben, wenn sie ihn nicht davon überzeugen konnte, zu helfen. »Wie viele D´Haraner?« fragte der Zauberer. Abby machte den Mund auf, aber ein Offizier antwortete an ihrer Stelle. »Wir sind nicht sicher, wie viele von Anargos Legion noch existieren. Sie könnten verwundet sein, sind aber wie ein wütender verwundeter Stier. Jetzt, wo sie in Sichtweite ihrer Heimat sind. Sie können uns nur angreifen oder fliehen. Sanderson eilt von Norden hinzu, und Mardale schneidet von Südwesten den Weg ab. Anargo hat einen Fehler gemacht, als er zur Furt gegangen ist; dort muß er gegen uns kämpfen oder nach Hause flüchten. Wir müssen sie erledigen. Das könnte unsere einzige Chance sein.« Der Erste Zauberer strich mit Finger und Daumen über seine glatte Wange. »Trotzdem sind wir nicht sicher, wie groß ihre Zahl ist. Die Kundschafter waren zuverlässig, sind aber nicht zurückgekehrt. Wir können nur davon ausgehen, daß sie tot sind. Und warum sollte Anargo so etwas tun?«, »Nun«, sagte der Offizier, »es ist der kürzeste Fluchtweg zurück nach D´Hara.« Der Erste Zauberer wandte sich einer Hexenmeisterin zu und beantwortete eine Frage, die sie gerade gestellt hatte. »Ich sehe nicht, wie wir uns das leisten können. Sag ihnen, ich habe nein gesagt. Ich werde dieses Netz nicht für sie wirken und werde ihnen auch nicht nur für ein ›Vielleicht‹ selbst die Möglichkeit dazu geben.« Die Hexenmeisterin nickte und huschte davon. Abby wußte, ein Netz war der Zauberspruch einer Hexenmeisterin. Offenbar nannte man den Zauberspruch eines Zauberers auch so. »Nun, wenn so etwas möglich ist«, sagte der bärtige Mann, »dann würde ich gern Eure Exegese des Texts sehen. Ein dreitausend Jahre altes Buch birgt viele Risiken. Wir haben keine Ahnung, wie die Zauberer jener Zeit ihre Wundertaten vollbringen konnten.« Der Erste Zauberer warf dem Mann zum erstenmal einen bösen Blick zu. »Thomas, möchtest du genau sehen, wovon ich spreche? Die Form des Zaubers?« Einige Leute waren verstummt, als sie seinen Tonfall hörten. Der Erste Zauberer breitete die Arme aus und drängte jeden aus dem Weg. Die Mutter Konfessorin blieb dicht hinter seiner linken Schulter. Die Hexenmeisterin neben Abby zog sie einen Schritt zurück. Der Erste Zauberer machte eine Handbewegung. Ein Mann nahm einen kleinen Sack vom Tisch und gab ihn ihm. Abby fiel auf, daß etwas von dem Sand auf den Tischen nicht einfach ausgeschüttet, sondern verwendet worden war, um Symbole hineinzumalen. Abbys Mutter hatte hin und wieder Zaubersprüche in Sand geschrieben, meistens aber eine Vielzahl anderer Mittel und Wege verwendet, von gemahlenen Knochen bis zu zerstoßenen Krautern. Abbys Mutter hatte Sand zum Üben benutzt; Zaubersprüche, wahrhafte Zaubersprüche, mußten in der richtigen Reihenfolge und fehlerfrei gezeichnet werden., Der Erste Zauberer kauerte sich nieder und nahm eine Handvoll Sand aus dem Sack. Er zeichnete auf dem Boden, indem er den Sand seitlich aus der Faust rieseln ließ. Zauberer Zorander bewegte die Hand mit der Präzision langer Übung. Er schwenkte den Arm und malte einen Kreis. Er holte eine Handvoll frischen Sand und zeichnete einen inneren Kreis. Es sah aus, als würde er eine Grazie malen. Abbys Mutter hatte stets das Quadrat als zweites gezeichnet; alles in der Reihenfolge nach innen, und dann die Strahlen nach außen. Zauberer Zorander malte den achtzackigen Stern in den kleineren Kreis. Er zog die Linien nach außen durch beide Kreise, ließ aber eine weg. Noch mußte er das Quadrat zeichnen, das die Grenze zwischen den Welten symbolisierte. Er war der Erste Zauberer, daher dachte Abby, wäre es nicht unangemessen, wenn er es in einer anderen Reihenfolge machte als eine Hexenmeisterin in einem kleinen Kaff wie Coney Crossing. Aber mehrere der Männer, die Abby für Zauberer hielt, und zwei Hexenmeisterinnen hinter ihm warfen einander ernste Blicke zu. Zauberer Zorander ließ Sand zu zwei der Linien des Quadrats rieseln. Er holte noch einmal Sand aus dem Sack und begann die beiden letzten Seiten. Statt eine gerade Linie zu ziehen, malte er einen Bogen, der bis weit in den inneren Kreis hinein reichte – der die Welt des Lebens darstellte. Der Bogen endete nicht am äußeren Kreis, sondern ging darüber hinaus. Die letzte Seite malte der Zauberer ebenfalls bogenförmig, so daß auch sie in den inneren Kreis ragte. Er setzte die Linie so weit fort, daß sie sich mit der anderen dort vereinigte, wo der Strahl des Lichtes fehlte. Im Gegensatz zu den drei anderen Punkten des Quadrats lag dieser letzte Punkt außerhalb des größeren Kreises – in der Welt der Toten. Die Leute stöhnten auf. Einen Moment senkte sich Schweigen über den Raum, dann wurde unter den Begabten besorgtes Murmeln laut. Zauberer Zorander erhob sich. »Zufrieden, Thomas?«, Thomas´ Gesicht war so weiß wie sein Bart geworden. »Der Schöpfer stehe uns bei.« Er sah Zauberer Zorander an. »Der Rat versteht das nicht ernstlich. Es wäre Wahnsinn, es zu entfesseln.« Zauberer Zorander beachtete ihn gar nicht, sondern drehte sich zu Abby um. »Wie viele D´Haraner hast du gesehen?« »Vor drei Jahren kam eine Heuschreckenplage über uns. Die Hügel an der Furt waren braun von ihnen. Ich glaube, ich habe mehr D´Haraner gesehen als Heuschrecken.« Zauberer Zorander tat seinen Unmut durch ein Grunzen kund. Er betrachtete die Grazie, die er gezeichnet hatte. »Panis Rahl wird nicht aufgeben. Wie lange, Thomas? Wie lange, bis er etwas Neues findet, das er beschwören kann, und Anargo zu uns zurückschickt?« Er ließ den Blick über die Leute um ihn herum schweifen. »Wie viele Jahre haben wir gefürchtet, wir könnten durch eine Invasionsstreitmacht von D´Hara vernichtet werden? Wie viele von unserem Volk wurden durch Rahls Magie getötet? Wie viele tausend sind an den Fiebern gestorben, die er geschickt hat? Wie viele tausend haben nach der Berührung durch die Schattenmenschen, die er geschickt hat, Blasen bekommen und sind verblutet? Wie viele Ortschaften, Dörfer und Städte hat er ausradiert?« Da niemand etwas sagte, fuhr Zauberer Zorander fort: »Wir haben Jahre gebraucht, vom Abgrund zurückzukehren. Das Kriegsglück hat sich endlich gewendet, der Feind ist auf der Flucht. Wir haben jetzt drei Möglichkeiten. Die erste wäre, ihn nach Hause fliehen zu lassen und zu hoffen, daß er niemals wieder mit seiner Unmenschlichkeit über uns kommt. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis er es wieder versucht. Damit bleiben zwei realistische Möglichkeiten. Wir können ihn in seinen Bau zurückverfolgen und endgültig den Garaus machen, was das Leben von Zehn-, möglicherweise Hunderttausenden unserer Männer kosten könnte – oder ich kann ihm ein Ende bereiten.« Die Begabten in der Menge warfen nervöse Blicke auf die Grazie am Boden., »Wir besitzen noch andere Magie«, sagte ein anderer Zauberer. »Wir können sie zum selben Zweck anwenden, ohne eine solche Katastrophe zu entfesseln.« »Zauberer Zorander hat recht«, sagte ein anderer, »und der Rat ebenso. Der Feind hat es nicht anders verdient. Wir müssen es über ihn bringen.« Diskussionen wurden in dem Raum laut. Derweil sah Zauberer Zorander Abby in die Augen. Es war eine eindeutige Aufforderung, mit ihrem Bittgesuch zu Ende zu kommen. »Mein Volk – die Leute von Coney Crossing – wurde von den D´Haranern gefangengenommen. Sie haben noch andere, die sie eingesperrt haben. Sie haben eine Hexenmeisterin, die die Gefangenen mit einem Bannfluch festhält. Bitte, Zauberer Zorander, Ihr müßt mir helfen! Als ich mich versteckt hatte, hörte ich die Hexenmeisterin mit ihren Offizieren sprechen. Die D´Haraner haben vor, die Gefangenen als Schild zu benutzen. Sie wollen die Gefangenen dazu benutzen, die tödliche Magie zu absorbieren, die Ihr ihnen entgegenschleudert, oder die Speere und Pfeile aufzufangen, die die Armee der Midlands auf sie abfeuert. Wenn sie beschließen, wieder umzukehren und anzugreifen, wollen sie die Gefangenen vor sich hertreiben. Sie nannten es: ›die Waffen des Feindes mit seinen eigenen Frauen und Kindern unschädlich machen.‹« Niemand sah sie an. Alle waren wieder mit ihren Diskussionen und Streitgesprächen beschäftigt. Es war, als wäre das Leben all dieser Menschen unwichtig für sie. Tränen brannten in Abbys Augen. »Wie auch immer, viele unschuldige Menschen werden sterben. Bitte, Zauberer Zorander, wir sind auf Eure Hilfe angewiesen. Sonst werden sie alle sterben.« Er sah sie kurz an. »Wir können nichts für sie tun.« Abby keuchte und versuchte, Tränen zurückzuhalten. »Mein Vater wurde gefangengenommen, zusammen mit anderen meiner Verwandten. Mein Mann befindet sich unter den Gefangenen. Meine Tochter ist bei ihnen. Sie ist noch keine fünf. Wenn Ihr, Magie sendet, werden sie sterben. Wenn Ihr angreift, werden sie sterben. Ihr müßt sie retten oder den Angriff aufschieben.« Er sah wahrhaft traurig aus. »Es tut mir leid. Ich kann ihnen nicht helfen. Mögen die guten Geister über sie wachen und ihre Seelen ins Licht führen.« Er wollte sich abwenden. »Nein!« schrie Abby. Einige der Anwesenden verstummten. Andere sahen nur kurz zu ihr und fuhren fort. »Mein Kind! Das könnt Ihr nicht!« Sie schob eine Hand in den Sack. »Ich habe einen Knochen –« »Hat das nicht jeder«, knurrte er und schnitt ihr das Wort ab. »Ich kann dir nicht helfen.« »Aber ihr müßt!« »Wir müßten von unserem Feldzug ablassen. Wir müssen die Streitmacht von D´Hara aber besiegen – so oder so. Auch wenn diese Menschen unschuldig sind, sie sind im Weg. Ich kann nicht zulassen, daß die D´Haraner mit ihrem Plan Erfolg haben, sonst würde ich andere ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen, und dann würden noch mehr Unschuldige sterben. Wir müssen dem Feind zeigen, daß wir uns nicht von unserer Vorgehensweise abbringen lassen.« »NEIN!« heulte Abby. »Sie ist noch ein Kind! Ihr verurteilt mein Baby zum Tode! Und es sind noch mehr Kinder dabei! Was seid Ihr für ein Monster?« Außer dem Zauberer hörte ihr niemand mehr zu, alle waren in ihre Unterhaltungen vertieft. Die Stimme des Ersten Zauberers übertönte das Stimmengewirr und war so deutlich für Abby zu hören wie das Geläut des Todes. »Ich bin ein Mann, der solche Entscheidungen treffen muß. Ich muß dein Gesuch ablehnen.« Abby schrie vor Qual angesichts des Fehlschlags ihrer Mission. Ihr wurde nicht einmal gestattet, ihm den Knochen zu zeigen. »Aber es ist eine Schuld!« rief sie. »Eine Ehrenschuld!« »Und sie kann jetzt nicht beglichen werden.«, Abby kreischte hysterisch. Die Hexenmeisterin zog sie weg. Abby riß sich von der Frau los und rannte aus dem Zimmer. Sie stolperte die Steintreppe hinunter und konnte durch ihre Tränen kaum etwas sehen. Am unteren Ende der Treppe fiel sie hilflos schluchzend zu Boden. Er wollte ihr nicht helfen. Er wollte einem hilflosen Kind nicht helfen. Ihre Tochter würde sterben. Abby, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, spürte eine Hand auf der Schulter. Arme zogen sie sanft näher. Zärtliche Finger strichen ihr das Haar zurück, während sie im Schoß einer Frau schluchzte. Jemand anders berührte sie am Rücken, und sie spürte, wie der warme Trost der Magie in sie einströmte. »Er tötet meine Tochter«, schrie sie. »Ich hasse ihn.« »Schon gut, Abigail«, sagte die Stimme über ihr. »Es ist nicht schlimm zu weinen, wenn man einen solchen Schmerz erleidet.« Abby wischte sich die Augen, konnte die Tränen aber nicht aufhalten. Die Hexenmeisterin war da, neben ihr an der untersten Treppenstufe. Abby schaute zu der Frau auf, in deren Armen sie lag. Es war die Mutter Konfessorin selbst. Sollte sie ihr doch Schlimmes antun – Abby war es einerlei. Was spielte es jetzt noch für eine Rolle, was spielte überhaupt noch eine Rolle? »Er ist ein Monster«, schluchzte sie. »Und er trägt seinen Namen zu Recht. Er ist der böse Wind des Todes. Aber diesmal tötet er mein Baby, nicht den Feind.« »Ich verstehe, warum du so empfindest, Abigail«, sagte die Mutter Konfessorin, »aber es ist nicht wahr.« »Wie könnt Ihr das sagen! Meine Tochter hatte noch keine Chance, zu leben, und er tötet sie! Mein Mann wird sterben! Und mein Vater, aber der konnte sein Leben immerhin schon leben. Mein Baby nicht!« Sie fing wieder hysterisch an zu schluchzen, und die Mutter Konfessorin zog sie wieder in die tröstenden Arme. Aber Abby wollte keinen Trost., »Du hast nur das eine Kind?« fragte die Hexenmeisterin. Abby nickte und holte gleichzeitig Luft. »Ich hatte noch eines, einen Jungen, aber der ist bei der Geburt gestorben. Die Hebamme hat gesagt, daß ich keine mehr bekommen kann. Meine kleine Jana ist die einzige, die ich je haben werde.« Wilder Schmerz durchfuhr sie. »Und er tötet sie einfach. So, wie er den Mann vor mir getötet hat. Zauberer Zorander ist ein Monster. Mögen die guten Geister dafür sorgen, daß er tot umfällt.« Die Hexenmeisterin strich Abby mit einer ausholenden Bewegung das Haar aus der Stirn. »Du verstehst nicht. Du siehst nur einen Teil des Ganzen. Was du da sagst, ist nicht dein Ernst.« Aber es war ihr Ernst. »Wenn Ihr nur –« »Delora versteht es«, sagte die Mutter Konfessorin und zeigte auf die Hexenmeisterin. »Sie hat eine zehnjährige Tochter und einen Sohn.« Abby schaute zu der Hexenmeisterin auf. Sie schenkte Abby ein teilnahmsvolles Lächeln und nickte zur Bestätigung der Worte. »Ich habe auch eine Tochter«, sagte die Mutter Konfessorin. »Sie ist zwölf. Delora und ich können beide deinen Schmerz verstehen. Und der Erste Zauberer auch.« Abby ballte die Fäuste. »Das ist unmöglich! Er ist selbst kaum mehr als ein Knabe, und er will mein Baby töten. Er ist der Wind des Todes, und das ist alles, was ihn interessiert – Leute zu töten!« Die Mutter Konfessorin klopfte neben sich auf die Stufe. »Abigail, setz dich hierher! Laß mich dir etwas über den Mann da drinnen erklären.« Abby richtete sich, immer noch weinend, auf und rutschte auf die Stufe. Die Mutter Konfessorin war vielleicht zwölf bis vierzehn Jahre älter als sie und machte mit ihren violetten Augen einen freundlichen Eindruck. Ihr dichtes Haar reichte ihr bis zur Taille. Sie hatte ein gütiges Lächeln. Abby hatte nie daran gedacht, eine Konfessorin auch als Frau zu sehen, aber nun sah sie eine vor sich. Sie fürchtete diese Frau nicht wie vorher; sie, konnte ihr nichts Schlimmeres antun als das, was bereits geschehen war. »Ich habe manchmal auf Zeddicus aufgepaßt, als er noch ein Baby war und ich noch dabei war, eine Frau zu werden.« Die Mutter Konfessorin sah mit einem sehnsüchtigen Lächeln in die Ferne. »Ich habe ihm den Hintern versohlt, wenn er sich danebenbenommen hat, und ihn später am Ohr gezogen, damit er dem Unterricht aufmerksam folgte. Er war die Schalkhaftigkeit in Person, aber nicht von Bosheit, sondern von Neugier getrieben. Er ist zu einem anständigen Mann herangewachsen. Als der Krieg mit D´Hara anfing, wollte Zauberer Zorander uns eine ganze Zeit nicht helfen. Er wollte nicht kämpfen, Menschen weh tun. Aber als Panis Rahl, der Herrscher von D´Hara, Magie einsetzte, um unser Volk hinzuschlachten, da wußte Zedd, daß seine einzige Hoffnung, letzten Endes mehr Menschen zu retten, darin bestand, zu kämpfen. Zeddicus Zu´l Zorander mag für dich jung aussehen, wie für viele von uns auch, aber er ist ein ganz besonderer Zauberer, Sohn eines Zauberers und einer Hexenmeisterin. Zedd war ein Wunderkind. Auch einige der Zauberer da drinnen, die teils seine Lehrmeister waren, können nicht immer ganz begreifen, wie es ihm gelingt, einige Rätsel der Bücher zu lösen oder seine Gabe so einzusetzen, daß sie ihm solche Macht verleiht, aber wir wissen, daß er ein Herz hat. Er benutzt sein Herz ebenso wie seinen Verstand. Für das alles und viel mehr wurde er zum Ersten Zauberer gemacht.« »Ja«, sagte Abby, »er ist sehr begabt darin, der Wind des Todes zu sein.« Die Mutter Konfessorin lächelte verhalten. Sie tippte sich an die Brust. »Die unter uns, die ihn wirklich kennen, nennen ihn den Trickser. Trickser ist der Name, den er sich wirklich verdient hat. Wir gaben ihm den Namen Wind des Todes, damit andere es hören und es die Herzen der Feinde mit Grausen erfüllen sollte. Einige Leute auf unserer Seite haben sich den Namen zu Herzen genommen. Da deine Mutter die Gabe besaß, kannst du vielleicht, verstehen, daß die Leute manchmal die mit der Magie Begabten grundlos fürchten?« »Und manchmal«, konterte Abby, »sind die mit Magie Begabten wirklich Monster, die das Leben nicht kümmert, das sie vernichten.« Die Mutter Konfessorin sah Abby einen Moment in die Augen und hielt mahnend einen Finger hoch. »Ich werde dir im Vertrauen etwas über Zeddicus Zu´l Zorander erzählen. Solltest du die Geschichte je weitersagen, werde ich dir nie verzeihen, daß du mein Vertrauen mißbraucht hast.« »Das werde ich nicht, aber ich verstehe nicht, wie –« »Hör einfach zu.« Als Abby schweigend abwartete, fuhr die Mutter Konfessorin fort. »Zedd heiratete Erilyn. Sie war eine wunderbare Frau. Wir haben sie alle sehr geliebt, aber nicht so sehr wie er. Sie bekamen eine Tochter.« Abbys Neugier gewann die Oberhand. »Wie alt ist sie?« »Etwa im Alter deiner Tochter«, sagte Delora. Abby schluckte. »Ich verstehe.« »Als Zedd Erster Zauberer wurde, war die Lage niederschmetternd. Panis Rahl hatte die Schattenmenschen beschworen.« »Ich komme aus Coney Crossing. Davon habe ich noch nie gehört.« »Nun, der Krieg war schlimm genug gewesen, aber dann lehrte Panis Rahl seine Zauberer, wie man die Schattenmenschen beschwört.« Die Mutter Konfessorin seufzte ob der Pein, die Geschichte wieder erzählen zu müssen. »Man nennt sie so, weil sie wie Schatten in der Luft sind. Sie haben keine genaue Gestalt oder Form. Sie leben nicht, sondern wurden durch Magie erschaffen. Waffen haben sowenig eine Wirkung auf sie wie auf Rauch. Man kann sich nicht vor den Schattenmenschen verstecken. Sie schweben über Felder oder durch Wälder auf dich zu. Sie finden dich., Wenn sie jemanden berühren, bekommt er Blasen am ganzen Körper und schwillt an, bis die Haut aufplatzt. Sie sterben unter Schmerzensschreien. Nicht einmal die Gabe kann jemand heilen, der von einem Schattenmenschen berührt wurde. Wenn die Feinde angriffen, schickte deren Zauberer die Schattenmenschen voraus. Am Anfang wurden ganze Bataillone unserer tapferen jungen Soldaten bis auf den letzten Mann getötet. Wir sahen keine Hoffnung. Es war unsere schwärzeste Stunde.« »Und Zauberer Zorander gelang es, sie aufzuhalten?« fragte Abby. Die Mutter Konfessorin nickte. »Er studierte das Problem und beschwor danach die Schlachthörner. Ihr Zauber fegte die Schattenmenschen hinfort wie Rauch im Wind. Die Magie der Hörner wand sich auch durch den Zauber zurück, suchte seine Urheber und tötete sie. Aber die Hörner sind nicht narrensicher, und Zedd muß ihre Magie unablässig verändern, um Schritt zu halten mit den Änderungen, die der Feind vornimmt. Panis Rahl beschwor auch noch anderen Zauber: Fieber und Krankheit, schleichende Seuchen, Nebel, die Blindheit verursachen – alle möglichen Schrecken. Zedd arbeitete Tag und Nacht und konnte sie alle parieren. Solange Panis Rahls Magie in Schach gehalten wurde, konnten unsere Soldaten wieder gleichberechtigt kämpfen. Nur wegen Zauberer Zorander hat sich das Kriegsglück gewendet.« »Nun, das alles ist sehr gut, aber –« Die Mutter Konfessorin hob wieder den Finger und verlangte Stille. Abby hielt den Mund, während die Frau die Hand sinken ließ und fortfuhr: »Panis Rahl war wütend über das, was Zedd getan hatte. Er versuchte, ihn zu töten, was ihm nicht gelang, daher schickte er statt dessen ein Quadron, um Erilyn zu töten.« »Ein Quadron? Was ist ein Quadron?« »Ein Quadron«, antwortete die Hexenmeisterin, »ist eine Einheit von vier speziell ausgebildeten Attentätern unter dem, Schutz eines Zaubers von demjenigen, der sie geschickt hat: Panis Rahl. Ihre Aufgabe ist nicht nur, das Opfer zu töten, sondern es unbeschreiblich grausam und brutal zu tun.« Abby schluckte. »Und haben sie .seine Frau ermordet?« Die Mutter Konfessorin beugte sich näher zu ihr. »Schlimmer. Sie ließen sie mit gebrochenen Armen und Beinen liegen, so daß sie noch lebend gefunden wurde.« »Lebend?« flüsterte Abby. »Warum sollten sie sie am Leben lassen, wenn es ihre Aufgabe war, sie zu töten?« »Damit Zedd sie verstümmelt und blutend und in unbeschreiblichen Schmerzen finden sollte. Sie konnte nur noch in Liebe seinen Namen flüstern.« Die Mutter Konfessorin beugte sich noch näher herüber. Abby konnte den Atem der geflüsterten Worte der Frau an der Wange spüren. »Als er seine Gabe einsetzte und versuchte, sie zu heilen, wurde der Fluch der Würmer aktiviert.« Abby mußte sich zwingen zu blinzeln. »Fluch der Würmer .?« »Kein Zauberer wäre imstande gewesen, ihn zu entdecken.« Die Mutter Konfessorin formte die Finger vor Abbys Bauch zur Klaue und machte mit der Hand eine reißende Bewegung davon weg. »Der Zauberspruch zerriß ihr Innerstes. Weil er die heilende Gabe der Magie angewendet hatte, starb sie schreiend unter Qualen, während er hilflos neben ihr kniete.« Abby zuckte zusammen, faßte sich selbst an den Bauch und konnte die Verletzung fast spüren. »Das ist schrecklich.« Die violetten Augen der Mutter Konfessorin blickten ungerührt. »Das Quadron hat auch ihre Tochter mitgenommen. Die Tochter, die alles mit angesehen hatte, was sie ihrer Mutter angetan hatten.« Abby spürte, wie ihr Tränen in den Augen brannten. »Sie haben das auch seiner Tochter angetan?« »Nein«, sagte die Mutter Konfessorin. »Sie halten sie gefangen.« »Dann lebt sie noch? Es besteht noch Hoffnung?«, Das weiße Satinkleid der Mutter Konfessorin raschelte leise, als sie sich an das Marmorgeländer zurücklehnte und die Hände in den Schoß legte. »Zedd hat das Quadron verfolgt. Er fand sie, aber seine Tochter war anderen gegeben worden, und die übergaben sie wieder an andere, und so weiter, bis niemand eine Ahnung hatte, wer sie nun gefangenhielt oder wo sie war.« Abby sah zu der Hexenmeisterin und wieder zur Mutter Konfessorin zurück. »Was hat Zauberer Zorander mit dem Quadron gemacht?« »Nicht weniger als das, was ich auch getan hätte.« Die Mutter Konfessorin betrachtete sie mit einer Maske kalter Wut. »Er ließ sie bedauern, daß sie je geboren wurden. Er ließ es sie sehr, sehr lange bedauern.« Abby erschrak. »Ich verstehe.« Während die Mutter Konfessorin tief durchatmete, um sich zu beruhigen, setzte die Hexenmeisterin die Geschichte fort. »Während wir uns hier unterhalten, wendet Zauberer Zorander einen Zauberspruch an, den keiner von uns versteht; er hält Panis Rahl in seinem Palast in D´Hara fest. Er hilft, die Magie abzuwenden, die Rahl gegen uns beschwören kann, und ermöglicht unseren Männern, seine Soldaten dorthin zurückzutreiben, von wo sie gekommen sind. Aber Panis Rahl wird verzehrt von Haß auf den Mann, der seine Eroberung der Midlands vereitelt hat. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Anschlag auf das Leben von Zauberer Zorander versucht wird. Rahl schickt gefährliche und abscheuliche Menschen jeder Art. Sogar die Mord-Sith.« Abby stockte der Atem. Diesen Ausdruck hatte sie schon einmal gehört. »Was sind Mord-Sith?« Die Hexenmeisterin strich ihr glänzendes schwarzes Haar zurück und sah sich mit einem mörderischen Ausdruck um. »Mord-Sith sind Frauen, die neben einer roten Lederuniform einen einzigen langen Zopf als Zeichen ihres Gewerbes tragen. Sie sind darauf trainiert, alle Begabten zu foltern und zu töten. Wenn ein Begabter seine Magie gegen eine Mord-Sith anwendet,, kann sie den Zauber einfangen und gegen seinen Urheber wenden. Einer Mord-Sith kann man nicht entkommen.« »Aber jemand, der so mächtig ist wie Zauberer Zorander, kann doch gewiß –« »Selbst er wäre verloren, wollte er Magie gegen eine Mord-Sith anwenden«, sagte die Mutter Konfessorin. »Eine Mord-Sith kann man mit gewöhnlichen Waffen besiegen – aber nicht mit Magie. Nur die Magie einer Konfessorin funktioniert bei ihnen. Ich habe zwei getötet. Zum Teil wegen der brutalen Ausbildung der Mord-Sith sind sie seit Menschengedenken gesetzlos, aber in D´Hara existiert die abscheuliche Tradition, junge Frauen zu entführen und zu Mord- Sith zu machen, bis auf den heutigen Tag. D´Hara ist ein fernes und verschlossenes Land. Wir wissen nicht viel darüber, abgesehen von dem, was wir durch unglückselige Erfahrung gelernt haben. Mord-Sith haben einige unserer Zauberer und Hexenmeisterinnen gefangengenommen. Und wenn sie gefangen sind, können sie sich nicht selbst töten, noch können sie entkommen. Bevor sie sterben, geben sie alles preis, was sie wissen. Panis Rahl kennt unsere Pläne. Uns wiederum ist es gelungen, mehrere hochrangige D´Haraner in unsere Gewalt zu bekommen, und wir wissen durch die Berührung der Konfessorinnen, wie sehr wir verraten wurden. Die Zeit arbeitet gegen uns.« Abby wischte sich die Handflächen an den Oberschenkeln ab. »Und dieser Mann, der getötet wurde, bevor ich den Zauberer sprechen durfte, der kann kein Attentäter gewesen sein; seine beiden Begleiter durften gehen.« »Nein, er war kein Attentäter.« Die Mutter Konfessorin faltete die Hände. »Ich glaube, Panis Rahl weiß von dem Zauber, den Zauberer Zorander gefunden hat, und daß er das Potential besitzt, ganz D´Hara zu vernichten. Panis Rahl trachtet verzweifelt danach, Zauberer Zorander aus dem Weg zu räumen.«, Aufgeweckte Intelligenz schien in den violetten Augen der Mutter Konfessorin zu leuchten. Abby wandte sich ab und zupfte an einer Strohfaser ihres Sacks. »Aber ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat, daß er sich weigert, meine Tochter zu retten. Er hat eine Tochter. Würde er nicht alles tun, um sie zurückzubekommen? Würde er nicht tun, was immer er tun muß, damit seine Tochter wohlbehalten zu ihm zurückkehrt?« Die Mutter Konfessorin senkte den Kopf und strich sich mit den Fingern über die Stirn, als wollte sie einen bohrenden Schmerz wegmassieren. »Der Mann, der vor dir kam, war ein Bote. Seine Botschaft war durch so viele Hände gegangen, daß sie nicht bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden konnte.« Abby spürte kalte Gänsehaut auf den Armen. »Was war das für eine Botschaft?« »Die Haarlocke, die er mitbrachte, stammte von Zedds Tochter. Panis Rahl hat Zedd angeboten, das Leben seiner Tochter zu schonen, wenn Zedd sich ergibt, damit Panis Rahl ihn hinrichten lassen kann.« Abby umklammerte ihren Sack. »Aber würde ein Vater, der seine Tochter liebt, nicht selbst das tun, um ihr Leben zu retten?« »Um welchen Preis?« flüsterte die Mutter Konfessorin. »Um den Preis des Lebens aller, die ohne seine Hilfe sterben werden? Er konnte so etwas Egoistisches nicht tun, nicht einmal, um das Leben des Menschen zu retten, den er mehr als alle anderen liebt. Bevor er deiner Tochter die Hilfe verweigerte, hatte er gerade dieses Angebot abgelehnt und damit seine eigene unschuldige Tochter zum Tode verurteilt.« Abby spürte, wie ihre Hoffnungen in bodenlose Schwärze fielen. Beim Gedanken an Janas Angst und Schrecken, an die Schmerzen, die sie erleiden mußte, wurde Abby schwindlig und übel. Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. »Aber ich bitte ihn ja nicht, alle anderen zu opfern, um sie zu retten.« Die Hexenmeisterin berührte Abby sanft an der Schulter. »Er glaubt, diesen Leuten ihr Leid zu ersparen würde bedeuten, die, D´Haraner entkommen zu lassen, damit sie am Ende noch mehr Menschen töten können.« Abby suchte verzweifelt nach einer Lösung. »Aber ich habe einen Knochen.« Die Hexenmeisterin seufzte. »Abigail, die Hälfte aller Leute, die einen Zauberer sprechen wollen, bringen einen Knochen mit. Schwindler überzeugen die Bittsteller, daß es sich um einen echten Knochen handelt. Verzweifelte Leute wie du kaufen sie.« »Die meisten, die einen Zauberer aufsuchen, wollen, daß er ihnen irgendwie ein Leben frei von Magie schenkt«, sagte die Mutter Konfessorin. »Die meisten Menschen fürchten Magie, aber ich glaube, angesichts der Art und Weise, wie die Magie von D´Hara eingesetzt wird, wollen sie mehr als alles andere, nie mehr mit Magie konfrontiert zu werden. Ein ironischer Grund, einen Knochen zu kaufen, und doppelt ironisch, daß sie einen falschen Knochen kaufen und überzeugt sind, sie besitzen Magie, um ihre Bitte vorzutragen, von der Magie befreit zu werden.« Abby blinzelte. »Aber ich habe keinen Knochen gekauft. Dies ist eine wahre Schuld. Meine Mutter hat mir auf ihrem Totenbett davon erzählt. Sie sagte, daß Zauberer Zorander selbst darin eingebunden ist.« Die Hexenmeisterin kniff skeptisch die Augen zusammen. »Abigail, eine wahre Schuld dieser Art ist höchst selten. Vielleicht war es ein Knochen, den sie besaß, und du hast nur gedacht ..« Abby hielt den Sack auf, damit die Hexenmeisterin hineinsehen konnte. Die Hexenmeisterin sah hinein und verstummte. Die Mutter Konfessorin sah ebenfalls hinein. »Ich weiß, was meine Mutter mir gesagt hat«, beharrte Abby. »Sie sagte mir auch, wenn Zweifel bestünden, müßte er die Probe aufs Exempel machen; dann wüßte er, daß es stimmt, denn die Schuld wurde ihm von seinem Vater übertragen.« Die Hexenmeisterin strich über die Perlen an ihrem Kragen. »Er könnte ihn auf die Probe stellen. Wenn es stimmt, wird er es wissen. Aber auch wenn es eine wahre Schuld sein sollte,, bedeutet das nicht, daß diese Schuld jetzt zurückgezahlt werden muß.« Abby beugte sich kühn zu der Hexenmeisterin. »Meine Mutter sagte, daß es eine wahre Schuld ist und beglichen werden muß. Bitte, Delora, Ihr wißt, was es damit auf sich hat. Ich war so verwirrt, als ich ihm gegenüberstand und die ganzen Leute durcheinandergebrüllt haben. Ich habe dummerweise vergessen, meinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, indem ich ihn aufforderte, die Probe durchzuführen.« Sie drehte sich um und ergriff den Arm der Mutter Konfessorin. »Bitte, helft mir, ja? Erzählt ihm, was ich habe, und bittet ihn, es zu prüfen.« Die Mutter Konfessorin dachte mit leerer Miene nach. Schließlich ergriff sie das Wort. »Es geht hier um eine durch Magie besiegelte Schuld. Darüber muß ernstlich nachgedacht werden. Ich werde deinetwegen mit Zauberer Zorander sprechen und bitten, daß er dir eine Privataudienz gewährt.« Abby kniff die Augen zu, als frische Tränen flossen. »Danke.« Sie barg das Gesicht in beiden Händen und schluchzte erneut, weil die Flamme der Hoffnung wieder entzündet worden war. Die Mutter Konfessorin hielt Abby an den Schultern. »Ich sagte, ich werde es versuchen. Vielleicht lehnt er die Bitte ab.« Die Hexenmeisterin lachte ein humorloses Lachen. »Unwahrscheinlich. Ich werde ihn ebenfalls am Ohr ziehen. Aber, Abigail, das bedeutet nicht, daß wir ihn überzeugen können, dir zu helfen – Knochen hin oder her.« Abby strich sich über die Wange. »Ich verstehe. Aber ich danke Euch beiden. Danke Euch beiden für Euer Verständnis.« Die Hexenmeisterin wischte Abby mit dem Daumen eine Träne vom Kinn. »Man sagt, die Tochter einer Hexenmeisterin ist die Tochter aller Hexenmeisterinnen.« Die Mutter Konfessorin stand auf und strich sich das weiße Kleid glatt. »Delora, vielleicht solltest du Abigail zu einem Gasthaus für reisende Frauen bringen. Sie könnte Ruhe brauchen. Hast du Geld, Kind?« »Ja, Mutter Konfessorin.«, »Gut. Delora wird dir ein Zimmer für die Nacht besorgen. Kehre kurz vor Sonnenaufgang zur Feste zurück. Wir werden dich dort empfangen und wissen lassen, ob wir Zedd überzeugen konnten, deinen Knochen zu prüfen.« »Ich werde zu den guten Geistern beten, daß Zauberer Zorander mich empfangen und meiner Tochter helfen wird.« Plötzlich empfand Abby Scham angesichts ihrer eigenen Worte. »Und ich werde auch für seine Tochter beten.« Die Mutter Konfessorin legte die Hände an Abbys Wangen. »Bete für uns alle, Kind. Bete, daß Zauberer Zorander die Magie gegen D´Hara einsetzt, bevor es für alle Kinder der Midlands zu spät ist – jung und alt gleichermaßen.« Auf dem Weg in die Stadt lenkte Delora das Gespräch weg von Abbys Sorgen und Hoffnungen und davon, was die Magie für beide bedeuten konnte. In gewisser Weise erinnerte das Gespräch mit der Hexenmeisterin Abby an Gespräche mit ihrer Mutter. Hexenmeisterinnen mieden Gespräche über Magie mit Unbegabten, Tochter hin oder her. Abby hatte das Gefühl, das Thema wäre ihnen unangenehm, wie bei Abby, als Jana sie gefragt hatte, wie Kinder in den Bauch einer Mutter kamen. Obwohl es schon spät war, wimmelte es auf den Straßen von Menschen. Auf allen Seiten hörte Abby besorgte Mutmaßungen über den Krieg. An einer Ecke unterhielten sich Frauen unter Tränen über Männer, die seit Monaten fort waren, ohne daß man Nachricht über ihr Schicksal hatte. Delora führte Abby eine Marktstraße hinab und ließ sie einen kleinen Laib Brot kaufen, in den Fleisch und Oliven gleich eingebacken waren. Eigentlich hatte Abby gar keinen Hunger. Die Hexenmeisterin nahm ihr das Versprechen ab, daß sie essen würde. Da Abby nichts tun wollte, das sie in Ungnade fallen lassen konnte, versprach sie es. Das Gasthaus lag in einer Nebenstraße mit dicht gedrängten Gebäuden. Der Lärm des Markts hallte durch die schmale Straße und drang so mühelos wie eine Meise im dichten Wald um, Gebäude herum und durch winzige Innenhöfe. Abby fragte sich, wie die Menschen es aushalten konnten, so dicht beisammen zu leben und nichts anderes zu sehen als andere Häuser und Menschen. Sie fragte sich auch, wie sie bei all den seltsamen Geräuschen und dem Lärm schlafen sollte, denn selbst in den totenstillen Nächten auf dem Land hatte sie schlecht geschlafen, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Die Hexenmeisterin sagte Abby gute Nacht und gab sie in die Hände einer mürrischen und wortkargen Frau, die sie zu einem Zimmer am Ende eines langen Flurs führte und sie, nachdem sie eine Silbermünze kassiert hatte, ihrer Nachtruhe überließ. Abby setzte sich auf die Bettkante und sah sich im Schein einer kleinen Lampe auf einem Regal neben dem Bett in dem winzigen Zimmer um, während sie an dem Brotlaib knabberte. Das Fleisch im Inneren war hart und sehnig, schmeckte aber nicht schlecht und war mit Salz und Knoblauch gewürzt. Das Zimmer hatte kein Fenster, weshalb es nicht so laut war, wie Abby befürchtet hatte. Es gab keinen Riegel an der Tür, aber die Haushälterin hatte ihr murmelnd versichert, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, weil keine Männer in dem Haus geduldet wurden. Abby legte das Brot beiseite und wusch sich das Gesicht an einem einfachen Becken auf einem simplen Ständer zwei Schritte von ihr entfernt. Sie war überrascht, wie schmutzig das Wasser wurde. Sie drehte die Schraube an der Lampe und zog den Docht so weit wie möglich ein, ohne die Flamme zu löschen; sie schlief an einem fremden Ort nicht gern im Dunkeln. Als sie im Bett lag und zu der wasserfleckigen Decke emporstarrte, betete sie inbrünstig zu den guten Geistern, obwohl sie wußte, daß diese eine Bitte, wie sie sie äußerte, ignorieren würden. Sie machte die Augen zu und betete auch für Zauberer Zoranders Tochter. Ihre Gebete wurden von schleichenden Ängsten unterbrochen, die den Eindruck erweckten, als würden sie ihr Innerstes wund kratzen., Sie wußte nicht, wie lange sie im Bett gelegen und sich gewünscht hatte, daß der Schlaf kommen möge, daß der Morgen kommen möge, als die Tür leise quietschend aufging. Ein Schatten fiel auf die Wand gegenüber. Abby erstarrte mit weit aufgerissenen Augen und hielt den Atem an, während sie sah, wie eine geduckte Gestalt zum Bett schlich. Es war nicht die Haushälterin. Die wäre größer gewesen. Abby umklammerte die kratzige Decke mit den Fingern und überlegte, daß sie sie auf den Eindringling werfen und zur Tür laufen könnte. »Hab keine Angst, Herzchen. Ich bin nur gekommen, um zu fragen, ob du droben in der Feste erfolgreich gewesen bist.« Abby holte Luft und richtete sich im Bett auf. »Mariska?« Es war die alte Frau, die den ganzen Tag mit ihr vor der Feste gewartet hatte. »Ich habe vor Angst fast die Besinnung verloren!« Die kleine Flamme der Lampe wurde in den stechenden, glänzenden Augen der Frau gespiegelt, die Abbys Gesicht betrachtete. »Es gibt Schlimmeres zu fürchten als deine eigene Sicherheit.« »Was meinst du damit?« Mariska lächelte. Es war kein beruhigendes Lächeln. »Hast du bekommen, was du wolltest?« »Ich habe den Ersten Zauberer gesehen, wenn du das meinst.« »Und was hat er gesagt, Herzchen?« Abby schwang die Füße vom Bett. »Das ist meine Sache.« Das verschlagene Lächeln wurde breiter. »O nein, Herzchen, es ist unsere Sache.« »Was meinst du damit?« »Beantworte die Frage! Du hast nicht mehr viel Zeit. Deine Familie hat nicht mehr viel Zeit.« Abby sprang auf die Füße. »Woher weißt du –« Die alte Frau packte Abbys Handgelenk und drehte es so lange, bis Abby gezwungen war, sich wieder zu setzen. »Was hat der Erste Zauberer gesagt?«, »Er sagte, daß er mir nicht helfen kann. Bitte, das tut weh. Laß mich los.« »Oh, Herzchen, das ist zu schade. Zu schade für deine kleine Jana.« »Woher .woher weißt du von ihr? Ich habe nie –« »Zauberer Zorander hat also dein Gesuch abgelehnt. Traurige Neuigkeiten.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Arme, unglückliche kleine Jana. Du bist gewarnt worden. Du hast den Preis für dein Scheitern gekannt.« Sie ließ Abbys Handgelenk los und wandte sich ab. Abbys Gedanken wirbelten in blinder Panik durcheinander, während die Frau zur Tür schlurfte. »Nein! Bitte! Ich werde ihn morgen noch einmal sehen. Bei Sonnenaufgang.« Mariska sah über die Schulter. »Warum? Warum sollte er einwilligen, dich noch einmal zu sehen, nachdem er deine Bitte abgelehnt hat? Wenn du lügst, wirst du deiner Tochter damit nicht mehr Zeit verschaffen. Es wird ihr nichts nützen.« »Es stimmt. Ich schwöre es bei der Seele meiner Mutter. Ich habe mit der Hexenmeisterin gesprochen, die uns hineingeführt hat. Ich habe mit ihr und der Mutter Konfessorin gesprochen, nachdem Zauberer Zorander meine Bitte abgelehnt hatte. Sie haben gesagt, daß sie ihn überreden würden, mir eine Privataudienz zu gewähren.« Sie runzelte die Stirn. »Warum sollten sie das tun?« Abby zeigte auf den Sack, der am Fußende des Betts lag. »Ich habe ihnen gezeigt, was ich mitgebracht habe.« Mariska öffnete den Sack mit einem gichtigen Finger. Sie sah einen Moment hinein und rückte näher an Abby heran. »Du hast es Zauberer Zorander noch gar nicht gezeigt?« »Ganz recht. Sie werden mir eine Audienz bei ihm verschaffen. Ich bin ganz sicher. Morgen wird er mich empfangen.«, Mariska zog ein Messer aus ihrer gebauschten Schärpe. Sie bewegte es langsam vor Abbys Gesicht hin und her. »Wir haben es satt, auf dich zu warten.« Abby leckte sich die Lippen. »Aber ich –« »Morgen werde ich nach Coney Crossing aufbrechen. Ich werde aufbrechen und nach deiner ängstlichen kleinen Jana sehen.« Ihre Hand glitt über Abbys Nacken. Finger wie Eichenwurzeln packten ihr Haar und hielten Abbys Kopf fest. »Wenn du ihn mir direkt folgen läßt, wird sie freigelassen, wie dir versprochen wurde.« Abby konnte nicht nicken. »Das werde ich. Ich schwöre es. Ich werde ihn überzeugen. Er ist durch eine Schuld gebunden.« Mariska hielt die Messerspitze so dicht an Abbys Augen, daß sie die Wimpern berührte. Abby wagte nicht, zu blinzeln. »Kommst du zu spät, bohre ich mein Messer in das Auge der kleinen Jana. Steche es aus. Das andere lasse ich ihr, damit sie zusehen kann, wie ich ihrem Vater das Herz herausschneide, damit sie weiß, wie sehr es weh tut, wenn sie an der Reihe ist. Hast du verstanden, Herzchen?« Abby konnte nur bejahend winseln, während Tränen ihr über die Wangen liefen. »Braves Mädchen«, flüsterte Mariska so nahe, daß Abby gezwungen war, den Gestank der Wurst einzuatmen, die sie zum Abendessen gehabt hatte. »Wenn wir auch nur irgendwelche Tricks vermuten, werden sie alle sterben.« »Keine Tricks. Ich beeile mich. Ich werde ihn bringen.« Mariska gab Abby einen Kuß auf die Stirn. »Du bist eine gute Mutter.« Sie ließ Abbys Haar los. »Jana liebt dich. Sie ruft Tag und Nacht nach dir.« Als Mariska die Tür zugemacht hatte, rollte sich Abby auf dem Bett zu einem zitternden Ball zusammen und weinte mit an die Augen gepreßten Knöcheln. Delora beugte sich näher, als sie über die breite Brustwehr schritten. »Geht es dir auch wirklich gut, Abigail?«, Der Wind zerrte an ihren Haaren und wehte sie ihr ins Gesicht. Abby strich es sich aus den Augen und sah auf die große Stadt unten hinab, die sich allmählich aus dem Halbdunkel schälte. Sie hatte ein stummes Gebet zum Geist ihrer Mutter gesprochen. »Ja. Ich hatte nur eine schlimme Nacht. Konnte nicht schlafen.« Auf der anderen Seite drückte die Mutter Konfessorin ihre Schulter an die von Abby. »Das verstehen wir. Er hat immerhin eingewilligt, dich zu empfangen. Das sollte dich ermutigen. Er ist ein guter Mann, wirklich.« »Danke«, flüsterte Abby beschämt. »Ich danke Euch beiden, daß Ihr mir helft.« Die Leute, die auf der Brustwehr warteten – Zauberer, Hexenmeisterinnen, Offiziere und andere –, verstummten alle vorübergehend und verbeugten sich vor der Mutter Konfessorin, wenn die drei Frauen vorbeikamen. Unter mehreren Leuten, die sie vom Vortag kannte, sah Abby auch den Zauberer Thomas, der vor sich hin murmelte und höchst ungeduldig und verbissen aussah, während er mehrere Papiere durchblätterte, die, wie Abby sehen konnte, mit magischen Symbolen bedeckt waren. Am Ende der Brustwehr kamen sie zur Steinfassade eines runden Turms. Über ihnen reichte ein steiles Dach bis dicht über eine Rundbogentür herab. Die Hexenmeisterin klopfte und machte die Tür auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Abbys Stirnrunzeln entging ihr nicht. »Er hört das Klopfen selten«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. Das Zimmer aus Stein war klein, hatte aber eine gemütliche Atmosphäre. Ein rundes Fenster zur Rechten bot Ausblick auf die Stadt tief unten, ein anderes auf der gegenüberliegenden Seite auf die hohen Mauern der Feste, wo die fernsten und höchsten gerade von den ersten schwachen Sonnenstrahlen der Dämmerung beleuchtet wurden. In einem sorgfältig ausgearbeiteten Kandelaber aus Eisen befand sich eine ganze, Armee von Kerzen, die das Zimmer mit einem warmen Leuchten erfüllten. Zauberer Zorander, dessen widerborstiges braunes Haar um sein Gesicht herabhing, hatte sich auf die Hände gestützt und studierte ein Buch, das offen auf dem Tisch lag. Die drei Frauen blieben stehen. »Zauberer Zorander«, verkündete die Hexenmeisterin, »wir bringen Abigail, geboren von Heisa.« »Unsinn, Weib«, grollte der Zauberer, ohne aufzuschauen, »ich habe dein Klopfen gehört, wie immer.« »Komm mir nicht mit Flüchen, Zeddicus Zu´l Zorander«, knurrte Delora zurück. Er beachtete die Hexenmeisterin nicht und rieb sich das glattrasierte Kinn, während er das Buch vor sich studierte. »Willkommen, Abigail.« Abby tastete mit den Fingern den Sack ab. Aber dann kam sie wieder zu Verstand und machte einen Knicks. »Danke, daß Ihr mich empfangt, Zauberer Zorander. Es ist lebenswichtig, daß Ihr mir helft. Wie ich schon sagte, steht das Leben unschuldiger Kinder auf dem Spiel.« Zauberer Zorander schaute endlich hoch. Als er sie eine ganze Weile angesehen hatte, richtete er sich auf. »Wo liegt die Trennlinie?« Abby sah die Hexenmeisterin auf ihrer einen und danach die Mutter Konfessorin auf der anderen Seite an. Keine erwiderte den Blick. »Pardon, Zauberer Zorander? Die Trennlinie?« Der Zauberer runzelte finster die Stirn. »Du deutest an, daß ein Leben aufgrund geringeren Alters einen höheren Wert besitzt. Die Trennlinie, mein liebes Kind, ab wo der Wert eines Lebens geringer wird. Wo ist diese Trennlinie?« »Aber ein Kind –« Er hielt mahnend einen Finger hoch. »Glaub nicht, daß du meine Gefühle ansprechen kannst, indem du mir mit dem Wert des Lebens eines Kindes kommst, als könnte man dem Leben in, bestimmten Altersstufen einen höheren Stellenwert beimessen. Wann ist das Leben weniger wert? Wo liegt die Trennlinie? Bei welchem Alter? Wer entscheidet das? Jedes Leben ist kostbar. Tot ist tot, in welchem Alter auch immer. Glaub nicht, daß du meine Vernunft ausschalten kannst, indem du abgebrüht und berechnend an meine Gefühle appellierst wie ein gewissenloser Amtsinhaber, der die Leidenschaft eines hirnlosen Mobs aufwühlt.« Abby reagierte sprachlos auf diese Standpauke. Der Zauberer richtete seine Aufmerksamkeit auf die Mutter Konfessorin. »Da wir gerade von Bürokraten sprechen – was hatte der Rat zu sagen?« Die Mutter Konfessorin verschränkte die Hände und seufzte. »Ich habe ihnen deine Worte übermittelt. Offen gesagt, es war ihnen egal. Sie wollen, daß es getan wird.« Er grunzte unzufrieden. »Tatsächlich, ja?« Er richtete den Blick auf Abby. »Sieht so aus, als wäre dem Rat selbst das Leben von Kindern gleichgültig, wenn es Kinder aus D´Hara sind.« Er strich sich mit einer Hand über die müden Augen. »Ich kann nicht sagen, daß ich ihre Beweggründe nicht verstehen würde oder uneins mit ihnen bin, aber bei allen guten Geistern, sie sind nicht diejenigen, die es tun müssen. Es wird nicht von ihrer Hand geschehen. Sondern von meiner.« »Ich verstehe das, Zedd«, murmelte die Mutter Konfessorin. Wieder schien er Abby, die vor ihm stand, zur Kenntnis zu nehmen. Er sah sie an, als würde er ein gewichtiges Thema wälzen. Sie wurde ganz zappelig. Er streckte die Hand aus und winkte mit dem Finger. »Dann laß sehen.« Abby kam näher und streckte dabei die Hand in den Sack. »Wenn man Euch nicht überreden kann, unschuldigen Menschen zu helfen, wird Euch das vielleicht etwas mehr sagen.« Sie holte den Schädel ihrer Mutter aus dem Sack und legte ihn auf die Handfläche des Zauberers. »Es ist eine Knochenschuld. Ich erkläre sie hiermit für fällig.«, Eine Braue wurde hochgezogen. »Es ist üblich, nur einen winzigen Knochensplitter mitzubringen, Kind.« Abby spürte, wie sie rot wurde. »Das wußte ich nicht«, stammelte sie. »Ich wollte sicher sein, daß es für die Prüfung ausreicht .sicher sein, daß Ihr mir glauben würdet.« Er strich mit einer Hand sanft über den glatten Schädel. »Ein Stück, das kleiner als ein Sandkorn ist, reicht aus.« Er sah Abby in die Augen. »Hat dir deine Mutter das nicht gesagt?« Abby schüttelte den Kopf. »Sie sagte nur, daß es eine Schuld ist, die von Eurem Vater an Euch weitergegeben wurde. Sie sagte, daß die Schuld beglichen werden muß, wenn sie für fällig erklärt wird.« »Das stimmt wirklich«, flüsterte er. Während er sprach, strich er mit der Hand über den Schädel hin und her. Der Knochen war stumpf und fleckig von der Erde, wo Abby ihn ausgegraben hatte, und nicht so blütenweiß, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihr hatte davor gegraust, die Gebeine ihrer Mutter auszugraben, aber vor der Alternative grauste ihr noch mehr. Unter den Fingern des Zauberers erstrahlte der Schädel in einem weichen, bernsteinfarbenen Licht. Abby blieb fast das Herz stehen, als ein Summen die Luft erfüllte, so als würden die Geister selbst mit dem Zauberer flüstern. Die Hexenmeisterin machte sich an den Perlen an ihrem Hals zu schaffen. Die Mutter Konfessorin biß sich auf die Unterlippe. Abby betete. Zauberer Zorander legte den Schädel auf den Tisch und wandte ihnen den Rücken zu. Das bernsteinfarbene Leuchten erlosch. Da er nichts sagte, brach Abby das bedrückende Schweigen. »Und? Seid Ihr zufrieden? Habt Ihr Euch versichert, daß es eine wahre Schuld ist?« »O ja«, sagte er leise, ohne sich zu ihnen umzudrehen. »Es ist eine wahrhaftige Knochenschuld, durch Magie gebunden, bis sie beglichen wird.«, Abby strich mit den Fingern über den ausgefransten Saum des Sacks. »Ich habe es Euch gesagt. Meine Mutter hätte mich niemals belogen. Sie sagte mir, wenn die Schuld zu Lebzeiten nicht beglichen werden würde, dann würde es nach ihrem Tod eine Knochenschuld werden.« Der Zauberer wandte ihr langsam das runde Gesicht zu. »Und hat sie dir etwas darüber erzählt, wie die Schuld zustande kam?« »Nein.« Abby warf Delora einen verstohlenen Seitenblick zu, ehe sie fortfuhr: »Hexenmeisterinnen hüten Geheimnisse und offenbaren nur das, was ihren Zwecken dienlich ist.« Mit einem knappen, flüchtigen Lächeln bekundete er grunzend seine Zustimmung. »Sie sagte nur, daß sie und Euer Vater an die Schuld gebunden seien und sie bis zur Begleichung auf die jeweiligen Nachfahren übergehen würde.« »Deine Mutter hat die Wahrheit gesagt. Aber das bedeutet nicht, daß die Schuld jetzt beglichen werden muß.« »Es ist eine feierliche Knochenschuld.« Abbys Angst und Hilflosigkeit machten sich mit Gewalt Luft. »Ich erkläre sie für fällig! Ihr werdet Euch an die Verpflichtung halten!« Die Mutter Konfessorin und die Hexenmeisterin sahen zur Wand und schienen nervös zu sein, daß eine Frau, eine Frau ohne die Gabe, dem Ersten Zauberer gegenüber die Stimme hob. Abby fragte sich plötzlich, ob sie für diese Dreistigkeit tot umfallen würde. Aber wenn er ihr nicht half, wäre das sowieso einerlei. Die Mutter Konfessorin vereitelte die möglichen Folgen von Abbys Aufbrausen mit einer Frage. »Zedd, hat deine Betrachtung dir etwas über das Zustandekommen dieser Schuld verraten?« »In der Tat«, sagte er. »Auch mein Vater erzählte mir etwas von einer Schuld. Meine Prüfung hat ergeben, daß dies die Schuld ist, von der er gesprochen hat, und die Frau, die vor mir steht, die andere Hälfte des Bundes darstellt.« »Und wie kam sie zustande?« Er hob die Arme. »Das ist mir entfallen. Tut mir leid, ich habe festgestellt, daß ich in letzter Zeit vergeßlicher bin als sonst.«, Delora schniefte. »Und du wagst es, Hexenmeisterinnen verschlossen zu nennen.« Zauberer Zorander dachte einen Moment nach und drehte sich dann mit zusammengekniffenen Augen zur Mutter Konfessorin um. »Der Rat möchte, daß es getan wird, ja?« Er lächelte verschlagen. »Dann soll es geschehen.« Die Mutter Konfessorin legte den Kopf schief. »Zedd .bist du dir deiner Sache ganz sicher?« »Welcher Sache?« fragte Abby. »Werdet Ihr die Schuld anerkennen oder nicht?« Der Zauberer zuckte die Achseln. »Du hast verkündet, daß die Schuld fällig ist.« Er nahm ein kleines Buch vom Tisch und steckte es in eine Tasche seines Gewands. »Wer bin ich, dem zu widersprechen?« »Gute Geister«, flüsterte die Mutter Konfessorin bei sich, »Zedd, nur weil der Rat –« »Ich bin nur ein Zauberer«, sagte er und schnitt ihr das Wort ab, »der den Ansinnen und Wünschen des Volkes dient.« »Aber wenn du dorthin reist, wirst du dich unnötig in Gefahr begeben.« »Ich muß nahe der Grenze sein – sonst werde ich auch Teile der Midlands gefährden. Coney Crossing ist so gut wie jeder andere Ort, um den Flächenbrand zu entfachen.« Abby, die außer sich vor Erleichterung war, hörte kaum mehr etwas von dem, was er sagte. »Danke, Zauberer Zorander. Danke.« Er kam um den Tisch herum und hielt sie mit schlanken, überraschend kräftigen Fingern an den Schultern. »Wir beide sind einander durch eine Knochenschuld verbunden. Die Pfade unserer Leben haben sich gekreuzt.« Sein Lächeln sah traurig und aufrichtig zugleich aus. Seine kräftigen Finger wurden um ihr Handgelenk geschlossen, um den Armreif, und er legte ihr den Schädel ihrer Mutter in die Hand. »Bitte, Abby, nenn mich Zedd.« Sie nickte, den Tränen nahe. »Danke, Zedd.«, Draußen wurden sie im Licht der Dämmerung von der wartenden Menge empfangen. Zauberer Thomas winkte mit seinen Papieren und drängte sich durch. »Zorander! Ich habe diese Elemente studiert, die du zur Verfügung gestellt hast. Ich muß mit dir reden!« »Dann rede«, sagte der Erste Zauberer im Vorübergehen. Die Menge folgte ihm auf dem Fuß. »Das ist Wahnsinn.« »Ich habe nie etwas anderes behauptet.« Zauberer Thomas schüttelte die Papiere wie als Beweis. »Das kannst du nicht machen, Zorander!« »Der Rat hat entschieden, daß es geschehen soll. Der Krieg muß beendet werden, solange wir noch die Oberhand haben und bevor Panis Rahl mit etwas ankommt, das wir nicht konterkarieren können.« »Nein, ich meine, ich habe dieses Ding studiert, und du wirst nicht fähig sein, es zu vollbringen. Wir verstehen die Mächte nicht, die diese Zauberer beherrscht haben. Ich habe die Elemente durchgesehen, die du mir gezeigt hast. Allein schon der Versuch, so etwas zu beschwören, wird eine ungeheure Hitze erzeugen.« Zedd blieb stehen und brachte sein Gesicht dicht an das von Thomas heran. Er zog in gespielter Überraschung die Brauen hoch. »Wirklich, Thomas? Glaubst du? Einen Lichtzauber zu zünden, der das Gewebe der Welt der Lebenden aufreißt, könnte eine Instabilität der Elemente des Netzfelds erzeugen?« Thomas lief hinterher, als Zedd davonstürmte. »Zorander! Du wirst es nicht beherrschen können! Wenn du imstande wärst, es zu beschwören – und ich sage nicht, daß ich es für möglich halte –, wirst du die Grazie brechen. Die Beschwörung braucht Hitze. Die Bruchstelle erzeugt sie. Du wirst die Sturzflut nicht eindämmen können. Niemand kann so etwas tun!« »Ich kann es«, murmelte der Erste Zauberer. Thomas schüttelte wütend die Faust mit den Papieren. »Zorander, deine Arroganz wird unser aller Untergang sein! Ist, der Schleier erst einmal geteilt, wird er zerreißen, und alles Leben wird verzehrt werden. Ich verlange, das Buch zu sehen, in dem du diesen Zauberspruch gefunden hast. Ich will es mit eigenen Augen sehen. Das ganze Ding, nicht nur Teile davon!« Der Erste Zauberer blieb stehen und hob einen Finger. »Thomas, wenn geschrieben stünde, daß du dieses Buch sehen sollst, dann wärst du Erster Zauberer geworden und würdest Zugang zur Privatenklave des Ersten Zauberers haben. Aber du bist es nicht, und darum hast du ihn auch nicht.« Thomas´ Gesicht leuchtete scharlachrot über dem weißen Bart. »Das ist eine närrische Verzweiflungstat.« Zauberer Zorander schnippte mit dem Finger. Die Papiere flogen dem alten Zauberer aus der Hand und vereinigten sich zu einem Wirbelwind, ehe sie entflammten und zu Asche verbrannten, die der Wind verwehte. »Manchmal, Thomas, bleibt einem nur eine Verzweiflungstat. Ich bin der Erste Zauberer und werde tun, was ich tun muß. Ende der Diskussion. Ich will nichts mehr hören.« Er drehte sich um und zupfte einen Offizier am Ärmel. »Alarmieren Sie die Lanzenreiter. Trommeln Sie die gesamte verfügbare Kavallerie zusammen. Wir brechen unverzüglich ins Pendisanische Reich auf.« Der Mann klopfte einen raschen Salut an die Brust und lief davon. Ein anderer Offizier, der älter und weitaus ranghöher aussah, räusperte sich. »Zauberer Zorander, dürfte ich Ihren Plan erfahren?« »Anargo«, sagte der Erste Zauberer, »ist die rechte Hand von Panis Rahl und beschwört zusammen mit Rahl den Tod, der uns verfolgt. Einfach ausgedrückt, habe ich vor, den Tod zu ihnen zurückzuschicken.« »Indem Ihr die Lanzenreiter ins Pendisanische Reich führt?« »Ja. Anargo hat sich bei Coney Crossing verschanzt. General Brainard dringt nach Norden zum Pendisanischen Reich vor, General Sanderson marschiert nach Süden, um ihre Kräfte zu vereinen, und Mardale nähert sich von Südwesten. Wir werden, mit den Lanzenreitern und allen, die noch zu uns stoßen können, dorthin vorstoßen.« »Anargo ist kein Narr. Wir wissen nicht, wie viele andere Zauberer und Begabte er bei sich hat, aber wir wissen wohl, wozu er fähig ist. Sie haben uns immer wieder bluten lassen. Wenigstens konnten wir ihnen einen Schlag versetzen.« Der Offizier wählte seine Worte mit Bedacht. »Was meint Ihr, warum sie warten? Warum ziehen sie sich nicht einfach nach D´Hara zurück?« Zedd stützte sich mit einer Hand an die Zinnenmauer und ließ den Blick über die Stadt in der Dämmerung schweifen. »Anargo genießt das Spiel. Er spielt es mit höchster Dramatik; er will uns glauben machen, daß sie verwundet sind. Das Pendisanische Reich ist die einzige Gegend in jenen Bergen, wo eine Armee mit einer gewissen Geschwindigkeit operieren kann. Coney Crossing bietet ein großes Schlachtfeld, aber nicht groß genug, daß wir ohne Probleme manövrieren oder sie in die Zange nehmen können. Er versucht uns eine Falle zu stellen.« Der Offizier schien nicht überrascht zu sein. »Aber warum?« Zedd sah den Offizier über die Schulter an. »Offensichtlich glaubt er, daß er uns in diesem Gelände besiegen kann. Ich glaube etwas anderes. Er weiß, daß wir nicht dulden können, daß die Bedrohung dort bleibt, und er kennt unsere Pläne. Er will mich hinlocken, töten und die Bedrohung beenden, die ich allein für sie darstelle.« »Also ..«, überlegte der Offizier laut, »wollt Ihr damit sagen, daß sich das Risiko aus Anargos Sicht lohnt.« Zedd ließ den Blick erneut über die Stadt unter der Feste der Zauberer schweifen. »Wenn Anargo recht hat, könnte er bei Coney Crossing den Endsieg davontragen. Wenn er mich ausgeschaltet hat, wird er seine Begabten von der Leine lassen, die Mehrheit unserer Streitmacht an einer Stelle niedermetzeln und dann praktisch ohne Gegenwehr ins Herz der Midlands vorstoßen: Aydindril., Anargo hat vor, mich zu töten, unsere gemeinsame Armee aufzureiben, die Menschen der Midlands in Ketten zu legen und Panis Rahl die Peitsche zu übergeben, noch bevor der erste Schnee fällt.« Der Offizier starrte ihn bestürzt an. »Und Ihr habt vor, genau das zu tun, was sich Anargo erhofft, dorthin zu gehen und Euch ihm zu stellen?« Zedd zuckte die Achseln. »Welche Wahl habe ich?« »Und wißt Ihr wenigstens, auf welche Weise Anargo Euch töten will, damit wir Vorkehrungen treffen können? Gegenmaßnahmen?« »Ich furchte, nein.« Er winkte achtlos mit der Hand und beendete das Gespräch. Er wandte sich an Abby. »Die Lanzenreiter haben schnelle Pferde. Wir werden reiten, was das Zeug hält und deine Heimat bald erreicht haben – wir werden rechtzeitig dort sein – und uns dann um unsere Angelegenheit kümmern.« Abby nickte nur. Sie konnte weder der Erleichterung über die Gewährung ihrer Bitte Ausdruck verleihen, noch die Scham darüber in Worte fassen, daß ihr Gebet erhört worden war. Am schlimmsten aber fand sie, daß sie nicht dem Entsetzen darüber Luft machen konnte, was sie tat, denn sie kannte die Pläne der D´Haraner. Fliegen schwärmten um getrocknete Fetzen von Eingeweiden, und mehr war nicht mehr von Abbys preisgekrönten Bartschweinen übrig. Offenbar waren selbst die Zuchttiere, die Abbys Eltern ihr als Hochzeitsgeschenk gegeben hatten, abgeschlachtet und gestohlen worden. Abbys Eltern hatten auch den Mann für sie ausgesucht. Abby hatte ihn vorher nie kennengelernt: Er stammte aus der Stadt Lynford, wo ihre Mutter und ihr Vater die Schweine kauften. Abby war außer sich vor Nervosität gewesen, wen ihre Eltern ihr als Mann aussuchen würden. Sie hatte gehofft, daß es ein, fröhlicher Mann sein würde – ein Mann, dem selbst die Schwierigkeiten des Lebens ein Lächeln entlocken konnten. Als sie Philip zum erstenmal sah, glaubte sie, daß er der ernsteste Mann der Welt sein mußte. Sein jugendliches Gesicht sah aus, als hätte er nicht einmal gelächelt. In der Nacht nach ihrer ersten Begegnung hatte sie sich in den Schlaf geweint beim Gedanken, ihr Leben mit einem so ernsten Mann verbringen zu müssen. Sie glaubte, daß ihr Leben von den spitzen Zinken eines grimmigen Schicksals aufgespießt wurde. Abby fand heraus, daß Philip ein schwer arbeitender Mann war, der das Leben mit einem breiten Grinsen betrachtete. Später erfuhr sie, daß er an jenem ersten Tag, als sie ihn kennenlernte, nur deshalb ein so ernstes Gesicht gemacht hatte, damit seine neue Familie ihn nicht für einen Taugenichts hielt, der ihrer Tochter nicht würdig war. Binnen kurzer Zeit wußte Abby, daß Philip ein Mann war, auf den sie sich verlassen konnte. Als Jana geboren wurde, liebte sie ihn. Und nun waren Philip und so viele andere von ihr abhängig. Abby säuberte sich die Hände, nachdem sie die Gebeine ihrer Mutter erneut zur Ruhe gebettet hatte. Sie sah, daß die Zäune, die Philip so oft ausgebessert hatte, allesamt niedergerissen worden waren. Als sie um das Haus herumkam, stellte sie fest, daß das Scheunentor fehlte. Alles, was Mensch oder Tier essen konnten, war verschwunden. Abby konnte sich nicht erinnern, daß sie ihr Zuhause jemals so ausgeplündert gesehen hatte. Spielt keine Rolle, sagte sie sich. Es spielte keine Rolle, wenn nur Jana zu ihr zurückgebracht wurde. Zäune konnte man ausbessern. Schweine konnte man irgendwie ersetzen, eines Tages. Jana konnte man nie ersetzen. »Abby«, fragte Zedd, während er die Ruine ihres Hauses in Augenschein nahm, »wie kommt es, daß dein Mann und deine Tochter und alle anderen gefangengenommen wurden, nur du nicht?« Abby trat durch den zerbrochenen Türrahmen ein und fand, daß ihr Haus noch nie so klein gewirkt hatte. Bevor sie nach, Aydindril gegangen war, zur Feste der Zauberer, hatte ihr Haus so groß gewirkt, wie sie es sich nur vorstellen konnte. Hier hatte Philip gelacht und das schlichte Zimmer mit seinem Trost und seinen Gesprächen erfüllt. Mit Holzkohle hatte er für Jana Tiere auf den Kamin gemalt. Abby zeigte auf eine Luke. »Unter dieser Tür ist der Wurzelkeller. Da war ich, als ich alles gehört habe, was ich Euch berichtet habe.« Zedd strich mit der Stiefelspitze über das Astloch, das als Griff diente, um die Klappe zu öffnen. »Sie haben deinen Mann und deine Tochter mitgenommen, und du bist da unten geblieben? Als deine Tochter nach dir geschrien hat, bist du ihr nicht zu Hilfe geeilt?« Abby bezwang ihr Unbehagen. »Ich wußte, wenn ich heraufkam, würden sie mich auch erwischen. Ich wußte, die einzige Chance für meine Familie bestand darin, daß ich wartete und dann Hilfe holen ging. Meine Mutter hat mir einmal gesagt, daß auch eine Hexenmeisterin nichts weiter als eine Närrin sei, wenn sie sich wie eine benähme. Sie sagte mir immer, daß ich zuerst über alles nachdenken müßte.« »Ein guter Rat.« Zedd legte einen Schöpflöffel weg, der verbogen und durchlöchert worden war. Er legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Es muß schwer für dich gewesen sein, deine Tochter im Stich zu lassen, als sie nach dir rief, und das zu tun, was klug war.« Abby brachte nur ein Flüstern zustande. »Ihr sprecht die Wahrheit der Geister.« Sie zeigte zum Fenster an der Seitenwand hinaus. »In dieser Richtung liegt die Stadt – jenseits des Coney River. Sie haben Jana und Philip mitgenommen, als sie sämtliche Leute der Stadt holen gingen. Sie hatten auch andere dabei, die sie schon gefangengenommen hatten. Die Armee hat in den Hügeln dahinter ein Lager aufgeschlagen.« Zedd stand am Fenster und sah zu den fernen Hügeln. »Ich hoffe, daß dieser Krieg bald vorbei ist. Gute Geister, bitte laßt ihn zu Ende gehen.«, Abby fiel die Mahnung der Mutter Konfessorin wieder ein, die Geschichte, die sie ihr erzählt hatte, nie preiszugeben, und fragte deshalb nicht nach der Tochter des Zauberers oder seiner ermordeten Frau. Als sie auf dem schnellen Ritt zurück nach Coney Crossing von ihrer Liebe zu Jana gesprochen hatte, mußte es ihm das Herz gebrochen haben, daran zu denken, daß sich seine eigene Tochter in den Händen eines brutalen Gegners befand, und zu wissen, daß er sie zum Tode verurteilt hatte, damit nicht noch viel mehr sterben mußten. Zedd stieß die Schlafzimmertür auf. »Und da hinten?« fragte er, als er den Kopf in den angrenzenden Raum steckte. Abby wurde aus ihren Gedanken gerissen und sah auf. »Das Schlafzimmer. Hinten befindet sich eine Tür zum Garten und zu der Scheune.« Obwohl er nie von seiner toten Frau oder entführten Tochter sprach, zehrte das Wissen um die beiden an ihr wie ein anschwellender Bach im Frühjahr an einem Loch im Eis. Zedd wich von der Schlafzimmertür zurück, als Delora lautlos zur Eingangstür hereingehuscht kam. »Wie Abigail sagte, die Stadt auf der anderen Seite des Flusses wurde geplündert«, meldete die Hexenmeisterin. »So, wie es aussieht, wurden alle Bewohner mitgenommen.« Zedd strich sich das lockige Haar zurück. »Wie nah ist der Fluß?« Abby machte eine Geste zum Fenster. Die Nacht brach an. »Gleich dort. Ein Fußmarsch von fünf Minuten.« Im Tal floß der Coney River langsam und breit, ehe er in den Kern mündete, und wurde flach genug, daß man ihn mühelos überqueren konnte. Es gab keine Brücke; die Straße führte einfach zum Flußufer und ging auf der anderen Seite weiter. Obwohl der Fluß im größten Teil des Tals fast eine Viertelmeile breit war, war er an keiner Stelle mehr als knietief. Nur nach der Schmelze im Frühling war es mitunter gefährlich, ihn zu überqueren. Die Stadt Coney Crossing lag zwei Meilen weiter,, oben auf den Hügeln, sicher vor dem Frühlingshochwasser, genau wie die Kuppe, auf der Abbys Häuschen stand. Zedd nahm Delora am Ellbogen. »Reite zurück und sag allen, daß sie Stellung beziehen sollen. Wenn etwas schiefgeht .nun, wenn etwas schiefgeht, dann müssen sie angreifen. Anargos Legion muß aufgehalten werden, auch wenn sie sie auf D´Hara- Gebiet verfolgen müssen.« Delora sah nicht glücklich aus. »Vor unserem Aufbruch ließ mich die Mutter Konfessorin versprechen, darauf zu achten, daß du nicht allein gehst. Sie bat mich, dafür zu sorgen, daß stets Begabte in deiner Nähe sind, falls du sie brauchen solltest.« Abby hatte auch gehört, wie die Mutter Konfessorin diese Anweisung gegeben hatte. Als sie sich beim Aufbruch zur Festung umdrehte, hatte Abby die Mutter Konfessorin auf einer hohen Zinne gesehen, von wo sie ihnen nachsah. Die Mutter Konfessorin hatte geholfen, als Abby schon fürchtete, daß alles verloren wäre. Sie fragte sich, was aus der Frau werden würde. Dann fiel ihr ein, daß sie sich das nicht fragen mußte. Sie wußte es. Der Zauberer schenkte den Worten der Hexenmeisterin keine Beachtung. »Sobald ich Abby geholfen habe, schicke ich sie ebenfalls zurück. Ich will niemanden in meiner Nähe haben, wenn ich den Zauber entfessle.« Delora packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich. Sie sah aus, als würde sie ihm eine hitzige Standpauke halten. Statt dessen zog sie ihn in ihre Arme. »Bitte, Zedd«, flüsterte sie, »sorg dafür, daß wir nicht ohne dich als Ersten Zauberer dastehen.« Zedd strich ihr dunkles Haar zurück. »Damit Thomas dich für sich allein hat?« Er grinste. »Niemals.« Der Staub, den Deloras Pferd aufwirbelte, senkte sich in der zunehmenden Dunkelheit, als Zedd und Abby den Hang zum Fluß hinuntergingen. Abby führte ihn den Pfad durch hohes Gras und Binsen hinab und erklärte, daß der Pfad ihnen besseren, Schutz vor Blicken bieten würde als die Straße. Abby war dankbar, daß er nicht der Straße den Vorzug gab. Ihr Blick schweifte von den dunklen Schatten auf der einen zu den Schatten auf der anderen Seite, während sie von den Binsen verschluckt wurden. Ihr Pulsschlag raste. Wenn ein Zweig unter ihrem Fuß zerbrach, zuckte sie zusammen. Es geschah so, wie sie es befürchtet, wie sie es gewußt hatte. Wie aus dem Nichts tauchte eine Gestalt in einem langen Mantel mit Kapuze auf und stieß Abby beiseite. Sie sah eine Messerklinge aufblitzen, als Zedd den Angreifer in die Binsen schleuderte. Er ging in die Hocke und legte Abby, die keuchend im Gras lag, eine Hand auf die Schulter. »Bleib unten«, flüsterte er mit Nachdruck. Licht strömte in seine Finger. Er beschwor Magie. Sie wollten, daß er das tat. Tränen quollen und brannten in ihren Augen. Sie zupfte ihn am Ärmel. »Zedd, bitte keine Magie benutzen.« Sie konnte kaum sprechen, so stark war der Klammergriff des Schmerzes in ihrer Brust. »Keine –« Die Gestalt sprang wieder aus dem Halbdunkel der Binsen. Zedd riß eine Hand hoch. Ein Lichtblitz, der die vermummte Gestalt traf, zuckte durch die Nacht. Aber nicht der Angreifer ging zu Boden, sondern Zedd schrie auf und brach zusammen. Was immer er dem Angreifer hatte antun wollen, es war auf ihn selbst zurückgefallen, und er befand sich im Griff schrecklicher Schmerzen, die ihn daran hinderten, sich zu erheben oder zu sprechen. Darum hatten sie gewollt, daß er Magie beschwor: damit sie ihn fangen konnten. Die Gestalt, die über dem Zauberer stand, sah Abby finster an. »Deine Rolle in diesem Stück ist ausgespielt. Geh!« Abby verschwand durch das Gras. Die Frau schlug die Kapuze zurück und streifte den Mantel ab. In fast völliger Dunkelheit konnte Abby den langen Zopf und die rote Lederuniform der Frau sehen. Es war eine der Frauen, von denen, Abby gehört hatte, der Frauen, die benutzt wurden, um Leute mit der Gabe der Magie zu fangen: eine Mord-Sith. Die Mord-Sith sah zufrieden zu, wie der Zauberer zu ihren Füßen sich in erstickenden Schmerzen wand. »Schau, schau. Sieht so aus, als hätte der Erste Zauberer selbst gerade einen sehr schweren Fehler gemacht.« Die Gürtel und Gurte ihrer roten Lederuniform ächzten, als sie sich über ihn beugte und angesichts seiner Qualen grinste. »Mir wurde die ganze Nacht gewährt, um dich bedauern zu lassen, daß du je einen Finger gerührt hast, um uns Widerstand zu leisten. Am Morgen soll ich dich zusehen lassen, wie unsere Streitmacht deine Leute auslöscht. Danach soll ich dich zu Meister Rahl persönlich bringen, dem Mann, der den Tod deiner Frau befohlen hat, damit du ihn anflehen kannst, daß er mir befiehlt, dich ebenfalls zu töten.« Sie gab ihm einen Tritt. »Damit du Meister Rahl anflehen kannst, zu sterben, während du zusiehst, wie deine Tochter vor deinen Augen stirbt.« Zedd konnte nur vor Grauen und Schmerzen schreien. Auf Händen und Knien kroch Abby tiefer in das hohe Gras. Sie wischte sich die Augen und versuchte, etwas zu sehen. Sie war entsetzt, mitzuerleben, was dem Mann angetan wurde, der nur aus einer Verpflichtung ihrer Mutter gegenüber eingewilligt hatte, ihr zu helfen. Im Gegensatz dazu hatten diese Leute sich ihrer Dienste versichert, indem sie ihre Tochter als Geisel genommen hatten. Während sie zurückwich, sah Abby das Messer, das die Mord- Sith fallen gelassen hatte, als Zedd sie in die Binsen warf. Das Messer war Tarnung gewesen und hatte dazu gedient, ihn zum Handeln zu zwingen; Magie war die wahre Waffe gewesen. Die Mord-Sith hatte seine eigene Magie gegen ihn gekehrt – hatte sie benutzt, um ihn kampfunfähig zu machen und zu fangen, und benutzte sie nun, um ihm Schmerzen zuzufügen. Das war der geforderte Preis. Abby hatte gehorcht. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Aber welchen Tribut verlangte sie anderen ab?, Wie konnte sie das Leben ihrer Tochter auf Kosten so vieler anderer retten? Würde Jana aufwachsen und Sklavin von Leuten sein, die zu so etwas fähig waren? Jana würde aufwachsen und lernen, sich vor Panis Rahl und seinen Günstlingen zu verbeugen, sich dem Bösen zu ergeben, oder schlimmer, aufwachsen und zur willigen Helferin der Plage werden, ohne jemals die Freiheit zu kosten oder den Wert von Ehre zu kennen. Gräßlich und unwiderruflich schien in Abbys Gedanken alles zu verfallen. Sie hob das Messer auf. Zedd wimmerte vor Schmerzen, als sich die Mord-Sith bückte und etwas Gemeines mit ihm anstellte. Bevor Abby die Gelegenheit hatte, ihre Entschlossenheit zu verlieren, näherte sie sich der Frau von hinten. Abby hatte schon Tiere geschlachtet. Sie sagte sich, daß dies nichts anderes war. Dies waren keine Menschen, sondern Tiere. Sie hob das Messer. Eine Hand wurde auf ihren Mund gepreßt. Eine andere packte sie am Handgelenk. Abby stöhnte in die Hand, weil es ihr nicht gelungen war, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, solange sie die Möglichkeit dazu hatte. Lippen dicht an ihrem Ohr flüsterten ihr zu, sie solle still sein. Abby wehrte sich gegen die Gestalt im Kapuzenmantel, die sie festhielt, drehte den Kopf, so weit sie konnte, und sah im letzten Tageslicht violette Augen, die sie anschauten. Einen Moment wurde sie nicht schlau daraus, konnte nicht verstehen, wie die Frau hier sein konnte, wo Abby doch gesehen hatte, wie sie zurückgeblieben war. Aber sie war es wirklich. Abby hörte auf, sich zu wehren. Die Mutter Konfessorin ließ sie los und beorderte sie mit einer knappen Handbewegung zurück. Abby stellte keine Fragen; sie wich ins Riedgras zurück, während die Mutter Konfessorin die Hand nach der Frau in rotem Leder ausstreckte. Die Mord-Sith war gebückt und ganz auf ihre gräßlichen Manipulationen an dem schreienden Zauberer konzentriert., In der Ferne zirpten und schnalzten Insekten. Frösche riefen mit beharrlichem Quaken. Nicht weit entfernt plätscherte und rauschte der Fluß wie immer – ein vertrautes, tröstendes, heimatliches Geräusch. Und dann erfolgte eine plötzliche, brutale Erschütterung in der Luft. Die Welt schien in ihrer schrecklichen Pracht zum Stillstand zu kommen. Das Gras wurde niedergedrückt, als würde Wind von einem Ring aus wehen, in dem sich die Mord-Sith und die Mutter Konfessorin befanden. Abby kam wieder zu Sinnen, während die Schmerzen in ihren Gelenken erfreulicherweise nachließen. Abby hatte noch nie gesehen, wie es gemacht wurde, und hätte nie gedacht, daß sie es einmal in ihrem Leben sehen würde, aber sie wußte ohne jeden Zweifel, daß sie gerade gesehen hatte, wie eine Konfessorin ihre Gabe einsetzte. Wie Abby von ihrer Mutter wußte, wurde dabei der Verstand einer Person so gründlich zerstört, daß nur blinde Hingabe an die Konfessorin blieb. Sie mußte nur fragen, und alles wurde gestanden, welches Verbrechen auch immer zu verbergen oder zu leugnen versucht worden war. »Herrin«, stöhnte die Mord-Sith jämmerlich klagend. Abby, die zunächst vom Schock des lautlosen Donners der Macht der Mutter Konfessorin erschüttert worden war und nun fassungslos die völlige Unterwürfigkeit der am Boden zusammengebrochenen Frau sah, spürte eine Hand an ihrem Arm. Es war der Zauberer. Mit dem Rücken der anderen Hand wischte er sich Blut vom Mund. Er bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. »Laß sie allein.« »Zedd .es .es tut mir leid. Ich habe versucht, dir zu sagen, daß du keine Magie anwenden sollst, habe aber nicht laut genug gesprochen, daß du mich hören konntest.« Er brachte trotz offensichtlicher Schmerzen ein Lächeln zustande. »Ich habe dich gehört.« »Aber warum hast du dann deine Gabe eingesetzt?«, »Ich dachte mir, daß du doch nicht die Art von Mensch bist, der zu so etwas Schrecklichem fähig ist, und daß du dein wahres Herz zeigen würdest.« Er zog sie weg von den Schreien. »Wir haben dich benutzt. Sie sollten glauben, daß ihr Plan erfolgreich war.« »Du hast gewußt, was ich vorhatte? Du hast gewußt, daß ich dich zu ihnen bringen wollte, damit sie dich gefangennehmen konnten?« »Ich konnte es mir denken. Von Anfang an schien mehr an dir zu sein, als du preiszugeben bereit warst. Du bist nicht sehr begabt darin, eine Spionin und Verräterin zu sein. Seit wir hier eingetroffen sind, beobachtest du die Schatten und zuckst jedesmal zusammen, wenn ein Insekt zirpt.« Die Mutter Konfessorin eilte herbei. »Zedd, alles in Ordnung?« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das wird schon wieder.« In seinen Augen leuchtete noch das Entsetzen. »Danke, daß du nicht zu spät gekommen bist. Einen Moment fürchtete ich schon ..« »Ich weiß.« Die Mutter Konfessorin schenkte ihm ein rasches Lächeln. »Laß uns hoffen, daß sich dein Trick gelohnt hat. Du hast Zeit bis zur Dämmerung. Sie sagte, ihre Leute erwarten, daß sie dich die ganze Nacht foltert, ehe sie dich am Morgen zu ihnen bringt. Ihre Kundschafter haben Anargo informiert, daß unsere Truppen eingetroffen sind.« Im Gebüsch schrie die Mord-Sith, als würde ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen werden. Ein Schauer lief durch Abbys Schultern. »Sie werden sie hören und wissen, was passiert ist.« »Selbst wenn sie sie auf die Entfernung hören können, werden sie glauben, daß es Zedd ist, der von ihr gefoltert wird.« Die Mutter Konfessorin nahm Abby das Messer aus der Hand. »Ich bin froh, daß du mein Vertrauen in dich belohnt und dich entschieden hast, keine gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.«, Abby wischte sich die Handflächen an ihren Röcken ab und schämte sich für alles, was sie getan hatte, was sie vorgehabt hatte zu tun. Sie fing an zu zittern. »Werdet Ihr sie töten?« Die Mutter Konfessorin sah todmüde aus, nachdem sie die Mord-Sith berührt hatte, aber aus ihren Augen blickte nach wie vor eine eiserne Entschlossenheit. »Eine Mord-Sith ist anders als alle anderen. Sie erholt sich nicht von der Berührung einer Konfessorin. Sie würde bis zu ihrem Tod, irgendwann am frühen Morgen, schreckliche Qualen leiden.« Sie warf einen Blick in die Richtung, aus der die Schreie kamen. »Sie hat uns gesagt, was wir wissen müssen, und Zedd muß seine Macht zurückbekommen. Es ist ein Akt der Barmherzigkeit.« »Außerdem verschafft es mir Zeit für das, was ich tun muß.« Zedd drehte Abbys Gesicht mit den Fingern zu sich herum, weg von den Schreien. »Und Zeit, Jana zurückzuholen. Du hast Zeit bis zum Morgen.« »Ich habe Zeit bis zum Morgen? Was meinst du damit?« »Ich werde es dir erklären. Aber wir müssen uns beeilen, wenn du genug Zeit haben willst. Und jetzt zieh dich aus.« Abbys Zeit wurde knapp. Sie war stocksteif und wie erstarrt durch das Lager der D´Haraner geschritten und hatte sich sehr bemüht, nicht zu Tode erschrocken auszusehen, obwohl sie sich genauso fühlte. Sie hatte die ganze Nacht lang die Anweisungen des Zauberers befolgt: sich hochmütig benommen. Jeden, dem sie auffiel, strafte sie mit Mißachtung. Jeden, der sie ansah und ansprechen wollte, knurrte sie böse an. Aber natürlich waren es nicht allzu viele, die versuchten, die Aufmerksamkeit einer in rotes Leder gekleideten Mord-Sith auf sich zu lenken. Zedd hatte ihr auch geraten, die Waffe der Mord- Sith in der Hand zu behalten. Sie sah aus wie ein kleiner Stab aus rotem Leder. Abby hatte keine Ahnung, wie sie funktionierte – der Zauberer hatte nur gesagt, daß Magie im Spiel war und es Abby nicht möglich sein würde, die Waffe zu ihrer Unterstützung, zu aktivieren –, aber die Wirkung auf alle, die sie in ihrer Hand sahen, blieb nicht aus: Sie verschwanden wieder in der Dunkelheit und mieden das Licht der Lagerfeuer, mieden Abby. Jedenfalls diejenigen, die wach waren. Auch wenn die meisten Leute im Lager schliefen, herrschte kein Mangel an Wachtposten. Zedd hatte der Mord-Sith, die ihn angegriffen hatte, den langen Zopf abgeschnitten und an Abbys Haar befestigt. In der Dunkelheit fielen die verschiedenen Haarfarben nicht so sehr auf. Wenn die Wachtposten Abby ansahen und eine Mord-Sith erblickten, wandten sie die Blicke hastig wieder ab. Den nervösen Mienen der Leute konnte Abby entnehmen, daß sie ein furchtbarer Anblick war. Sie wußten ja nicht, wie sehr ihr Herz klopfte. Sie war dankbar für den Schutz der Nacht, der verhinderte, daß die D´Haraner sahen, wie sehr ihr die Knie zitterten. Sie hatte nur zwei echte Mord-Sith gesehen, die beide schliefen, und sich von ihnen ferngehalten, wie Zedd es ihr geraten hatte. Echte Mord-Sith ließen sich nicht so leicht täuschen. Zedd hatte ihr bis zum Morgengrauen Zeit gelassen. Aber die Zeit wurde knapp. Er hatte ihr gesagt, wenn sie nicht rechtzeitig zurück sei, würde sie sterben. Abby war dankbar, daß sie mit der Umgebung vertraut war, sonst hätte sie sich schon längst im Wirrwarr von Zelten, Lagerfeuern, Wagen, Pferden und Maultieren verirrt. Überall waren Speere und Lanzen in Kreisen aufgestellt, so daß die Spitzen aneinander lehnten. Männer – Hufschmiede, Pfeilmacher, Schmiede und Handwerker jedweder Art – arbeiteten die Nacht hindurch. Dichter Rauch erfüllte die Luft, und überall hallten die Geräusche von Metall wider, das geformt und geschärft wurde, und von Holz, das von Bogen bis hin zu Wagen zu allem bearbeitet wurde. Abby wußte nicht, wie Leute bei diesem Lärm schlafen konnten, aber sie schliefen. Bald würde das riesige Lager zu einem neuen Tag erwachen – einem Tag des Kampfes, einem Tag, an dem die Soldaten die, Arbeit verrichten würden, die sie am besten beherrschten. Sie schliefen die Nacht hindurch, damit sie ausgeruht waren, um die Armee der Midlands abzuschlachten. Nach allem, was sie gehört hatte, verstanden die Soldaten von D´Hara etwas von ihrem Job. Abby hatte unablässig gesucht, doch es war ihr nicht möglich gewesen, ihren Vater, ihren Mann oder ihre Tochter zu finden. Aber aufgeben würde sie nicht. Sie hatte sich mit der Gewißheit abgefunden, daß sie mit ihnen sterben würde, falls sie sie nicht rechtzeitig fände. Sie hatte Gefangene gesehen, die aneinandergefesselt und an Bäumen oder am Boden festgebunden waren, damit sie nicht wegliefen. Viele waren angekettet. Manche kannte sie, aber viele nicht. Die meisten wurden in Gruppen und unter Bewachung gehalten. Abby sah nicht ein einziges Mal einen schlafenden Wachtposten. Wenn sie in ihre Richtung schauten, tat sie so, als suchte sie nach jemandem, dem sie das Leben schwermachen würde, wenn sie ihn gefunden hatte. Zedd hatte ihr gesagt, ihr Leben und das ihrer Familie hinge davon ab, daß sie ihre Rolle überzeugend spielte. Abby dachte daran, daß diese Menschen ihrer Tochter weh taten, und dann fiel es ihr nicht schwer, wütend auszusehen. Aber ihre Zeit wurde knapp. Sie konnte sie nicht finden und wußte, daß Zedd nicht warten würde. Zuviel stand auf dem Spiel; das war ihr jetzt klar. Sie hatte eingesehen, daß der Zauberer und die Mutter Konfessorin einen Krieg beenden wollten; daß ihnen die gräßliche Aufgabe zufiel, das Leben weniger gegen das Leben vieler abzuwägen. Abby hob eine weitere Zeltklappe und sah schlafende Soldaten. Sie ging in die Hocke und betrachtete die Gesichter von an einen Wagen gefesselten Gefangenen. Sie erwiderten ihre Blicke mit hohlen Augen. Sie bückte sich und studierte die Gesichter von in Alpträumen zusammengekuschelten Kindern. Sie konnte Jana nicht finden. Das riesige Lager erstreckte sich, über das gesamte Hügelland; es gab tausend Stellen, wo sie stecken konnte. Als sie an einer schiefen Zeltreihe vorbeilief, kratzte sie sich am Handgelenk. Erst als sie weiterging, wurde ihr klar, daß der Armreif wärmer wurde und ihr Gelenk deshalb juckte. Sie machte ein paar Schritte, und er wurde noch wärmer, doch dann kühlte er wieder ab. Sie runzelte die Stirn. Aus Neugier machte sie kehrt und ging dorthin zurück, von wo sie gekommen war. An einem Pfad zwischen den Zelten kribbelte ihr Armreif wieder vor Wärme. Abby blieb einen Moment stehen und sah in die Dunkelheit. Der Himmel hellte sich gerade zaghaft auf. Sie nahm den Weg zwischen den Zelten hindurch und folgte ihm, bis der Armreif abkühlte, drehte um und schlug eine neue Richtung ein, wo der Reif noch wärmer wurde. Ihre Mutter hatte ihr den Armreif gegeben und gesagt, daß sie ihn immer tragen sollte, weil er ihr eines Tages nützlich sein würde. Abby fragte sich, ob der Reif irgendeine Magie besaß, die ihr helfen würde, ihre Tochter zu finden. Da der Tagesanbruch näherrückte, schien das ihre einzige Chance zu sein. Sie lief hastig weiter und folgte dem Weg, den die Wärme des Armreifs ihr wies. Der Reif führte sie zu einer Reihe schnarchender Soldaten. Gefangene waren keine zu sehen. Wachen patrouillierten neben den Männern in Schlafsäcken und Decken. Ein Zelt stand zwischen den großen Männern – für einen Offizier, vermutete sie. Da sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte, schlenderte Abby zwischen den schlafenden Männern dahin. In der Nähe des Zelts erfüllte der Reif ihren Arm mit kribbelnder Wärme. Abby sah, daß Posten um das kleine Zelt schwärmten wie Fliegen um ein Stück Fleisch. Die Segeltuchwände leuchteten schwach, wahrscheinlich von einer Kerze im Inneren. Auf der Seite sah sie eine schlafende Gestalt, die sich von den Männern unterschied. Als sie näher kam, konnte sie erkennen, daß es sich um eine Frau handelte: Mariska., Die alte Frau atmete ein wenig röchelnd im Schlaf. Abby stand wie gelähmt da. Wachen sahen zu ihr her. Abby mußte etwas tun, ehe sie ihr Fragen stellten, sah sie finster an und marschierte auf das Zelt zu. Sie versuchte, kein Geräusch von sich zu geben; die Wachen mochten sie für eine Mord-Sith halten, aber Mariska würde sich nicht lange täuschen lassen. Nach einem finsteren Blick von Abby wandten die Wachen sich ab und sahen über die nächtliche Landschaft. Abbys Herz klopfte fast unkontrolliert, als sie nach der Zeltklappe griff. Sie wußte, Jana würde im Inneren sein. Sie sagte sich, daß sie nicht aufschreien durfte, wenn sie ihre Tochter sah. Sie ermahnte sich, daß sie Jana eine Hand auf den Mund pressen mußte, bevor das Mädchen einen Freudenschrei ausstoßen konnte, damit sie nicht gefaßt wurden, bevor sie eine Chance hatten, zu entkommen. Der Armreif war so heiß, daß Abby den Eindruck hatte, er würde ihre Haut verbrennen. Abby duckte sich in das niedrige Zelt. Ein zitterndes kleines Mädchen in einem zusammengerafften Wollmantel saß inmitten von Decken auf dem Boden. Das Mädchen schaute mit großen Augen auf und blinzelte aus Angst davor, was als nächstes kommen mochte. Abby verspürte einen Stich der Enttäuschung. Es war nicht Jana. Sie sahen einander an, dieses kleine Mädchen und Abby. Das Gesicht des kleinen Mädchens wurde von der Kerze auf der Seite so deutlich beleuchtet wie das von Abby zweifellos auch. In den großen grauen Augen, die von unvorstellbaren Schrecken sprachen, schien sich die Entscheidung abzuzeichnen, zu der das kleine Mädchen gelangt war. Es hob flehend die Arme hoch. Instinktiv ließ sich Abby auf die Knie sinken, nahm das kleine Mädchen in die Arme und drückte seinen zitternden Körper an sich. Das Mädchen befreite die spindeldürren Arme aus dem Mantel, schlang sie um Abbys Nacken und hielt sich fest, als hinge ihr Leben davon ab., »Hilfst du mir? Bitte?« flüsterte das Kind Abby wimmernd ins Ohr. Bevor sie das Mädchen umarmt hatte, hatte sie sein Gesicht im Lichtschein der Kerze gesehen. Für Abby bestand kein Zweifel. Dies war Zedds Tochter. »Ich bin gekommen, um dir zu helfen«, tröstete Abby sie. »Zedd hat mich geschickt.« Das Kind stöhnte erwartungsvoll. Abby hielt das Mädchen auf Armeslänge von sich. »Ich bringe dich zu deinem Vater, aber du darfst diese Leute nicht wissen lassen, daß ich dich rette. Kannst du deine Rolle spielen, so wie ich? Kannst du so tun, als wärst du meine Gefangene, damit ich dich wegbringen kann?« Das Mädchen nickte den Tränen nahe. Sie hatte dasselbe lockige Haar wie Zedd und dieselben Augen, auch wenn sie faszinierend grau waren, nicht mandelbraun. »Gut«, flüsterte Abby, hielt die kalte Wange und versank fast in diesen grauen Augen. »Dann vertraue mir, und ich werde dich wegbringen.« »Ich vertraue dir«, antwortete die leise Stimme. Abby schnappte sich ein Seil, das in der Nähe lag, und band es dem Mädchen um den Hals. »Ich werde versuchen, dir nicht weh zu tun, aber sie müssen denken, daß du meine Gefangene bist.« Das Mädchen warf dem Seil einen besorgten Blick zu, als wäre es nur zu vertraut damit, gab dann aber durch ein Nicken zu verstehen, daß sie mitspielen würde. Abby stand auf, als sie das Zelt verlassen hatte, und zog das Mädchen an dem Seil hinter sich her. Die Wachen sahen zu ihr herüber. Abby setzte sich in Bewegung. Einer kam mit finsterer Miene näher. »Was geht hier vor?« Abby blieb aufstapfend stehen, hob den roten Lederstab und richtete ihn auf die Nase des Wachsoldaten. »Sie ist vorgeladen worden. Und wer bist du, das in Frage zu stellen? Geh mir aus dem Weg, sonst werde ich dich ausweiden lassen und zum Frühstück verzehren.«, Der Mann erbleichte und trat hastig beiseite. Bevor er Zeit hatte, es sich anders zu überlegen, entfernte Abby sich mit schnellen Schritten und zerrte das Kind, das sich sträubte, damit es echt aussah, an dem Seil hinter sich her. Niemand folgte ihnen. Abby wollte laufen, konnte es aber nicht. Sie wollte das Mädchen tragen, konnte es aber nicht. Es mußte so aussehen, als würde eine Mord-Sith eine Gefangene abführen. Anstatt auf dem kürzesten Weg zu Zedd zurückzukehren, folgte Abby den Hügeln flußaufwärts bis zu einer Stelle, wo die Bäume fast bis zum Ufer Schutz boten. Zedd hatte ihr gesagt, wo sie den Fluß überqueren konnte, und sie ermahnt, auf keinen Fall einen anderen Weg einzuschlagen; er hatte magische Fallen aufgestellt, die die D´Haraner daran hindern sollten, die Hügel herabzustürmen und ihn an seinem Vorhaben zu hindern, was immer das auch sein mochte. Als sie dem Fluß näher kam, sah sie ein kleines Stück flußabwärts eine Nebelbank dicht über dem Boden hängen. Zedd hatte sie mit Nachdruck davor gewarnt, sich irgendwelchem Nebel zu nähern. Sie vermutete, daß es eine giftige Wolke war, die er beschworen hatte. Das Plätschern von Wasser verriet ihr, daß sie dicht am Fluß sein mußte. Der rosa Himmel lieferte genug Licht, so daß sie ihn schließlich erblickte, als sie den Rand der Baumgruppe erreichte. Zwar konnte sie das gewaltige Lager in der Ferne hinter sich auf den Hügeln sehen, aber niemanden, der ihnen folgte. Abby nahm dem Kind das Seil ab. Das Mädchen sah sie mit diesen großen, runden Augen an. Abby hob sie hoch und drückte sie an sich. »Halt dich fest und sei still!« Abby drückte den Kopf des Kindes an ihre Schulter und lief zum Fluß. Sie sah Licht, aber es war nicht die Dämmerung. Sie hatten das eiskalte Wasser durchquert und das andere Ufer erreicht, als es, Abby zum erstenmal auffiel. Noch während sie am Flußufer entlang rannte und bevor sie die Quelle des Lichts sehen konnte, wußte Abby, daß hier eine Magie beschworen wurde, die sich von jeder Magie unterschied, die sie vorher gesehen hatte. Ein leises, dünnes Geräusch tönte flußaufwärts zu ihr. Über dem Ufer hing ein Geruch, als wäre die Luft selbst in Brand geraten. Das Mädchen klammerte sich an Abby fest, Tränen strömten ihr über das Gesicht, und sie schien Angst davor zu haben, ein Wort zu sagen – Angst, so schien es, vor der Hoffnung, daß sie wirklich gerettet worden sein könnte, als könnte alles wie ein Traum nach dem Erwachen verschwinden, wenn sie auch nur eine Frage stellte. Abby spürte die Tränen, die an ihren eigenen Wangen hinabliefen. Als sie um eine Biegung des Flusses kam, konnte sie den Zauberer sehen. Er stand in der Flußmitte auf einem Felsen, den Abby nie vorher gesehen hatte. Der Felsen war gerade groß genug, daß er wenige Zentimeter aus dem Wasser ragte, so daß es fast aussah, als stünde der Zauberer auf der Wasseroberfläche. Er hatte das Gesicht dem fernen D´Hara zugewandt, und vor ihm schwebten dunkle und wallende Formen in der Luft. Sie wanden sich um ihn herum, als würden sie ihm vertrauliche Mitteilungen machen, ihn warnen und mit schwebenden Armen und tastenden Fingern verlocken, die sich um ihn kräuselten wie Rauch. Unruhiges Licht flammte um den Zauberer herum auf. Dunkle und wundersame Farben flimmerten um seine Gestalt und verschmolzen mit den schattenhaften Formen, die in der Luft waberten. Es war der bezauberndste und zugleich furchterregendste Anblick, den Abby je erlebt hatte. Keine Magie, die ihre Mutter beschworen hatte, hatte je .lebendig ausgesehen. Aber bei weitem am furchteinflößendsten war, was vor dem Zauberer in der Luft schwebte. Es schien eine geschmolzene Kugel zu sein, so heiß, daß sie von innen heraus glühte, mit einer Oberfläche rissiger, flüssiger Schlacke. Ein Wasserstrahl aus dem, Fluß wurde auf magische Weise wie ein Springbrunnen in die Höhe gelenkt und ergoß sich auf die kreisende silberne Masse. Das Wasser zischte und dampfte, wenn es auf die Kugel traf, und wurde zu weißen Dampfwolken, die im sanften Wind der Dämmerung davonwehten. Die geschmolzene Form wurde schwarz, wenn das Wasser sie berührte, aber die gewaltige Hitze im Inneren schmolz die glasartige Oberfläche gleich wieder, so schnell, wie das Wasser sie abkühlte, so daß das ganze Ding in der Luft blubberte und brodelte, eine pulsierende, bedrohliche Gefahr. Abby stand gebannt da und ließ das Kind auf den schlammigen Boden gleiten. Das kleine Mädchen streckte die Arme aus. »Papa.« Er war zu weit weg, um sie zu hören, hörte sie aber trotzdem. Zedd drehte sich um, fast überlebensgroß inmitten seiner Magie, die Abby sehen, aber nicht ansatzweise ergründen konnte, aber zugleich klein in seiner Schwachheit menschlicher Bedürfnisse. Tränen traten ihm in die Augen, als er seine Tochter neben Abby stehen sah. Dieser Mann, der sich mit den Geistern zu beraten schien, sah aus, als hätte er zum erstenmal wahrhaftig eine Erscheinung gesehen. Zedd sprang von dem Felsen und watete durch das Wasser. Als er bei ihr war und sie in seine Arme schloß, fing sie schließlich an zu weinen, als ihre aufgestaute Angst sich Luft machte. »Schon gut, Liebes, schon gut«, tröstete Zedd sie. »Jetzt ist Papa hier.« »Oh, Papa«, sagte sie schluchzend an seinem Hals, »sie haben Mama weh getan. Sie waren böse. Sie haben ihr so weh getan ..« Er brachte sie zärtlich zum Schweigen. »Ich weiß, Liebes. Ich weiß.« Jetzt erst bemerkte Abby, daß die Hexenmeisterin und die Mutter Konfessorin auf der Seite standen und zusahen. Auch sie vergossen Tränen bei dem Anblick. Obwohl Abby sich für den Zauberer und seine Tochter freute, machte das Bild die, Schmerzen in ihrer Brust, die sie angesichts ihres Verlustes empfand, nur noch schlimmer. Ihre Tränen erstickten sie fast. »Alles wieder gut, Liebes«, murmelte Zedd. »Jetzt bist du in Sicherheit. Papa wird nicht zulassen, daß dir etwas geschieht. Jetzt bist du in Sicherheit.« Zedd drehte sich zu Abby um. Bis er ihr, unter Tränen lächelnd, seine Dankbarkeit gezeigt hatte, war das Kind eingeschlafen. »Ein kleiner Zauber«, erklärte er, als Abby verblüfft die Stirn kraus zog. »Sie muß ausruhen. Und ich muß zu Ende bringen, was ich angefangen habe.« Er legte Abby seine Tochter in die Arme. »Abby, würdest du sie zu deinem Haus bringen, damit sie schlafen kann, bis ich hier fertig bin? Bitte leg sie ins Bett, und deck sie zu, damit sie es warm hat. Vorläufig wird sie schlafen.« Abby, die daran denken mußte, daß sich ihre eigene Tochter in den Händen der Schurken auf der anderen Seite des Flusses befand, konnte nur nicken und sich auf den Weg machen. Sie freute sich für Zedd und verspürte sogar Stolz, weil sie sein kleines Kind gerettet hatte, aber als sie zu ihrem Haus lief, brachte sie der Kummer darüber, daß es ihr nicht gelungen war, ihre eigene Familie zu retten, fast um. Abby ließ das reglose, schlafende Kind auf das Bett gleiten. Sie zog den Vorhang des kleinen Fensters im Schlafzimmer vor, und weil sie nicht anders konnte, strich sie das seidige Haar zurück und drückte einen Kuß auf die weiche Stirn, ehe sie das Kind seinem gesegneten Schlaf überließ. In dem Bewußtsein, daß das Kind in Sicherheit war und schlief, rannte Abby den Hang hinunter zum Fluß. Sie wollte Zedd bitten, ihr ein wenig Zeit zu geben, damit sie noch einmal zurückkehren und nach ihrer eigenen Tochter suchen konnte. Aus Furcht um Jana klopfte ihr Herz wie wild. Er stand in ihrer Schuld und hatte sie noch nicht beglichen. Abby blieb händeringend und keuchend am Ufer stehen. Sie betrachtete den Zauberer auf seinem Felsen im Fluß, wo Licht, und Schatten um ihn kreisten. Sie hatte genug mit Magie zu tun gehabt, um sich darüber im klaren zu sein, daß sie ihm nicht näher kommen durfte. Sie konnte den Singsang seiner Worte hören; auch wenn es Worte waren, die sie nie zuvor gehört hatte, erkannte sie die eigentümlichen Worte eines Zauberspruchs – Worte, die furchterregende Mächte herbeiriefen. Auf dem Boden neben ihr befand sich die seltsame Grazie, wie er sie schon einmal gezeichnet hatte, die die Welten von Tod und Leben überbrückte. Die Grazie war aus funkelndem, blendend weißem Sand gebildet, der sich deutlich auf dem dunklen Schlamm abzeichnete. Abby erschauerte allein vom Hinsehen und hütete sich, über ihren Sinn nachzudenken. Um die Grazie herum waren mit demselben funkelnden weißen Sand die geometrischen Figuren magischer Beschwörungen gezogen worden. Abby ließ die Fäuste sinken und wollte gerade nach dem Zauberer rufen, als Delora sich zu ihr beugte. Abby zuckte überrascht zusammen. »Nicht jetzt, Abigail«, murmelte die Hexenmeisterin. »Stör ihn nicht mitten in diesem Teil!« Widerwillig befolgte Abby den Rat der Hexenmeisterin. Auch die Mutter Konfessorin war da. Abby biß sich auf die Unterlippe, als sie den Zauberer die Arme heben sah. Funken bunten Lichts strömten über die wallenden Säulen der Schatten. »Aber ich muß. Ich konnte meine Familie nicht finden. Er muß mir helfen. Er muß sie retten! Es ist eine Knochenschuld, die beglichen werden muß.« Die beiden Frauen wechselten einen Blick. »Abby«, sagte die Mutter Konfessorin, »er hat dir die Möglichkeit gegeben, hat dir Zeit gegeben. Er hat es versucht. Er hat sein Bestes getan, aber jetzt muß er an alle anderen denken.« Die Mutter Konfessorin nahm Abbys Hand, und die Hexenmeisterin legte Abby einen Arm um die Schultern, während sie weinend am Flußufer stand. Es sollte nicht so zu, Ende gehen, nicht nach allem, was sie durchgemacht, was sie getan hatte. Ihre Verzweiflung war niederschmetternd. Der Zauberer beschwor mit erhobenen Armen mehr Licht, mehr Schatten, mehr Magie. Der Fluß um ihn herum trübte sich. Die zischende Kugel in der Luft wuchs, während sie der Wasseroberfläche langsam näher kam. Lichtsäulen schossen von der heißen, rotierenden Blüte der Macht empor. Die Sonne ging über den Hügeln hinter den D´Haranern auf. An dieser Stelle war der Fluß nicht so breit wie sonst, daher konnte Abby das rege Getriebe jenseits der Bäume sehen. Männer liefen herum, aber der Nebel am anderen Ufer machte sie argwöhnisch und hielt sie unter den Bäumen. Auf der anderen Seite des Flusses, am Fuß der bewaldeten Hügel, war ein anderer Zauberer erschienen, um Magie zu beschwören. Auch er stand auf einem Felsen und ließ von seinen Armen funkelndes Licht in die Luft strömen. Abby dachte, daß die helle Morgensonne die Beschwörungen zu überstrahlen vermöchte, aber das tat sie nicht. Abby konnte es nicht mehr aushalten. »Zedd!« rief sie über den Fluß. »Zedd! Bitte, du hast es versprochen! Ich habe deine Tochter gefunden! Was ist mit meiner? Bitte tu das nicht, bevor sie in Sicherheit ist!« Zedd drehte sich zu ihr um und sah sie wie aus weiter Ferne an, wie aus einer anderen Welt. Arme dunkler Umrisse liebkosten ihn. Finger dunklen Rauchs strichen über seine Wangen und drängten ihn, seine Aufmerksamkeit wieder ihnen zu schenken, aber statt dessen sah er Abby an. »Es tut mir so leid.« Trotz der Entfernung konnte Abby seine geflüsterten Worte deutlich hören. »Ich habe dir Zeit gegeben, damit du versuchen kannst, sie zu finden. Ich kann nicht noch mehr erübrigen, sonst werden unzählige andere Mütter um ihre Kinder weinen – Mütter, die noch leben, und Mütter in der Geisterwelt.« Abby stieß einen Aufschrei der Resignation aus, als er sich wieder dem Zauberwerk zuwandte. Die beiden Frauen, versuchten, sie zu trösten, aber Abby war untröstlich in ihrem Schmerz. Donner rollte über die Hügel. Krachender Lärm des Zaubers um Zedd herum erhob sich und hallte durch das Tal wider. Gleißende Lichtstrahlen schossen nach allen Seiten. Es war ein verwirrender Anblick, dieses Licht, das ins Sonnenlicht hinein schien. Auf der anderen Seite des Flusses schien eine Abwehr von Zedds Magie zu entstehen. Arme aus Licht wanden sich wie Rauch, sanken herab und verschmolzen mit dem Licht, das um Zedd herum erstrahlte. Plötzlich verzog sich der Nebel am Ufer. Als Reaktion darauf breitete Zedd die Arme aus. Der glühende, kreisende Feuerofen aus geschmolzenem Licht donnerte. Das Wasser, das darauf troff, kochte und verdampfte brüllend. Die Luft selbst schien protestierend zu wimmern. Hinter dem Zauberer am gegenüberliegenden Flußufer strömten die Soldaten von D´Hara zwischen den Bäumen hervor und trieben die Gefangenen vor sich her. Menschen schrien vor Entsetzen. Sie zauderten vor der Magie der Zauberer, wurden aber mit Speeren und Schwertern im Rücken weiter vorwärts getrieben. Abby sah einige, die nicht weitergehen wollten und den Schwertern zum Opfer fielen. Als sie die Todesschreie hörten, liefen die anderen weiter wie Schafe vor einem Wolfsrudel. Wenn Zedd mit dem, was er tat, scheiterte, würde die Armee der Midlands in dieses Tal vorstoßen und sich dem Feind entgegenstellen. Die Gefangenen würden in der Mitte aufgerieben werden. Eine Gestalt lief am anderen Ufer entlang und zerrte ein Kind mit sich. Plötzlich bedeckte kalter Schweiß Abbys Haut wie eine Eisschicht. Es war Mariska. Abby warf einen hastigen Blick zurück über die Schulter. Es war unmöglich. Sie sah blinzelnd über den Fluß. »Neiiiin!« schrie Zedd auf. Mariska hielt Zedds kleine Tochter an den Haaren., Irgendwie war Mariska ihnen gefolgt und hatte das Kind gefunden, das in Abbys Haus schlief. Da niemand auf das schlafende Kind aufpaßte, hatte Mariska es erneut entführt. Mariska hielt das Kind vor sich, damit Zedd es sehen konnte. »Hör auf und ergib dich, Zorander, oder sie stirbt!« Abby schüttelte die Arme ab, die sie hielten, und lief ins Wasser. Sie bemühte sich, gegen die Strömung zu laufen, den Zauberer zu erreichen. Auf halbem Weg drehte er sich um und sah ihr in die Augen. Abby erstarrte. »Es tut mir leid.« Ihre eigene Stimme kam ihr wie das Flehen vor einem Todesurteil vor. »Ich dachte, sie wäre in Sicherheit.« Zedd nickte resigniert. Es lag nicht mehr in seiner Macht. Er drehte sich wieder zum Gegner um. Er hob die Arme an den Seiten. Er spreizte die Finger, als wollte er allem Halt gebieten – Männern und Magie gleichermaßen. »Laß die Gefangenen gehen!« rief Zedd über das Wasser dem gegnerischen Zauberer zu. »Laß sie gehen, Anargo, und ich schenke euch allen das Leben.« Anargos Lachen hallte über das Wasser. »Ergib dich«, zischte Mariska, »oder sie stirbt.« Die alte Frau zog das Messer, das sie in der Schärpe um ihre Taille stecken hatte. Sie hielt dem Kind die Klinge an die Kehle. Das Mädchen schrie vor Entsetzen und streckte die Arme nach seinem Vater aus; die kleinen Finger schienen in die Luft zu krallen. Abby kämpfte sich weiter im Wasser voran. Sie schrie und flehte Mariska an, Zedds Tochter freizulassen. Die Frau schenkte Abby so wenig Beachtung wie Zedd. »Letzte Chance!« rief Mariska. »Du hast es gehört«, rief Anargo knurrend über das Wasser. »Ergib dich jetzt, oder sie wird sterben!« »Du weißt, daß ich mich nicht über mein Volk stellen kann!« rief Zedd zurück. »Das ist etwas zwischen uns beiden, Anargo! Laß sie alle gehen!«, Anargos Lachen hallte den Fluß hinauf und hinab. »Du bist ein Narr, Zorander! Du hast deine Chance gehabt!« Sein Gesichtsausdruck wurde wutverzerrt. »Töte sie!« rief er Mariska zu. Zedd hielt die geballten Fäuste an die Seiten und schrie. Der Ton schien den Morgen mit seiner Wut zu zerreißen. Mariska hob das kreischende Kind an den Haaren hoch. Abby stöhnte ungläubig, als die Frau dem kleinen Mädchen die Kehle durchschnitt. Das Kind zappelte. Blut spritzte auf Mariskas knotige Finger, während sie heftig mit der Messerklinge sägte. Sie zerrte ein letztesmal kraftvoll an dem Messer. Der blutüberströmte Körper sank zu einem blutigen Bündel zusammen. Abby spürte, wie ihr Mageninhalt ihr in die Kehle stieg. Der schlammige Schlick am Ufer färbte sich blutrot. Mit einem Siegesgeheul hielt Mariska den abgeschnittenen Kopf hoch. Fleischfetzen und Sehnen baumelten darunter. Der Mund hing in einem erschlafften, stummen Schrei herab. Abby schlang die Arme um Zedds Beine. »Gute Geister, es tut mir leid! Oh, Zedd, vergib mir!« Sie wimmerte vor Qual und war wie von Sinnen, nachdem sie Zeugin dieses gräßlichen Anblicks geworden war. »Und nun, Kind«, fragte Zedd mit heiserer Stimme über ihr, »was soll ich tun? Soll ich sie gewinnen lassen, um deine Tochter vor dem zu bewahren, was sie meiner angetan haben? Sag es mir, Kind, was soll ich tun?« Abby konnte nicht um das Leben ihrer Familie bitten, wenn der Preis dafür war, daß diese Leute brandschatzend durch das Land ziehen konnten. Ihr von Ekel erfülltes Herz ließ es nicht zu. Wie konnte sie das Leben und den Frieden aller anderen gefährden, nur damit ihre eigene Familie am Leben bleiben konnte? Sie wäre nicht besser als Mariska, die unschuldige Kinder tötete., »Töte sie alle!« schrie Abby zu dem Zauberer hinauf. Sie wirbelte herum und zeigte auf Mariska und den verhaßten Zauberer Anargo. »Töte die Nichtswürdigen! Töte sie alle!« Zedd warf die Arme hoch. Ein Donnerschlag zerriß den Morgen. Die geschmolzene Masse vor ihm stürzte ins Wasser, als hätte er sie losgelassen. Der Boden erbebte unter dem Aufprall. Ein gewaltiger Geysir schoß in die Höhe. Die Luft selbst erbebte. Überall ringsum peitschte ein gräßliches Grollen das Wasser zu Gischt auf. Abby, die bis zur Taille im Wasser kauerte, fühlte sich nicht nur vor Kälte taub, sondern auch weil sie wußte, daß sie von den guten Geistern verlassen worden war, obwohl sie stets geglaubt hatte, daß sie über sie wachen würden. Zedd bückte sich, ergriff ihren Arm und zog sie zu sich auf den Felsen. Es war eine andere Welt. Die Schemen ringsum riefen auch sie. Sie dehnten sich und überbrückten die Entfernung zwischen Leben und Tod. Verzehrende Schmerzen, beängstigendes Glück, umfassender Friede breiteten sich nach ihrer Berührung in Abby aus. Licht strömte durch ihren Körper wie Luft, die in ihre Lungen einströmte, und explodierte vor ihrem geistigen Auge zu Funken. Das krachende Heulen der Magie war ohrenbetäubend. Grünes Licht schnellte durch das Wasser. Auf der anderen Seite des Flusses war Anargo zu Boden geworfen worden. Der Felsen, auf dem er gestanden hatte, war zu spitzen Trümmern zerschellt. Die Soldaten schrien vor Furcht auf, als in der Luft um sie herum kreisende Rauchschwaden und Lichtpünktchen tanzten. »Lauft!« schrie Mariska. »Solange ihr noch die Möglichkeit habt! Lauft um euer Leben!« Sie rannte bereits auf die Hügel zu. »Laßt die Gefangenen zurück, sollen sie sterben! Rettet euch selbst! Lauft!« Plötzlich schlug die Stimmung auf der anderen Seite des Flusses in blindwütige Entschlossenheit um. Die D´Haraner ließen die Waffen fallen. Sie warfen die Ketten und Seile fort, mit, denen die Gefangenen gefesselt waren. Als sie sich herumwarfen und davonrannten, wirbelten sie Sand und Staub auf. Binnen eines einzigen Augenblicks floh die gesamte Armee der Soldaten, die sich ihnen vor einem Moment noch grimmig entgegengestellt hatten, als wären sie alle von Angst übermannt worden, um ihr Leben. Aus den Augenwinkeln sah Abby die Hexenmeisterin und die Mutter Konfessorin ins Wasser laufen. Obwohl ihnen das Wasser kaum bis zu den Knien reichte, bremste es ihr Vorankommen wie Schlamm. Abby verfolgte alles wie in einem Traum. Sie schwebte in dem Licht, das sie einhüllte. Schmerz und Verzückung in ihr waren eins. Licht und Dunkel, Klang und Stille, Freude und Schmerz, alles war eins, alles und nichts vereint in einem Hexenkessel entfesselter Magie. Auf der anderen Seite des Flusses war die Armee D´Haras im Wald verschwunden. Staub stieg über den Bäumen auf, wo Pferde, Wagen und Männer flohen, während die Hexenmeisterin und die Mutter Konfessorin am Ufer Leute ins Wasser drängten und ihnen etwas zuriefen, aber Abby konnte die Worte nicht verstehen, so fasziniert war sie von dem seltsam harmonischen Trillern, das ihre Gedanken zu Visionen tanzender Farben verbog, die alles überlagerten, was ihre Augen ihr zeigen wollten. Sie war einen kurzen Moment überzeugt, daß sie im Sterben lag. Sie dachte einen kurzen Moment, daß es keine Rolle spielte. Und dann schwamm ihr Verstand wieder in kalten Farben und heißem Licht, im Trommeln der Magie und der verschmelzenden Welten. In der Umarmung des Zauberers fühlte sie sich, als würde sie wieder von ihrer Mutter gehalten werden. Vielleicht war es so. Abby bemerkte, daß Menschen die auf den Midlands gelegene Seite des Flusses erreichten und vor der Mutter Konfessorin und der Hexenmeisterin herliefen. Sie verschwanden im Schilf, und dann sah Abby sie in weiter Ferne, jenseits des hohen Grases, wo, sie bergauf liefen, weg von dem erhabenen Zauber, der aus dem Fluß hervorbrach. Die Welt um Abby herum donnerte. Ein unterirdisches Beben erzeugte Schmerzen tief in ihrer Brust. Ein Kreischen, als würde Stahl zerfetzt werden, hallte gellend durch die Morgenluft. Überall ringsum tanzte und bebte das Wasser. Heißer Dampf fühlte sich an, als würde er Abbys Beine verbrühen. Die Luft wurde ganz weiß davon. Der Lärm tat ihr so sehr in den Ohren weh, daß sie die Augen zusammenkniff. Mit geschlossenen Augen sah sie dasselbe wie mit offenen – schattenhafte Formen, die sich in der grünen Luft wanden. Alles in ihrem Verstand wurde zusammenhanglos und ergab keinen Sinn mehr. Grüner Wahnsinn zerrte an ihrem Körper und ihrer Seele. Abby spürte einen Schmerz, als würde etwas in ihr zerreißen. Sie stöhnte und schlug die Augen auf. Eine grauenerregende Wand aus grünem Feuer entfernte sich von ihnen und rollte zum gegenüberliegenden Ufer. Wasserfontänen wirbelten hoch wie ein umgekehrtes Gewitter. Über der Oberfläche des Flusses zuckte ein Netz von Blitzen. Als die Feuersbrunst das andere Ufer erreichte, riß der Boden darunter auf. Violette Lichtsäulen schossen aus den klaffenden Wunden der Erde empor wie Blut aus einem anderen Reich. Aber schlimmer als alles andere war das Heulen. Das Heulen der Toten, davon war Abby überzeugt. Ihr kam es so vor, als würde ihre eigene Seele angesichts der gequälten Schreie vor Mitleid stöhnen. Aus der enteilenden grünen Feuerwand wanden und zuckten die Formen, riefen, flehten und versuchten, der Welt der Toten zu entkommen. Nun begriff sie, worum es sich bei der Wand aus grünem Feuer handelte – um den lebendig gewordenen Tod. Der Zauberer hatte die Trennwand zwischen den Welten eingerissen. Abby wußte nicht, wieviel Zeit verstrich; im Griff des seltsamen Lichts, in dem sie schwamm, schien es keine Zeit zu, geben, sowenig wie irgend etwas Festes. Keine der Empfindungen, an denen sie ihr Verständnis aufhängen konnte, hatte etwas Vertrautes. Abby hatte den Eindruck, als wäre die grüne Feuerwand im Wald auf den gegenüberliegenden Hügeln zum Stillstand gekommen. Die Bäume, über die sie hinweggeglitten war, und alle, die sie in der Umarmung des schimmernden Vorhangs sehen konnte, waren unter der durchdringenden Umarmung des Todes selbst schwarz geworden und verschrumpelt. Selbst das Gras, welches die schreckliche Erscheinung überrollt hatte, schien schwarz und trocken geworden zu sein wie von der Sonne im Hochsommer. Vor Abbys Augen wurde die Wand trüb. Sie schien in Intervallen zu erlöschen, manchmal war sie noch grün, glänzend wie geschmolzenes Glas, im nächsten Moment kaum mehr als eine blasse Andeutung, wie Nebel, der sich gerade auflöste. Auf beiden Seiten breitete sie sich aus, eine Mauer des Todes, die durch die Welt des Lebens zog. Abby merkte, daß sie den Fluß wieder hören konnte, das tröstliche, vertraute Plätschern und Blubbern, das sie ihr ganzes Leben lang gehört, aber in den seltensten Fällen wirklich zur Kenntnis genommen hatte. Zedd sprang von dem Felsen. Er nahm ihre Hand und half ihr auch herunter. Abby umklammerte seine Hand fest, um sich gegen das Schwindelgefühl in ihrem Kopf zu wappnen. Zedd schnippte mit den Fingern, worauf der Fels, auf dem sie gerade noch gestanden hatten, sich in die Luft erhob, so daß Abby erschrocken aufstöhnte. In einem so kurzen Augenblick, daß Abby bezweifelte, ob sie überhaupt etwas gesehen hatte, fing Zedd den Felsen auf. Er war zu einem winzigen Stein geworden, kleiner als ein Ei. Er blinzelte ihr zu, als er ihn in die Tasche steckte. Dieses Blinzeln schien ihr das Seltsamste zu sein, das sie sich vorstellen konnte, noch seltsamer als der Felsen, der nun ein Stein in seiner Tasche war., Am Ufer warteten die Mutter Konfessorin und die Hexenmeisterin. Sie nahmen ihre Arme und halfen ihr aus dem Wasser. Die Hexenmeisterin schaute grimmig drein. »Zedd, warum bewegt sie sich nicht?« Für Abby hörte es sich mehr wie ein Vorwurf als eine Frage an. Jedenfalls schenkte Zedd ihr keine Beachtung. »Zedd«, murmelte Abby, »es tut mir so leid. Es ist meine Schuld. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen. Ich hätte bleiben müssen. Es tut mir so leid.« Der Zauberer hörte ihre Worte kaum, sondern sah zu der Wand des Todes auf der anderen Seite des Flusses. Er hielt die zu Klauen geformten Finger an die Brust und schien etwas aus seinem Innersten zu beschwören. Mit einem plötzlichen Pochen in der Luft brach Feuer zwischen seinen Händen aus. Er hielt es hoch wie eine Opfergabe. Abby hielt sich rasch die Arme vor das Gesicht, um es gegen die Hitze abzuschirmen. Zedd hob den brodelnden Ball flüssigen Feuers. Er wuchs zwischen seinen Händen, wirbelte und kreiste und zischte vor Wut. Die drei Frauen wichen zurück. Abby hatte schon von diesem Feuer gehört. Sie hatte einmal mitbekommen, wie ihre Mutter mit gedämpfter Stimme davon gesprochen hatte: Zaubererfeuer. Schon damals, als ihre Mutter davon sprach, hatten diese geflüsterten Worte ein Bild vor Abbys Augen heraufbeschworen und sie mit Kälte erfüllt, obwohl sie es noch nie gesehen hatte. Zaubererfeuer war der Bann des Lebens, herbeigerufen, um einen Feind auszulöschen. Dies konnte nichts anderes sein. »Dafür, daß du meine Liebste getötet hast, meine Erilyn, die Mutter unserer Tochter, und alle anderen unschuldigen Geliebten unschuldiger Menschen«, flüsterte Zedd, »schicke ich dir, Panis Rahl, das Geschenk des Todes.« Der Zauberer breitete die Arme aus. Das flüssige blaue und gelbe, von seinem Meister herbeigerufene Feuer setzte sich in, Bewegung, wurde immer schneller und raste dem fernen D´Hara entgegen. Als es den Fluß überquerte, wuchs es wie wütende, erblühende Blitze, heulte vor rachsüchtiger Wut und wurde vom Wasser in schimmernden Lichtpünktchen tausender greller Funken reflektiert. Das Zaubererfeuer schoß über die wachsende grüne Mauer dahin und streifte gerade noch den oberen Rand. Beim Kontakt loderten grüne Flammen hinauf, die teilweise mitgerissen wurden und dem Zaubererfeuer folgten wie Rauch den Flammen. Die tödliche Mischung strebte heulend dem Horizont entgegen. Alle standen wie gebannt da und sahen ihm nach, bis es gänzlich in der Ferne verschwunden war. Als Zedd sich blaß und erschöpft zu ihnen umdrehte, umklammerte Abby sein Gewand. »Zedd, es tut mir leid. Ich hätte nicht –« Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Da wartet jemand auf dich.« Er legte den Kopf schief. Sie drehte sich um. Hinten im Schilf stand Philip und hielt Janas Hand. Abby stöhnte vor Freude auf. Philip grinste sein altbekanntes Grinsen. Auf der anderen Seite stand ihr Vater und gab ihr mit einem Nicken seine Zustimmung zu erkennen. Abby rannte mit offenen Armen zu ihnen. Jana verzog das Gesicht. Sie drückte sich an Philip. Abby sank vor ihr auf die Knie. »Es ist Mama«, sagte Philip zu Jana. »Sie hat sich nur neue Sachen angezogen.« Abby begriff, daß Jana vor der roten Lederkluft Angst hatte, die sie trug. Sie grinste unter Tränen. »Mama!« rief Jana, als sie das Lächeln sah. Abby warf die Arme um ihre Tochter. Sie lachte und drückte Jana so fest, daß das Kind protestierend quietschte. Abby spürte Philips Hand als liebevollen Gruß auf der Schulter. Sie stand auf, schlang die Arme um ihn; Tränen erstickten ihre Stimme. Ihr, Vater legte ihr tröstend eine Hand auf den Rücken, während sie Janas Hand drückte. Zedd, Delora und die Mutter Konfessorin scharten sich um sie und drängten sie die Uferböschung hinauf zu den Leuten, die oben warteten. Soldaten, in der Mehrzahl Offiziere, von denen Abby einige kannte, ein paar andere Leute aus Aydindril, und der Zauberer Thomas warteten bei den befreiten Gefangenen. Unter den Befreiten befanden sich auch die Bewohner von Coney Crossing; Leute, bei denen Abby, die Tochter einer Hexenmeisterin, nicht in großer Gunst stand. Aber es war ihr Volk, die Leute aus ihrer Heimat, die Leute, die sie hatte retten wollen. Zedd legte Abby eine Hand auf die Schulter. Abby stellte erschrocken fest, daß sein dichtes braunes Haar zum Teil schlohweiß geworden war. Sie wußte auch ohne Spiegel, daß ihr Haar an jenem Ort jenseits der Welt des Lebens, wo sie eine Zeitlang gewesen waren, dieselbe Veränderung durchgemacht hatte. »Das ist Abigail, geboren von Heisa«, rief der Zauberer dem versammelten Volk zu. »Sie ist nach Aydindril gekommen, um mich um Hilfe zu bitten. Auch wenn sie keine Magie besitzt, seid ihr alle nur durch sie befreit worden. Ihr lag soviel an euch, daß sie um euer Leben gebeten hat.« Abby, die Janas Hand hielt, während Philip einen Arm um sie gelegt hatte, sah vom Zauberer zur Hexenmeisterin und dann zur Mutter Konfessorin. Die Mutter Konfessorin lächelte. Abby fand das kaltherzig angesichts der Tatsache, daß Zedds Tochter vor kurzer Zeit vor ihrer aller Augen ermordet worden war. Sie gab ihr das flüsternd zu verstehen. Das Lächeln der Mutter Konfessorin wurde noch breiter. »Erinnerst du dich nicht?« fragte sie und beugte sich zu Abby. »Erinnerst du dich nicht an den Namen, den wir ihm gegeben haben?« Abby, die von der Fülle der Ereignisse ein wenig verwirrt war, begriff nicht, wovon die Mutter Konfessorin da redete. Als sie, das zugab, führten die Mutter Konfessorin und die Hexenmeisterin sie an dem Grab vorbei, in dem Abby nach ihrer Rückkehr den Schädel ihrer Mutter bestattet hatte, ins Haus. Mit einer Hand öffnete die Mutter Konfessorin die Tür zu Abbys Schlafzimmer. Auf dem Bett lag Zedds Tochter, wie Abby sie hingelegt hatte, und schlief immer noch. Abby starrte sie ungläubig an. »Der Trickser«, sagte die Mutter Konfessorin. »Ich sagte dir, daß das unser Name für ihn ist.« »Und kein besonders schmeichelhafter«, sagte Zedd knurrend, als er hinter sie trat. »Aber .wie?« Abby preßte die Finger an die Schläfen. »Ich verstehe nicht.« Zedd machte eine Geste. Abby sah zum erstenmal den Leichnam, der gleich neben der Hintertür lag. Es war Mariska. »Als du mir nach unserer Ankunft dieses Zimmer gezeigt hast«, erklärte Zedd ihr, »habe ich ein paar Fallen für diejenigen ausgelegt, die mit bösen Absichten kommen. Diese Frau wurde von jenen Fallen getötet, weil sie mit der Absicht hierher kam, meine schlafende Tochter zu entführen.« »Du meinst, es war alles eine Illusion?« Abby konnte es nicht fassen. »Warum solltest du so etwas Grausames tun? Wie konntest du?« »Ich bin das Ziel eines Rachefeldzugs«, erklärte der Zauberer. »Ich wollte nicht, daß meine Tochter den Preis bezahlt, den schon ihre Mutter bezahlen mußte. Da mein Zauber die Frau getötet hatte, als sie versuchte, meiner Tochter ein Leid zuzufügen, konnte ich eine Vision von ihr benutzen, um die Täuschung zu bewerkstelligen. Der Feind kannte die Frau und wußte, daß sie im Auftrag von Anargo handelte. Ich habe benutzt, was sie zu sehen erwarteten, um sie zu überzeugen und ihnen Angst einzujagen, so daß sie flohen und die Gefangenen zurückließen. Ich habe den Todeszauber gesprochen, damit alle überzeugt waren, sie hätten gesehen, wie meine Tochter getötet wurde. Auf, diese Weise glaubt der Feind, daß sie tot ist, und hat keinen Grund, sie zu jagen oder jemals wieder zu versuchen, ihr etwas anzutun. Ich habe es getan, um sie vor dem Unvorhersehbaren zu beschützen.« Die Hexenmeisterin sah ihn böse an. »Wenn es ein anderer getan hätte als du, Zeddicus, und aus einem anderen Grund als dem, den du hattest, würde ich dafür sorgen, daß man dich zur Rechenschaft zieht, weil du ein solches Netz als Todeszauber geknüpft hast.« Ihr finsterer Gesichtsausdruck wich einem Lächeln. »Gut gemacht, Erster Zauberer.« Draußen wollten die Offiziere wissen, was geschehen war. »Heute findet keine Schlacht statt«, sagte Zedd ihnen. »Ich habe den Krieg soeben beendet.« Sie jubelten voll aufrichtiger Freude. Abby vermutete, wenn Zedd nicht der Erste Zauberer gewesen wäre, hätten sie ihn auf ihre Schultern genommen. Es schien, als wäre niemand glücklicher über den Frieden als diejenigen, deren Aufgabe es war, für ihn zu kämpfen. Zauberer Thomas, der demütiger aussah, als Abby ihn je gesehen hatte, räusperte sich. »Zorander .ich .ich .ich kann einfach nicht glauben, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.« Damit nahm sein Gesicht wieder die übliche grimmige Miene an. »Aber viele stehen bereits am Rand einer Revolte gegen die Magie. Wenn sich die Nachricht von den Geschehnissen hier verbreitet, wird alles nur noch schlimmer werden. Die Forderungen, von der Magie befreit zu werden, werden jeden Tag lauter, und du hast die Wut genährt. Nach den Ereignissen dieses Tages werden wir es wahrscheinlich mit einer Revolution zu tun bekommen.« »Ich will immer noch wissen, warum sie sich nicht bewegt«, knurrte Delora hinter ihnen. »Ich will wissen, warum sie einfach grün und reglos da steht.« Zedd beachtete sie nicht, sondern wandte sich dem alten Zauberer zu. »Thomas, ich habe eine Aufgabe für dich.«, Er winkte mehrere Offiziere und Beamte aus Aydindril zu sich und zeigte mit dem Finger auf ihre Gesichter, während sein eigenes von grimmiger Entschlossenheit geprägt war. »Ich habe eine Aufgabe für euch alle. Diese Menschen haben allen Grund, die Magie zu fürchten. Heute haben wir eine tödliche und gefährliche Magie gesehen. Ich kann diese Ängste verstehen. Und weil ich ihre Ängste verstehen kann, werde ich ihnen ihren Wunsch gewähren.« »Was!« brauste Thomas auf. »Du kannst der Magie kein Ende bereiten, Zorander! Nicht einmal du kannst so ein Paradoxon bewerkstelligen.« »Ich will ihr kein Ende bereiten«, sagte Zedd. »Aber ich kann ihnen eine Heimat ohne sie geben. Ich möchte, daß eine offizielle Delegation zusammengestellt wird, die groß genug ist, daß sie die ganzen Midlands mit dem Angebot bereisen kann. Alle, die in einer Welt ohne Magie leben wollen, sollen in die Länder im Westen ziehen. Dort sollen sie ein neues Leben frei von Magie beginnen. Ich werde dafür sorgen, daß keine Magie ihren Frieden stören wird.« Thomas warf die Hände hoch. »Wie kannst du so ein Versprechen geben!« Zedd zeigte mit dem ganzen Arm hinter sich zu der Mauer aus grünem Feuer, die in den Himmel wuchs. »Ich werde eine zweite Wand des Todes beschwören, die niemand passieren kann. Auf der anderen Seite soll ein Land ohne Magie liegen. Dort werden die Menschen in der Lage sein, ihr Leben ohne Magie zu führen. Ihr alle sollt dafür sorgen, daß diese Kunde im ganzen Land verbreitet wird. Die Leute haben bis zum Frühling Zeit, in die Länder im Westen zu emigrieren. Thomas, du wirst sicherstellen, daß niemand, der die Gabe besitzt, die Reise mitmacht. Wir haben Bücher, mit denen wir gewährleisten können, daß ein bestimmtes Gebiet von allem, dem auch nur eine Spur von Magie anhaftet, befreit wird. Wir können garantieren, daß es fortan keine Magie geben wird., Im Frühling, wenn alle, die es wünschen, in ihre neue Heimat gezogen sind, werde ich sie von der Magie abschotten. Mit einem einzigen Handstreich werde ich die Mehrzahl der Bittgesuche erfüllen, die uns erreichen; sie werden ein Leben ohne Magie führen können. Mögen die guten Geister über sie wachen, und mögen sie niemals bedauern, daß ihr Wunsch erfüllt wurde.« Thomas zeigte hitzig auf das Ding, das Zedd in die Welt gebracht hatte. »Und was ist damit? Was ist, wenn Leute sich im Dunkeln hinein verirren? Sie werden in den sicheren Tod gehen.« »Nicht nur im Dunkeln«, sagte Zedd. »Wenn es sich erst einmal stabilisiert hat, wird es kaum noch zu sehen sein. Wir müssen Wachtposten aufstellen, um die Leute fernzuhalten. Wir werden Land an der Grenze räumen und Männer aufstellen müssen, die die Leute wegschicken.« »Männer?« fragte Abby. »Du meinst, ihr werdet ein Korps von Grenzposten ins Leben rufen müssen?« »Ja«, sagte Zedd und zog die Brauen hoch. »Das ist ein guter Name für sie. Grenzposten.« Schweigen senkte sich über alle, die die Worte des Zauberers gehört hatten. Die Stimmung war umgeschlagen, der Ernst paßte zu dem grimmigen Thema, das verhandelt wurde. Abby konnte sich keinen Ort ohne Magie vorstellen, wußte aber, daß viele ihn sich sehnlichst wünschten. Schließlich nickte Thomas. »Zedd, ich glaube, diesmal hast du recht. Manchmal müssen wir den Leuten dienen, indem wir ihnen nicht dienen.« Die anderen murmelten zustimmend, auch wenn sie es, genau wie Abby, für eine trostlose Lösung hielten. Zedd richtete sich auf. »Dann ist es entschieden.« Er drehte sich um und verkündete den Leuten das Ende des Krieges und die bevorstehende Teilung, durch die die jahrelangen Bittgesuche mancher erfüllt werden würden; für alle, die es wünschten, würde außerhalb der Midlands ein Land ohne Magie eingerichtet werden. Während alle über so etwas Geheimnisvolles und Exotisches wie ein Land ohne Magie tuschelten oder das Ende des Krieges, bejubelten und feierten, flüsterte Abby Jana zu, daß sie einen Moment bei ihrem Vater warten sollte. Sie gab ihrer Tochter einen Kuß und nutzte die Gelegenheit, um Zedd beiseite zu ziehen. »Zedd, dürfte ich mit dir sprechen? Ich habe eine Frage.« Zedd lächelte, nahm Abby am Ellbogen und schob sie in ihr kleines Haus. »Ich würde gern nach meiner Tochter sehen. Komm mit!« Abby schlug alle Vorsicht in den Wind und nahm die Hand der Mutter Konfessorin in die eine, die von Delora in die andere Hand und zog sie mit sich. Sie hatten auch ein Recht, das zu hören. »Zedd«, fragte Abby, als sie fern der Menge in ihrem Garten standen, »dürfte ich jetzt wohl erfahren, in welcher Schuld dein Vater bei meiner Mutter stand?« Zedd musterte sie. »Mein Vater stand nicht bei deiner Mutter in der Schuld.« Abby runzelte die Stirn. »Aber es war eine Knochenschuld, die von deinem Vater auf dich übergegangen war, und von meiner Mutter auf mich.« »Oh, es war durchaus eine Schuld, aber nicht die meines Vaters, sondern die deiner Mutter.« »Was?« fragte Abby in völliger Verwirrung. »Was meinst du damit?« Zedd lächelte. »Als deine Mutter dich zur Welt gebracht hat, gab es Komplikationen. Ihr wärt beide bei der Geburt gestorben. Mein Vater hat Magie eingesetzt, um sie zu retten. Heisa hat ihn angefleht, auch dich zu retten. Um dich in der Welt der Lebenden zu behalten, außer Reichweite des Bewahrers, arbeitete er weit über das Maß hinaus, das jemand von einem Zauberer erwarten würde, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Deine Mutter war eine Hexenmeisterin und wußte deshalb, was erforderlich war, um dein Leben zu retten. Um meinem Vater für das zu danken, was er getan hatte, versprach sie ihm eine Schuld. Als sie starb, ging diese Schuld auf dich über.«, Abby versuchte mit großen Augen, das alles im Geiste zu verarbeiten. Ihre Mutter hatte ihr nie verraten, was für eine Art von Schuld es war. »Aber .aber du meinst, daß ich in deiner Schuld stehe? Du meinst, daß die Knochenschuld meine Bürde ist?« Zedd stieß die Tür zu dem Zimmer auf, in dem seine Tochter schlief, und lächelte, als er hineinsah. »Die Schuld ist beglichen, Abby. Der Armreif, den deine Mutter dir gegeben hatte, besaß Magie und hat dich mit der Schuld verbunden. Ich danke dir für das Leben meiner Tochter.« Abby sah zur Mutter Konfessorin. Wahrlich ein Trickser. »Aber warum hast du mir geholfen, wenn du mir gegenüber gar nicht durch eine Knochenschuld verpflichtet warst? Wenn ich in Wahrheit in deiner Schuld stand?« Zedd zuckte die Achseln. »Nur indem wir anderen helfen, ernten wir unseren Lohn. Wir wissen nie, wann, wenn überhaupt, wir diesen Lohn tatsächlich bekommen. Im Helfen besteht der Lohn; kein anderer ist notwendig oder besser.« Abby sah das wunderschöne kleine Mädchen an, das im Nebenzimmer schlief. »Ich danke den guten Geistern, daß ich so ein Leben in dieser Welt erhalten konnte. Ich mag die Gabe nicht besitzen, aber ich kann vorhersehen, daß sie eine wichtige Person werden wird, nicht nur für dich, auch für andere.« Zedd lächelte, während er seine schlafende Tochter betrachtete. »Ich glaube, du könntest die Gabe der Weissagung haben, meine Liebe, denn sie ist bereits eine Person, die dazu beigetragen hat, einen Krieg zu beenden, und dadurch zahllosen Menschen das Leben gerettet hat.« Die Hexenmeisterin zeigte zum Fenster hinaus. »Ich will immer noch wissen, warum sich dieses Ding nicht bewegt. Es sollte über D´Hara hinwegziehen und alles Leben vernichten, sie alle töten für das, was sie getan haben.« Sie runzelte heftiger die Stirn. »Warum steht es einfach da?« Zedd verschränkte die Arme. »Es hat den Krieg beendet. Das ist genug. Die Wand ist ein Teil der Unterwelt selbst, der Welt der, Toten. Solange diese Wand steht, wird ihre Armee nicht imstande sein, sie zu überwinden und Krieg mit uns zu führen.« »Und wie lange wird das sein?« Zedd zuckte die Achseln. »Nichts währt ewig. Im Augenblick herrscht Frieden. Das Töten hat ein Ende.« Die Hexenmeisterin schien nicht zufrieden zu sein. »Aber sie haben versucht, uns alle zu töten!« »Ja, und nun können sie es nicht mehr. Delora, auch in D´Hara gibt es Unschuldige. Daß Panis Rahl uns erobern und unterwerfen wollte, bedeutet nicht, daß alle Leute in D´Hara böse sind. Viele gute Menschen in D´Hara haben unter einer strengen Herrschaft gelitten. Wie könnte ich alle dort töten, einschließlich der Leute, die keinem etwas getan haben und selbst nur ihr Leben in Frieden führen wollen?« Delora strich sich mit einer Hand über das Gesicht. »Zeddicus, manchmal verstehe ich dich nicht. Manchmal bist du ein lausiger Wind des Todes.« Die Mutter Konfessorin sah zum Fenster hinaus Richtung D´Hara. Sie richtete den Blick ihrer violetten Augen auf den Zauberer. »Da drüben gibt es welche, die werden wegen dieser Geschichte ein Leben lang deine Widersacher sein, Zedd. Damit hast du dir erbitterte Feinde geschaffen. Und du hast sie am Leben gelassen.« »Feinde«, sagte der Zauberer, »sind der Preis der Ehre.«, Die Legenden von Alvin Maker ORSON SCOTT CARD, DIE LEGENDEN VON ALVIN MAKER: ERSTES BUCH: DER SIEBENTE SOHN (1988) ZWEITES BUCH: DER ROTE PROPHET (1989) DRITTES BUCH: DER MAGISCHE PFLUG (1990) VIERTES BUCH: DER REISENDE (1997) In den Geschichten um Alvin Maker, die das Panorama eines Amerikas mit einer alternativen Geschichte entwerfen, wie es nie existiert hat, beschreibt Orson Scott Card, wie die Welt aussehen könnte, wenn der Unabhängigkeitskrieg nie stattgefunden hätte und Magie tatsächlich funktionieren würde. Amerika ist in mehrere Provinzen eingeteilt, die Spanier und Franzosen besitzen immer noch großen Einfluß in der Neuen Welt. Die aufkommende wissenschaftliche Revolution in Europa hat viele Leute mit der »Gabe« – d. h. magischen Fähigkeiten – veranlaßt, nach Nordamerika auszuwandern und ihre Spielart der Magie mitzubringen. Die Bücher bilden eine Chronik des Lebens von Alvin, dem siebenten Sohn eines siebenten Sohnes – eine Tatsache, die ihn von Anfang an als einen Menschen mit großer Macht ausweist. Alvins Bestimmung ist es, ein Schöpfer zu werden, ein Adept einer Art, wie es ihn seit tausend Jahren nicht mehr gegeben hat. Aber für jeden Schöpfer existiert ein Unschöpfer – ein übernatürliches Wesen des Bösen –, der Alvins Gegenspieler ist und versucht, Alvins Bruder Calvin gegen ihn einzusetzen. Im Verlauf seiner Abenteuer erforscht Alvin die Welt um ihn herum und begegnet Problemen wie Sklaverei und der anhaltenden Feindschaft zwischen Siedlern und den amerikanischen Ureinwohnern, die die westliche Hälfte des Kontinents beherrschen. Die Serie scheint auf eine endgültige Konfrontation zwischen Alvin und dem Unschöpfer hinauszulaufen, von deren Ausgang das Schicksal des gesamten Kontinents, möglicherweise der ganzen Welt, abhängt.,

ORSON SCOTT CARD Der grinsende Mann

Alvin Maker begegnete dem grinsenden Mann zum erstenmal im steilen Bergwald des östlichen Kenituck. Alvin ging mit seinem Mündel spazieren, dem Knaben Arthur Stuart, und unterhielt sich mit ihm entweder über tiefschürfende philosophische Fragen oder die beste Methode für Reisende, Bohnen zu kochen, was genau, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, als sie auf eine Lichtung kamen, wo ein Mann auf den Hacken kauerte und zu einem Baum aufschaute. Abgesehen von dem unnatürlichen Grinsen, das auf seinem Gesicht lug, war für die Zeit und den Ort wenig Bemerkenswertes an ihm. Er trug Hirschleder und eine Mütze aus Waschbärenfell auf dem Kopf und hatte eine Muskete griffbereit im Gras liegen – viele derart junge und ungestüme Männer trieben sich in jenen Tagen auf den Wildpfaden der unbesiedelten Wälder herum. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, war das östliche Kenituck so unbesiedelt damals gar nicht, und die meisten Männer trugen im Sommer Baumwolle statt Hirschleder, wenn sie nicht so arm waren, daß sie sich keine leisten konnten. Also lag es vielleicht doch teilweise an seinem Äußeren, daß Alvin wie angewurzelt stehenblieb und den Burschen ansah. Arthur Stuart machte natürlich immer genau das, was Alvin auch machte, bis er einen guten Grund dazu hatte, etwas anderes zu tun, daher blieb auch er am Rand der Lichtung stehen, verstummte ebenfalls und sah hin., Der grinsende Mann hatte den Blick auf die mittleren Zweige einer struppigen alten Kiefer gerichtet, die von den langsamer wachsenden Laubbäumen allmählich erstickt wurde. Aber er grinste nicht den Baum an, nein, Sir. Sondern den Bären. Wie jedermann weiß, gibt es Bären und Bären. Einige kleine alte Braunbären sind etwa so gefährlich wie ein Hund – was bedeutet, wenn man einen mit einem Stock haut, dann bekommt man, was man verdient, aber ansonsten läßt er einen in Ruhe. Aber bei einigen Schwarzbären und Grizzlys stellt sich das Rückenfell auf, so daß sie stachelig wie Stachelscheine aussehen, und das verrät dir, daß sie geradezu auf einen Kampf brennen und nur hoffen, daß du ein falsches Wort zu ihnen sagst, damit sie dir den Kopf abschlagen und dir dein Mittagessen aus dem Hals lutschen können. Wie ein besoffener Flußschiffer. So ein Bär war das. Vielleicht ein bißchen alt, aber so stachelig, wie´s nur geht, und er saß auch nicht auf diesem Baum, weil er Angst hatte, sondern weil er Honig wollte, von dem es dort reichlich gab, genau wie Bienen, die inzwischen so erschöpft von den Versuchen waren, durch den verfilzten Pelz zu stechen, daß sie überwiegend tot und völlig ausgestochen waren. Gesummt wurde freilich noch tüchtig, wie ein Chor von Leuten, die den Text eines Kirchenlieds nicht wissen und deshalb die Melodie einfach mitsummen, aber die Bienen schienen nicht einmal die Melodie richtig zu kennen. Und da saß dieser Mann und grinste den Bären an. Und da saß der Bär, schaute zu ihm herab und zeigte die Zähne. Alvin und Arthur standen einige Minuten da und sahen zu, aber das Stilleben veränderte sich nicht. Der Mann hockte am Boden und grinste hinauf; der Bär kauerte auf seinem Ast und grinste herunter. Keiner ließ nur das geringste Anzeichen dafür erkennen, daß er die Anwesenheit von Alvin und Arthur bemerkt hatte. So kam es, daß Alvin das Schweigen brach. »Ich weiß nicht, wer den Häßlichkeitswettbewerb angefangen hat, aber ich weiß, wer ihn gewinnen wird.«, Ohne mit dem Grinsen aufzuhören, sagte der Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht die Hände schüttle, aber ich bin schwer damit beschäftigt, diesen Bären niederzugrinsen.« Alvin nickte weise – das schien durchaus eine wahrheitsgemäße Behauptung zu sein. »Und wie es aussieht«, sagte Alvin, »denkt dieser Bär, daß er Sie auch niedergrinst.« »Soll er denken, was er denken will«, sagte der grinsende Mann. »Er kommt von diesem Baum runter.« Arthur Stuart, der noch jung war, zeigte sich beeindruckt. »Das können Sie nur durch Grinsen erreichen?« »Du solltest nur hoffen, daß ich dich niemals angrinse«, sagte der Mann. »Ich würde deinem Meister wirklich nur ungern den Kaufpreis für einen so klugen Schwarzmohr wie dich bezahlen müssen.« Viele hielten Arthur Stuart irrtümlicherweise für einen Sklaven. Er war ein Mulatte, nicht wahr? Und südlich des Hio lag das Sklavenland, wo ein schwarzer Mann entweder das Eigentum von jemand war, gewesen war oder so sicher wie das Amen in der Kirche das Eigentum von jemand werden würde. Aus Sicherheitsgründen widersprach Alvin dieser Mutmaßung in jener Gegend nicht. Sollten die Leute ruhig denken, daß Arthur Stuart schon einen Besitzer hatte, dann setzte sich schon keiner in den Kopf, sich freiwillig um diesen Posten zu bewerben. »Das scheint ein verdammt starkes Grinsen zu sein«, sagte Alvin Maker. »Mein Name ist Alvin. Ich bin ein fahrender Schmied.« »In dieser Gegend besteht kein großer Bedarf an Schmieden. Weiter westlich ist es viel besser, mehr Siedler! Sie sollten es dort versuchen.« Der Bursche redete immer noch um dieses Grinsen herum. »Vielleicht«, sagte Alvin. »Wie heißen Sie?« »Still jetzt«, sagt der grinsende Mann. »Bleibt, wo ihr seid. Er kommt runter.«, Der Bär gähnte und kletterte den Stamm herunter, stellte sich auf alle viere, schwenkte den Kopf hin und her und lauschte der Musik, die Bären eben so hören. Das Fell um sein Maul war glänzend vom Honig und mit toten Bienen getupft. Was immer der Bär auch denken mochte, nach einer Weile war er fertig, worauf er sich auf die Hinterbeine stellte wie ein Mensch, die Pfoten hob und das Maul aufriß wie ein Baby, das seiner Mama zeigen will, daß es sein Essen geschluckt hat. Der grinsende Mann stellte sich daraufhin auf seine Hinterbeine und breitete seine Arme aus, genau wie der Bär, und er machte den Mund auf und ließ für einen Menschen einen prächtigen Satz Zähne sehen, aber im Vergleich zu den Bärenzähnen waren sie nicht so doll. Der Bär indessen schien überzeugt zu sein. Er ließ sich wieder auf den Boden sinken und trottete ohne Widerworte ins Gebüsch davon. »Das ist jetzt mein Baum«, sagte der grinsende Mann. »Kein besonders toller Baum«, sagte Alvin. »Der Honig ist fast aufgegessen«, fügte Arthur Stuart hinzu. »Mein Baum und das ganze Land um ihn herum«, sagte der grinsende Mann. »Und was haben Sie damit vor? Sie sehen nicht wie ein Farmer aus.« »Ich habe vor, hier zu schlafen«, sagte der grinsende Mann. »Und ich hatte die Absicht, hier zu schlafen, ohne daß ein Bär des Weges kommt und meinen Schlummer stört. Also mußte ich ihm sagen, wer der Boß ist.« »Und mehr fangen Sie mit Ihrem Kniff nicht an?« fragte Arthur Stuart. »Bären verscheuchen?« »Im Winter schlafe ich unter Bärenfell«, sagte der grinsende Mann. »Wenn ich einen Bären niedergrinse, dann bleibt er niedergegrinst, bis ich mit ihm fertig bin.« »Haben Sie keine Angst, daß Sie eines Tages auf einen Ebenbürtigen treffen könnten?« fragte Alvin nachsichtig. »Ich hab keinen Ebenbürtigen, Freund. Mein Grinsen ist der Prinz der Grinser. Der König aller Grinser!«, »Der Kaiser der Grinser«, sagte Arthur Stuart. »Der Napoleon der Grinser!« Die Ironie in Arthurs Stimme war offenbar nicht so subtil, daß sie dem grinsenden Mann entgangen wäre. »Ihr Junge hat ein schönes Mundwerk am Leib.« »Hilft mir, die Zeit zu vertreiben«, sagte Alvin. »Nun, da Sie uns den Gefallen getan und diesen Bären verjagt haben, schätze ich, daß dies ein guter Platz für uns ist, ein Kanu zu bauen.« Arthur Stuart sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Wozu brauchen wir denn ein Kanu?« »Weil ich ein fauler Mensch bin«, sagte Alvin, »gedenke ich, damit flußabwärts zu fahren.« »Mir einerlei«, sagte der grinsende Mann. »Fahren Sie, versenken Sie es, tragen Sie es auf dem Kopf, oder verspeisen Sie es zum Abendessen, hier werden Sie jedenfalls nichts bauen.« Das Grinsen zierte immer noch sein Gesicht. »Sieh dir das an, Arthur«, sagte Alvin. »Dieser Mann hat uns noch nicht einmal seinen Namen genannt, und schon grinst er uns einen.« »Keine Chance«, sagte Arthur Stuart. »Uns haben schon Politiker, Prediger, Hexen und Anwälte angegrinst, und Sie haben nicht genug Zähne, um uns angst zu machen.« Nach diesen Worten richtete der grinsende Mann seine Muskete direkt auf Alvins Herz. »Schätze, dann muß ich wohl aufhören, zu grinsen«, sagte er. »Ich glaube, dies ist nicht die Gegend, um Kanus zu bauen«, sagte Alvin. »Laß uns gehen, Arthur.« »Nicht so hastig«, sagte der grinsende Mann. »Ich glaube, ich würde all meinen Nachbarn einen Gefallen tun, wenn ich euch nie wieder von diesem Fleckchen Erde fort ließe.« »Zuerst einmal«, sagte Alvin, »haben Sie keine Nachbarn.« »Die gesamte Menschheit ist mein Nachbar«, sagte der grinsende Mann. »Das hat Jesus gesagt.«, »Soweit ich mich erinnere, meinte er speziell die Samariter«, sagte Alvin, »und Samariter haben keinen Grund, sich über mich zu beklagen.« »Ich sehe nur einen Mann mit einem Beutel, den er vor mir verbirgt.« Das stimmte, denn in dem Sack befand sich Alvins goldener Pflug, und er versuchte stets, den halbwegs hinter sich zu verstecken, damit die Leute keine Angst bekamen, wenn sie sahen, wie er sich von selbst bewegte, was von Zeit zu Zeit vorkam. Aber jetzt zog Alvin den Sack nach vorn, um auf die Herausforderung zu reagieren. »Vor einem Mann mit einer Waffe hab ich nichts zu verbergen«, sagte Alvin. »Einen Mann mit einer Tüte«, sagte der grinsende Mann, »der behauptet, daß er ein Schmied ist, aber als einzigen Begleiter einen Jungen hat, der zu mager und kleinwüchsig ist, um das Gewerbe zu lernen. Der Junge ist aber genau dünn genug, um sich durch ein Dachfenster oder die Traufe eines schlecht gebauten Hauses zu zwängen. Also sag ich zu mir, da haben wir einen Erdgeschoßmann, der den Jungen mit seinen kräftigen Armen hochhebt, damit er sich von oben in Häuser schleichen und dem Dieb die Tür aufmachen kann. Wenn ich Sie auf der Stelle niederschießen würde, würde ich demnach der Welt einen Gefallen tun.« Arthur Stuart schnaubte. »Einbrecher haben im Wald nicht viel zu tun.« »Hab nie gesagt, daß ihr besonders schlau ausseht«, sagte der grinsende Mann. »Am besten richten Sie Ihr Gewehr jetzt auf jemand anders«, sagte Arthur Stuart leise. »Wenn Sie´s auch in Zukunft noch benutzen wollen.« Als Antwort darauf drückte der grinsende Mann ab. Eine Flamme schoß aus dem Lauf des explodierenden Gewehrs, der sich in Form von Streifen zurückschälte wie das Ende eines, abgenutzten Besenstiels. Die Kugel in der Muskete rollte langsam aus dem zerfetzten Lauf und fiel ins Gras. »Jetzt seht nur, was ihr mit meinem Gewehr gemacht habt«, sagte der grinsende Mann. »Ich hab nicht abgedrückt«, sagte Alvin. »Und Sie waren gewarnt.« »Wie kommt es, daß Sie immer noch grinsen?« fragte Arthur Stuart. »Ich bin eben ein fröhlicher Bursche«, sagte der grinsende Mann und zückte sein großes, altes Messer. »Mögen Sie dieses Messer?« fragte Arthur Stuart. »Hab´s von meinem alten Freund Jim Bowie«, sagte der grinsende Mann. »Es hat sechs Bären gehäutet, und ich weiß nicht, wie viele Biber.« »Sehen Sie sich den Lauf Ihrer Muskete an«, sagte Arthur Stuart, »und dann die Klinge Ihres Messers, auf das Sie so stolz sind, und denken Sie gründlich nach.« Der grinsende Mann betrachtete den Lauf und dann die Klinge. »Und?« fragte der Mann. »Denken Sie nur weiter«, sagte Arthur Stuart. »Es wird Ihnen schon auffallen.« »Sie lassen ihn so mit weißen Männern sprechen?« »Wenn ein Mann eine Muskete auf mich abfeuert«, sagte Alvin, »dann schätze ich, kann Arthur Stuart hier jederzeit mit ihm sprechen, wie´s ihm grad in den Sinn kommt.« Der grinsende Mann dachte einen Moment darüber nach, und dann grinste er – was niemand für möglich gehalten hätte – noch breiter, steckte das Messer weg und streckte die Hand aus. »Schönen Kniff haben Sie da drauf«, sagte er zu Alvin. Alvin schüttelte dem Mann die Hand. Arthur Stuart wußte, was als nächstes geschehen würde, weil er es schon miterlebt hatte. Obwohl Alvin als Schmied vorgestellt war und jeder Mann mit Augen im Kopf seine kräftigen Arme und Hände sehen konnte, wußte dieser grinsende Mann natürlich nichts Besseres, anzufangen, als sich Fuß an Fuß gegen Alvin zu stemmen und zu versuchen, ihn nach unten zu ziehen. Nicht, daß Alvin etwas gegen ein wenig sportliche Betätigung einzuwenden gehabt hätte. Er ließ den grinsenden Mann eine ganze Zeitlang ziehen und zerren und winden und ringen. Es hätte wie ein Zweikampf aussehen können, aber Alvin machte fast den Eindruck, als würde er sich auf ein Nickerchen vorbereiten, so entspannt wirkte er. Schließlich wurde Alvins Interesse geweckt. Er drückte, so fest er konnte, worauf der grinsende Mann winselte und auf die Knie ging und Alvin anflehte, ihm seine Hand wiederzugeben. »Nicht, daß ich jemals wieder Verwendung dafür hätte«, sagte der grinsende Mann, »aber ich hätte sie trotzdem gern wieder, damit ich wenigstens einen Platz hab, um meinen zweiten Handschuh zu verstauen.« »Hab nicht vor, Ihre Hand zu behalten«, sagte Alvin. »Ich weiß, aber mir kam der Gedanke, Sie könnten vielleicht vorhaben, die Hand hier auf der Wiese zu lassen und mich anderswohin zu schicken«, sagte der grinsende Mann. »Hören Sie nie auf zu grinsen?« fragte Alvin. »Wage nicht, es zu versuchen«, sagte der grinsende Mann. »Schlimme Sachen geschehn mit mir, wenn ich nicht lächle.« »Es würde Ihnen viel besser gehn, wenn Sie mich mißtrauisch angeguckt, aber die Muskete auf den Boden gerichtet und die Hände in den Hosentaschen gelassen hätten«, sagte Alvin. »Sie haben meine Finger zu einem einzigen zusammengequetscht, und mein Daumen fällt gleich ab«, sagte der grinsende Mann. »Ich bin bereit, um Gnade zu bitten.« »Bereit sein ist eines. Es tun etwas anderes.« »Gnade«, sagte der grinsende Mann. »Nee, das reicht nicht«, sagte Alvin. »Ich brauche zwei Dinge von Ihnen.« »Ich hab kein Geld, und wenn Sie mir meine Fallen wegnehmen, bin ich ein toter Mann.«, »Ich will Ihren Namen wissen und die Erlaubnis haben, hier ein Kanu zu bauen«, sagte Alvin. »Mein Name, wenn ich nicht der ›Einhändige Davy‹ werde, ist Crockett, nach meinem Daddy«, sagte der grinsende Mann. »Und ich schätze, was diesen Baum angeht, hab ich mich geirrt. Es ist Ihr Baum. Ich und der Bär, wir sind beide weit weg von zu Hause und haben vor Einbruch der Nacht noch eine weite Strecke vor uns.« »Sie können gern bleiben«, sagte Alvin. »Hier ist Platz genug für alle.« »Für mich nicht«, sagte Davy Crockett. »Sollte ich meine Hand je zurückbekommen, wird sie mächtig geschwollen sein, und ich glaube nicht, daß dann noch Platz genug für sie auf dieser Lichtung ist.« »Ich sehe Sie nur ungern aufbrechen«, sagte Alvin. »Ein neuer Freund ist in dieser Gegend etwas Kostbares.« Er ließ los. Tränen traten Davy in die Augen, als er zaghaft die wunde Handfläche und die Finger betastete, um zu prüfen, ob einer abfallen wollte. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Fahrender Schmied«, sagte Davy. »Dich auch, Junge.« Er nickte fröhlich und grinste wie ein Schankwirt. »Ich schätze, ihr könnt unmöglich Einbrecher sein. Und auch nicht der berühmte Schmiedelehrling Prentice Smith, der seinem Herrn einen goldenen Pflug gestohlen hat, ihn in einem Sack aufbewahrt und damit auf der Flucht ist.« »Ich hab in meinem ganzen Leben nichts gestohlen«, sagte Alvin. »Aber jetzt, wo Sie kein Gewehr mehr haben, geht es Sie nichts an, was ich in meinem Sack habe.« »Ich überlasse Ihnen mit Vergnügen das Recht an diesem Land«, sagte Davy, »und alle Rechte an unterirdischen Mineralien, alle Rechte an Regen und Sonnenschein, plus an Holz und allen Häuten und Fellen.« »Sind Sie Anwalt?« fragte Arthur Stuart argwöhnisch. Anstelle einer Antwort drehte sich Davy um und schlurfte genau wie der Bär von der Lichtung, und sogar in dieselbe Richtung. Und er schlich, obwohl er wahrscheinlich laufen wollte;, aber beim Laufen hätte er die Hand schlenkern müssen, und das hätte zu sehr weh getan. »Ich glaube, den werden wir nie wiedersehen«, sagte Arthur Stuart. »Ich glaube doch«, antwortete Alvin. »Wieso?« »Weil ich ihn tief im Innersten verändert habe, damit er ein bißchen mehr wie dieser Bär ist. Und ich habe den Bären verändert, damit er ein bißchen mehr wie Davy ist.« »Du solltest nicht so im Innersten der Leute herumpfuschen«, sagte Arthur Stuart. »Das gibt mir der Teufel ein«, sagte Alvin. »Du glaubst nicht an den Teufel.« »Doch, schon«, antwortete Alvin. »Ich glaub nur nicht, daß er so aussieht, wie die Leute sagen.« »Ach? Und wie sieht er dann aus?« wollte der Junge wissen. »Wie ich«, sagte Alvin. »Nur klüger.« Alvin und Arthur machten sich daran, ein Kanu zu schnitzen. Sie fällten einen Baum, der gerade die richtige Größe hatte – zwei Zoll breiter als Alvins Hüften – und brannten eine Seite ab, worauf sie die Asche herauskratzten und tiefer brannten. Es war eine langsame, schweißtreibende Arbeit, und je länger sie damit beschäftigt waren, desto verwunderter wurde Arthur Stuart. »Ich schätze, du verstehst was von deinem Geschäft«, sagte er zu Alvin, »aber wir brauchen kein Kanu nicht.« »Wir brauchen kein Kanu«, sagt Alvin. »Miss Larner wäre zu Recht verstimmt, dich so reden zu hören.« »Erstens«, sagt Arthur Stuart, »hast du von Tenskwa-Tawa gelernt, wie ein roter Mann durch den Wald zu laufen, schneller als jedes Kanu schwimmen kann, und das mit viel weniger Arbeit.« »Hab keine Lust zu laufen«, sagte Alvin. »Zweitens«, fuhr Arthur Stuart fort, »arbeitet das Wasser, wann immer es kann, gegen dich. Miss Lamer hat erzählt, daß, Wasser dich sechzehnmal fast getötet hätte, bevor du zehn warst.« »Das war nicht das Wasser, es war der Unschöpfer, und heutzutage hat er es aufgegeben, Wasser gegen mich einzusetzen. Heute versucht er überwiegend, mich zu töten, indem er mich Narren mit vielen Fragen zuhören läßt.« »Drittens«, sagt Arthur Stuart, »falls du mitzählst, sollen wir uns mit Mike Fink und Verily Cooper treffen, und dieses Kanu zu bauen wird nicht dazu beitragen, daß wir rechtzeitig dort sind.« »Das sind zwei Jungs, die lernen müssen, Geduld zu üben«, sagt Alvin gelassen. »Viertens«, sagt Arthur Stuart, der mit jeder Antwort Alvins erboster wurde, »der vierte und letzte Grund, du bist ein Schöpfer, verflixt noch mal, du könntest diesen Baum einfach ausgehöhlt denken und damit leicht wie eine Feder über das Wasser schweben, also selbst wenn du einen Grund hättest, dieses Kanu zu machen, den du nicht hast, und selbst wenn du einen sicheren Platz hättest, es schwimmen zu lassen, den du auch nicht hast, müßtest du mich diese Arbeit ganz sicher nicht von Hand machen lassen!« »Arbeitest du zu hart?« fragte Alvin. »Härter als notwendig ist immer zu hart«, sagte Arthur. »Von wem gebraucht wird und wofür?« fragte Alvin. »Du hast recht – ich mache dieses Kanu nicht, weil wir flußabwärts schwimmen müssen, und ich mache es nicht, weil wir damit schneller reisen können.« »Warum dann? Oder hast du es völlig aufgegeben, etwas aus einem bestimmten Grund zu machen?« »Ich mache überhaupt kein Kanu«, sagt Alvin. Da kniete Arthur Stuart tief in einem ausgehöhlten Stamm und kratzte Asche heraus. »Ein Haus ist das ganz sicher nicht!« »Oh, du machst ein Kanu«, sagt Alvin. »Und wir lassen uns in diesem Kanu jenen Fluß dort hinunter treiben. Aber ich mache kein Kanu.«, Arthur Stuart arbeitete weiter, während er darüber nachdachte. Nach ein paar Minuten sagte er: »Ich weiß, was du machst.« »Ach ja?« »Du bringst mich dazu, zu tun, was du willst.« »Fast.« »Du bringst mich dazu, etwas aus diesem Baum zu machen, aber du benutzt den Baum auch, um aus mir etwas zu machen.« »Und was sollte ich wohl aus dir machen wollen?« »Nun, ich glaube, du denkst, daß du mich zu einem Schöpfer machst«, sagte Arthur Stuart. »Aber dabei machst du mich nur zu einem Kanu-Schöpfer, was nicht dasselbe ist wie ein Rundum- Allzweck-Schöpfer wie du.« »Irgendwo muß man anfangen.« »Du nicht«, sagt Arthur. »Du bist auf die Welt gekommen und hast gewußt, wie man Sachen macht.« »Ich wurde mit einem Kniff geboren«, sagt Alvin. »Aber ich wurde nicht mit dem Wissen geboren, wie man ihn anwendet, oder wann und warum. Ich hab gelernt, das Schöpfen und Machen um seiner selbst willen zu lieben. Ich habe gelernt zu lieben, wie sich Holz und Stein unter meinen Händen anfühlen, und danach habe ich gelernt, in ihr Innerstes zu sehen, zu empfinden, wie sie empfinden, zu wissen, wie sie funktionieren, was sie zusammenhält und wie man sie auf genau die richtige Weise auseinandernehmen kann.« »Aber ich lerne nichts davon«, sagt Arthur. »Noch nicht.« »Nein, Sir«, sagt Arthur Stuart. »Ich seh nicht ins Innerste von gar nix, ich spür nicht das Innerste von gar nix, abgesehen davon, wie mein Rücken weh tut und mir der Schweiß vom ganzen Körper läuft, und mich verdrießt immer mehr, daß ich mich für ´ne Arbeit abrackern muß, die du mit ´nem Augenzwinkern erledigen könntest.« »Das ist doch immerhin schon was«, sagt Alvin. »Wenigstens lernst du, in dich selbst zu sehen.«, Arthur Stuart schäumte ein wenig mehr und hobelte dabei verbranntes Holz ab. »Eines Tages werde ich deine schlauen Sprüche satt haben«, sagt er zu Alvin, »und ich werde dir nicht mehr folgen.« Alvin schüttelte den Kopf. »Arthur Stuart, ich habe versucht, dich zu überreden, daß du mir diesmal nicht folgst, wenn du dich recht erinnerst.« »Geht es etwa darum bei dieser Sache? Bestrafst du mich, weil ich dir gefolgt bin, obwohl du mir gesagt hast, daß ich es nicht soll?« »Du hast gesagt, du willst lernen, wie man ein Schöpfer ist«, sagte Alvin. »Und wenn ich versuche, es dir beizubringen, ernte ich nur Gemaule und Gejammer.« »Und du erntest Arbeit von mir«, sagt Arthur. »Ich habe während des ganzen Gesprächs nicht aufgehört, zu arbeiten.« »Das stimmt«, sagt Alvin. »Außerdem gibt es etwas, das du nicht bedacht hast«, sagt Arthur Stuart. »Die ganze Zeit, während wir ein Kanu schöpfen, unschöpfen wir einen Baum.« Alvin nickte. »So läuft das eben. Man schöpft niemals etwas aus nichts. Man macht es immer aus etwas anderem. Wenn es etwas Neues wird, ist es nicht mehr das, was es vorher war.« »Also jedesmal, wenn man etwas schöpft, unschöpft man auch etwas«, sagt Arthur Stuart. »Und darum weiß der Unschöpfer immer, wo ich bin und was ich mache«, sagt Alvin. »Denn wenn ich meine Arbeit mache, mache ich immer auch ein bißchen von seiner.« Für Arthur Stuart hörte sich das weder richtig noch wahr an, aber ihm fiel kein Gegenargument ein, und während er versuchte, sich eines zu überlegen, brannten und hobelten sie immer weiter, und hin und her, und schließlich hatten sie ein Kanu. Sie schleppten es zum Fluß und ließen es zu Wasser und stiegen hinein, und es kippte einfach um. Dreimal fielen sie ins Wasser, bis Alvin schließlich aufgab und seinen Kniff einsetzte, um die, Balance des Dings zu erspüren und es gerade soweit umzuformen, daß es gut im Gleichgewicht blieb. Arthur Stuart mußte ihn daraufhin auslachen. »Welche Lektion soll ich denn daraus lernen? Wie man ein schlechtes Kanu macht?« »Halt den Mund und rudere«, sagte Alvin. »Wir treiben flußabwärts«, sagte Arthur Stuart, »und ich muß nicht rudern. Außerdem hab ich nur diesen Stock hier, und der ist gar kein Paddel.« »Dann nimm ihn und sieh zu, daß wir nicht das Ufer rammen«, sagte Alvin, »was wir dank deinem Geplapper bald tun.« Arthur Stuart stieß das Kanu vom Ufer des Baches ab, und sie trieben abwärts, bis sie in einen größeren Bach gerieten, dann noch einen größeren und schließlich einen Fluß. Die ganze Zeit brachte Arthur das Gespräch immer wieder auf das, was Alvin gesagt hatte und was er ihn zu lehren versuchte, und wie immer verzweifelte Arthur Stuart daran, es zu lernen. Aber er kam nicht umhin, zu denken, daß er etwas gelernt hatte, auch wenn er zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Ahnung hatte, was es sein könnte. Da die Leute Städte an Flüssen bauen, gelangt man mit größter Wahrscheinlichkeit irgendwann einmal in eine Stadt, wenn man einen Fluß hinabfährt, was sie eines Morgens auch taten, als noch Nebel über dem Fluß hing und ihnen der Schlaf in den Augen stand. Es war keine tolle Stadt, aber schließlich war es auch kein toller Fluß, und sie reisten nicht in einem tollen Boot. Sie brachten es ans Ufer und zogen es auf den Sand, Alvin schulterte seinen Sack mit dem Pflug darin, und dann marschierten sie in die Stadt, als die Leute gerade aufstanden, um den Tag zu beginnen. Als erstes suchten sie nach einem Gasthaus, aber die Stadt war zu klein und zu neu. Nur ein Dutzend Häuser, und die Straße so wenig befahren, daß Gras von einer Eingangstür zur nächsten wuchs. Aber das bedeutete nicht, daß es keine Hoffnung auf, Frühstück gab. Wenn der Himmel heller wird, dann steht auch jemand auf und fängt mit der Arbeit des Tages an. Als sie an einem Haus mit einer Scheune dahinter vorbeikamen, hörten sie das Ping-ping-ping, als eine Kuh in einen Blecheimer gemolken wurde. In ein anderes Haus ging gerade eine Frau mit Eiern aus dem Hühnerstall. Das sah vielversprechend aus. »Haben Sie etwas für einen Reisenden?« fragte Alvin. Die Frau sah sie von oben bis unten an. Wortlos verschwand sie in ihrem Haus. »Wenn du nicht so häßlich wärst«, sagte Arthur Stuart, »hätte sie uns reingebeten.« »Während du wie ein Engel anzuschauen bist«, sagte Alvin. Sie hörten, wie die Eingangstür des Hauses geöffnet wurde. »Vielleicht wollte sie sich nur beeilen und die Eier für uns braten«, sagte Arthur Stuart. Aber nicht die Frau kam heraus. Es war ein Mann, der aussah, als hätte er nicht viel Zeit gehabt, seine Kleidung zu richten. Seine Hose hing herunter, und sie hätten vielleicht Wetten abgeschlossen, wie schnell sie auf die Veranda fallen würde, wenn der Mann nicht eine verdammt funktionstüchtig aussehende Donnerbüchse auf sie gerichtet hätte. »Verschwindet«, sagte der Mann. »Wir verschwinden«, sagte Alvin. Er schulterte den Sack wieder und ging an dem Haus vorbei. Der Lauf der Flinte folgte ihnen. Es kam, wie es kommen mußte: Als sie gerade auf der Höhe der Haustür waren, rutschte die Hose herunter. Der Mann sah verlegen und wütend aus. Der Lauf der Donnerbüchse wurde gesenkt. Der Vogelschrot kullerte aus dem Lauf, Dutzende winziger Bleikügelchen, die wie Regen auf die Veranda prasselten. Nun sah der Mann verwirrt aus. »Man muß vorsichtig sein, wenn man ein Gewehr mit einem so großen Lauf lädt«, sagte Alvin. »Ich wickle den Schrot immer in Papier, damit mir so was nicht passiert.« Der Mann sah ihn finster an. »Hab ich.« »Aber das weiß ich doch«, sagte Alvin., Aber da lag der Schrot auf der Veranda, eine stumme Widerlegung. Nichtsdestotrotz sprach Alvin die reine Wahrheit. Das Papier steckte tatsächlich noch in dem Gewehrlauf, aber Alvin hatte es überreden können, vorne aufzureißen, damit die Schrotkugeln herausfallen konnten. »Ihre Hose ist unten«, sagte Arthur Stuart. »Verschwindet«, sagte der Mann. Sein Gesicht lief rot an. Seine Frau beobachtete alles von der Tür hinter ihm. »Nun, wissen Sie, das hatten wir ohnehin schon vorgehabt«, sagte Alvin, »aber solange Sie uns nicht töten können, im Augenblick wenigstens nicht, dürfte ich Ihnen da ein paar Fragen stellen?« »Nein«, sagte der Mann. Er stellte das Gewehr weg und zog die Hose hoch. »Als erstes wüßte ich gern den Namen dieser Stadt. Ich könnte mir denken, sie muß ›Freundlich‹ oder ›Willkommen‹ heißen.« »Tut sie nicht.« »Nun, damit scheiden zwei aus«, sagte Alvin. »Müssen wir weiter raten, oder glauben Sie, daß Sie es uns einfach von Mann zu Mann sagen können?« »Wie wäre es mit ›Pantsdown Landing‹?« fragte Arthur Stuart. »Dies ist Westville, Kenituck«, sagte der Mann. »Und jetzt verschwindet.« »Meine zweite Frage. Wie ich sehe, habt ihr Leutchen nicht genug, um mit Fremden zu teilen; gibt es jemanden, dem es ein wenig besser geht und der bereit wäre, Reisenden etwas abzugeben, die etwas Silber haben, um dafür zu bezahlen?« »Niemand hier hat eine Mahlzeit für euresgleichen«, sagte der Mann. »Ich verstehe allmählich, warum auf dieser Straße Gras wächst«, sagte Alvin. »Aber euer Friedhof muß voll von Fremden sein, die hier in der Hoffnung auf ein Frühstück verhungert sind.« Der Mann war auf den Knien, sammelte Schrotkörner ein und antwortete nicht, aber seine Frau streckte den Kopf zur Tür hinaus und trat den Beweis an, daß sie doch eine Stimme hatte., »Wir sind so gastfreundlich hier wie alle anderen auch, nur nicht zu berüchtigten Einbrechern und Diebsgesellen.« Arthur Stuart stieß einen langen Pfiff aus. »Was möchtest du wetten, daß Davy Crockett hier durchgekommen ist?« fragte er leise. »Ich habe in meinem ganzen Leben nichts gestohlen«, sagte Alvin. »Was haben Sie dann in dem Sack dort?« wollte die Frau wissen. »Ich wünschte, ich könnte sagen, daß es der Kopf des letzten Mannes ist, der ein Gewehr auf mich gerichtet hat, aber unglücklicherweise habe ich ihn auf seinem Hals gelassen, damit er hierherkommen und Lügen über mich verbreiten konnte.« »Sie schämen sich also, den goldenen Pflug zu zeigen, den Sie gestohlen haben?« »Ich bin Schmied, Ma´am«, sagte Alvin, »und habe meine Werkzeuge hier. Sie können gern reinsehen, wenn Sie wollen.« Er drehte sich um und sprach auch zu den anderen Leuten, die sich auf ihren Veranden oder der Straße versammelten, einige bewaffnet. »Ich weiß nicht, was ihr Leute gehört habt«, sagte Alvin und legte den Sack hin, »aber ihr könnt euch gern meine Werkzeuge ansehen.« Er machte den Sack auf und zog ihn herunter, so daß Hammer, Zangen, Blasebalg und Nägel auf der Straße lagen. Keine Spur von einem Pflug. Alles sahen genau hin, als würden sie Inventur machen. »Nun, vielleicht sind Sie nicht der, von dem wir gehört haben«, sagte die Frau. »Doch, Ma´am, ich bin genau derjenige, wenn es ein gewisser Trapper mit Waschbärenmütze namens Davy Crockett war, der die Geschichte erzählt hat.« »Sie geben also zu, daß Sie der Prentice Smith sind, der den Pflug gestohlen hat? Und ein Einbrecher?« »Nein, Ma´am, ich gebe nur zu, daß ich ein Bursche bin, der einem Trapper, der hinter dem Rücken eines Mannes schlecht, über ihn redet, auf die Zehen getreten hat.« Er zog den Sack über seine Werkzeuge hoch und band ihn wieder zu. »Wenn ihr mich nun alle abweisen wollt, nur zu, aber denkt nicht, daß ihr einen Dieb abgewiesen habt, denn das stimmt nicht. Ihr habt eine Waffe auf mich gerichtet und mich abgewiesen, ohne mir und diesem hungrigen Jungen einen Bissen abzugeben, ohne eine Verhandlung oder die Spur eines Beweises, nur auf das Wort eines Reisenden hin, der hier ebenso fremd ist wie ich.« Nach diesem Vorwurf sahen sie alle schafsmäßig drein. Aber eine alte Frau wollte sich nicht einwickeln lassen. »Ich denke, wir kennen Davy«, sagte sie. »Du dagegen bist uns noch nie unter die Augen gekommen.« »Und ihr werdet mich auch nie wieder sehen, das verspreche ich«, sagte Alvin. »Und ihr könnt sicher sein, daß ich dies hier erzählen werde, wohin ich auch komme – Westville, Kenituck, wo ein Fremder nichts zu essen bekommt und ein Mann schuldig ist, bevor er überhaupt die Anklage gehört hat.« »Wenn kein Wort wahr ist«, sagte die alte Frau, »woher hast du dann gewußt, daß Davy Crockett die Geschichte erzählt hat?« Die anderen nickten und murmelten, als wäre das ein entscheidender Punkt. »Weil mir Davy Crockett diesen Vorwurf ins Gesicht gesagt hat«, antwortete Alvin, »und er ist der einzige, der mich und meinen Jungen je angesehen und für Einbrecher gehalten hat. Ich will euch sagen, was ich ihm gesagt habe. Wenn wir Einbrecher sind, warum sind wir dann nicht in einer großen Stadt, wo es viele schöne Häuser auszurauben gibt? Ein Einbrecher könnte verhungern, wenn er versucht, in einer armen Stadt wie dieser etwas Wertvolles zu stehlen.« »Wir sind nicht arm«, sagte der Mann auf der Veranda. »Ihr habt nichts zu essen übrig«, sagte Alvin. »Und kein Haus hier hat eine Tür, die man abschließen kann.« »Seht ihr?« kreischte die alte Frau. »Er hat schon unsere Türen überprüft, um festzustellen, wie leicht er einbrechen kann!«, Alvin schüttelte den Kopf. »Manche Leute sehen Sünde in Sperlingen und das Böse in Weidenbäumen.« Er nahm Arthur Stuart an den Schultern und traf Anstalten, die Stadt auf demselben Weg zu verlassen, wie sie sie betreten hatten. »Halt, Fremder!« rief ein Mann hinter ihnen. Sie drehten sich um und erblickten einen großen Mann zu Pferde, der langsam auf der Straße näher kam. Die Leute machten ihm Platz. »Rasch, Arthur«, murmelte Alvin. »Was meinst du, wer das ist?« »Der Müller«, sagte Arthur Stuart. »Schönen guten Morgen, Mr. Miller!« rief Alvin zum Gruß. »Wie habt ihr mein Gewerbe erraten?« fragte der Müller. »Der Junge hier hat geraten«, sagte Alvin. Der Müller ritt näher und richtete den Blick auf Arthur Stuart. »Und wie konntest du das erraten?« »Sie sprechen wie jemand, der Autorität hat«, sagte Arthur Stuart, »und Sie reiten ein Pferd, und die Leute machen Ihnen Platz. In einer Stadt dieser Größe bedeutet das, daß Sie der Müller sind.« »Und in einer größeren Stadt?« fragte der Müller. »Wären Sie Anwalt oder Politiker«, sagte Arthur Stuart. »Der Junge ist ja ein ganz Schlauer«, sagte der Müller. »Nein, er plappert einfach nur so daher«, sagte Alvin. »Ich habe ihn immer gehauen, aber beim letztenmal habe ich einfach aufgegeben. Doch ich habe festgestellt, was ihm das Mundwerk stopft, das ist Essen, vorzugsweise Pfannkuchen, aber wir wären auch mit Eiern zufrieden, hartgekochte, gerührte, gebratene oder verlorene.« Der Müller lachte. »Kommt mit zu meinem Haus, das keine drei Ruten jenseits des Dorfplatzes an der Straße zum Fluß hinunter liegt.« »Wissen Sie«, sagte Alvin, »mein Vater ist ein Müller.« Der Müller legte den Kopf schief. »Wie kommt es dann, daß Sie nicht in seine Fußstapfen treten?«, »Ich stehe in einer Liste von acht Söhnen ziemlich weit unten«, sagte Alvin. »Können nicht alle Müller sein, darum habe ich mich für Schmied entschieden. Aber ich kann gut mit Mühlengerät umgehen, falls Sie mich unser Frühstück verdienen lassen wollen.« »Kommt mit, dann werden wir schon sehen, wieviel Sie wissen«, sagte der Müller. »Was diese Leute angeht, beachten Sie sie gar nicht. Wenn ein Reisender hier durchkommen und ihnen erzählen würde, daß die Sonne aus Butter gemacht ist, würden sie alle versuchen, sie sich auf das Brot zu streichen.« Sein Heiterkeitsausbruch nach dieser Bemerkung fand keine einhellige Zustimmung, aber davon ließ er sich nicht beirren. »Ich habe auch einen Pferdeschuppen, wenn Sie sich also für eine etwas schwerere Arbeit nicht zu schade sind, hätte ich Pferde zu beschlagen.« Alvin nickte zustimmend. »Nun, dann geht vor zum Haus und wartet auf mich«, sagte der Müller. »Dauert nicht lange. Ich muß nur noch meine Wäsche abholen.« Er sah die Frau an, die Alvin als erste angesprochen hatte. Sie verschwand augenblicklich ins Haus, um die Kleidungsstücke zu holen, deretwegen der Müller gekommen war. Auf der Straße zur Mühle, als die Dorfbewohner sie nicht mehr sehen konnten, fing Alvin an zu kichern. »Was ist so komisch?« fragte Arthur Stuart. »Dieser Bursche, der die Hose um die Knöchel liegen hatte, während ihm der Schrot aus der Donnerbüchse gerollt ist.« »Ich mag diesen Müller nicht«, sagte Arthur Stuart. »Nun, er gibt uns ein Frühstück, also schätze ich, kann er nicht ganz schlecht sein.« »Er hat nur die Leute aus der Stadt vorgeführt«, sagte Arthur Stuart. »Also entschuldige bitte, aber ich glaube nicht, daß das den Geschmack der Pfannkuchen beeinflussen wird.« »Ich mag seine Stimme nicht.«, Da fuhr Alvin hoch und wurde aufmerksam. Stimmen gehörten zum Kniff von Arthur Stuart. »Stimmt was nicht an der Art, wie er redet?« »Er hat etwas Gemeines in sich«, sagte Arthur Stuart. »Kann gut sein«, sagte Alvin. »Aber seine Gemeinheit ist besser, als wieder nach Nüssen und Beeren zu suchen oder ein Eichhörnchen von den Bäumen zu holen.« »Oder schon wieder Fisch.« Arthur verzog das Gesicht. »Müllern sagt man häufig nach, daß sie gemein sind«, sagte er. »Die Leute müssen ihr Getreide mahlen lassen, das schon, aber sie glauben immer, daß der Müller zuviel nimmt. Darum sind Müller daran gewöhnt, daß die Leute ihnen Vorhaltungen machen. Vielleicht hast du das in seiner Stimme gehört.« »Vielleicht«, sagte Arthur Stuart. Dann wechselte er das Thema. »Wie hast du den Pflug verborgen, als du deinen Sack aufgemacht hast?« »Ich hab gewissermaßen unter dem Sack ein Loch im Boden aufgemacht«, sagte Alvin, »und da ist der Pflug einfach reingesunken.« »Wirst du mir beibringen, wie man so etwas macht?« »Ich werde mein Bestes tun, zu lehren«, sagte Alvin, »wenn du dein Bestes tust, zu lernen.« »Wie steht es damit, den Schrot aus einem Gewehr kullern zu lassen, das auf einen gerichtet ist?« »Ich habe mit meinem Kniff das Papier zerrissen, aber seine eigene Hose war schuld, daß er den Lauf schräg gehalten hat, so daß der Schrot rausrollen konnte.« »Und seine Hosen hast du nicht fallen lassen?« »Wenn er seine Hosenträger angezogen hätte, wäre seine Hose prima oben geblieben«, sagte Alvin. »Aber es ist alles Unschöpfung, richtig?« fragte Arthur Stuart. »Schrot verschütten, Hosen runterlassen, den Leuten Schuldgefühle einflößen, weil sie einen nicht hereingebeten haben.«, »Hätte ich zulassen sollen, daß sie uns ohne Frühstück wegjagen?« »Ich habe schon oft aufs Frühstück verzichtet.« »Du bist vielleicht ein Nörgler«, sagte Alvin. »Warum betrachtest du neuerdings alles so kritisch, was ich tue?« »Du bist derjenige, der mich ein Kanu mit den bloßen Händen hat aushöhlen lassen«, sagte Arthur Stuart. »Um mir das Schöpfen beizubringen. Also halte ich die Augen offen, wieviel Schöpfung du vollbringst. Aber ich sehe nur, wie du etwas unschöpfst.« Alvin nahm ihm das ein wenig krumm. Wurde nicht wütend, aber irgendwie nachdenklich, und den Rest des Wegs zum Haus des Müllers sagte er nicht mehr viel. Rund eine Woche später arbeitete Alvin also zum erstenmal, seit er das Haus seines Vaters in Vigor Church verlassen hat und Schmiedelehrling in Hatrack River geworden ist, wieder in einer Mühle. Anfangs war er glücklich, strich mit den Händen über die Maschinen und analysierte, wie die Zahnräder ineinandergriffen. Arthur Stuart, der ihm dabei zusah, konnte feststellen, daß jede Maschine, die er anfaßte, etwas ruhiger lief – etwas weniger Reibung, etwas besserer Halt –, daher floß immer mehr Energie von dem Wasser, das über das Mühlrad floß, in den kreisenden Mühlstein. Und der drehte sich schneller und besser und fraß sich nicht mehr so häufig fest. Rack Miller, denn das war sein Name, fiel es ebenfalls auf, aber da er Alvin nicht bei der Arbeit gesehen hatte, ging er davon aus, daß er es mit Werkzeugen und Schmiermittel bewerkstelligt hatte. »Ein guter Tropfen Öl und ein waches Auge können bei Maschinen Wunder wirken«, sagte Rack, und Alvin mußte ihm zustimmen. Aber nach den ersten Tagen ließ Alvins Glücksgefühl nach, denn er sah allmählich, was Arthur Stuart von Anfang an aufgefallen war: Rack war einer der Gründe, warum Müller so einen schlechten Ruf hatten. Es war ziemlich unterschwellig. Leute brachten einen Sack Mais, der zu Mehl gemahlen werden sollte, und Rack warf die Körner händeweise auf den Mühlstein, und strich das Maismehl in eine Mulde und in denselben Sack zurück, den die Leute gebracht hatten. So machten es alle Müller. Niemand machte sich die Mühe, vorher und nachher zu wiegen, weil jedermann wußte, daß auf dem Mühlstein immer etwas Mehl verlorenging. Bei Rack sah diese Praxis etwas anders aus wegen der Gänse, die er hielt. Sie hatten freien Zugang zum Gebäude der Mühle, dem Hof, Mahlraum und – wie manche behaupteten – nachts zu Racks Wohnstube. Rack nannte sie seine Töchter, was freilich pervers war, wenn man bedachte, daß nur einige Legegänse und ein oder zwei Ganter je den Winter überlebten. Was Arthur Stuart gleich gesehen hatte und Alvin nach und nach ebenfalls auffiel, als seine Romanze mit den Maschinen beendet war: wie diese Gänse gefüttert wurden. Man ging davon aus, daß ein paar Maiskörner herunterfielen; das war unvermeidlich. Aber Rack nahm den Sack immer und hielt ihn nicht oben, sondern am unteren Teil, so daß Körner den ganzen Weg zum Mühlstein herausrieselten. Die Gänse stürzten sich auf diesen Mais wie .nun, wie Gänse auf Mais. Und dann nahm er große Händevoll Mais und warf sie auf den Mühlstein. Eine ganze Menge Körner landeten auf den Seiten des Mühlsteins, nicht oben drauf, und natürlich fielen sie herunter und landeten im Stroh auf dem Boden, wo die Gänse sie im Handumdrehen aufpickten. »Manchmal ein Viertel von dem Mais«, sagte Alvin zu Arthur Stuart. »Hast du die Körner gezählt? Oder kannst du Mais jetzt schon im Kopf wiegen?« fragte Arthur. »Ich kann es sehen. Nie weniger als ein Zehntel.« »Ich schätze, er denkt, daß nicht er es stiehlt, sondern die Gänse«, sagte Arthur Stuart. »Der Müller soll sein Zehntel vom gemahlenen Mais behalten, aber nicht in Gänsefleisch verdoppeln oder verdreifachen.« »Ich schätze, es wird wenig nützen, wenn ich dich darauf hinweise, daß uns das alles nichts angeht«, sagte Arthur Stuart. »Ich bin hier der Erwachsene, nicht du«, sagte Alvin., »Das behauptest du immer, aber wenn ich so zusehe, was du alles treibst, kommen mir meine Zweifel«, sagte Arthur Stuart. »Ich bin nicht derjenige, der durch die Weltgeschichte reist, während meine schwangere Frau sich in Hatrack River darauf vorbereitet, ein Baby zu bekommen. Ich bin nicht derjenige, der immer im Gefängnis landet oder in die Mündungen von Waffen schaut, die auf ihn gerichtet werden.« »Willst du mir damit sagen, wenn ich einen Dieb sehe, soll ich den Mund halten?« »Glaubst du, diese Leute werden es dir danken?« »Möglich.« »Sollen sie ihren Müller ins Gefängnis werfen? Wo sollen sie dann ihren Mais mahlen lassen?« »Sie werfen ja nicht die Mühle ins Gefängnis.« »Ach, dann willst du hier bleiben? Wirst du die Mühle für sie betreiben, bis du die ganze Arbeit einem Lehrling beigebracht hast? Was ist mit mir? Jede Wette, daß sie ihr Müllerszehntel mit Vergnügen einem Lehrling abgeben werden, der ein freier Mulatte ist. Was geht nur in deinem Kopf vor?« Nun, das war immer die Frage, oder nicht? Niemand wußte je wirklich, was in Alvins Kopf vorging. Wenn er redete, dann sagte er so ziemlich die Wahrheit; er war keiner, der die Leute hinters Licht führte. Aber er wußte auch, wie man den Mund hält, damit niemand wußte, was in seinem Kopf vorging. Aber Arthur Stuart wußte es. Er mochte nur ein Knabe sein, neuerdings vielleicht fast schon ein Mann, er wuchs ziemlich schnell und seine Hände und Füße wurden fast schneller größer als seine Beine und Arme länger, aber Arthur Stuart war ein Experte, er war ein ausgewiesener Gelehrter in einem Fachgebiet, und das war Alvin, der fahrende Schmied, der umherziehende Allzweck- Wünschelrutengänger, der heimliche Hersteller von goldenen Pflügen und Neugestalter des Universums. Er wußte, daß Alvin einen Plan hatte, diese Diebstähle zu beenden, ohne daß jemand ins Gefängnis mußte., Alvin wählte seinen Zeitpunkt mit Bedacht. Es war an einem Morgen, als es schon auf die Erntezeit zuging und die Leute den größten Teil vom Mais des letzten Jahres ausräumten, um Platz für den neuen zu schaffen. Aus diesem Grund standen eine Menge Leute aus der Stadt und den umliegenden Farmen Schlange, um ihren Mais mahlen zu lassen. Und Rack Miller, der teilte den Mais geradezu überschwenglich mit seinen Gänsen. Aber als er dem Kunden einen Sack Maisschrot zurückgab, von dem ein Viertel zu Gänsefutter geworden ist, schnappt sich Alvin ein schönes fettes Gänseküken und gibt es dem Kunden zusammen mit dem Mehl. Der Kunde und Rack starren ihn nur an, als hätte er den Verstand verloren, aber Alvin tut so, als ob er Racks Bestürzung gar nicht bemerkt. Er redet nur mit dem Kunden. »Ach ja, Rack Miller hat mir gesagt, ihn bekümmert, wieviel Mais die Gänse abbekommen haben, daher möchte er seine Gänseküken dieses Jahr verschenken, jedem Stammkunden eines, solange sie reichen, um das wieder auszugleichen. Ich finde, das zeigt, daß Rack ein richtiger Ehrenmann ist, glauben Sie nicht auch?« Nun, es zeigte etwas, aber was konnte Rack danach noch sagen? Er grinste nur mit zusammengebissenen Zähnen und sah zu, wie Alvin ein Gänseküken nach dem anderen verschenkte und allen dieselbe Erklärung gab, worauf sich alle mit großen Augen und glücklich wie die Könige beim Spender für ihren Festschmaus zum vier Monate entfernten Weihnachtsfest bedankten. Bis dahin würden diese Gänse Monster sein, so groß und fett, wie sie jetzt schon waren. Natürlich entging Arthur Stuart nicht, daß Rack, sobald er merkte, wie der Hase lief, die Säcke plötzlich oben hielt und kleine Händevoll nahm, so daß kaum ein Körnchen zu Boden fiel. Dieser Bursche hatte sich doch gerade eine wunderbare Effizienz beigebracht, denn bei dem Mehl, das er den Kunden zurückgab, fehlte wirklich nicht mehr als das übliche Müllerszehntel. Man konnte deutlich sehen, daß Rack Miller nicht, die Absicht hatte, Mais an Gänse zu verfüttern, mit denen sich in diesem Winter andere den Bauch vollschlagen würden! Und als der Tag zu Ende ging, jedes einzelne Gänseküken hergeschenkt worden war, und nur noch fünf Legegänse und zwei Ganter übrigblieben, baute sich Rack vor Alvin auf und sagte: »Ich werd keinen Lügner für mich arbeiten lassen.« »Lügner?« fragte Alvin. »Diesen Idioten zu erzählen, daß ich ihnen Gänseküken schenken wolle!« »Nun, als ich es ihnen anfangs sagte, da stimmte es noch nicht, aber in dem Moment, als Sie nicht die Stimme erhoben und mir widersprochen haben, da wurde es wahr, oder?« Alvin grinste und sah für alle Welt wie Davy Crockett aus, der sich einen Bären niedergrinste. »Komm mir nicht mit Spitzfindigkeiten«, sagte Rack. »Du hast gewußt, was du tust.« »Auf jeden Fall«, sagte Alvin. »Zum erstenmal, seit Sie hierher gekommen sind, waren Ihre Kunden zufrieden mit Ihnen, und ganz nebenbei habe ich noch einen ehrlichen Mann aus Ihnen gemacht.« »Ich war schon ein ehrlicher Mann«, sagte Rack. »Ich hab mir nie mehr genommen, als mir zusteht, wo ich doch an einem gottverlassenen Ort wie diesem lebe.« »Ich bitte um Verzeihung, aber Gott hat diesen Ort nicht verlassen, aber hin und wieder könnte eine Seele hier Ihn verlassen haben.« »Ich habe genug von deiner Hilfe«, sagte Rack eisig. »Ich glaube, es wird Zeit, daß du weiterziehst.« »Aber ich habe mir noch nicht einmal die Maschinen angesehen, mit denen Sie die Getreidewagen wiegen«, sagte Alvin. Rack hatte es nicht eben eilig gehabt, sie von Alvin untersuchen zu lassen – die schwere Platte draußen wurde nur zur Erntezeit benutzt, wenn die Farmer den Mais anlieferten, den sie verkaufen wollten. Sie rollten den Wagen auf die Platte, und über eine Reihe von Hebeln wurde die Platte mit wesentlich leichteren Gewichten, ausbalanciert. Danach wurde der leere Wagen wieder darauf gerollt und gewogen, und die Differenz zwischen beiden Gewichten war das Gewicht des Maises. Später kamen die Käufer, rollten ihre leeren Wagen darauf, beluden sie und wogen sie wieder. So eine Waage war eine ausgeklügelte Maschine, daher war es kein Wunder, daß Alvin sie in die Finger bekommen wollte. Aber davon wollte Rack nichts hören. »Meine Waage ist meine Sache, Fremder«, sagt er zu Alvin. »Ich habe an Ihrem Tisch gegessen und in Ihrem Haus geschlafen«, sagt Alvin. »Wie kann ich ein Fremder sein?« »Ein Mann, der meine Gänse verschenkt, der ist hier für alle Zeiten ein Fremder.« »Nun, dann sollte ich mich wirklich auf den Weg machen.« Alvin, der immer noch lächelte, wandte sich an sein junges Mündel. »Machen wir uns auf den Weg, Arthur Stuart.« »Nein, Sir«, sagte Rack Miller. »Du schuldest mir sechsunddreißig Mahlzeiten für die letzten sechs Tage. Mir ist nicht aufgefallen, daß dieser schwarze Junge einen Krümel weniger gegessen hätte als du. Also stehst du noch in meiner Schuld.« »Ich habe meine Schuld abgearbeitet«, sagt Alvin. »Sie haben selbst gesagt, daß Ihre Maschinen wie neu laufen.« »Du hast nichts gemacht, das ich nicht selbst mit einem Ölkännchen hätte machen können.« »Tatsache ist aber, ich habe es gemacht, und Sie nicht, und damit ist unser Aufenthalt abgegolten. Und der Junge hat auch gearbeitet, gefegt und ausgebessert und geputzt und geschleppt.« »Ich möchte sechs Tage Arbeit von deinem Jungen haben. Die Ernte steht vor der Tür, und ich kann zwei zusätzliche Hände und einen kräftigen Rücken gut gebrauchen. Ich habe gesehen, daß er ein guter Arbeiter ist, und er wird es schon schaffen.« »Dann drei Tage Arbeit von mir und dem Jungen. Und ich werde keine Gänse mehr verschenken.«, »Ich habe keine Gänse mehr zu verschenken, abgesehen von den Legetieren. Wie auch immer, ich will keinen Müllerssohn, ich will nur die Arbeitskraft des Jungen.« »Dann bezahlen wir Sie in Silbergeld.« »Was nützt mir Silbergeld hier? Es gibt nichts, wofür man es ausgeben könnte. Die nächste größere Stadt ist Carthage, jenseits des Hio, und da geht kaum jemand hin.« »Ich lasse Arthur Stuart nicht meine Schulden begleichen. Er ist nicht mein –« Nun, lange bevor Alvin diese Worte über die Lippen kamen, wußte Arthur Stuart, was er vorhatte – er würde kundtun, daß Arthur nicht sein Sklave war. Und das wäre so ziemlich das Dümmste, was Alvin tun konnte. Also ergriff Arthur Stuart das Wort, ehe Alvin die Worte über die Lippen kamen. »Ich würde die Schuld mit Vergnügen abarbeiten«, sagt er. »Aber ich glaube nicht, daß es möglich ist. In sechs Tagen werde ich weitere achtzehn Mahlzeiten zu mir nehmen und dadurch wieder drei Tage Arbeit schuldig sein, und in diesen drei Tagen werde ich neun Mahlzeiten einnehmen und anderthalb Tage schulden, und bei der Rate, schätze ich, werde ich die Schuld niemals abarbeiten können.« »Ach ja«, sagte Alvin. »Zenos Paradoxon.« »Und du hast mir gesagt, daß es nie eine praktische Anwendung für dieses ›Stück philosophischen Gewäschs‹ gibt, wie du dich ausgedrückt hast«, sagt Arthur Stuart. Es war ein Streitgespräch aus der Zeit, als sie beide noch bei Miss Larner studiert hatten, bevor sie Mrs. Alvin Smith geworden war. »Was, beim Sam Hill, redet ihr Jungs da zusammen?« fragte Rack Miller. Alvin versuchte es ihm zu erklären. »Jeden Tag, den Arthur Stuart für Sie arbeitet, häuft er die Hälfte der Schuld wieder auf, die er durch seine Arbeit abträgt. Somit legt er nur die halbe Strecke zur Freiheit zurück. Immer und immer wieder die Hälfte, die Hälfte, die Hälfte, aber er kommt nie ans Ziel.« »Kapier ich nicht«, sagte Rack. »Wo ist der Witz?«, An dieser Stelle kam Arthur Stuart ein anderer Gedanke. So wütend Rack Miller wegen der Gänseküken auch sein mochte – wenn er wirklich Hilfe für die Erntezeit brauchen würde, hätte er auch Alvin behalten, es sei denn, es gab einen anderen Grund dafür, daß er ihn loswerden wollte. Rack Miller hatte etwas vor und wollte nicht, daß Alvin es sah. Nur rechnete er nicht damit, daß dieser halbwüchsige Mulatten-»Diener« durchaus schlau genug war, daß er von selbst dahinterkam. »Ich würde gern bleiben und sehen, wie wir das Paradoxon lösen«, sagt Arthur Stuart. Alvin sieht ihn richtig gründlich an. »Arthur, ich muß einen Mann wegen eines Bären sprechen.« Nun, das brachte Arthur Stuarts Entschlossenheit ein wenig ins Wanken. Wenn Alvin sich auf die Suche nach Davy Crockett machte, um alte Rechnungen zu begleichen, kam es möglicherweise zu Szenen, die Arthur sehen wollte. Gleichzeitig hatte er es hier in der Mühle mit einem Geheimnis zu tun, und wenn Alvin fort war, standen die Chancen gut, daß Arthur Stuart es ganz alleine lösen konnte. Die eine Verlockung war größer als die andere. »Viel Glück«, sagte Arthur Stuart. »Ich werde dich vermissen.« Alvin seufzte. »Ich habe nicht die Absicht, dich hier der Gnade eines Mannes zu überlassen, der eine eigentümliche Zuneigung für Gänse hegt.« »Was soll das denn heißen?« fragte Rack, der allmählich davon überzeugt war, daß sie sich mit ihrem ganzen Gerede über ihn lustig machten. »Nun, Sie nennen sie Ihre Töchter, und dann gehen Sie her und kochen und essen sie«, sagt Alvin. »Welche Frau würde Sie jemals heiraten? Sie würde nicht wagen, Sie mit den Kindern allein zu lassen!« »Hinaus aus meiner Mühle!« plärrte Rack. »Komm mit, Arthur Stuart«, sagte Alvin. »Ich will bleiben«, beharrte Arthur Stuart. »Es kann nicht schlimmer sein als damals, wie du mich bei dem Schulmeister, zurückgelassen hast.« (Was eine andere Geschichte ist, die an dieser Stelle nicht erzählt werden soll.) Alvin sah Arthur Stuart richtig prüfend an. Er war keine Fackel wie seine Frau. Er konnte nicht in Arthurs Herzfeuer sehen und eine Schuld erkennen. Aber irgendwie sah er etwas, das ihn veranlaßte, sich so zu entscheiden, wie Arthur Stuart es wollte. »Ich gehe vorerst. Aber in sechs Tagen komme ich zurück, und dann werden wir beide miteinander abrechnen. Sie heben keine Hand und keinen Stock gegen diesen Jungen, und Sie werden ihn gut behandeln und ihm zu essen geben.« »Wofür hältst du mich?« fragte Rack. »Für einen Mann, der bekommt, was er will«, sagte Alvin. »Freut mich, daß du das an mir erkennst«, sagte Rack. »Das weiß jeder über Sie«, sagte Alvin. »Es ist nur so, daß Sie nicht besonders gut in der Auswahl dessen sind, was Sie wollen sollten.« Mit einem weiteren Grinsen tippte sich Alvin an den Hut und ließ Arthur Stuart zurück. Nun, Rack stand zu seinem Wort. Er ließ Arthur Stuart hart arbeiten und bereitete sich auf die Ernte vor. Ein Spätsommerregen verzögerte die Maisernte, aber sie nutzten die Zeit anderweitig, und Arthur bekam gut zu essen und nachts genug Schlaf, auch wenn er jetzt auf dem Dachboden der Mühle schlief und nicht mehr im Haus; er war nur als Alvins persönlicher Diener dort geduldet worden, und da Alvin nicht mehr da war, gab es keine Entschuldigung mehr dafür, daß ein Mulattenjunge im Haus schlafen durfte. Arthur fiel auf, daß alle Kunden fröhlich waren, wenn sie, in welchen Angelegenheiten auch immer, die Mühle besuchten, besonders während des Regens, als es keine Arbeit auf den Feldern gab. Die Geschichte mit den Gänseküken hatte sich allerorten herumgesprochen, und die Leute glaubten wirklich, daß es Racks Idee gewesen war und Alvin nichts damit zu tun hatte. So kam es, daß sie nicht mehr höflich, aber distanziert waren, wie es die Leute für gewöhnlich Müllern gegenüber sind, sondern ihn alle mit Hallo-Junge-schön-dich-zu-sehen begrüßten, und er, hörte Klatsch und Witze, wie die Leute sie unter Freunden erzählen. Das war eine neue Erfahrung für Rack, und Arthur Stuart konnte sehen, daß es eine Veränderung war, gegen die Rack Miller nichts einzuwenden hatte. Am Tag vor Alvins geplanter Rückkehr fing die Ernte an, und die Farmer brachten ihren Mais mit Wagen von meilenweit her. Am Morgen bildeten sie eine Schlange, worauf der erste mit seinem Wagen auf die Platte der Waage fuhr. Der Farmer spannte die Pferde ab, worauf Rack den gesamten Wagen wog. Dann spannten sie die Pferde wieder an, ließen den Wagen zur Rampe ziehen, die wartenden Farmer halfen mit, die Maissäcke zu entladen – natürlich halfen sie, bedeutete es doch, daß sie selbst früher an die Reihe kamen –, und dann wurde der Wagen wieder auf die Waage gefahren und leer gewogen. Rack rechnete die Differenz zwischen den beiden Gewichten aus, und diese Differenz war die Menge Mais, die der Farmer gutgeschrieben bekam. Arthur Stuart rechnete die Zahlen im Kopf nach, und Rack betrog sie nicht mit seiner Arithmetik. Er sah genau hin, ob Rack sich vielleicht mit auf die Plattform stellte, wenn der leere Wagen gewogen wurde, aber auch das tat er nicht. Im Dunkel der Nacht fiel ihm dann etwas ein, das einer der Farmer gesagt hatte, als sie den leeren Wagen wieder auf die Plattform fuhren. »Warum hat er diese Waage nicht gleich an der Laderampe gebaut, so daß wir den Wagen ausladen und wieder wiegen können, ohne daß wir das verflixte Ding bewegen müssen?« Arthur Stuart kannte den Mechanismus nicht, ließ den Tag aber Revue passieren und erinnerte sich, daß bei einer anderen Gelegenheit ein Farmer gefragt hatte, ob er seinen vollen Wagen wiegen könne, während der des vorherigen Farmers entladen wurde. Rack hatte den Mann böse angesehen. »Wenn Sie es auf Ihre Art machen wollen, dann bauen Sie Ihre eigene Mühle.« Ja, Sir, Rack kam es nur darauf an, daß jeder Wagen zweimal nacheinander gewogen wurde. Und dasselbe System funktionierte, genauso, nur umgekehrt, wenn die Käufer mit ihren leeren Wagen kamen, um den Mais nach Osten zu den großen Städten zu bringen. Leer wiegen, beladen und wieder wiegen. Wenn Alvin zurückkam, würde Arthur Stuart bereit sein und das Rätsel weitgehend gelöst haben. Derweil befand sich Alvin im Wald und suchte nach Davy Crockett, dem grinsenden Mann, der allein dafür verantwortlich war, daß zwei Waffen nacheinander auf Alvins Herz gerichtet worden waren. Aber Alvin hatte keine Rache im Sinn. Sondern Rettung. Denn er wußte, was er Davy und dem Bären angetan hatte, und hatte ihre Herzfeuer verfolgt. Er konnte nicht so in Herzfeuer sehen, wie Margaret es konnte, aber er konnte die Herzfeuer selbst erkennen und den Überblick behalten, wer wer war. Da er wußte, daß keine Kugel ihn töten und kein Gefängnis ihn halten konnte, war Alvin absichtlich in die Stadt Westville gekommen, weil er wußte, daß Davy Crockett durch die Stadt gereist war, dicht gefolgt von dem Bären, aber das konnte Davy nicht wissen, zu dem Zeitpunkt nicht. Aber jetzt wußte er es. In Racks Mühle hatte Alvin gesehen, daß Davy und der Bär einander wieder begegnet waren, und diesmal konnte die Sache etwas anders ausgehen. Denn Alvin hatte die Stelle tief drinnen in den Teilchen des Körpers gefunden, wo die Kniffe ihren Ursprung hatten, und er hatte den besten Kniff des Bären genommen und Davy im selben Maß gegeben, und er hatte Davys besten Kniff genommen und den Bären im selben Maß damit ausgestattet. Nun waren sie einander ebenbürtig, und Alvin überlegte sich, daß er die Verantwortung dafür trug, darauf zu achten, daß niemand verletzt wurde. Immerhin war es zum Teil Alvins Schuld, daß Davy kein Gewehr mehr hatte, um sich zu verteidigen. Zum größten Teil war es natürlich Davys Schuld, weil er das Gewehr auf ihn gerichtet hatte, aber Alvin hätte das Gewehr nicht auf diese Weise unbrauchbar machen und den Lauf zerreißen müssen., Alvin, der leichtfüßig durch den Wald rannte, über einen oder zwei Bäche sprang und einmal an einem Flußufer Rast machte, um dort wachsende wilde Erdbeeren zu essen, erreichte die Stelle vor Einbruch der Nacht, daher hatte er genügend Zeit, sich kundig zu machen. Da waren sie, auf der Lichtung, genau wie Alvin erwartet hatte, Davy und der Bär, keine fünf Schritte voneinander entfernt; beide grinsten, versuchten einander mit Blicken niederzuringen, keiner wich. Der Bär war ganz stachelig, kam aber nicht an Davys Grinsen vorbei; und Davy besaß die einfältige Entschlossenheit des Bären und war unempfindlich gegen Schmerzen, daher hörte er nicht auf zu grinsen, obwohl sein Hintern wund war und er vor Müdigkeit fast den Verstand verlor. Als die Sonne gerade unterging, trat Alvin hinter dem Bären auf die Lichtung. »Haben Sie einen Ebenbürtigen gefunden, Davy?« fragte er. Davy konnte kein Quentchen Konzentration für ein Gespräch erübrigen. Er grinste einfach weiter. »Ich glaube, dieser Bär hat nicht die Absicht, dieses Jahr Ihr Wintermantel zu werden«, sagte Alvin. Davy grinste nur. »Tatsächlich«, sagte Alvin, »schätze ich, wer von euch beiden als erster einschläft, der wird der Verlierer sein. Und Bären schlafen den Winter über so viel, daß sie im Sommer einfach nicht besonders viel Schlaf brauchen.« Grinsen. »Da sind also Sie und können kaum noch die Augen offenhalten, und da ist der Bär, putzmunter und fidel, und grinst Sie voll aufrichtiger Liebe und Hingabe an.« Grinsen. Vielleicht mit etwas mehr Verzweiflung um die Augen herum. »Aber auf eines kommt es an, Davy«, sagte Alvin. »Bären sind meistens besser als Menschen. Manchmal hat man böse Bären und gute Menschen, aber im Durchschnitt traue ich einem Bären eher zu, daß er das Richtige tut, als einem Menschen. Sie sollten, sich daher jetzt fragen, was wird dieser Bär dort für das Richtige halten, das er mit Ihnen anstellen sollte, wenn er Sie erst einmal niedergegrinst hat?« Grinsen Grinsen Grinsen. »Bären brauchen keine Mäntel aus Menschenhaut. Sie müssen sich Speck für den Winter zulegen, aber im allgemeinen fressen sie dafür kein Fleisch. Jede Menge Fische, aber Sie sind kein Schwimmer, und das weiß der Bär. Außerdem betrachtet dieser Bär Sie nicht als Fleisch, sonst würde er Sie nicht so angrinsen. Er betrachtet Sie als Rivalen. Er betrachtet Sie als ebenbürtig. Was wird er tun? Fragen Sie sich das nicht auch? Ist kein Fünkchen Neugier in Ihnen, das die Antwort auf diese Frage einfach wissen will?« Es wurde allmählich dunkler, daher war es schwer, von Davy wie auch von dem Bären mehr zu erkennen als ihre weißen, weißen Zähne. Und ihre Augen. »Sie sind schon eine ganze Nacht wach gewesen«, sagte Alvin. »Schaffen Sie das noch einmal? Ich glaube nicht. Ich glaube, Sie werden bald erfahren, wie barmherzig Bären sind.« Erst jetzt, in den letzten verzweifelten Augenblicken, ehe er einschlief, wagte Davy zu sprechen. »Helfen Sie mir«, sagte er. »Und wie sollte ich das tun?« »Töten Sie diesen Bären.« Alvin trat ruhig hinter den Bären und legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter. »Warum sollte ich das tun? Dieser Bär hat nie ein Gewehr auf mich gerichtet.« »Ich bin ein toter Mann«, flüsterte Davy. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht. Er neigte den Kopf, kippte vorwärts auf den Boden, rollte sich auf dem Boden zusammen und wartete darauf, daß er getötet werden würde. Aber dazu kam es nicht. Der Bär kam zu ihm, stieß ihn mit der Nase an, schnupperte ihn von Kopf bis Fuß ab, rollte ihn hin und her und achtete nicht auf die leise wimmernden Geräusche, die Davy von sich gab. Dann legte sich der Bär neben dem Mann hin, legte eine Pfote über ihn und döste auf der Stelle ein., Davy lag fassungslos da und konnte es nicht glauben, obwohl er trotz seiner Angst wieder Hoffnung schöpfte. Wenn er nur noch ein wenig länger wach bleiben konnte. Entweder hatte der Bär im Sommer einen leichten Schlaf, oder Davy handelte zu schnell, denn kaum tastete er mit der Hand nach dem Messer, da war der Bär hellwach und schlug Davy mehr oder weniger verspielt auf die Hand. »Zeit zu schlafen«, sagte Alvin. »Sie haben es sich verdient, der Bär hat es sich verdient, und morgen früh wird alles gleich viel besser aussehen.« »Was wird aus mir?« fragte Davy. »Glauben Sie nicht, daß das mehr oder weniger von dem Bären abhängt?« »Sie haben ihn irgendwie unter Kontrolle«, sagte Davy. »Das ist alles Ihr Werk.« »Er hat sich selbst unter Kontrolle«, sagte Alvin, der darauf achtete, die zweite Behauptung nicht zu leugnen, weil sie der Wahrheit entsprach. »Und er hat Sie unter Kontrolle. Denn nur darum geht es bei dieser Grinserei – wer der Herr und Meister ist. Nun, hier ist der Bär der Meister, und ich denke, morgen werden wir herausfinden, was Bären mit gezähmten Menschen anstellen.« Davy fing an, ein Gebet zu murmeln. Der Bär legte Davy eine schwere Pfote auf den Mund. »Genug gebetet«, intonierte Alvin. »Die Sonne ist gegangen. Schatten kriechen. Laß dich vom Schlaf umfangen.« Und so kam es, daß Alvin zwei Freunde mitbrachte, als er nach Westville zurückkehrte – Davy Crockett und einen großen, alten Grizzlybären. Oh, die Leute erschraken, als der Bär in die Stadt kam, und rannten ihre Gewehre holen, aber der Bär grinste sie einfach nur an, und niemand schoß. Und als der Bär Davy einen kleinen Schubs gab, nun, da trat der einfach vor und sprach ein paar Worte. »Mein Freund hier beherrscht die amerikanische Sprache nicht besonders gut«, sagte Davy, »aber es wäre ihm lieb, wenn ihr alle die Gewehre wegtun und nicht auf ihn richten würdet. Außerdem würde er sich über eine Schüssel Maisbrei, oder einen Teller Maisbrot freuen, wenn ihr etwas erübrigen könnt.« Nun, der Bär fraß sich unverfroren durch ganz Westville und nahm an Festessen teil, ohne auch nur eine Pfote zu rühren, es sei denn, um Davy Crockett zu schubsen. Und die Leute störten sich nicht einmal daran, so ein göttlicher Anblick war es, einen Mann zu sehen, der einem Bären Brei und Maisbrot servierte. Und das war längst nicht alles. Davy Crockett verbrachte eine ganze Weile damit, dem Bären Kletten aus dem Fell zu zupfen, besonders im Bereich des Hinterteils, und dem Bären vorzusingen, wenn er mit hoher Stimme gurrte. Davy sang so gut wie jedes Lied, das er je gehört hatte, auch wenn er es nur einmal gehört hatte oder nicht einmal das ganze verdammte Stück kannte, denn nichts ruft Erinnerungen an Melodien und Texte besser ins Gedächtnis als ein dreieinhalb Meter großer Bär, der dich schubst und winselt, damit du singst, und wenn Davy sich ums Verrecken nicht erinnern konnte, dann erfand er eben selbst etwas, und da der Bär nicht besonders anspruchsvoll war, war das Lied fast immer gut genug. Was nun Alvin anging, der ließ sich ab und zu mal sehen und bat Davy, doch zu erzählen, ob es wahr sei, daß Alvin ein Einbrecher und pflugstehlender Lehrling wäre, und jedesmal sagte Davy, nein, das sei nicht wahr, es sei frei erfunden, weil Davy wütend auf Alvin gewesen sei und es ihm heimzahlen wollte. Und jedesmal, wenn Davy solchermaßen die Wahrheit sagte, knurrte der Bär beifällig und strich Davy mit seiner kräftigen alten Pfote über den Rücken, und Davy war gerade tapfer genug, das zu erdulden, ohne sich groß naß zu machen. Erst als sie die ganze Stadt und einige außerhalb gelegene Häuser hinter sich gebracht hatten, kamen sie zur Mühle, wo die Pferde sich erwartungsgemäß ein wenig über die Anwesenheit eines Bären beklagten. Aber Alvin sprach mit jedem einzelnen und beruhigte es, während sich der Bär zusammenrollte und ein Nickerchen machte, da er sich den Bauch mit Mais in unterschiedlichen Variationen vollgeschlagen hatte. Davy, allerdings entfernte sich nicht weit von ihm, denn der Bär schnupperte selbst im Schlaf und vergewisserte sich, daß Davy in seiner Nähe blieb. Natürlich machte Davy gute Miene zum bösen Spiel. Schließlich hatte er seinen Stolz. »Ein Mann tut seinen Freunden Gefallen, und dieser Bär ist mein Freund«, sagte Davy. »Wie ihr sicher erraten könnt, bin ich mit dem Fallenstellen fertig, daher suche ich nach einem neuen Metier, mit dem ich meinem Freund helfen kann, sich auf den Winter vorzubereiten. Damit will ich sagen, ich muß etwas Mais erwerben und hoffe, einige von euch haben Arbeit für mich. Der Bär schaut nur zu, ich verspreche es, er ist keine Gefahr für euer Vieh.« Nun, natürlich hörten sie ihn an, weil man dazu neigt, einem Mann, der es irgendwie so weit gebracht hat, zum Diener eines Grizzlybären zu werden, zumindest eine Zeitlang zuzuhören. Aber es bestand nicht die geringste Chance, daß sie einen Bären in die Nähe ihrer Schweine- oder Hühnerställe lassen würden, zumal der Bär ganz eindeutig nicht die Absicht zeigte, seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen. Wenn er bettelte, reimten sie sich zusammen, dann würde er auch stehlen, und das konnten sie nicht gebrauchen. Derweil kam es, während der Bär sein Nickerchen machte und Davy mit den Farmern redete, zum Wiedersehen zwischen Alvin und Arthur, wobei Arthur Stuart ihm erzählte, was er sich zusammengereimt hatte. »Ein Mechanismus in der Waage sorgt dafür, daß sie leichter wiegt, wenn der Wagen voll ist, und schwerer, wenn er leer ist, und dadurch bekommen die Farmer weniger Gewicht angerechnet. Aber dann wiegt sie ohne eine Veränderung leichter bei den leeren Wagen der Käufer und schwerer, wenn sie voll sind, und damit bekommt Rack mehr Gewicht angerechnet, wenn er denselben Mais verkauft.« Alvin nickte. »Hast du herausgefunden, ob diese Theorie tatsächlich wahr ist?«, »Er läßt mich erst aus den Augen, wenn es ganz dunkel ist, und in der Dunkelheit kann ich nicht runterschleichen, weil ich nichts sehe. Außerdem bin ich nicht so verrückt, das Risiko einzugehen, daß ich dabei erwischt werde, wie ich im Dunkeln um die Maschinen herumschleiche.« »Schön zu sehen, daß du ein Hirn hast.« »Sagt der Mann, der immer wieder im Gefängnis landet.« Alvin schnitt ihm eine Grimasse, aber derweil schickte er seine Wünschelrute aus, um den unterirdischen Mechanismus der Waage zu sondieren. Tatsächlich gab es da eine Sperrklinke, die beim ersten Wiegen faßte und den Hebel etwas hob, wodurch weniger Gewicht angezeigt wurde; und beim nächsten Wiegen löste sich die Sperrklinke, der Hebel sank zurück und zeigte mehr Gewicht. Kein Wunder also, daß Rack nicht gewollt hatte, daß sich Alvin den Mechanismus der Waage ansah. Die Lösung, die Alvin sah, war denkbar einfach. Er bat Arthur Stuart, sich dicht neben die Waage zu stellen, aber nicht darauf. Rack notierte das Gewicht des leeren Wagens, und während der Wagen von der Plattform gezogen wurde, stand er da und rechnete die Differenz aus. In dem Moment, als der Wagen von der Plattform war, ging Alvin auf Arthur Stuart zu und sagte so laut, daß alle es hören konnten: »Närrischer Junge! Was machst du da! Hast du nicht gesehen, daß du auf der Waage gestanden hast?« »Hab ich nicht!« rief Arthur Stuart. »Glaube ich auch nicht«, sagte ein Farmer. »Ich habe mir auch Gedanken darüber gemacht, weil er so nahe war, darum hab ich genau hingesehen.« »Aber ich habe gesehen, daß er daraufgestanden hat«, sagte Alvin. »Ich finde, dieser Farmer sollte nicht um Mais vom Gewicht dieses Jungen gebracht werden!« »Ich bin sicher, daß der Junge nicht auf der Waage gestanden hat«, sagte Rack, der von seinen Berechnungen aufschaute. »Nun, das läßt sich ja leicht feststellen«, sagte Alvin. »Rollen wir den leeren Wagen wieder auf die Waagenplattform.«, Nun bekam Rack es mit der Angst zu tun. »Ich will Ihnen was sagen«, wandte er sich an den Farmer, »ich rechne Ihnen das Gewicht des Jungen einfach an.« »Ist diese Waage empfindlich genug, daß sie das Gewicht des Jungen bestimmen kann?« fragte Alvin. »Ich habe keine Ahnung«, sagte Rack. »Schätzen wir doch einfach.« »Nein!« rief Alvin. »Dieser Farmer will nichts weiter als seinen fairen Preis, und es ist nicht recht, daß er weniger bekommen soll. Ziehen wir den Wagen zurück und wiegen ihn noch einmal.« Rack wollte gerade wieder Einwände vorbringen, als Alvin sagte: »Es sei denn, es stimmt etwas nicht mit der Waage. Aber es kann nicht sein, daß etwas mit der Waage nicht stimmt, oder?« Rack wurde blaß im Gesicht. Er konnte ja schlecht gestehen. »Alles in Ordnung mit der Waage«, knurrte er grimmig. »Dann lassen Sie uns diesen Wagen wiegen und feststellen, ob das Gewicht meines Jungen etwas ausgemacht hat.« Nun, Sie können es sich schon denken. Kaum stand der Wagen auf der Plattform, zeigte die Waage fast hundert Pfund weniger an als beim erstenmal. Die anderen Zeugen waren verblüfft. »Hätte schwören können, daß der Junge nicht auf der Waage gestanden hat«, sagte einer. Ein anderer sagte: »Ich hätte mir nie träumen lassen, daß der Junge hundert Pfund wiegt.« »Schwere Knochen«, sagte Alvin. »Nein, Sir, mein Gehirn ist so schwer«, sagte Arthur Stuart, was ihm eine Runde Gelächter einbrachte. Und Rack, der sich bemühte, das Gesicht nicht zu verlieren, flötete dazwischen: »Nein, es ist das Essen, das er an meinem Tisch gegessen hat – das allein macht gute fünfzehn Pfund aus!« Derweil aber bekam der Farmer die Differenz von hundert Pfund gutgeschrieben. Der nächste Wagen, der auf die Plattform kam, war voll, das Maß jedoch auf schwerer eingestellt. Vergeblich versuchte Rack, das Wiegen zu vertagen – Alvin bot ihm einfach an, an seiner Stelle weiterzumachen, und die Farmer sollten bezeugen, daß er, alles richtig aufschrieb. »Sie wollen doch nicht, daß diese Männer noch einen weiteren Tag warten müssen, um ihren Mais für den Markt zu verkaufen, oder?« sagte Alvin. »Wiegen wir alles!« Und sie wogen alles, dreißig Wagen, bis der Tag zu Ende ging, und die Farmer unterhielten sich alle untereinander, was für eine gute Maisernte sie dieses Jahr hatten, die Kolben schwerer als sonst. Arthur Stuart hörte einen Mann murren, daß sein Wagen dieses Jahr leichter zu sein schien als letztes Jahr, doch da ergriff Arthur sofort laut genug das Wort, daß alle es hören konnten. »Es spielt keine Rolle, ob die Waage leichter oder schwerer wiegt – auf die Differenz zwischen Voll- und Leergewicht kommt es an, und solange es sich um dieselbe Waage handelt, ist die korrekt.« Die Farmer dachten darüber nach und fanden, daß es sich einleuchtend anhörte, und Rack konnte es ihnen ja schlecht erklären. Arthur Stuart rechnete alles im Kopf zusammen und kam zu dem Ergebnis, daß Alvin nicht alles ins rechte Lot gebracht hatte. Im Gegenteil, dieses Jahr wurde Rack im großen Maßstab über den Tisch gezogen, weil er den Farmern Beträge gutschreiben mußte, die deutlich über den Mengen Mais lagen, die sie tatsächlich ablieferten. Einen Tag konnte er solche Verluste verschmerzen; und bis morgen, das wußte Alvin sowohl wie Arthur, würde Rack die Wage wieder auf ihr reguläres Muster eingestellt haben: leichter bei vollen Wagen, schwerer bei leeren. Dennoch verabschiedeten sich Alvin und Arthur fröhlich von Rack und machten nicht einmal eine Bemerkung darüber, wie eilig er es zu haben schien, sie loszuwerden. In dieser Nacht konnte man Rack Millers Laterne über den Hof zwischen seinem Haus und der Mühle wackeln sehen. Er machte die Tür der Mühle hinter sich zu und näherte sich der Falltür, die zum Mechanismus der Waage hinunterführte. Aber zu seiner Überraschung lag etwas auf der Falltür. Ein Bär. Und im Schlaf an den Bären gekuschelt, der sich fast um ihn herumgewickelt hatte, lag Davy Crockett., »Ich hoffe, es stört Sie nicht«, sagte Davy, »aber dieser Bär hier hat es sich in den Kopf gesetzt, genau an dieser Stelle zu schlafen, und ich gedenke nicht, ihm zu widersprechen.« »Aber das kann er nicht, das ist nun mal so«, sagte der Müller. »Sagen Sie ihm das«, entgegnete Davy. »Auf meinen Rat will er einfach nicht hören.« Der Müller tobte und brüllte, aber der Bär beachtete ihn einfach nicht. Rack holte sich einen langen Stock und pikste den Bären damit, aber der Bär schlug nur ein Auge auf, hieb Rack den Stock aus der Hand, nahm den Stock ins Maul und biß stückweise daran ab wie an einer Salzstange. Rack Miller drohte, daß er mit einem Gewehr wiederkommen würde, aber da zog Davy sein Messer. »Dann müßten Sie mich zusammen mit dem Bären töten«, sagte er, »denn wenn Sie ihm ein Leid zufügen, werde ich Sie ausweiden wie eine Weihnachtsgans.« »Ich komme Ihrem Wunsch mit Freuden nach«, sagte Rack. »Dann müßten Sie aber erklären, wie ich zu Tode gekommen bin. Das heißt, wenn Sie es schaffen, den Bären mit einem Schuß zu töten. Manchmal können diese Bären ein halbes Dutzend Kugeln wegstecken und einem Mann trotzdem den Kopf von den Schultern hauen und am Nachmittag Fische fangen gehen. Viel Fett, viel Muskeln. Und wie ist es überhaupt um Ihre Schießkünste bestellt?« Und so kam es, daß die Waage am nächsten Morgen immer noch Racks Absichten zuwider wog, und so ging es Tag für Tag, bis die Ernte vorüber war. Jeden Tag aßen der Bär und sein Diener ihren Maisbrei und ihr Maisbrot und tranken ihr Maisbier und lagen im Schatten, während sich Zuschauer versammelten, um das Wunder zu bestaunen. Aus diesem Grund waren den ganzen Tag Zeugen zugegen – und nachts selten weit entfernt. Und genauso sah es aus, wenn die Käufer kamen, um den Mais abzutransportieren. Und die Geschichten über den Bären, der einen Menschen gezähmt hatte, riefen nicht nur Schaulustige auf den Plan. Mehr Farmer als üblich kamen zu Rack Miller, um ihren Mais zu, verkaufen, damit sie es mit eigenen Augen sehen konnten; und mehr Käufer nahmen den Umweg auf sich und kamen, so daß das Geschäft etwa um die Hälfte besser lief als sonst. Am Ende der Erntezeit saß Rack Miller mit einem Hauptbuch da, in dem ein dicker Verlust ausgewiesen war. Die Käufer bezahlten ihm längst nicht genug, um auszugleichen, was er den Farmern schuldete. Er war ruiniert. Er trank einige Krüge Maisbier und machte lange Spaziergänge, aber Ende Oktober hatte er jede Hoffnung aufgegeben. Einmal veranlaßte ihn seine Verzweiflung, sich eine Pistole an den Kopf zu halten und abzudrücken, aber aus irgendeinem Grund zündete das Schießpulver nicht, und als Rack versuchte, sich aufzuhängen, konnte er keinen Knoten binden, der hielt. Da es ihm nicht einmal gelang, Selbstmord zu begehen, gab er auch dieses Projekt schließlich auf, machte sich mitten in der Nacht davon und ließ Mühle und Hauptbuch zurück. Nun, eigentlich wollte er sie nicht einfach so zurücklassen, sondern niederbrennen, aber die Feuer, die er entfachen wollte, gingen immer wieder aus, und so war auch das ein Projekt, mit dem er scheiterte. Am Ende ging er mit den Kleidern, die er am Leib trug, und zwei Gänsen unter den Armen – und die schnatterten derart laut, daß er sie freiließ, ehe er die Stadt verlassen hatte. Als klar wurde, daß Rack nicht nur in Urlaub gegangen war, trafen sich die Stadtbewohner und einige der bedeutenderen Farmer aus der Umgegend in Rack Millers leerstehendem Haus und gingen sein Rechnungsbuch durch. Was sie daraus erfuhren, verriet ihnen deutlich genug, wie unwahrscheinlich es war, daß Rack Miller zurückkommen würde. Sie teilten die Verluste zu gleichen Teilen untereinander auf, und es stellte sich heraus, daß niemand etwas verlor. Oh, die Farmer bekamen weniger Geld, als in Rack Millers Hauptbuch stand, aber sie bekamen dennoch deutlich mehr als in früheren Jahren, und darum war es immer noch ein gutes Jahr für sie. Und als sie das Anwesen, untersuchten, fanden sie den Mechanismus in der Waage, und danach war das Bild kristallklar. Alles in allem, entschieden sie, waren sie ohne Rack Miller besser dran, und ein paar Leute wurden den Verdacht nicht los, daß Alvin Smith und sein Mulattenjunge den betrügerischen Müller entlarvt hatten. Sie versuchten sogar herauszufinden, wo die beiden steckten, um ihnen aus Dankbarkeit die Mühle anzubieten. Jemand hatte gehört, daß sie aus Vigor Church in Wobbish kamen, und ein Brief dorthin führte sogar zu einem Ergebnis – einem Antwortschreiben von Alvins Vater. »Mein Junge dachte sich, daß Sie vielleicht ein derartiges Angebot unterbreiten würden, aber er bat mich, Ihnen einen besseren Vorschlag zu machen. Er sagte, da ein Mensch seinen Job als Müller so schlecht erledigt hat, wären Sie mit einem Bären vielleicht besser beraten, besonders, wenn der Bär einen Menschendiener hat, der ihm die Bücher führen kann.« Zuerst lachten sie über den Vorschlag, aber nach einer Weile fanden sie Gefallen daran, und als sie Davy und dem Bären den Posten anboten, nahmen die beiden ihn an. Der Bär bekam soviel Mais, wie er wollte, ohne jemals einen Finger dafür zu krümmen, davon abgesehen, daß er den Leuten zur Erntezeit eine kleine Vorstellung präsentieren mußte, und im Winter konnte er an einem warmen, trockenen Plätzchen schlafen. In den Jahren, wenn er sich paarte, wimmelte es in dem Haus ein wenig von Bärenfleisch, aber die Jungen machten keine Schwierigkeiten, und die Mamabären waren, obschon ein bißchen argwöhnisch, meistens tolerant, zumal Davy ihnen immer noch überlegen war und sie jederzeit bis zur Friedfertigkeit niedergrinsen konnte, falls es erforderlich wurde. Was Davy anging, so führte er seine Bücher korrekt und richtete die Waage, so daß die Sperrklinke nicht mehr einrastete und stets das richtige Gewicht angezeigt wurde. Im Lauf der Zeit wurde er so beliebt, daß die Leute davon sprachen, ihn zum Bürgermeister von Westville zu machen. Natürlich weigerte er sich, da er nicht sein eigener Herr war. Aber er ließ durchblicken,, sollten sie den Bären wählen, würde er mit Freuden als dessen Sekretär und Dolmetscher dienen, und so geschah es. Als sie den Bären ein oder zwei Jahre zum Bürgermeister hatten, änderten sie den Namen der Stadt in Bearsville, und sie erlebte eine Blüte. Man kann unschwer erraten, wer in diesem Teil des Staates Jahre später, als Kenituck den Vereinigten Staaten von Amerika beitrat, zum Kongreßabgeordneten gewählt wurde, und so kam es, daß sieben Legislaturperioden lang ein Bär zusammen mit den anderen Kongreßabgeordneten die Tatze auf die Bibel legte und danach jede einzelne Sitzung verschlief, während sein Sekretär, ein gewisser Davy Crockett, stets für ihn stimmte und seine Reden hielt, von denen jede einzelne mit dem Satz zu Ende ging: »Zumindest sieht es für einen alten Grizzlybären so aus.«, Majipoor ROBERT SILVERBERG, KRIEG DER TRÄUME (1979) DIE MAJIPOOR-CHRONIKEN (1985) VALENTINE PONTIFEX (1985) DIE BERGE VON MAJIPOOR (1995) DER ZAUBERER VON MAJIPOOR (1998) Der Riesenplanet Majipoor, dessen Durchmesser mindestens das Zehnfache unseres Planeten beträgt, wurde in der fernen Vergangenheit von Kolonisten der Erde besiedelt, die sich einen Platz unter den Piurivars eroberten, den intelligenten Ureinwohnern, die von den irdischen Eindringlingen Gestaltwandler oder Metamorphen genannt wurden, weil sie die Fähigkeit besaßen, ihre Körperform zu verändern. Majipoor ist ein außergewöhnlich schöner Planet mit einem überwiegend milden Klima, und ein Ort erstaunlicher zoologischer, botanischer und geographischer Wunder. Alles auf Majipoor ist im großen Maßstab – phantastisch und wunderbar. Im Lauf der Jahrtausende führten Spannungen zwischen den menschlichen Kolonisten und den Piurivars schließlich zu einem langen Krieg und der Niederlage der Eingeborenen, die in riesigen Reservaten in entlegenen Regionen des Planeten zusammengepfercht wurden. In dieser Zeit ließen sich auch Rassen von verschiedenen anderen Welten auf Majipoor nieder – die kleinen, gnomartigen Vroons, die großen, zotteligen, vierarmigen Skandars, die Rasse der zweiköpfigen Su-Suheris und zahlreiche andere. Einige davon – vornehmlich die Vroons und Su-Suheris – waren mit übersinnlichen Geisteskräften ausgestattet, die ihnen ermöglichten, verschiedene Formen von Zauberei zu praktizieren. Aber während der ganzen jahrtausendelangen Geschichte von Majipoor blieben die Menschen die vorherrschende Rasse. Sie gediehen und wurden immer mehr, bis die Zahl der menschlichen Bevölkerung von Majipoor schließlich in die Milliarden ging, die überwiegend in Großstädten mit zehn bis zwanzig Millionen Einwohnern lebten., Das Regierungssystem, das sich im Lauf dieser Jahre entwickelte, war eine Art nicht erblicher Doppelmonarchie. Der oberste Regent, auch Pontifex genannt, sucht sich seinen eigenen Mitregenten aus, den sogenannten Coronal, wenn er an die Macht kommt. Rechtlich gesehen wird der Coronal als Adoptivsohn des Pontifex betrachtet und nimmt nach dessen Tod den Platz auf dem Thron ein, worauf er einen neuen Coronal als seinen Nachfolger bestimmt. Beide Regenten haben ihr Heim auf Alhanroel, dem größten und bevölkerungsreichsten der drei Kontinente von Majipoor. Die kaiserliche Residenz des Pontifex, die er nur selten verläßt, liegt in den tiefsten Niederungen einer riesigen unterirdischen Stadt namens Labyrinth. Der Coronal hingegen lebt in einem geräumigen Palast auf der Spitze des Burgbergs, einem dreißig Meilen hohen Gipfel, auf dem durch ausgeklügelte Maschinen ein ewiger Frühling aufrechterhalten wird. Von Zeit zu Zeit steigt der Coronal von seinem opulenten Schloß herab und bereist in einer Großen Prozession seine Welt, ein Ereignis, das dazu beitragen soll, Majipoor an Macht und Einfluß seiner Herrscher zu erinnern. Eine solche Reise, die aufgrund der gewaltigen Entfernungen auf Majipoor mehrere Jahre dauern kann, führt den Coronal unweigerlich immer nach Zimroel, dem zweiten Kontinent, mit seinen gigantischen Städten zwischen enormen Flüssen und ausgedehnten, unberührten Wäldern. Seltener besucht er Suvrael, den unwirtlichen dritten Kontinent im Süden, der zum großen Teil aus der Sahara nicht unähnlichen Wüsten besteht. Zwei weitere Funktionäre wurden erst später Teil des Regierungssystems von Majipoor. Die Entwicklung einer Methode weltweiter telepathischer Kommunikation ermöglichte nächtliche Übertragungen orakelhafter Ratschläge und gelegentlicher therapeutischer Beratung unter der Verantwortung der Mutter des amtierenden Coronals, die den Titel Herrin der Insel des Schlafs trägt. Ihr Hauptquartier liegt auf einer Insel von der Größe eines Kontinents mitten zwischen Alhanroel und Zimroel. Später wurde eine zweite telepathische Instanz, geschaffen, der König der Träume. Er verfügt über leistungsstärkere telepathische Geräte, damit er Kriminelle und andere Bürger überwachen und maßregeln kann, deren Verhalten von den akzeptierten Normen Majipoors abweicht. Dieses Amt befindet sich durch Erbfolge im Besitz der Familie Barjazid von Suvrael. Im ersten Majipoor-Roman, Krieg der Träume, wird von einer Verschwörung berichtet, durch die der legitime Coronal, Lord Valentine, gestürzt und durch einen Betrüger ersetzt wird. Valentine, der seiner gesamten Erinnerung beraubt wurde, darf auf Zimroel das Leben eines fahrenden Jongleurs führen, wird sich aber allmählich seiner wahren Rolle bewußt und beginnt einen erfolgreichen Feldzug, um seinen Thron zurückzuerobern. In der Fortsetzung, Valentine Pontifex [Deutsch erstmals in zwei Bänden unter den Titeln Wasserkönige von Majipoor und Valentine Pontifex erschienen], muß sich der mittlerweile reife Valentine, im Grunde seines Herzens Pazifist, mit einem Aufstand der Metamorphen auseinandersetzen, die fest entschlossen sind, die verhaßten menschlichen Eroberer endgültig von ihrem Planeten zu vertreiben. Valentine besiegt sie und stellt den Frieden mit Hilfe gewaltiger Meeresbewohner wieder her, die Meeresdrachen genannt werden und von deren Intelligenz vorher niemand auf Majipoor etwas geahnt hatte. Die Kurzgeschichtensammlung Die Majipoor-Chroniken [Neuausgabe unter dem Titel Das Seelenregister] schildert Episoden aus vielen Zeitaltern und sozialen Schichten des Lebens auf Majipoor und bietet detaillierte Einblicke in eine Anzahl von Aspekten des Riesenplaneten, die in den Romanen nicht geschildert werden. Der Kurzroman Die Berge von Majipoor, fünfhundert Jahre nach Valentines Regentschaft angesiedelt, führt die Saga in die eisigen Nordländer, wo seit langem eine eigenständige barbarische Zivilisation existiert. Und das jüngste der Majipoor-Bücher, Die Zauberer von Majipoor, beginnt eine neue Trilogie, tausend Jahre vor Valentines Zeit, in der die Kräfte von Zauberei und Magie sich auf Majipoor entwickelt haben., Nachdem der Coronal Lord Prestimion vom Sohn des vorherigen Coronals mit Hilfe von Magiern und Zauberern gestürzt wurde, führt er seine Anhänger durch einen Bürgerkrieg zum Sieg, indem er sich ebenfalls der Schwarzkünste bedient. In der Fortsetzung, Lord Prestimion [1999 noch nicht auf Deutsch erschienen], bemüht er sich, mit den alltäglichen Problemen der Königswürde in einer Welt zurechtzukommen, die durch die Zauberei auf dem Höhepunkt des Krieges nachhaltig verändert wurde. Die nachfolgende Geschichte präsentiert eine Episode aus einer Zeit gegen Ende der Herrschaft von Valentine als Pontifex, als der Krieg gegen die Metamorphen einige Jahre zurückliegt, der Prozeß der Aussöhnung aber noch nicht abgeschlossen ist.,

ROBERT SILVERBERG Der siebte Schrein

Ein letzter steiler Kamm der unebenen, geröllübersäten Straße lag zwischen der königlichen Reisegesellschaft und dem Abstieg zur Ebene von Velalisier. Valentine, der Anführer, ritt hinauf, hielt an und sah erstaunt in das Tal hinab. Seit seinem letzten Besuch schien eine bestürzende Veränderung mit dem Land vor sich gegangen zu sein. »Schau an«, sagte der Pontifex nachdenklich. »Dieser Ort steckt stets voller Überraschungen, und hier ist unsere.« Die breite, flache Schüssel der trockenen Ebene erstreckte sich unter ihnen. Von diesem Aussichtspunkt, ein kleines Stück östlich vom Eingang zur archäologischen Ausgrabungsstätte, hätten sie mühelos ein ausgedehntes Feld im Sand versunkener Ruinen sehen müssen. Hier hatte einst eine mächtige Stadt gestanden, die berüchtigte Stadt der Gestaltwandler, wo in alten Zeiten so viele finstere historische Ereignisse stattgefunden hatten, monströse Sakrilege und Blasphemie. Aber – es war gewiß eine Illusion – die weitläufige Zone der eingestürzten Gebäude im Zentrum der Ebene wurde nun vollständig von einer wundersam gekräuselten Wasseroberfläche bedeckt, blaßrosa an den Rändern und perlgrau in der Mitte: ein großer See, wo niemals zuvor ein See gewesen war. Offenbar sahen die anderen Mitglieder der königlichen Reisegesellschaft es auch. Aber begriffen sie, daß es nur eine optische Täuschung war? Eine flüchtige Kombination von Sonnenlicht und dunstigem Staub und der drückenden, Mittagshitze mußte ein vorübergehendes Trugbild über dem toten Velalisier erzeugt haben, so daß es aussah, als wäre ausgerechnet eine Lagune beträchtlicher Größe inmitten dieser lebensfeindlichen Wüste entstanden, um die tote Stadt zu überschwemmen. Sie begann kurz hinter ihrem Aussichtspunkt und erstreckte sich bis zur fernen grau-blauen Mauer aus großen Steinmonolithen, die die Westgrenze der Stadt darstellte. Von Velalisier war nichts zu sehen. Weder die verfallenen Tempel und Paläste und Basiliken, noch die roten Basaltquader der Arena, die ausgedehnten Flächen aus blauem Stein, die Opferplattformen gewesen waren, oder die Zelte der Archäologen, die seit letztem Jahr auf Betreiben Valentines hier tätig waren. Nur die sechs steilen und schmalen Pyramiden, die höchsten erhaltenen Gebäude der prähistorischen Hauptstadt der Metamorphen, waren zu sehen – jedenfalls ihre Spitzen, die aus dem grauen Herzen des vorgeblichen Sees herausragten wie eine Reihe von Dolchen, die mit den Spitzen nach oben in seinen Tiefen festgesteckt worden waren. »Magie«, murmelte Tunigorn, der älteste von Valentines Jugendfreunden, der am pontifikalen Hof den Posten eines Ministers für Auswärtige Angelegenheiten bekleidete. Er zeichnete ein heiliges Symbol in die Luft. Mit zunehmendem Alter war Tunigorn sehr abergläubisch geworden. »Glaube ich nicht«, sagte Valentine lächelnd. »Ich würde sagen, nur eine sonderbare Erscheinung des Lichts.« In diesem Augenblick kam ein kräftiger Wind von Norden auf, als hätte ihn der Pontifex mit einem Gegenzauber herbeigerufen, und schälte den Dunst rasch hinweg. Mit ihm verschwand der See – verzog sich wie ein Phantom. Valentine und seine Gefährten befanden sich nun unter einem klaren und gnadenlosen stahlblauen Himmel und sahen auf das wahre Velalisier hinab – das gewaltige Feld der Steintrümmer, das kahle und zusammenhanglose Durcheinander brauner Bruchstücke und öder, schäbiger Scherben, die in knirschenden Betten von, Sandverwehungen lagen und alles waren, was von der verlassenen Metamorphenmetropole von einst übriggeblieben war. »Nun denn«, sagte Tunigorn, »vielleicht habt Ihr Recht gehabt, Majestät. Aber Magie hin oder her, vorher hat es mir besser gefallen. Es war ein hübscher See, und dies sind häßliche Steine.« »Hier ist nichts, was einem gefallen könnte«, sagte Herzog Nascimonte von Ebersinul. Er hatte den weiten Weg von seinem großen Anwesen auf der anderen Seite des Labyrinths zurückgelegt, um an dieser Expedition teilnehmen zu können. »Dies ist ein trauriger Ort und ist es immer gewesen. Wäre ich an Eurer Stelle Pontifex, Euer Majestät, würde ich einen Damm über den Fluß Glayge bauen und eine tosende Sturzflut hierherschicken, welche diese verfluchte Stadt und ihre gesamte abscheuliche Geschichte für alle Zeiten unter zwei Meilen Wasser begräbt.« Zum Teil konnte Valentine das Verdienstvolle an diesem Vorschlag erkennen. Es war leicht denkbar, daß die feierlichen Zaubersprüche der Vergangenheit noch hier verharrten, daß dies ein Gebiet war, wo verhängnisvolle Magie regierte. Aber natürlich konnte Valentine Nascimontes Vorschlag kaum ernst nehmen. »Die heilige Stadt der Metamorphen überfluten, ja! Unbedingt, das machen wir«, sagte er leichthin. »Sehr diplomatisch, Nascimonte. Was für eine glänzende Methode, die Harmonie zwischen den Rassen zu fördern!« Nascimonte, ein hagerer und unerschrockener Mann von achtzig Jahren mit stechenden saphirblauen Augen, die wie feurige Edelsteine in der breiten, gerunzelten Stirn funkelten, sagte liebenswürdig: »Eure Worte verraten uns, was wir bereits wissen, Majestät: Es ist ein Segen für die Welt, daß Ihr Pontifex seid und nicht ich. Mir gebricht es an Eurer gütigen und barmherzigen Natur – besonders, muß ich gestehen, wenn es um die elenden Gestaltwandler geht. Ich weiß, Ihr liebt sie und würdet sie aus ihrer Unterwerfung befreien. Aber für mich, Valentine, sind sie Ungeziefer und nichts als Ungeziefer. Und gefährliches Ungeziefer obendrein.«, »Psst«, sagte Valentine. Er lächelte immer noch, ließ aber auch ein wenig Ärger erkennen. »Der Aufstand ist lange vorbei. Es wird höchste Zeit, daß wir den alten Haß für immer begraben.« Nascimontes einzige Antwort war ein Schulterzucken. Valentine wandte sich ab und sah wieder zu den Ruinen. Größere Geheimnisse als das Trugbild erwarteten sie da unten. Ein Ereignis, das so grausam und schrecklich war wie alle Untaten aus Velalisiers unrühmlicher Vergangenheit, hatte jüngst in dieser Stadt toter Steine stattgefunden. Nichts Geringeres als ein Mord. Gewaltsamer Tod durch die Hand eines anderen war auf Majipoor nicht weit verbreitet. Um diesen Mord zu untersuchen, waren Valentine und seine Freunde an diesem Tag zum alten Velalisier geritten. »Kommt«, sagte er. »Machen wir uns auf den Weg.« Er gab seinem Reittier die Sporen, und die anderen folgten ihm die gepflasterte Straße hinunter in die heimgesuchte Stadt. Aus der Nähe wirkten die Ruinen längst nicht so düster wie bei den beiden vorherigen Besuchen Valentines. Die Regenfälle des Winters mußten heftiger als sonst ausgefallen sein, denn überall blühten Wildblumen in der dunklen, schmutzigen Einöde aschefarbener Dünen und verfallener Gebäudezeilen. Sie überzogen die graue Düsternis mit leuchtenden gelben und roten und blauen und weißen Tupfen, deren eindringliche Wirkung beinahe musikalisch war. Eine Schar zierlicher Kelebekkos mit hellen Flügeln flatterten zwischen den Blüten dahin und tranken Nektar, und winzige, stechmückenähnliche Ferushas flogen in dichten Schwärmen umher und bildeten ausgedehnte nebelartige Flecken in der Luft, die wie silberner Staub schimmerten. Aber hier spielte sich mehr ab als das Aufgehen der Blüten und das Tanzen der Insekten. Als Valentine seinen Abstieg in Richtung Velalisier begann, wimmelte es in seiner Einbildung plötzlich von seltsamen Dingen, Phantasien und Wundern. Es kam ihm vor, als würde ein unerklärliches Aufflackern von, Zauberei und Magischem außerhalb seines Sehbereichs stattfinden. Feen und Erscheinungen sangen wortlos von Majipoors unendlicher Vergangenheit, schwebten von den zerbrochenen Steinplatten mit ihren bröckelnden Kanten zu ihm empor, tanzten lockend um ihn herum und hüpften, von unbändiger Energie erfüllt, über die poröse, kalkreiche Erde der Ausgrabungsstätte. Der feine Schimmer eines zarten jadegrünen Schillerns, der aus der Entfernung nicht sichtbar gewesen war, schwebte über allem und tönte die Atmosphäre: eine Nebenwirkung des heißen Nachmittagslichts, das auf leuchtstarke Mineralien in den Felsen fiel, dachte er. Dennoch war es ein wundersamer Anblick, welche Ursache es auch immer haben mochte. Diese unerwarteten Anflüge von Schönheit hoben die Stimmung des Pontifex, die untypisch düster gewesen war, seit ihn vor einer Woche die Nachricht vom brutalen und rätselhaften Tod des angesehenen Metamorphenarchäologen Huukaminaan in eben diesen Ruinen erreicht hatte. Valentine hatte so große Hoffnungen in die Arbeit gesetzt, die hier getan wurde, die Ausgrabung der alten Hauptstadt der Gestaltwandler; und dieser Mord hatte alles verdorben. Nun kamen die Zelte der Archäologen in Sicht, luftige Zelte, aus breiten grünen, kastanienfarbenen und scharlachroten Stoffbahnen gewoben, die sich in der Ferne über einem leicht erhöhten Sandplateau bauschten. Einige der Archäologen selbst, sah er nun, kamen ihnen auf plumpen Reittieren auf den langen, von Steinen übersäten Prachtstraßen entgegengeritten: etwa ein halbes Dutzend, und Magadone Sambisa, die Chefarchäologin, führte die Gruppe an. »Majestät«, sagte sie, stieg ab und machte die umständliche Geste des Respekts, die vor einem Pontifex üblich war. »Willkommen in Velalisier.« Valentine erkannte sie kaum wieder. Es war erst ungefähr ein Jahr her, seit Magadone Sambisa in seinen Gemächern im Labyrinth vor ihn getreten war. Er erinnerte sich an eine, dynamische, selbstbewußte, zuversichtliche Frau mit leuchtenden Augen, gedrungen und drall, mit runden, vor Lebenskraft und Vitalität strotzenden Wangen und glänzenden roten Haarlocken, die ihr auf den Rücken fielen. Jetzt wirkte sie seltsam verkleinert, hager vor Erschöpfung, mit hängenden Schultern, stumpfen und eingesunkenen Augen, teigigem Gesicht, das faltig und nicht mehr pausbäckig wirkte. Ihre dichte Haartracht hatte Glanz und Spannkraft verloren. Er ließ sich sein Erstaunen anmerken, nur einen Augenblick, aber lange genug, daß sie es sehen konnte. Sie richtete sich unverzüglich auf und versuchte, so schien es, etwas von ihrer früheren Vitalität auszustrahlen. Valentine hatte vorgehabt, sie Herzog Nascimonte und Prinz Mirigant und den anderen Gefährten vorzustellen. Aber bevor er es tun konnte, trat Tunigorn dienstbeflissen vor und übernahm die Aufgabe. Es hatte eine Zeit gegeben, da konnten die Bewohner von Majipoor keine direkte Unterhaltung mit dem Pontifex führen. Damals wurde von ihnen verlangt, daß sämtliche Gespräche über einen Vermittler geführt wurden, der den Titel Hoher Sprecher trug. Valentine hatte diesen Brauch rasch abgeschafft, ebenso wie viele andere hinderliche Eigenheiten höfischer Etikette. Aber Tunigorn, von konservativer Natur, hatte sich nie mit diesen Änderungen abgefunden. Er tat, was er konnte, um die traditionelle Aura der Unnahbarkeit zu erhalten, die einst jeden Pontifex umgeben hatte. Valentine fand das amüsant und reizend und nur gelegentlich ärgerlich. Bei der Begrüßungsdelegation war kein Archäologe der Metamorphen, die zu der Expedition gehörten. Magadone Sambisa hatte nur fünf menschliche Archäologen und einen Ghayrog mitgebracht. Es machte einen merkwürdigen Eindruck, daß die Metamorphen außen vor blieben. Tunigorn wiederholte die Namen der Archäologen förmlich für Valentine und verhunzte dabei fast jeden einzelnen. Dann, und erst dann, trat er zurück und ließ den Pontifex persönlich mit ihr sprechen., »Die Ausgrabungen«, sagte er. »Sagt mir, haben sie gute Fortschritte gemacht?« »Ziemlich gute, Majestät. Sogar hervorragende, bis .bis ..« Sie machte eine Geste der Verzweiflung: Kummer, Schock, Unverständnis, Hilflosigkeit, alles mit einer einzigen heftigen Bewegung ihres Kopfs und ihrer Hände. Der Mord mußte wie ein Todesfall in der Familie für sie gewesen sein, für alle hier. Ein plötzlicher, schrecklicher Verlust. »Bis, ja. Ich verstehe.« Valentine befragte sie sanft, aber nachdrücklich. Hatte es, fragte er, wichtige neue Erkenntnisse bei den Ermittlungen gegeben? Waren Hinweise entdeckt worden? Hatte jemand die Verantwortung für das Attentat übernommen? Gab es überhaupt Verdächtige? Hatte die Gruppe der Archäologen Drohungen erhalten, daß es zu weiteren Anschlägen kommen würde? Aber es gab nichts Neues. Huukaminaans Ermordung war ein Einzelfall gewesen, ein plötzlicher, schmerzlicher und unbegreiflicher Einschnitt in den gleichmäßigen Fortschritt der Arbeit hier auf der Ausgrabungsstätte. Der Leichnam des ermordeten Metamorphen sei seinem Volk zur Bestattung übergeben worden, teilte sie ihm mit, und als sie es sagte, lief ein Schauer durch ihren ganzen Oberkörper, was sie nicht sehr erfolgreich zu verbergen vermochte. Die Archäologen versuchten, ihre Erschütterung über die Tat abzuschütteln und mit ihrer Arbeit weiterzumachen. Der ganze Themenkomplex war ihr erkennbar unangenehm. Sie brachte ihn, so schnell sie konnte, hinter sich. »Ihr müßt müde von der Reise sein, Majestät. Soll ich Euch Eure Quartiere zeigen?« Drei neue Zelte waren als Unterkünfte für den Pontifex und sein Gefolge aufgebaut worden. Sie mußten die Zone der Ausgrabungen durchqueren, um sie zu erreichen. Valentine bemerkte zufrieden, welch große Fortschritte dabei gemacht worden waren, die Büschel der gefährlichen kleinen Unkräuter und die verfilzten, holzigen Ranken zu entfernen, die seit so, vielen Jahrhunderten geduldig daran arbeiteten, die Steinquader auseinanderzuziehen. Unterwegs gab Magadone Sambisa unablässig wahre Sturzbäche von Informationen über die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt von sich, als wäre Valentine ein Tourist und sie seine Reiseführerin. Auf dieser Seite der eingestürzte, aber immer noch eindrucksvolle Aquädukt. Dort drüben die gut erhaltene Schüssel der Arena mit ihren zerklüfteten Mauern. Und dort wiederum die große Prachtstraße, die mit glatten grünen Steinplatten gepflastert war. Auch nach zwanzigtausend Jahren waren noch die Hieroglyphen der Gestaltwandler auf den Steinplatten zu sehen, geheimnisvolle verschnörkelte Symbole, die tief in den Stein geritzt waren. Heute konnten nicht einmal mehr die Gestaltwandler selbst sie entziffern. Der Strom archäologischer und mythologischer Details sprudelte fast ohne Pause aus ihr hervor. Darin lag eine gewisse hektische, sogar verzweifelte Betriebsamkeit, ein Zeichen für das Unbehagen, das sie in Gesellschaft des Pontifex von Majipoor empfinden mußte. Valentine war an so etwas gewöhnt. Aber dies war nicht sein erster Besuch in Velalisier, und er war mit dem größten Teil dessen, was sie ihm erzählte, bereits vertraut. Und sie sah so müde aus, so erschöpft, daß es ihn bekümmerte, sie ihre Energie mit derart überflüssigen Ausführungen verschwenden zu sehen. Aber sie hörte nicht auf. Sie kamen gerade an einem riesigen und sehr verfallenen Bauwerk aus grauem Stein vorbei, das aussah, als würde es einstürzen, falls jemand in seiner Nachbarschaft auch nur niesen sollte. »Dies nennt man den Palast des Letzten Königs«, sagte sie. »Wahrscheinlich ein falscher Name, aber so nennen ihn die Piurivars, und in Ermangelung eines besseren Wortes nennen wir ihn auch so.« Valentine fiel auf, wie sorgfältig sie den Namen aussprach, den die Metamorphen sich selbst gegeben hatten. Piurivars, ja. Wissenschaftler neigten dazu, in dieser Hinsicht sehr förmlich zu, sein, sie nannten die Ureinwohner von Majipoor immer so und bezeichneten sie niemals als Metamorphen oder Gestaltwandler, wie das gewöhnliche Volk es tat. Er würde versuchen, das zu beherzigen. Als sie zu den Ruinen des Königspalastes kamen, gab sie eine Abschweifung aus der Legende vom mythischen Letzten König aus der Frühzeit der Piurivar zum besten, in dessen Beisein die abscheuliche Schandtat stattgefunden hatte, die letzten Endes dazu geführt hatte, daß die Metamorphen ihre Stadt verlassen mußten. Es war eine Geschichte, mit der sie alle vertraut waren. Wer kannte die gräßliche Überlieferung nicht? Aber sie hörten geduldig zu, als sie erzählte, wie die Metamorphen von Velalisier vor vielen tausend Jahren, lange bevor die ersten menschlichen Siedler nach Majipoor gekommen waren, in einem Anflug von blindwütigem Wahnsinn zwei lebende Meeresdrachen aus dem Ozean gezerrt hatten: intelligente Wesen von enormer Größe mit außergewöhnlichen Geisteskräften, die die Metamorphen selbst als Götter angesehen hatten. Sie hatten sie auf diese Plattformen gelegt, mit langen Messern zerstückelt und ihr Fleisch als verrückte Opfergabe an noch größere Götter, von deren Existenz der König und sein Hof überzeugt waren, vor der Siebten Pyramide auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Als die einfachen Leute der umliegenden Provinzen von dieser Orgie abscheulicher Massaker gehört hatten, so ging die Legende, stürmten sie Velalisier und zerstörten den Tempel, wo das Opfer dargebracht worden war. Sie töteten den Letzten König und verwüsteten seinen Palast, jagten die verkommenen Bewohner der großen Stadt in die Wildnis, sprengten den Aquädukt und leiteten die wasserspendenden Flüsse durch Dämme um, damit Velalisier fortan ein öder und verfluchter Ort sein und in alle Ewigkeit den Eidechsen und Spinnen und Jakkabolen der Felder gehören sollte. Valentine und seine Begleiter zogen schweigend weiter, als Magadone Sambisa mit ihrer Schilderung fertig war. Nun konnte, man die sechs spitzen Pyramiden sehen, Velalisiers bekannteste Monumente; die erste ragte in unmittelbarer Nachbarschaft zum Innenhof des Palasts des Letzten Königs auf, die anderen bildeten eine gerade Linie, die sich nach Osten erstreckte. »Es gab einst eine siebte«, sagte Magadone Sambisa. »Aber die Piurivars selbst haben sie zerstört, bevor sie sich endgültig aus der Stadt zurückzogen. Nichts als verstreute Trümmer blieben übrig. Dort wollten wir Anfang letzter Woche mit Ausgrabungen beginnen, aber das war, als – als –« Sie verstummte und wandte sich ab. »Ja«, sagte Valentine leise. »Natürlich.« Die Straße führte zwischen zwei kolossalen Plattformen aus gigantischen blauen Steinplatten hindurch, die die Metamorphen der heutigen Zeit als Tische der Götter bezeichneten. Auch wenn sie vom Schutt von fast zweihundert Jahrhunderten umgeben waren, ragten sie immer noch gut drei Meter über die umliegende Ebene empor, und das Areal ihrer glatten Oberflächen wäre groß genug gewesen, Hunderte Menschen gleichzeitig aufzunehmen. Mit leiser Grabesstimme sagte Magadone Sambisa: »Wißt Ihr, was dies ist, Euer Majestät?« Valentine nickte. »Die Opferaltäre, ja. Wo die Schandtat stattgefunden hat.« »Richtig«, sagte Magadone Sambisa. »An dieser Stätte wurde auch Huukaminaan ermordet. Ich könnte Euch die Stelle zeigen. Es würde nur einen Augenblick dauern.« Sie zeigte zu einer ein Stück weiter unten an der Straße gelegenen Treppe, die aus rechteckigen Quadern desselben blauen Steins wie die Plattformen selbst bestand. Über sie konnte man die westliche Plattform betreten. Magadone Sambisa stieg von ihrem Reittier ab und lief rasch hinauf. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und streckte eine Hand nach Valentine aus, als könnte der Pontifex Mühe haben, die Treppe zu ersteigen, was nicht der Fall war. Er war noch immer fast so behende wie in seiner Jugend. Aber der Höflichkeit halber griff er nach ihrer Hand, als sie sie gerade – weil sie sich vielleicht überlegte, daß es ungebührlich für eine Gemeine sein könnte, die Hand eines, Pontifex zu berühren – ängstlich wieder zurücknehmen wollte. Valentine beugte sich grinsend nach vorn, ergriff die Hand dennoch und zog sich hoch. Der alte Nascimonte kam mit raschen Schritten hinter ihm her, und ihm wiederum folgte Valentines Cousin und engster Berater, Prinz Mirigant, auf dessen Schulter der kleine Zauberer Autifon Deliamber vom Volk der Vroon saß. Tunigorn blieb unten. Offenbar war dieser Schauplatz eines uralten Sakrilegs und infamen Gemetzels nichts für ihn. Die Oberfläche des Altars, von der Zeit aufgerauht und überall mit den Pockennarben von Büscheln struppigen Unkrauts und Verkrustungen roter und grüner Flechten übersät, erstreckte sich endlos vor ihnen, eine ehrfurchtgebietende Fläche. Man konnte sich schwer vorstellen, wie es selbst einer großen Zahl von Gestaltwandlern, diesen schlanken und scheinbar wirbellosen Wesen, je möglich gewesen sein konnte, diese immensen Steinquader an Ort und Stelle zu schaffen. Magadone Sambisa zeigte zu einer Markierung gelben Klebebands in Form eines sechszackigen Sterns, der rund ein Dutzend Schritte entfernt auf dem Stein angebracht worden war. »Dort haben wir ihn gefunden«, sagte sie. »Jedenfalls zum Teil. Und zum Teil dort.« Links, etwa zwanzig Schritte weiter entfernt, befand sich eine zweite Markierung. »Und dort.« Ein dritter Stern aus gelbem Klebeband. »Sie haben ihn zerstückelt?« fragte Valentine angewidert. »Richtig. Man kann die Blutflecken überall sehen.« Sie zögerte einen Moment. Valentine fiel auf, daß sie inzwischen zitterte. »Alles war da, außer seinem Kopf. Den fanden wir weit entfernt, drüben in der Ruine der Siebten Pyramide.« »Sie kennen keine Scham«, sagte Nascimonte aufbrausend. »Sie sind schlimmer als Tiere. Wir hätten sie alle auslöschen sollen.« »Wen meint Ihr?« fragte Valentine. »Ihr wißt genau, wen ich meine, Majestät. Ihr wißt es ganz genau.«, »Ihr glaubt also, daß dieses Verbrechen das Werk von Piurivars gewesen ist?« »O nein, Majestät, nein!« sagte Nascimonte und ließ dick aufgetragenen Hohn in seine Worte einfließen. »Wie käme ich darauf? Zweifellos muß es einer unserer eigenen Archäologen getan haben. Sagen wir aus beruflicher Eifersucht, vielleicht weil der tote Gestaltwandler eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte und unsere eigenen Leute den Ruhm dafür einstreichen wollten. Glaubt Ihr das, Valentine? Glaubt Ihr, ein Mensch wäre zu dieser Art von abscheulicher Bluttat fähig?« »Das müssen wir ja eben herausfinden, mein Freund«, sagte Valentine liebenswürdig. »Ich glaube, wir sind noch nicht soweit, daß wir Schlußfolgerungen ziehen könnten.« Magadone Sambisas Augen quollen ihr fast aus dem Kopf, als wäre sie außerstande, das Schauspiel zu verarbeiten, daß einem leibhaftigen Pontifex Vorhaltungen gemacht wurden. »Vielleicht sollten wir jetzt die Zelte aufsuchen«, sagte sie. Es war sehr seltsam, dachte Valentine, als sie auf der geröllgesäumten Straße, die zum Lagerplatz führte, bergab ritten, wieder hier in diesem einsamen und unheimlichen Bereich jahrtausendealter Ruinen zu sein. Aber wenigstens war er nicht im Labyrinth. Soweit es ihn betraf, war jeder beliebige Ort besser als das Labyrinth. Dies war sein dritter Besuch in Velalisier. Der erste hatte vor langer Zeit stattgefunden, als er Coronal gewesen war, während der seltsamen Zeit, als ihn der Usurpator Dominin Barjazid vorübergehend vom Thron gestoßen hatte. Hier hatte er auf seinem Marsch nach Norden, zum Burgberg, wo er im Krieg der Wiedereinsetzung seinen Thron von dem falschen Coronal zurückfordern wollte, mit seiner kleinen Schar Getreuer Rast gemacht – Carabella, Nascimonte, Sleet, Ermanar, Deliamber und den anderen. Damals war Valentine noch ein junger Mann gewesen. Aber er war nicht mehr jung. Seit neun Jahren war er jetzt schon Pontifex, von Majipoor, oberster Monarch des Reiches, und davor hatte er vierzehn als Coronal Lord gedient. Einige weiße Strähnen waren in seinem goldenen Haar, und auch wenn er noch den durchtrainierten Körper und die Anmut eines Athleten besaß, spürte er das erste Zwicken des fortschreitenden Alters. Bei seinem ersten Besuch in Velalisier hatte er geschworen, daß er Unkraut und Ranken, die die Ruinen erstickten, entfernen und Archäologen entsenden lassen würde, um die alten, eingestürzten Gebäude auszugraben und zu restaurieren. Und er hatte vorgehabt, den Führern der Metamorphen eine Rolle bei dieser Arbeit zuzuweisen, wenn sie dazu bereit waren. Das war sein Plan gewesen, um den einst verabscheuten und gejagten Ureinwohnern dieses Planeten einen bedeutenderen Platz im öffentlichen Leben von Majipoor zu geben; denn er wußte, daß die Metamorphen von mühsam unterdrückter Wut erfüllt waren und sich nicht mehr in den entlegenen Reservaten halten ließen, in die seine Vorgänger sie verbannt hatten. Valentine hatte diesen Schwur gehalten. Und Jahre später war er nach Velalisier zurückgekehrt, um sich ein Bild von den Fortschritten zu machen, die die Archäologen erzielten. Aber die Metamorphen, die Valentines Vorstoß zu ihren heiligsten Stätten erbittert ablehnten, hatten das ganze Unternehmen boykottiert. Damit hatte er nicht gerechnet. Er sollte bald herausfinden, daß die Gestaltwandler zwar darauf brannten, Velalisier in neuem Glanz erstrahlen zu sehen, diese Aufgabe aber selbst übernehmen wollten – nachdem sie die menschlichen Siedler und alle anderen Eindringlinge aus fremden Welten von Majipoor vertrieben hatten und wieder die alleinige Herrschaft über den Planeten antreten konnten. Nur wenige Jahre nach Valentines Thronbesteigung kam es zu einem Aufstand der Gestaltwandler, der insgeheim viele Jahre lang geplant worden war. Die erste Gruppe von Archäologen, die Valentine nach Velalisier geschickt hatte, konnte vor Ort nicht mehr tun, als einige vorbereitende Aufräumarbeiten durchzuführen und Karten anzulegen, bevor die Rebellion, ausbrach; danach mußten die Arbeiten in Velalisier auf unbefristete Zeit vertagt werden. Der Krieg endete mit dem Sieg von Valentines Truppen. Bei den anschließenden Friedensverhandlungen hatte er darauf geachtet, soviel wie möglich von dem aus der Welt zu schaffen, was die Metamorphen bekümmerte. Die Danipur – das war der Titel ihrer Königin – wurde als vollwertige Regentin des Reiches in die Regierung aufgenommen, was sie auf eine ähnliche Stufe mit dem Pontifex und dem Coronal stellte. Mittlerweile war Valentin selbst schon vom Thron des Coronals auf den des Pontifex aufgerückt. Und nun hatte er den Plan, die Ruinen von Velalisier zu restaurieren, wieder aufgenommen; diesmal freilich hatte er darauf geachtet, daß es mit der vollen Unterstützung der Metamorphen geschah und Archäologen der Metamorphen Seite an Seite mit den Gelehrten der angesehenen Universität von Arkilon im Norden arbeiteten, der er die Aufgabe übertragen hatte. Im gerade vergangenen Jahr waren große Fortschritte erzielt worden, die Ruinen dem Vergessen zu entreißen, das sie so lange Jahre bedroht hatte. Aber daran konnte er sich kaum erfreuen. Der schreckliche Tod des Chefarchäologen der Metamorphen auf diesem uralten Altar legte Zeugnis dafür ab, daß an diesem Ort immer noch finstere Mächte vorherrschten. Er hatte sich eingebildet, daß er während seiner Herrschaft Harmonie in die Welt gebracht hatte, aber nun sah es so aus, als wäre diese Harmonie längst nicht so umfassend, wie er selbst gern glauben wollte. Als Valentine sich in seinem Zelt eingerichtet hatte, war die Dämmerung bereits hereingebrochen. Einem Brauch zufolge, über den nicht einmal er sich gern hinwegsetzte, würde er allein darin wohnen, da seine Gemahlin Carabella auf dieser Reise zu Hause im Labyrinth geblieben war. Tatsächlich hatte sie ihn mit allen Kräften zu überreden versucht, auch nicht zu gehen. Tunigorn, Mirigant, Nascimonte und der Vroon teilten sich das, zweite Zelt; das dritte wurde von den Wachen bewohnt, die den Pontifex nach Velalisier begleitet hatten. Er trat in die zunehmende Dunkelheit hinaus. Die ersten Sterne funkelten bereits am Himmel, und das Leuchten des Großen Mondes zeichnete sich am Horizont ab. Die Luft war klar und kühl und hatte etwas Sprödes, als könnte man sie mit den Händen zerreißen wie trockenes Papier und zwischen den Fingern zu Staub zerreiben. Eine seltsame Stille herrschte, ein unheimliches Schweigen. Aber wenigstens war er hier im Freien und konnte richtige Sterne sehen, und die Luft, die er atmete, so trocken sie auch sein mochte, war richtige Luft, nicht die fabrizierte Atmosphäre der pontifikalen Stadt. Dafür war Valentine dankbar. Von Rechts wegen hatte er überhaupt nichts draußen in der Welt verloren. Als Pontifex war sein Platz im Labyrinth, verborgen in seinen geheimen kaiserlichen Gemächern tief unter der Erde, unter all den gewundenen Schichten der unterirdischen Siedlung, stets vor den Blicken gewöhnlicher Sterblicher verborgen. Der Coronal, der Juniorkönig, der in dem geräumigen Schloß mit seinen vierzigtausend Zimmern auf dem gewaltigen, den Himmel durchbohrenden Gipfel des Burgbergs hauste, sollte die aktive Gestalt der Regierung sein, der sichtbare Repräsentant königlicher Würde auf Majipoor. Aber Valentine verabscheute das klamme Labyrinth, wo er seinem hohen Rang gemäß wohnen mußte. Er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um ihm zu entfliehen. Und diese hier war allerdings unvermeidlich gewesen. Der Mord an Huukaminaan war eine ernste Angelegenheit und erforderte eine Untersuchung auf höchster Ebene; und der Coronal Lord Hissune war gerade auf einer viele Monate währenden Reise durch den fernen Kontinent Zimroel. So kam es, daß sich der Pontifex anstelle des Coronals hier aufhielt. »Ihr liebt den Anblick des freien Himmels, nicht wahr?« fragte Herzog Nascimonte, der aus dem gegenüberliegenden Zelt kam,, herüberhinkte und sich neben Valentine stellte. Eine gewisse Sanftheit verbarg sich unter seiner schroff krächzenden Stimme. »Ah, das verstehe ich, alter Freund. Wahrhaftig.« »An dem Ort, an dem ich sonst leben muß, Nascimonte, sehe ich die Sterne so selten.« Der Herzog kicherte. »Leben muß! Der mächtigste Mann der Welt, und doch ist er ein Gefangener! Wie paradox das ist! Wie traurig!« »Ich wußte von dem Augenblick, als ich Coronal wurde, daß ich eines Tages im Labyrinth leben müßte«, sagte Valentine. »Ich habe versucht, meinen Frieden damit zu machen. Aber Ihr wißt, es war nie meine Absicht, Coronal zu werden. Wenn Voriax überlebt hätte ..« »Ah, ja, Voriax ..« Valentines Bruder, der ältere Sohn des Hohen Ratgebers Damiandane: derjenige, der von Kindesbeinen an erzogen worden war, den Thron von Majipoor zu besteigen. Nascimonte sah Valentine eindringlich an. »Es war ein Metamorph, der ihn im Wald ermordet hat, nicht? Ist das inzwischen bewiesen worden?« Valentine sagte unbehaglich: »Was spielt es heute für eine Rolle, wer ihn getötet hat? Er ist gestorben. Und der Thron fiel mir zu, weil ich der andere Sohn unseres Vaters war. Eine Krone, die zu tragen ich mir nie hätte träumen lassen. Alle wußten, daß sie für Voriax bestimmt war.« »Aber er hatte auch ein dunkleres Schicksal. Armer Voriax!« Armer Voriax, ja. Im achten Jahr seiner Regentschaft als Coronal von einem Pfeil aus dem Nichts niedergestreckt, einem Pfeil von dem Bogen eines Metamorphenattentäters, der sich zwischen den Bäumen versteckt hatte. Als er die Krone seines toten Bruders annahm, hatte sich Valentine damit zwangsläufig dazu verurteilt, eines Tages im Labyrinth leben zu müssen, wenn der alte Pontifex starb und der Coronal an der Reihe war, den höheren Titel und die freudlose Aussicht auf eine unterirdische Behausung anzunehmen, die damit einherging., »Wie Ihr sagt, es war die Entscheidung des Schicksals«, antwortete Valentine, »und nun bin ich Pontifex. Nun, so sei es, Nascimonte. Aber ich werde mich nicht die ganze Zeit da unten in der Dunkelheit verstecken. Das kann ich nicht.« »Warum solltet Ihr auch? Der Pontifex kann tun und lassen, was ihm gefällt.« »Ja. Ja. Aber nur im Rahmen unserer Gesetze und Bräuche.« »Ihr formt Euch Eure Gesetze und Bräuche so, wie sie Euch passen, Valentine. Das habt Ihr schon immer gemacht.« Valentine begriff, was Nascimonte damit sagen wollte. Er war nie ein konventioneller Monarch gewesen. Die meiste Zeit seines Exils während der Periode der Usurpation war er durch die Welt gestreift und hatte sich seinen Lebensunterhalt als bescheidener Jongleur verdient, weil die Gefolgschaft des Thronräubers durch eine künstlich induzierte Amnesie verhindert hatte, daß er sich an seinen wahren Rang erinnerte. Diese Jahre hatten ihn unumkehrbar verändert; und als er sich wieder auf den königlichen Höhen des Burgbergs befand, hatte er sich auf eine Art und Weise betragen wie nur wenige Coronals jemals vor ihm – hatte sich offen unter das Volk gemischt, das unbekümmerte Evangelium von Frieden und Liebe selbst dann noch gepredigt, als die Gestaltwandler sich darauf vorbereiteten, ihren lange gehegten Feldzug gegen die Eroberer vom Zaun zu brechen, die ihnen ihre Welt genommen hatten. Und dann, als die Ereignisse des Krieges Valentines Aufstieg zum Pontifikat unvermeidlich machten, hatte er so lange wie möglich gezögert, bis er die Oberwelt seinem Protege Lord Hissune überlassen hatte, dem neuen Coronal, und hinabgestiegen war in die unterirdische Stadt, die seinem sonnigen Naturell so fremd war. In seinen neun Jahren als Pontifex hatte er jede Möglichkeit genutzt, ihr zu entkommen. Soweit man sich erinnerte, war kein Pontifex öfter als einmal pro Jahrzehnt aus dem Labyrinth herausgekommen, und auch dann nur, um an wichtigen Ritualen im Schloß des Coronals teilzunehmen; aber Valentine erschien so, oft wie möglich an der Oberfläche und ritt kreuz und quer durch das Land, als wäre er immer noch verpflichtet, die förmlichen Großprozessionen durch das Reich zu unternehmen, die die Pflicht eines Coronals waren. Lord Hissune war jedesmal sehr geduldig mit ihm gewesen, aber Valentine zweifelte nicht daran, daß der Drang seines übergeordneten Monarchen, so häufig ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu kommen, den jungen Coronal ziemlich verdroß. »Ich verändere, was meiner Meinung nach verändert werden muß«, sagte Valentine. »Aber ich bin es Lord Hissune schuldig, so wenig wie möglich auf der Bildfläche zu erscheinen.« »Nun, heute seid Ihr auf jeden Fall an der Oberfläche!« »So sieht es aus. Aber dieses eine Mal hätte ich gern auf die Gelegenheit verzichtet, nach oben zu kommen. Aber da Hissune auf Zimroel ist ..« »Ja. Ihr hattet eindeutig keine andere Wahl. Ihr mußtet diese Ermittlungen persönlich leiten.« Sie verstummten. »Eine scheußliche Sache, dieser Mord«, sagte Nascimonte nach einer Weile. »Pfui! Stücke des armen Kerls einfach so über dem gesamten Altar zu verstreuen!« »Auch Teile der Metamorphenpolitik der Regierung, glaube ich«, sagte der Pontifex mit einem wehmütigen Lächeln. »Ihr glaubt, daß die Tat politische Hintergründe hat, Valentine?« »Wer weiß? Aber ich fürchte das Schlimmste.« »Ihr, der ewige Optimist?« »Es wäre zutreffender, mich als Realisten zu bezeichnen, Nascimonte. Als Realisten.« Der alte Herzog lachte. »Wie Ihr wollt, Majestät.« Eine weitere Pause, länger als die erste. Dann sagte Nascimonte leiser: »Valentine, ich muß Euch für einen früheren Fehler um Verzeihung bitten. Heute nachmittag, als ich die Gestaltwandler als Ungeziefer bezeichnet habe, das ausgerottet werden sollte, da habe ich zu schroff gesprochen. Ihr wißt, daß ich das nicht, wirklich glaube. Ich bin ein alter Mann. Manchmal spreche ich so unverblümt, daß ich selbst ganz erstaunt bin.« Valentine nickte, gab aber keine Antwort. »Und auch, daß ich so dogmatisch behauptet habe, ein anderer Gestaltwandler müßte ihn umgebracht haben. Wie Ihr sagtet, es ziemt uns nicht, so vorschnell zu Schlußfolgerungen zu gelangen. Wir haben noch nicht einmal mit der Beweisaufnahme begonnen. An diesem Punkt haben wir keinerlei Grundlage, zu vermuten ..« »Ganz im Gegenteil. Wir haben allen Grund, es zu vermuten, Nascimonte.« Der Herzog sah Valentine bestürzt an. »Majestät!« »Spielen wir keine Spielchen, alter Freund. Im Augenblick ist außer uns beiden niemand hier. Also steht es uns frei, ungeschminkt die Wahrheit zu sagen, oder nicht? Und Ihr habt es heute nachmittag ungeschminkt genug ausgedrückt. Ich habe Euch da gesagt, daß wir keine voreiligen Schlüsse ziehen sollten, ja, aber manchmal liegt eine Schlußfolgerung dermaßen nahe, daß sie uns förmlich anspringt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum einer der menschlichen Archäologen – oder einer der Ghayrogs, was das betrifft – einen seiner Kollegen hätte ermorden sollen. Ich verstehe auch nicht, warum es ein anderer hätte tun sollen. Mord ist ein so seltenes Verbrechen, Nascimonte. Wir können die Beweggründe von jemandem, der dazu imstande wäre, nicht ansatzweise verstehen. Aber jemand hat es getan.« »Ja.« »Nun, und die Beweggründe welcher Rasse sind am schwersten für uns zu verstehen, was meint Ihr? Soweit ich sehe, ist der Täter mit größter Wahrscheinlichkeit ein Gestaltwandler – entweder ein Mitglied des Archäologenteams oder einer, der mit dem speziellen Ziel von außen kam, das Attentat durchzuführen.« »Sollte man meinen. Aber welchen erdenklichen Grund könnte ein Gestaltwandler haben, einen seiner eigenen Rasse zu töten?«, »Ich kann mir keinen vorstellen. Darum sind wir als Ermittler hier«, sagte Valentine. »Und ich habe das unangenehme Gefühl, daß mir die Lösung nicht gefallen wird, wenn wir sie gefunden haben.« Beim Abendessen im offenen Speisesaal der Archäologen lernte Valentine unter dem klaren, schwarzen Himmel, an dem jetzt kreisende Konstellationen funkelnder Sterne zu sehen waren, die kaltes Licht auf die geheimnisvollen Unebenheiten und Erhebungen der umliegenden Ruinen warfen, das gesamte wissenschaftliche Team von Magadone Sambisa kennen. Es waren alles in allem siebzehn Leute: sechs andere Menschen, zwei Ghayrogs, acht Metamorphen. Sie schienen alle, jeder einzelne, sanftmütige, gelehrte Leute zu sein. Nicht unter Aufbietung all seiner Phantasie konnte sich Valentine vorstellen, daß einer von ihnen seinen geschätzten Kollegen Huukaminaan ermordet und verstümmelt haben könnte. »Sind das die einzigen Personen, die Zugang zur Ausgrabungsstätte haben?« fragte er Magadone Sambisa. »Natürlich gibt es noch die Tagelöhner.« »Aha. Und wo sind die gerade?« »Sie haben ein eigenes Dorf jenseits der letzten Pyramide. Sie kehren bei Sonnenuntergang dorthin zurück und kommen erst wieder her, wenn sie am nächsten Tag zu arbeiten anfangen.« »Ich verstehe. Wie viele sind es insgesamt? Sehr viele?« Magadone Sambisa sah über den Tisch zu einem blassen Metamorphen mit langem Gesicht und stark schräggestellten Augen. Er war ihr Aufseher über die Ausgrabungsstätte, hieß Kaastisiik und war für die tägliche Einteilung der Gräber zuständig. »Was würdet Ihr sagen? Etwa hundert?« »Einhundertzwölf«, sagte Kaastisiik und verzog seinen kleinen schlitzförmigen Mund auf eine Weise, die zeigte, wieviel er sich auf seine Exaktheit einbildete. »Überwiegend Piurivar?« fragte Valentine., »Ausschließlich Piurivar«, sagte Magadone Sambisa. »Wir hielten es für das beste, nur eingeborene Arbeiter hinzuzuziehen, da wir die Stadt nicht nur ausgraben, sondern bis zu einem gewissen Grad neu bauen. Sie scheinen keine Probleme mit der Anwesenheit von Archäologen zu haben, die nicht zu den Piurivar gehören, aber wenn Menschen an der tatsächlichen Aufbauarbeit beteiligt wären, hätten sie das zweifellos als Affront betrachtet.« »Ihr habt alle vor Ort eingestellt, richtig?« »Es gibt keinerlei Siedlungen in unmittelbarer Umgebung der Ruinen, Euer Majestät. Und auch in den umliegenden Provinzen leben nicht allzu viele Piurivars. Wir mußten sie über große Entfernungen herbeischaffen. Einen Großteil aus Piurifayne selbst.« Daraufhin zog Valentine eine Braue hoch. Aus Piurifayne? Piurifayne war eine Provinz des fernen Zimroel, eine fast unvorstellbare Strecke entfernt auf der anderen Seite des Inneren Meeres gelegen. Vor achttausend Jahren hatte der große Eroberer Lord Stiamot – der den Hoffnungen der Piurivars, sie könnten auf ihrer eigenen Welt unabhängig bleiben, ein für allemal ein Ende bereitet hatte – die Metamorphen, die seinen Feldzug überlebt hatten, in die feuchten Dschungel von Piurifayne getrieben und dort in ein Reservat gesperrt. Obwohl die alten Einschränkungen aufgehoben waren und Metamorphen sich niederlassen durften, wo sie wollten, lebten in Piurifayne immer noch mehr von ihnen als anderswo; und in den subtropischen Sümpfen von Piurifayne hatte der Revolutionär Faraataa die Untergrundbewegung gegründet, die den Aufstand über das friedliche Majipoor gebracht hatte wie einen Fluß glühender Lava. Tunigorn sagte: »Sie haben natürlich alle verhört? Ihr Kommen und Gehen zur Tatzeit überprüft?« Magadone Sambisa schien bestürzt. »Ihr meint, wir hätten sie behandeln sollen, als wären sie des Mordes verdächtig?« »Sie sind des Mordes verdächtig«, sagte Tunigorn., »Sie sind einfache Gräber und Lastenträger, mehr nicht, Prinz Tunigorn. Es sind keine Mörder unter ihnen, das weiß ich. Sie haben Dr. Huukaminaan verehrt. Sie haben ihn als Hüter ihrer Vergangenheit betrachtet – fast als Heiligen. Es ist unvorstellbar, daß einer von ihnen ein derart grauenhaftes und gemeines Verbrechen begangen haben könnte. Unvorstellbar!« »Vor zwanzigtausend Jahren«, sagte Herzog Nascimonte und schaute auf, als würde er nur zur Atmosphäre sprechen, »ließ der König der Gestaltwandler an genau diesem Ort, wie Ihr uns vorhin selbst noch einmal in Erinnerung gerufen haben, zwei riesige Meeresdrachen auf den gigantischen Steinplattformen dort hinten bei lebendigem Leibe abschlachten. Aus Euren Worten ging deutlich hervor, daß die Gestaltwandler jener Zeit die Meeresdrachen mit noch größerer Ehrerbietung behandelten als Eure Arbeiter angeblich Dr. Huukaminaan. Sie nannten sie ›Wasserkönige‹ – ist es nicht so? –, gaben ihnen Namen, betrachteten sie als heilige ältere Brüder und sprachen Gebete zu ihnen. Und dennoch fand hier in Velalisier das blutige Opfer statt, ein Ereignis, das die Gestaltwandler bis auf den heutigen Tag als Schandtat bezeichnen. Ist das nicht so? Dann gestattet mir die Bemerkung: Wenn der König der Gestaltwandler damals zu so etwas fähig gewesen ist, wäre es da so unvorstellbar, daß einer Eurer angeheuerten Metamorphen letzte Woche einen Grund gefunden haben könnte, auf demselben Altar eine ähnlich grausame Tat an dem unglücklichen Dr. Huukaminaan zu begehen?« Magadone Sambisa schien fassungslos zu sein, als hätte Nascimonte ihr ins Gesicht geschlagen. Einen Augenblick war sie zu keiner Antwort fähig. Dann sagte sie heiser: »Wie können Sie einen uralten Mythos, eine phantastische Legende, dazu benutzen, den Verdacht auf eine Gruppe harmloser, unschuldiger ..« »Aha, demnach ist es ein Mythos und eine Legende, wenn Ihr Eure harmlosen und unschuldigen Gräber und Träger beschützen wollt, aber eine verbürgte historische Tatsache, wenn wir vor, Entzücken über diese Haufen alter, verfallener Steine erschauern sollen?« »Bitte«, sagte Valentine und sah Nascimonte finster an. »Bitte.« Zu Magadone Sambisa sagte er: »Um welche Tageszeit geschah der Mord?« »Spät in der Nacht. Es muß nach Mitternacht gewesen sein.« »Ich war der letzte, der Dr. Huukaminaan gesehen hat«, sagte einer der Metamorphenarchäologen, ein zierlicher Piurivar, dessen Haut einen eleganten Saphirton hatte. Vo-Siimifon war sein Name; Magadone Sambisa hatte ihn als Experten für die alte Schrift der Piurivar vorgestellt. »Wir saßen bis spät nachts in unserem Zelt, er und ich, und unterhielten uns über eine Inschrift, die am Tag zuvor gefunden worden war. Die Schriftzeichen waren außerordentlich klein; Dr. Huukaminaan klagte über Kopfschmerzen und sagte schließlich, daß er einen Spaziergang machen würde. Ich ging schlafen. – Dr. Huukaminaan kehrte nicht zurück.« »Es ist ein langer Weg von hier bis zu den Opferplattformen«, stellte Mirigant fest. »Ein ziemlich langer Weg. Ich schätze, zu Fuß braucht man mindestens eine halbe Stunde dorthin. Jemand in seinem Alter wahrscheinlich länger. Soweit ich weiß, war er ein alter Mann.« »Aber wenn ihm jemand gleich außerhalb des Lagers begegnet wäre«, schlug Tunigorn vor, »und ihn gezwungen hätte, den ganzen Weg bis zu den Plattformen zu gehen ..« Valentine sagte: »Wird nachts ein Wachtposten im Lager aufgestellt?« »Nein. Es schien nicht erforderlich zu sein.« »Und die Grabungsstätte selbst? Sie ist nicht eingezäunt oder sonst irgendwie geschützt?« »Nein.« »Dann hätte jeder im Schutz der Dunkelheit das Dorf der Tagelöhner verlassen können«, sagte Valentine, »und dort draußen auf der Straße warten, bis Dr. Huukaminaan auftaucht.« Er sah zu Vo-Siimifon. »Gehörte es zu Dr. Huukaminaans, Gewohnheiten, vor dem Zubettgehen einen Spaziergang zu machen?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Und wenn er aus irgendeinem Grund beschlossen hätte, spät in der Nacht hinauszugehen, wäre es wahrscheinlich gewesen, daß er einen so langen Spaziergang macht?« »Er war ein kräftiger Mann für sein Alter«, sagte der Piurivar. »Aber dennoch wäre es eine ungewöhnlich weite Strecke für einen Spaziergang vor dem Schlafengehen gewesen.« »Ja. Das denke ich auch.« Valentine wandte sich wieder an Magadone Sambisa. »Ich fürchte, es wird sich nicht vermeiden lassen, daß wir Eure Arbeiter verhören. Und jedes Mitglied Eurer Expedition. Ihr versteht hoffentlich, daß wir in diesem Stadium nicht willkürlich jemanden ausklammern können.« Ihre Augen blitzten. »Stehe ich auch unter Verdacht, Euer Majestät?« »Im Augenblick«, sagte Valentine, »steht niemand hier unter Verdacht. Und jeder. Es sei denn, Ihr wollt mich glauben machen, daß Dr. Huukaminaan Selbstmord begangen hat, indem er sich selbst zerstückelte und seine Einzelteile über die gesamte Plattform verteilte.« Die Nacht war kühl gewesen, aber die Sonne stieg unglaublich schnell am Morgenhimmel empor. Obwohl es noch so früh war, war die Wüstenhitze bereits in der Luft spürbar. Es war nötig, an der Ausgrabungsstätte schnell mit der Arbeit zu beginnen, hatte Magadone Sambisa ihnen gesagt, weil die gewaltige Hitze um die Mittagszeit die Arbeit sehr schwer machte. Valentine war bereit, als sie ihn kurz nach der Dämmerung rief. Auf ihre Bitte hin würden ihn nur einige Mitglieder seiner Leibwache begleiten, keiner der anderen Lords. Tunigorn beschwerte sich darüber, Mirigant ebenso. Aber sie sagte – und darin gab sie nicht nach –, sie ziehe es vor, wenn der Pontifex heute allein mit ihr komme und wenn er gesehen habe, was sie, ihm zeigen müsse, könne er selbst entscheiden, ob er die Informationen auch den anderen zugänglich machen wolle. Sie führte ihn zur Siebten Pyramide. Besser gesagt, zu dem, was davon übrig war, denn abgesehen vom verfallenen Fundament, einem quadratischen, auf jeder Seite rund sechs Meter langen und anderthalb bis zwei Meter hohen Gebilde aus dem rötlichen Basalt, aus dem auch die große Arena und einige andere öffentliche Gebäude bestanden, war nichts erhalten geblieben. Östlich dieses Stumpfs lagen die Trümmer des oberen Teils der Pyramide, kleine Gesteinsbrocken aus demselben rötlichen Material, fast willkürlich über ein weites Gebiet verstreut. Es war, als hätte ein wütender Koloß der westlichen Seite der Pyramide einen verächtlichen Schlag mit dem Rücken seiner mächtigen Hand verpaßt, so daß sie in tausend Stücke zerschellte. Auf der den Trümmern abgewandten Seite des Stumpfs konnte Valentine rund hundertfünfzig Meter entfernt die Spitze der unversehrten Sechsten Pyramide sehen, die über einem Wäldchen mit kleinen verkrüppelten Bäumen aufragte, und dahinter waren die anderen fünf, eine nach der anderen, bis zum königlichen Palast selbst. »Den Sagen der Piurivar zufolge«, sagte Magadone Sambisa, »hielten die Bewohner von Velalisier alle tausend Jahre ein großes Fest ab und bauten zum Gedenken an jedes einzelne eine Pyramide. Soweit wir durch Untersuchungen und Altersbestimmungen der sechs unbeschädigten feststellen konnten, ist das korrekt. Diese, das wissen wir, war die letzte der Reihe. Wenn wir den Legenden Glauben schenken dürfen« – hier warf sie Valentine einen vielsagenden Blick zu –, »wurde sie zum Andenken an das Fest erbaut, an dem die Schandtat stattfand. Und sie war gerade fertiggestellt worden, als die Stadt von den Horden gestürmt und zerstört wurde, die gekommen waren, um ihre Bewohner für das, was sie getan hatten, zu bestrafen.« Sie winkte ihm und führte ihn zur Nordseite der eingestürzten Pyramide. Sie entfernten sich rund fünfzig Schritte von dem Stumpf. Dann blieb sie stehen. Hier war der Boden sorgfältig, ausgehoben worden. Valentine sah eine rechteckige Öffnung, die gerade groß genug war, daß ein Mensch eintreten konnte, und den Anfang eines Gangs, der unterirdisch zum Fundament der Pyramide zurückführte. Eine sternförmige Markierung aus leuchtendgelbem Klebeband war auf einem stattlichen Felsbrocken links von der Ausgrabung angebracht worden. »Dort habt Ihr den Kopf gefunden, nicht wahr?« fragte Valentine. »Nicht hier. Unten.« Sie zeigte in die Öffnung. »Würdet Ihr mir folgen, Euer Majestät?« Sechs Mitglieder von Valentines Sicherheitstruppe waren heute morgen mit ihm zu den Pyramiden gekommen: Lisamon Hultin, die hünenhafte Kriegerin, die ihn seit seiner Zeit als Jongleur auf allen seinen Reisen als persönliche Leibwächterin begleitet hatte, zwei zottelige, gedrungene Skandars, zwei Pontifikalbeamte, die er aus dem Stab seines Vorgängers geerbt hatte, und sogar ein Metamorph, ein gewisser Aarisiim, der in den letzten Stunden des Aufstands von dem Erzrebellen Faraataa desertiert, zu Valentines Truppe übergelaufen war und seitdem in den Diensten des Pontifex stand. Alle sechs traten nun vor, als hätten sie die Absicht, mit ihm in die Ausgrabungsstätte hinabzusteigen, obwohl die Skandars und Lisamon Hultin eindeutig zu groß waren, daß sie durch den Eingang gepaßt hätten. Aber Magadone Sambisa schüttelte heftig den Kopf, und Valentine lächelte und gab allen ein Zeichen, daß sie oben auf ihn warten sollten. Die Archäologin zündete eine Handfackel an und stieg in die Öffnung im Boden. Der Abstieg war steil und erfolgte über eine Reihe exakt gemeißelter Stufen, die zweieinhalb bis drei Meter nach unten führten. Dann wurde der unterirdische Gang unvermittelt breiter. Hier gab es einen ebenen Boden mit breiten Steinplatten aus einem glänzenden grünen Stein. Magadone Sambisa leuchtete einen mit der Fackel an, und Valentine sah, daß er geschnitzte Hieroglyphen trug, irgendwelche Runen, die an die, Schriftzeichen auf dem Pflaster der großen Prachtstraße erinnerten, die am königlichen Palast vorbeiführte. »Das ist unsere große Entdeckung«, sagte sie. »Unter jeder der sieben Pyramiden steht ein Schrein, was bis dato unbekannt war und niemand vermutet hätte. Wir haben vor etwa sechs Monaten nahe der Dritten Pyramide gearbeitet und versucht, das Fundament zu stützen, als wir über den ersten gestolpert sind. Er war geplündert worden, höchstwahrscheinlich schon in grauer Vorzeit. Aber es war dennoch ein aufregender Fund, und wir machten uns sofort auf die Suche nach ähnlichen Schreinen unter den fünf anderen unversehrten Pyramiden. Und fanden sie: ebenfalls geplündert. Eine Zeitlang machten wir uns nicht die Mühe, nach dem Schrein der siebten Pyramide zu graben. Wir gingen davon aus, daß keine Hoffnung bestand, dort etwas Interessantes zu finden, daß er ebenfalls geplündert worden sein mußte, als die Pyramide zerstört worden war. Aber dann beschlossen Huukaminaan und ich, daß wir eigentlich auch dort suchen könnten, und wir haben den Graben ausgehoben, durch den wir zwei gerade gegangen sind. Nach einem Tag stießen wir auf diesen Steinboden. Kommt.« Sie gingen tiefer hinein und betraten einen sorgfältig angelegten Tunnel, der gerade breit genug war, daß vier Menschen nebeneinander darin stehen konnten. Die Wände bestanden aus dünnen Platten schwarzen Steins, die wie Bücherstapel aufeinandergeschichtet waren und bis zu einer Gewölbedecke aus demselben Stein reichten, die in eine Reihe von Spitzbögen überging. In handwerklicher Hinsicht war das alles exzellent gemacht und hatte etwas eindeutig Archaisches. Die Luft in dem Tunnel war heiß und stickig und trocken, uralte Luft, leblose Luft. Für Valentines Nase hatte sie einen abgestandenen, toten Beigeschmack. »Diese Art von unterirdischem Durchgang nennen wir ein Prozessions-Hypogeion«, erklärte Magadone Sambisa. »Wahrscheinlich wurde er von Priestern benutzt, die Opfergaben zum Schrein der Pyramide trugen.«, Ihre Fackel warf einen weiten Kreis fahlen Lichts, der Valentine ermöglichte, eine Wand aus kunstvoll bearbeitetem weißem Stein zu sehen, der den Durchgang vor ihnen versperrte. »Ist dies das Fundament der Pyramide, das wir da sehen?« fragte er. »Nein. Was wir hier sehen, das ist die Wand des Schreins am Fundament der Pyramide. Die Pyramide selbst liegt auf der anderen Seite. Die anderen Schreine grenzten in exakt derselben Weise an ihre Pyramiden an. Der Unterschied ist, daß alle anderen aufgebrochen worden waren. Dieser hier ist offenbar niemals angetastet worden.« Valentine pfiff leise. »Und was befindet sich Eurer Ansicht nach im Inneren?« »Wir haben keine Ahnung. Wir haben den Öffnungstermin verschoben, weil wir abwarten wollten, bis Lord Hissune von seiner Prozession auf Zimroel zurückkehrt, damit Ihr und er dabeisein konntet, wenn wir die Wand durchbrechen. Aber dann – der Mord ..« »Ja«, sagte Valentine ernst. Und nach einem Moment: »Wie seltsam, daß die Verwüster dieser Stadt die Siebte Pyramide so gründlich zerstört haben, den Schrein darunter aber unversehrt ließen! Man sollte doch annehmen, daß sie keinen Stein auf dem anderen gelassen hätten.« »Vielleicht war etwas in dem Schrein eingemauert, in dessen Nähe sie nicht gehen wollten, oder? Ist jedenfalls ein Gedanke. Vielleicht werden wir die Wahrheit nie erfahren, auch wenn wir ihn öffnen. Falls wir ihn öffnen.« »Falls?« »Das könnte Probleme geben, Euer Majestät. Politische Probleme, meine ich. Darüber müssen wir uns unterhalten. Aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür.« Valentine nickte. Er deutete auf eine Reihe kleiner schräger Vertiefungen, rund zwanzig Zentimeter tief und dreißig Zentimeter hoch, die rund vierzig Zentimeter über dem Boden in, die Mauer gehauen worden waren. »Dienten die dazu, Opfergaben hineinzuschieben?« »Genau.« Magadone Sambisa glitt mit der Fackel die Reihe von links nach rechts entlang. »Wir haben in mehreren mikroskopische Spuren vertrockneter Blumen gefunden, Scherben von Tongefäßen und bunte Perlen und anderes – man kann sie sogar immer noch sehen. Und die Überreste einiger Tiere.« Sie zögerte. »Und dann, im Alkoven ganz links ..« Der Fackelschein kam auf einem Stern aus gelbem Klebeband an der Rückwand des flachen Alkovens zur Ruhe. Valentine stöhnte schockiert. »Da?« »Huukaminaans Kopf, ja. Fein säuberlich in der Mitte des Alkovens plaziert. Eine Art Opfergabe, nehme ich an.« »Für wen? Für was?« Die Archäologin zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie unvermittelt: »Wir sollten jetzt wieder nach oben gehen, Euer Majestät. Die Luft hier unten ist nicht gut genug, um längere Zeit darin zu verbringen. Ich wollte Euch einfach nur zeigen, wo der Schrein liegt. Und wo wir den fehlenden Teil von Dr. Huukaminaans Leichnam gefunden haben.« Später an diesem Tag zeigte Magadone Sambisa Valentine, diesmal in Begleitung von Nascimonte und Tunigorn und den anderen, die Stelle der anderen bedeutenden Entdeckung der Expedition: den bislang unbekannten bizarren Friedhof, wo die urzeitlichen Bewohner von Velalisier ihre Toten begraben hatten. Oder, genauer gesagt, bestimmte Teile ihrer Toten bestattet hatten. »Es scheint auf dem gesamten Friedhof nicht einen vollständigen Toten zu geben. In jedem Grab, das wir geöffnet hatten, haben wir nur winzige Stücke gefunden – hier einen Finger, dort ein Ohr, eine Lippe, einen Zeh. Manchmal sogar ein inneres Organ. Jedes Stück sorgfältig einbalsamiert, in einen wunderschönen Sarg aus Stein gelegt und unter einem dieser, Grabsteine begraben. Der Teil für das Ganze: eine Art von metaphorischer Bestattung.« Valentine sah sich verwundert und voller Staunen um. Der zwanzigtausend Jahre alte Friedhof der Metamorphen bot einen der merkwürdigsten Anblicke, die er in all den Jahren gesehen hatte, seit er die Myriaden wundersamer Merkwürdigkeiten erforschte, die Majipoor zu bieten hatte. Der Friedhof umfaßte ein Gebiet, das kaum mehr als dreißig Meter lang und zwanzig Meter breit war und in einem einsamen Bezirk mit Dünen und Gräsern kurz hinter dem Ende der Prachtstraße von Norden nach Süden lag. Auf diesem winzigen Areal mochten sich gut und gerne zehntausend Gräber befinden, alle dicht gedrängt. Eine kleine Stele aus braunem Sandstein, von der Breite einer Hand und etwa fünfzig Zentimeter hoch, ragte von jeder Grabparzelle auf. Und jede grenzte unmittelbar an die benachbarten an, in einem wilden Durcheinander, so daß der Friedhof eine dichte Zusammenballung von schlanken, eng beisammen stehenden Grabsteinen bildete, die sich auf eine Weise, die das Auge vollkommen verwirrte, hierhin und dorthin neigten. Einst mußte jeder Stein liebevoll in einer vertikalen Position über dem Sarg mit dem Teil des Verstorbenen, das zur Bestattung ausgewählt worden war, angebracht gewesen sein. Aber die Metamorphen von Velalisier hatten im Lauf der Jahrhunderte offenbar immer mehr und mehr Verstorbene in diesem kleinen Bestattungsbezirk zusammengepfercht, bis jedes Grab die anderen in chaotischster Weise überlappte. Dutzende drängten sich auf jedem Quadratmeter des Terrains. Als man die Grabsteine weiterhin zusammengepfercht hatte, ohne Rücksicht darauf, welchen Schaden jedes neue Grab den bereits existierenden zufügte, wurden die älteren von ihren neuen Nachbarn aus der Reihe gedrängt. Die schlanken Steine neigten sich in alle Richtungen, so daß die Grabstätte aussah wie ein Wald, über den ein verheerender Sturm hinweggezogen ist, oder ein Boden, den ein schreckliches Erdbeben aufgeworfen und, durchgeschüttelt hat. Jetzt standen sie alle in schiefen Winkeln, und keine zwei neigten sich in dieselbe Richtung. In jeden dieser kleinen Grabsteine war ein einziges elegantes Schriftzeichen in exakt einem Drittel der Gesamthöhe von oben aus gemeißelt worden, ein kunstvoll verschnörkeltes Zeichen, wie man sie auch in anderen Bereichen der Stadt fand. Kein Symbol schien dem anderen zu gleichen. Stellten sie die Namen der Verstorbenen dar? Gebete an einen längst vergessenen Gott? »Wir hatten keine Ahnung, daß das hier war«, sagte Magadone Sambisa. »Dies ist die erste Begräbnisstätte, die in Velalisier gefunden wurde.« »Das kann ich bezeugen«, sagte Nascimonte mit einem übertriebenen jovialen Zwinkern. »Wißt Ihr, vor langer Zeit habe ich selbst einmal ein bißchen hier gebuddelt. Als Grabjäger, auf der Suche nach verborgenen Schätzen, die ich irgendwo würde verkaufen können, als ich während der Herrschaft des falschen Lord Valentine von meinem Land vertrieben worden war und wie ein Bandit in dieser Wüste leben mußte. Aber wir haben kein einziges Grab gefunden. Nicht eines.« »Auch wir haben keins entdeckt, obwohl wir es versucht haben«, sagte Magadone Sambisa. »Diese Stätte haben wir nur durch reinen Zufall gefunden. Sie lag tief unter den Dünen verborgen, drei, vier, sechs Meter unter der Oberfläche des Sandes. Niemand ahnte, daß sie hier war. Aber eines Tages im letzten Winter fegte ein schrecklicher Wirbelsturm über das Tal hinweg und tobte fast eine halbe Stunde über diesem Stadtteil, und als er mit Wirbeln fertig war, da war die ganze Düne abgetragen und anderswo hingeweht worden, und diese erstaunliche Sammlung von Grabsteinen war freigelegt. Hier. Seht!« Sie kniete nieder und strich eine dünne Sandschicht vom Sockel eines Grabsteins dicht vor ihr weg. Wenig später konnte man ein Kästchen aus poliertem grauem Stein erkennen. Sie zog es heraus und stellte es auf eine Seite., Tunigorn gab ein Geräusch des Abscheus von sich. Valentine schaute nach unten und sah so etwas wie ein gekrümmtes Stück dunklen Leders in dem Kästchen liegen. »So sind sie alle«, sagte Magadone Sambisa. »Ein symbolisches Begräbnis, das ein Minimum an Platz braucht. Ein logisches System, wenn man bedenkt, wie viele Leute zu seiner Blütezeit in Velalisier gelebt haben müssen. Ein winziges Stück vom Körper des Toten wurde hier begraben, so kunstvoll erhalten, daß es selbst nach den vielen Jahrtausenden noch in einem ausgezeichneten Zustand ist. Möglicherweise wurde der Rest draußen auf den Hügeln vor der Stadt ausgelegt, damit die natürlichen Verwesungsprozesse ihren Lauf nehmen konnten. Der Leichnam eines Piurivar dürfte sehr schnell verwest sein. Nach der langen Zeit würden wir keine Spur mehr davon finden.« »Wie sieht es im Vergleich mit heutigen Begräbnispraktiken der Gestaltwandler aus?« fragte Mirigant. Magadone Sambisa sah ihn seltsam an. »Wir wissen so gut wie gar nichts über die heutigen Begräbnispraktiken der Piurivar. Sie sind eine ziemlich verschlossene Rasse, wißt Ihr. Sie haben sich nie dafür entschieden, uns so etwas mitzuteilen, und wir waren offenbar zu höflich, um danach zu fragen, da es praktisch keine Unterlagen darüber gibt. Praktisch keine.« »In Ihrem Mitarbeiterstab sind Gestaltwandler«, sagte Tunigorn. »Es wäre doch gewiß nicht unhöflich, Ihre Kollegen nach so etwas zu fragen. Welchen Sinn hätte es, Gestaltwandler zu Archäologen auszubilden, wenn man so sehr auf ihre Gefühle achten muß, daß man sie nicht fragen kann, was sie über die Gepflogenheiten ihres eigenen Volkes wissen?« »Tatsächlich«, sagte Magadone Sambisa, »habe ich mich mit Dr. Huukaminaan über diese Entdeckung nicht lange nach der Freilegung unterhalten. Die Anlage des Friedhofs, die dichtgedrängten Gräber, schienen ihn ziemlich zu verwirren. Aber der Brauch, Körperteile statt der ganzen Toten zu begraben, schien ihn nicht zu überraschen. Er gab nur zu verstehen, daß das, was hier getan worden war, sich in einigen Aspekten nicht, sehr von dem unterscheidet, was die Piurivar heute noch tun. Aber er hatte gerade keine Zeit, näher ins Detail zu gehen, und wir beide ließen das Thema zunächst fallen. Und jetzt – jetzt ..« Wieder nahm sie die Miene äußerster Hilflosigkeit an, ein von Vergeblichkeit und Verwirrung geprägter Ausdruck im Angesicht des gewaltsamen Todes, der sie jedesmal überkam, wenn das Thema der Ermordung Huukaminaans zur Sprache kam. Sich in einigen Aspekten nicht sehr von dem unterscheidet, was die Piurivar heute noch tun, wiederholte Valentine für sich. Er dachte daran, wie Huukaminaans Leichnam zerstückelt worden war, an die Einzelteile, die man an verschiedenen Stellen der Opferplattform zurückgelassen hatte, und an den Kopf, der in den Tunnel unter der Siebten Pyramide getragen und sorgsam in einem der Alkoven des unterirdischen Schreins zur Ruhe gebettet worden war. Dieser grausige Akt der Verstümmelung hatte etwas so unversöhnlich Fremdes, daß Valentine erneut zu der rätselhaften und mißliebigen, aber anscheinend unausweichlichen Schlußfolgerung kam, die sich ihm seit seiner Ankunft hier aufdrängte. Der Mörder des Metamorphenarchäologen mußte selbst ein Metamorph sein. Wie Nascimonte zuvor schon angedeutet hatte, schien die Bluttat einen Ritualcharakter zu haben, der deutlich die Handschrift der Metamorphen trug. Und doch ergab es keinen Sinn. Valentine konnte nicht glauben, daß der alte Mann von einem Angehörigen seines eigenen Volkes getötet worden war. »Wie war Huukaminaan?« fragte er Magadone Sambisa. »Wißt Ihr, ich habe ihn nie kennengelernt. War er streitsüchtig? Zänkisch?« »Nicht im geringsten. Ein reizender, sanftmütiger Mann. Ein brillanter Gelehrter. Es gab keinen, Piurivar oder Mensch, der ihn nicht geliebt und bewundert hätte.« »Mindestens einen muß es gegeben haben«, bemerkte Nascimonte trocken., Vielleicht lohnte es sich, Nascimontes Theorie auf den Grund zu gehen. Valentine sagte: »Könnte es zu einer Art erbitterter beruflicher Rivalität gekommen sein? Zu einem Disput darüber, wem der Ruhm für eine Entdeckung gebührte, einem Streit wegen einer bestimmten Theorie?« Magadone Sambisa sah den Pontifex an, als hätte er den Verstand verloren. »Glaubt Ihr, wir töten einander wegen solcher Dinge, Euer Majestät?« »Es war eine dumme Frage«, sagte Valentine mit einem Lächeln. »Nun denn«, fuhr er fort, »nehmen wir an, Huukaminaan wäre im Lauf seiner Arbeit hier in den Besitz eines wertvollen Artefakts gelangt, einer unschätzbaren Kostbarkeit, die auf dem Antiquitätenmarkt eine immense Summe gebracht hätte. Könnte das nicht ein hinreichender Grund gewesen sein, ihn zu ermorden?« Wieder der ungläubige Blick. »Die Artefakte, die wir hier finden, Majestät, sind schlichte Sandsteinfiguren und Ziegelsteine mit Inschriften, keine goldenen Tiaren oder Smaragde so groß wie Gihorna-Eier. Was sich zu plündern lohnte, das wurde schon vor langer, langer Zeit geplündert. Und wir würden nicht im Traum daran denken, die Kleinigkeiten, die wir hier finden, privat zu verkaufen, sowenig, wie wir daran denken würden, uns .uns .nun ja, uns gegenseitig umzubringen. Unsre Funde werden zu gleichen Teilen an das Museum der Universität von Arkilon und das Schatzamt der Piurivar in Ilirivoyne gegeben. In jedem Fall – nein, nein, es lohnt sich nicht einmal, darüber zu diskutieren. Die Vorstellung ist vollkommen absurd.« Sofort wurden ihre Wangen leuchtend rot. »Vergebt mir, Euer Majestät, ich wollte nicht unhöflich sein.« Valentine tat die Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Seht Ihr, ich versuche nur, eine plausible Erklärung für das Verbrechen zu finden. Einen Anhaltspunkt zumindest, an dem wir mit unseren Ermittlungen beginnen können.« »Ich werde Euch einen geben, Valentine«, sagte Tunigorn plötzlich. Sein sonst offenes und freundliches Gesicht war zu, einem mürrischen Stirnrunzeln verzerrt, bei dem seine buschigen Augenbrauen zu einer einzigen Linie zu verschmelzen schienen. »Wir dürfen auf keinen Fall außer acht lassen, daß ein Fluch auf diesem Ort liegt. Das wißt Ihr, Valentine. Ein Fluch. Die Gestaltwandler selbst haben die finsteren Worte vor wer weiß wie vielen Jahrtausenden über diese Stadt gesprochen, als sie sie zerstörten, um diejenigen zu bestrafen, die diese beiden Meeresdrachen zerstückelt hatten. Sie wollten, daß der Ort für alle Zeiten gemieden wird. Seither leben nur Geister hier. Indem Ihr Eure Archäologen hierher schickt, Valentine, stört Ihr diese Geister. Macht sie wütend. Und darum schlagen sie zurück. Die Ermordung des alten Huukaminaan war nur der erste Schritt. Es wird noch schlimmer kommen, denkt an meine Worte!« »Und Ihr glaubt, Geister sind imstande, jemand in fünf oder sechs Stücke zu zerteilen und die Teile überall zu verstreuen?« Tunigorn schien verärgert zu sein. »Ich weiß nicht, wozu Geister imstande sind und wozu nicht«, sagte er standhaft. »Ich sage Euch nur, was mir durch den Kopf geht.« »Danke, mein guter alter Freund«, sagte Valentine liebenswürdig. »Wir werden dem Gedanken die Aufmerksamkeit widmen, die er verdient.« Und zu Magadone Sambisa sagte er: »Ich muß Euch sagen, was mir nach allem, was Ihr mir heute hier und im Schrein der Pyramide gezeigt habt, durch den Kopf gegangen ist. Und das ist, daß mir die Ermordung von Huukaminaan wie ein Ritualmord vorkommt, und das Ritual, um das es geht, ist ein Ritual der Piurivar. Ich sage nicht, daß es das war; ich sage nur, daß es zumindest diesen Eindruck erweckt.« »Und wenn es so ist?« »Dann haben wir unsern Ausgangspunkt. Ich glaube, es wird jetzt Zeit, mit der nächsten Phase der Arbeit zu beginnen. Bitte haben Sie die Güte, heute nachmittag Ihre sämtlichen Archäologen der Piurivar zusammenzurufen. Ich möchte mit ihnen reden.« »Mit einem nach dem anderen oder mit allen zusammen?«, »Zuerst mit allen zusammen«, sagte Valentine. »Danach werden wir weitersehen.« Aber Magadone Sambisas Leute waren über die gesamte riesige Ausgrabungsstätte verstreut, jeder mit einem speziellen Projekt beschäftigt, und die Frau flehte Valentine an, sie erst zu sich zu bitten, wenn der Arbeitstag vorüber war. Es würde so lange dauern, alle zu verständigen, sagte sie, daß die schlimmste Hitze herrschen würde, bis sie den Rückweg zum Lager antreten konnten, und dann wären sie gezwungen, in der Mittagsglut durch die Ruinen zu stapfen, statt sich in einer dunklen Höhle niederzulassen und die kühleren Stunden abzuwarten. Sollten sie ihr Tagwerk doch besser erst vollenden. Das schien nur vernünftig. Er stimmte zu. Aber Valentine selbst war nicht in der Lage, geduldig bis zur Dämmerung zu warten. Der Mord hatte ihn zutiefst erschüttert. Er war ein weiteres Symptom für die seltsame neue Dunkelheit, die sich zu seinen Lebzeiten über die Welt gesenkt hatte. So riesig Majipoor auch war, es war seit langem ein friedlicher Ort, wo es Komfort und Überfluß für alle gab und Verbrechen jeder Art außerordentlich selten waren. Dennoch war allein in der derzeitigen Generation Coronal Lord Voriax brutal ermordet worden, und danach war es zu dem diabolisch eingefädelten Aufstand gekommen, durch den Voriax´ Nachfolger – Valentine – vorübergehend vom Thron gestoßen worden war. Die Metamorphen, das wußte inzwischen jeder, hatten hinter beiden Untaten gesteckt. Und als Valentine seinen Thron zurückerobert hatte, war es zu dem Rebellionskrieg gekommen, den der verbitterte Metamorph Faraataa vom Zaun gebrochen hatte, ein Krieg mit Seuchen, Hungersnöten, Aufständen, weltweiter Panik und allerorten großen Zerstörungen im Gefolge. Valentine hatte den Aufstand schließlich beendet, indem er Faraataa persönlich getötet hatte – eine Tat, die der sanftmütige Valentine voller Grauen ins Auge, gefaßt, aber dennoch ausgeführt hatte, weil sie getan werden mußte. Und nun war in diesem neuen Zeitalter von weltweitem Frieden und Harmonie, das Valentine als Pontifex herbeigeführt hatte, ein bewundernswerter und geliebter alter Metamorphengelehrter auf brutalste Weise ermordet worden. Hier in der heiligen Stadt der Metamorphen selbst ermordet, wo er mit einer archäologischen Ausgrabung beschäftigt gewesen war, die Valentine angeregt hatte, um den neuen Respekt zu demonstrieren, den die Menschen auf Majipoor für die Ureinwohner empfanden, die sie verdrängt hatten. Und zumindest nach dem derzeitigen Erkenntnisstand deutete alles darauf hin, daß der Mörder selbst ein Metamorph war. Aber das schien Wahnsinn zu sein. Vielleicht hatte Tunigorn recht und alles war nur das Wirken eines uralten Fluchs. Aber es fiel Valentine schwer, das zu schlucken. Er glaubte nicht an so etwas wie Flüche. Und dennoch – dennoch .Rastlos streifte er in der größten Hitze des Tages durch die uralte Stadt, ohne auf die Widrigkeiten zu achten, und schleppte seine unglücklichen Gefährten mit sich. Das große gold-grüne Auge der Sonne starrte unbarmherzig herab. Hitzeflimmern tanzte in der Luft. Die Büsche mit den ledrigen kleinen Blättern, die überall in den Ruinen wuchsen, schienen sich in sich zusammenzufalten, um den gleißenden Lichtfluten zu entrinnen. Selbst die zahllosen herumhuschenden Eidechsen, die zwischen den Steinen hausten, wurden um so zurückhaltender, je höher die Temperaturen stiegen. »Man könnte fast meinen, wir seien nach Suvrael versetzt worden«, sagte Tunigorn, der in der Hitze keuchte, während er pflichtschuldig an der Seite des Pontifex dahinstapfte. »Dies ist das Klima des erbärmlichen Südlands und nicht unseres schönen Alhanroel.« Nascimonte schenkte ihm ein kurzes, sardonisches Grinsen. »Nur ein weiteres Beispiel für die Boshaftigkeit der, Gestaltwandler, Lord Tunigorn. Zu der Zeit, als diese Stadt ihre Blüte erlebte, lagen grüne Wälder ringsum, und die Atmosphäre war kühl und mild. Aber dann wurde der Fluß umgeleitet, die Wälder starben ab, und hier blieb nichts übrig außer dem kahlen Fels, den Ihr seht, der die Mittagshitze in sich aufsaugt und festhält wie ein Schwamm. Fragt die Archäologin, wenn Ihr mir nicht glaubt. Diese Provinz wurde absichtlich in eine Wüste verwandelt, um diejenigen zu bestrafen, die sich hier schwer versündigt hatten.« »Um so mehr Grund für uns, anderswo zu sein«, murmelte Tunigorn. »Aber nein, nein, dies ist unser Ort, hier mit Valentine, jetzt und in Ewigkeit.« Valentine schenkte ihren Worten so gut wie keine Beachtung. Er marschierte ziellos weiter, über einen unkrautüberwucherten Weg nach dem anderen, an umgestürzten Säulen und zerschmetterten Fassaden, an leerstehenden Gebäuden, die einmal Geschäfte und Tavernen gewesen sein mochten, an den geisterhaften Umrissen vorbei, welche den Fundamenten verschwundener Gebäude entsprachen, die in ihrer Pracht einst palastähnlich gewesen sein mußten. Nichts war beschriftet, und Magadone Sambisa war nicht bei ihnen, um ihren endlosen Wortschwall über die einstige Funktion dieser Häuser über ihm auszuschütten. Sie waren Bestandteile des untergegangenen Velalisier, mehr wußte er nicht: skeletthafte Überreste dieser uralten Metropole. Es fiel ihm leicht, sich diesen Ort als Brutstätte alter Geister vorzustellen. Ein glasähnlicher Schimmer von Licht, das aus einer unebenen Masse eingestürzter Säulen schien .seltsame Kratzgeräusche, die von umherschleichenden Geschöpfen stammen mochten, wo man keine Geschöpfe sehen konnte .das vereinzelte Zischen und Rascheln von rutschendem Sand, Sand, so schien es, der aus eigenem Antrieb in Bewegung geraten war .., »Jedesmal, wenn ich diese Ruinen besuche«, sagte er zu Mirigant, der gerade unmittelbar neben ihm ging, »erstaunt mich ihr hohes Alter. Die Last der Geschichte, die auf ihnen ruht.« »Geschichte, an die sich niemand mehr erinnert«, sagte Mirigant. »Aber ihre Last bleibt dennoch.« »Allerdings nicht unsere Geschichte.« Valentine warf seinem Cousin einen mißfälligen Blick zu. »Das glaubst du vielleicht. Aber es ist Majipoors Geschichte, und welche sollte das sein, wenn nicht unsere?« Mirigant zuckte mit den Schultern, gab aber keine Antwort. Ergab das einen Sinn, fragte sich Valentine, was er gerade gesagt hatte? Oder verwirrte die Sonne sein Gehirn? Er dachte darüber nach. Und da schoß ihm, fast mit der Wucht einer Explosion, eine Vision der Ganzheit des riesigen Majipoor durch den Kopf. Seine großen Kontinente und überwältigenden Flüsse und gewaltigen funkelnden Meere, die dichten und feuchten Dschungel und unermeßlichen Wüsten, die Wälder mit ihren turmhohen Bäumen und die Berge, in denen mannigfaltige und wunderbare Geschöpfe lebten, die Vielzahl der Großstädte mit ihrer nach Millionen zählenden Bevölkerung. Ein Übermaß an Gefühlen strömte in seine Seele ein, der Duft von tausenderlei Blumen, das Aroma von Tausenden von Gewürzen, der Geruch von tausend wundersamen Fleischsorten, das Bukett Tausender Weine. Es war eine Welt grenzenloser Fruchtbarkeit und Vielfalt, sein Majipoor. Und durch eine Laune der Herkunft und das Pech seines Bruders war er zuerst Coronal und nun Pontifex dieser Welt geworden. Zwanzig Milliarden jubelten ihm als ihrem Kaiser zu. Sein Gesicht zierte die Münzen; die Welt hallte wider von Lobpreisungen seiner Person; sein Name würde für alle Zeiten im Verzeichnis der Monarchen im Haus der Aufzeichnungen stehen, ein unauslöschlicher Teil der Geschichte dieser Welt. Aber es hatte eine Zeit gegeben, da hatten keine Pontifices oder Coronals hier geherrscht. Da waren grandiose Städte wie Ni-, moya und Alaisor und die fünfzig großen urbanen Zentren des Burgbergs noch nicht erbaut gewesen. Und in jener Zeit, bevor die Besiedlung durch die Menschen auf Majipoor begonnen hatte, da hatte diese Stadt Velalisier bereits existiert. Welches Recht hatte er, diese Stadt, die schon Jahrtausende tot und verlassen gewesen war, als die ersten Kolonisten aus dem Weltraum eingetroffen waren, in den Strom der Geschichte der Menschen einzugliedern? In Wahrheit bestand eine derart tiefe Kluft zwischen ihrem Majipoor und unserem Majipoor, dachte er, daß sie sich vielleicht niemals überbrücken ließ. Auf jeden Fall konnte er das Gefühl nicht abschütteln, daß die gewaltigen Legionen der Geister dieses Ortes, an die er nicht einmal glaubte, rings um ihn herum lauerten und ihre Wut längst nicht gestillt war. Irgendwie mußte er sich mit dieser Wut auseinandersetzen, die scheinbar jetzt in Form einer schrecklichen Tat ausgebrochen war, die einen gelehrten und umgänglichen alten Mann das Leben gekostet hatte. Die Logik, die jeden Aspekt von Valentines Seele durchdrang, weigerte sich, etwas Derartiges zu akzeptieren. Aber er wußte, sein eigenes Schicksal und möglicherweise das Schicksal des Planeten konnten davon abhängen, daß er eine Lösung des Rätsels fand, das hier so explosionsartig aufgetaucht war. »Ihr werdet mir schon verzeihen, gute Majestät«, sagte Tunigorn und riß Valentine aus seinen düsteren Gedanken, als sich gerade ein neues Labyrinth verfallener Straßen vor ihnen auftat. »Aber wenn ich noch einen Schritt in dieser Hitze mache, breche ich zusammen und fange an zu stammeln wie ein Irrer. Mein Gehirn schmilzt schon.« »Nun denn, Tunigorn, dann solltet Ihr rasch Schutz suchen und es abkühlen! Ihr könnt Euch kaum leisten, daß das, was noch davon übrig ist, Schaden davonträgt, nicht wahr, alter Freund?« Valentine zeigte in Richtung des Lagers. »Kehrt um. Geht. Ich werde meinen Spaziergang jedenfalls fortsetzen.« Er war nicht sicher, warum. Aber etwas trieb ihn unerbittlich voran durch die weite, verfallene Einöde der von Sand verwehten, und von der Sonne ausgebleichten Ruinen, ohne daß er wußte, wonach er suchte. Einer nach dem anderen verabschiedeten sich seine Gefährten mit dieser oder jener Ausrede von ihm, bis nur noch die unermüdliche Lisamon Hultin übrigblieb. Die Riesin war ihm stets treu ergeben. In der Zeit, bevor er den Coronalsthron zurückerobert hatte, hatte sie ihn vor den Gefahren des Mazadonewaldes beschützt. Sie war seine Wächterin im Bauch des Meeresdrachen gewesen, der sie im Meer vor Piliplok verschlungen hatte, als sie auf der Fahrt von Zimroel nach Alhanroel Schiffbruch erlitten hatten, und sie hatte ihn herausgeschnitten und in Sicherheit gebracht. Sie würde ihn auch jetzt nicht verlassen. Tatsächlich schien sie bereit zu sein, immer weiter mit ihm zu gehen, Tag und Nacht und den Tag darauf auch, sollte er es von ihr verlangen. Aber schließlich hatte selbst Valentine genug. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand zur Mittagszeit längst überschritten. Überall rings um ihn herum wuchsen klar umrissene Schatten, rosa und purpur und dunkelstes Obsidian. Er fühlte sich ein wenig schwindlig, sein Kopf schien sich zu drehen, sein Sehvermögen war etwas eingeschränkt, weil er sich so lange dem grellen Licht der sengenden Sonne ausgesetzt hatte, und jede Straße mit verfallenen Gebäuden sah genau wie die davor aus. Es wurde Zeit, endlich umzukehren. Welche Buße er sich auch immer mit der kräftezehrenden Reise durch dieses Reich von Tod und Zerstörung auferlegt hatte, inzwischen mußte sie abgegolten sein. Er stützte sich jetzt hin und wieder auf Lisamon Hultins Arm, während sie sich auf dem Rückweg zu den Zelten des Lagers befanden. Magadone Sambisa hatte ihre acht Metamorphenarchäologen um sich geschart. Valentine, der gebadet, geruht und eine Kleinigkeit gegessen hatte, empfing sie kurz nach Sonnenuntergang in seinem Zelt, lediglich in Gegenwart des kleinen Vroon Autifon Deliamber. Er wollte sich ein Urteil über diese Metamorphen bilden, ohne sich durch die Anwesenheit von Nascimonte und den anderen ablenken zu lassen; aber Deliamber, verfügte über gewisse Zauberkräfte, die Valentine sehr schätzte, und das kleine Geschöpf mit seinen zahlreichen Tentakeln mochte durchaus imstande sein, mit seinen großen und wachsamen goldenen Augen bestimmte Dinge wahrzunehmen, die Valentines menschlichem Sehvermögen entgingen. Die Gestaltwandler saßen im Halbkreis, Valentine ihnen gegenüber, der kleine, mit Runzeln übersäte alte Vroon zu seiner Linken. Der Pontifex ließ den Blick über die Gruppe schweifen, von Kaastisiik, dem Aufseher, an einem Ende, bis hin zu dem Paläographen Vo-Siimifon am anderen. Sie erwiderten seine Blicke gelassen, fast gleichgültig, diese acht Piurivars mit den gummiartigen Gesichtern und den schrägen Augen, als er ihnen erzählte, was er heute gesehen hatte, den Friedhof und die zerstörte Pyramide, den Schrein darunter und den Alkoven, wo Huukaminaans Mörder den abgeschnittenen Kopf so sorgfältig plaziert hatte. »Würden Sie nicht auch sagen, daß der Mord einen gewissen formalen Aspekt hatte?« fragte Valentine. »Daß der Leichnam in Stücke geschnitten wurde? Der Kopf zum Schrein hinuntergetragen und im Alkoven der Opfer plaziert wurde?« Sein Blick fiel auf Thiuurinen, die Keramikexpertin, eine schlanke, kleinwüchsige Metamorphenfrau mit hübscher jadegrüner Haut. »Was ist Eure Meinung dazu?« fragte er sie. Ihr Gesichtsausdruck blieb vollkommen gleichgültig. »Als Keramikexpertin habe ich keine Meinung.« »Ich habe Euch nicht nach Eurer Meinung als Keramikexpertin gefragt, sondern als Mitglied der Expedition. Als Kollegin von Dr. Huukaminaan. Findet Ihr, es war eine Art Opfer geplant, als der Kopf dort plaziert wurde?« »Es ist eine reine Mutmaßung, daß diese Alkoven Opferstätten waren«, sagte Thiuurinen brüsk. »Ich bin nicht in der Lage, Spekulationen anzustellen.« Und sie ließ sich auch nicht darauf ein. Keiner von ihnen. Nicht Kaastisiik, nicht Vo-Siimifon, nicht der Formationskundler Pamikuuk, nicht Hieekraad, die Hüterin der Artefakte, nicht, Driismiil, der Architekturspezialist, nicht Klelliin, die Kapazität in piurivarischer Paläotechnologie, und auch nicht Viitaal-Twuu, der Spezialist für Metallurgie. Höflich, nachsichtig, fest, unerschütterlich lehnten sie Valentines Hypothese von einem Ritualmord ab. War die grausame Verstümmelung von Dr. Huukaminaan eine Rückkehr zu den Bestattungspraktiken des frühgeschichtlichen Velalisier? Konnte der Kopf möglicherweise in dem Alkoven plaziert worden sein, um ein übernatürliches Wesen milde zu stimmen? Gab es unter den Traditionen der Piurivar eine, die gutheißen mochte, wenn jemand auf diese Weise getötet wurde? Sie konnten es nicht sagen. Sie wollten es nicht sagen. Und auch als er fragte, ob ihr verstorbener Kollege möglicherweise einen Feind hier in der Ausgrabungsstätte gehabt habe, gaben sie ihm keine Informationen. Und sie reagierten lediglich mit dem Piurivar-Äquivalent eines Schulterzuckens, als er sich laut fragte, ob es zu einem Streit wegen der Entdeckung eines wertvollen Artefakts gekommen sein konnte, der zur Ermordung Huukaminaans geführt haben mochte; vielleicht auch ein abstrakterer Streit, eine nachhaltige Uneinigkeit über die Funde oder Ziele der Expedition. Niemand regte sich über die Andeutung auf, einer von ihnen könnte den alten Huukaminaan aus einem solchen Grund getötet haben. Sie verhielten sich, als würde allein die Vorstellung, so etwas zu tun, ihr Begriffsvermögen übersteigen, eine derart fremdartige Vorstellung, daß man sie nicht einmal in Erwägung ziehen konnte. Im Verlauf des Gesprächs nutzte Valentine die Gelegenheit, an jeden mindestens eine direkte Frage zu richten. Aber das Ergebnis war stets dasselbe. Sie waren nicht hilfsbereit, machten aber nicht den Eindruck, besonders ausweichend zu sein. Sie waren zurückhaltend, ohne ungewöhnlich verschlagen oder geheimniskrämerisch zu wirken. Ihre Verweigerung der Zusammenarbeit machte keinen übertrieben verdächtigen Eindruck. Sie schienen genau das zu sein, was sie vorgaben:, Wissenschaftler und Gelehrte, die entschlossen waren, die begrabenen Geheimnisse der fernen Vergangenheit ihrer Rasse freizulegen, die nicht das geringste über das Rätsel wußten, das sich hier in ihrer Mitte abgespielt hatte. Valentine hatte nicht den Eindruck, daß er sich in der Gesellschaft von Mördern befand. Und doch .und doch .Sie waren Gestaltwandler. Er war der Pontifex, der Kaiser der Rasse, die sie erobert hatte, in direkter Linie über achttausend Jahre hinweg der Nachfolger des fast schon legendären Soldaten- Königs Lord Stiamot, der ihnen für alle Zeiten ihre Unabhängigkeit genommen hatte. So sanftmütig und gelehrt sie waren, diese acht Piurivar vor ihm waren sicher nicht davor gefeit, auf einer gewissen Ebene Wut auf ihre menschlichen Herren und Meister zu empfinden. Sie hatten keinen Grund, mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie hielten sich gewiß nicht für verpflichtet, ihm die Wahrheit zu sagen. Und seine Intuition riet ihm, bei diesen Leuten nichts so zu nehmen, wie es schien – oder sprachen da nur seine angeborenen und unausweichlichen rassistischen Vorurteile, fragte sich Valentine. Konnte er dem Eindruck offensichtlicher Unschuld, den sie vermittelten, wirklich trauen? War es einem Menschen jemals möglich, zu lesen, was hinter den kühlen und undurchschaubaren Mienen eines Metamorphen vor sich ging? »Was meinst du?« fragte er Deliamber, als die acht Gestaltwandler gegangen waren. »Mörder oder nicht?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete der Vroon. »Diese nicht. Zu sanft, zu verstädtert. Aber sie haben etwas verheimlicht. Dessen bin ich ganz sicher.« »Also hast du es auch gespürt?« »Ohne jeden Zweifel. Was ich gespürt habe, Euer Majestät – wißt Ihr, was das Vroon-Wort hsirthiir bedeutet?« »Nicht ganz.« »Es ist nicht einfach zu übersetzen. Aber es hat damit zu tun, daß man jemanden verhört, der nicht die Absicht hat, einem Lügen aufzutischen, einem aber deshalb nicht zwangsläufig die, Wahrheit sagen wird, wenn man nicht ganz genau weiß, wie man sie ihm entlockt. Man hat die überaus starke Wahrnehmung, daß eine wichtige Schicht von Bedeutungen irgendwo unter der Oberfläche von dem liegt, was einem erzählt wird, aber es wird einem nicht gestattet, diese Bedeutungen hervorzulocken, wenn man nicht genau die richtige Frage stellt, um sie zu befreien. Was im Grunde bedeutet, daß man die Information, nach der man sucht, schon besitzen muß, damit man die Frage stellen kann, auf die sie preisgegeben wird. Es ist ein höchst frustrierendes Gefühl, hsirthiir; sogar fast schmerzhaft. Als würde man mit dem Schnabel gegen eine Mauer hauen. Gerade eben bin ich mir wie in einem Zustand von hsirthiir vorgekommen. Ihr offenbar auch, Euer Majestät.« »Offenbar«, sagte Valentine. Es blieb noch ein Besuch zu machen. Es war ein langer Tag gewesen, und inzwischen war eine furchtbare Müdigkeit über Valentine gekommen. Aber er verspürte einen inneren Drang, die grundsätzlichen Fragen so rasch wie möglich zu klären; und daher bat er Magadone Sambisa, als die Dunkelheit sich herabgesenkt hatte, ihn ins Dorf der Metamorphenarbeiter zu bringen. Sie war nicht glücklich darüber. »Normalerweise behelligen wir sie nicht gern, wenn sie ihr Tagwerk getan haben und dorthin zurückgekehrt sind, Euer Majestät.« »Normalerweise habt Ihr auch keine Mörder hier. Oder Besuch vom Pontifex. Ich würde lieber heute abend mit ihnen sprechen, als morgen die Ausgrabungen unterbrechen, wenn Ihr gestattet.« Deliamber begleitete ihn erneut. Lisamon Hultin ebenfalls, auf eigenen Wunsch. Tunigorn war zu müde, um mitzukommen – die mittägliche Spaziergang durch die Ruinen hatte ihm zugesetzt –, und Mirigant fühlte das Fieber eines Sonnenstichs in sich; aber der prächtige Herzog Nascimonte willigte trotz seines hohen Alters sofort ein, mit dem Pontifex zu reiten. Das letzte Mitglied der Gruppe war Aarisiim, der Metamorph in Valentines Leibgarde, den Valentine nicht zum Schutz mitnahm – darum, würde sich Lisamon Hultin kümmern –, sondern wegen des hsirtbiir-Problems. Aarisiim schien für Valentine, obgleich er einst ein Überläufer gewesen war, so vertrauenswürdig zu sein, wie ein Piurivar nur sein konnte: Er hatte zur Zeit der Rebellion sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Faraataa, seinen Herrn, an Valentine zu verraten, als er der Meinung war, daß Faraataa mit seiner Drohung, die Königin der Metamorphen zu töten, die Grenzen des Zumutbaren überschritten hatte. Möglicherweise konnte er jetzt eine Hilfe sein und etwas aufspüren, das selbst Deliambers aufmerksamer Wahrnehmung entging. Das Dorf der Arbeiter war ein einziges Chaos kümmerlicher Weidenhütten am Rand des zentralen Sektors der Ausgrabungsstätte. In seinem dürftigen behelfsmäßigen Zustand erinnerte es Valentine an Ilirivoyne, die Hauptstadt der Gestaltwandler im Dschungel von Zimroel, die er vor so vielen Jahren besucht hatte. Aber dieser Ort war noch viel trauriger und entmutigender als Ilirivoyne. Dort hatten die Gestaltwandler wenigstens hohe, gerade Baumstämme und Ranken im Überfluß gehabt, um ihre primitiven Hütten zu bauen, wogegen ihnen hier als Baumaterial lediglich die verkümmerten und knorrigen Wüstenbüsche zur Verfügung standen, die vereinzelt in der Ebene von Velalisier wuchsen. Und so waren ihre Hütten erbärmliche kleine Schuppen, entsetzlich krumm und schief. Irgendwie hatte die Nachricht sie erreicht, daß der Pontifex kam. Valentine fand sie in Gruppen von acht oder zehn vor ihren Hütten, wo sie eindeutig auf seine Ankunft warteten. Sie waren eine mitleiderregende, verhungerte Bande, hager, schäbig und zerlumpt, ganz anders als die weltgewandten und kultivierten Metamorphen von Magadone Sambisas archäologischem Team. Valentine fragte sich, woher sie die Kraft für das Graben nahmen, das in diesem unwirtlichen Klima von ihnen verlangt wurde. Als der Pontifex eintraf, schlurften sie ihm entgegen und umringen ihn und den Rest der Gruppe bald auf eine Weise, die, Lisamon Hultin veranlaßte, laut zu zischen und die Hand an den Griff ihres Vibrationsschwertes zu legen. Aber sie schienen nichts Böses im Sinn zu haben. Sie drängten sich aufgeregt um ihn und bemühten sich zu seinem Erstaunen, ihm auf die unterwürfigste Art ihre Ehrerbietung zu zeigen, indem sie sich beiseite drängten, um den Saum seiner Tunika zu küssen, im Sand vor ihm knieten oder sich sogar auf den Boden warfen. »Nein«, rief Valentine bestürzt. »Das ist nicht nötig. Es ist nicht richtig.« Magadone Sambisa befahl ihnen bereits schroff, daß sie zurückbleiben sollten, und Lisamon Hultin und Nascimonte drängten die in Valentines unmittelbarer Nähe aus dem Weg. Die Riesin machte es ruhig, gelassen, effektiv, aber Nascimonte rempelte sie heftiger an, und in seinen stechenden Augen konnte man regelrechten Abscheu erkennen. Andere drängten indessen herbei, so schnell sich die erste Welle verzog, und umringten ihn, von hektischer Entschlossenheit erfüllt. Diese müden, ausgelaugten Leute hatten es tatsächlich so eilig, dem Pontifex ihre Unterwürfigkeit zu zeigen, daß er nicht umhin konnte, ihre Begeisterung als falsch und heuchlerisch anzusehen, eine groteske Übertreibung dessen, was angemessen gewesen wäre. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, fragte er sich, daß eine Gruppe von Piurivar, wie nieder und einfach auch immer, große und rückhaltlose Freude beim Anblick des Pontifex von Majipoor empfand? Oder aus eigenem Antrieb eine derartige spontane Demonstration des Entzückens inszenierte? Einige von ihnen, sowohl Männer als auch Frauen, trieben es sogar so weit, als Ehrenbezeugung die Gestalt der Besucher nachzuahmen, so daß ein halbes Dutzend verschwommene und verzerrte Valentines vor ihm standen, zwei Nascimontes und eine groteske Imitation von Lisamon Hultin, nur halb so groß wie diese. Valentine war diese merkwürdige Ehre schon bei seinem Besuch in Ilirivoyne erwiesen worden, und er hatte sie damals als beunruhigend und sogar unheimlich empfunden. Auch jetzt fand er sie wieder peinigend. Sollten sie ihre Gestalt wandeln, wenn sie wollten – sie besaßen die Fähigkeit und konnten sie einsetzen,, wie es ihnen beliebte –, aber diese Nachahmung der Gesichter ihrer Besucher hatte etwas fast Bedrohliches an sich. Der Tumult wurde noch wilder und ausgelassener. Valentine bekam es unwillkürlich mit der Angst zu tun. Es waren mehr als hundert Dorfbewohner, aber nur eine Handvoll Besucher. Wenn die Lage außer Kontrolle geriet, konnte es Probleme geben. Da ertönte inmitten des Tohuwabohus eine laute Stimme: »Zurück! Zurück!« Und sofort wich die ganze zerlumpte Bande der Gestaltwandler von Valentine zurück, als wären sie mit Peitschen geschlagen worden. Plötzlich herrschten Ruhe und Schweigen. Aus der jetzt reglosen Menge trat ein großer, ungewöhnlich kräftig und muskulös gebauter Metamorph. Er machte eine tiefe Verbeugung und verkündete mit einer tiefen, rollenden Stimme, wie Valentine sie noch nie bei einem Metamorphen gehört hatte: »Ich bin Vathiimeraak, der Vorarbeiter dieser Leute. Ich bitte Euch, fühlt Euch hier bei uns willkommen, Pontifex. Wir sind Eure Diener.« Aber er hatte ganz und gar nichts Unterwürfiges an sich. Er war eindeutig ein Mann mit Autorität. In knappen Worten entschuldigte er sich für das unziemliche Verhalten seiner Arbeiter und erklärte, daß sie einfache Bauern seien, die nicht fassen konnten, daß sich ein Mächtiger des Reiches unter ihnen aufhielt, und ihm auf diese Weise lediglich ihren Respekt bezeugen wollten. »Ich kenne diesen Mann«, murmelte Aarisiim in Valentines linkes Ohr. Aber gerade jetzt bot sich keine Gelegenheit, mehr herauszufinden; denn Vathiimeraak, der sich abwandte, gab mit erhobener Hand ein Zeichen, worauf sich sofort wieder Chaos und Lärm breitmachten. Die Dorfbewohner rannten in ein Dutzend verschiedene Richtungen davon; manche kehrten fast sofort mit Tellern voll Würsten und Schalen mit Wein für ihre Gäste zurück, andere schleppten schiefe Tische und Bänke aus den Hütten. Ganze Scharen drängten sich erneut um Valentine, und seine Begleiter und bedrängten sie diesmal, die Köstlichkeiten zu probieren, die sie anzubieten hatten. »Sie geben uns ihr eigenes Essen!« protestierte Magadone Sambisa. Sie gab Vathiimeraak die Anweisung, das Fest abzusagen. Aber der Vorarbeiter entgegnete freundlich, daß es die Dorfbewohner kränken würde, wenn ihre Gastfreundschaft abgelehnt werde, und am Ende konnte man nichts tun: Sie mußten an einem Tisch Platz nehmen und von allem kosten, was ihnen die Dorfbewohner brachten. »Wenn Ihr gestattet, Majestät«, sagte Nascimonte, als Valentine nach einer Schale Wein greifen wollte. Der Herzog nahm sie ihm ab und trank zuerst; erst nach einem Moment reichte er sie weiter. Außerdem bestand er darauf, Valentines Würste für ihn zu kosten, ebenso das gekochte Gemüse, das dazu serviert wurde. Valentine wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß die Dorfbewohner versuchen könnten, ihn zu vergiften. Aber er ließ Nascimonte sein reizendes kleines Ritual mittelalterlicher Ritterlichkeit ohne Einwände spielen. Er hielt zu große Stücke auf den alten Mann, um ihm diese Geste zu verweigern. Als das Fest schon einige Zeit andauerte, sagte Vathiimeraak: »Ich gehe davon aus, Euer Majestät, Ihr seid wegen des Todes von Dr. Huukaminaan hier?« Die Direktheit des Vorarbeiters war erstaunlich. »Könnte es nicht sein«, entgegnete Valentine gutgelaunt, »daß ich einfach nur sehen wollte, welche Fortschritte an der Ausgrabungsstätte gemacht werden?« Damit ließ sich Vathiimeraak nicht abspeisen. »Ich werde tun, was Ihr von mir verlangt, um Eure Suche nach dem Mörder zu unterstützen«, sagte er und klopfte heftig auf den Tisch, um seine Worte zu unterstreichen. Einen Moment verschwammen die Umrisse seines breiten, kantigen Gesichts, als wäre er kurz davor, eine unwillkürliche Verwandlung durchzumachen. Valentine wußte, daß dies bei den Piurivar ein Zeichen für heftige Gefühlsregungen war. »Ich hatte den größten Respekt vor Dr., Huukaminaan. Es war ein Privileg, mit ihm zu arbeiten. Ich habe oft für ihn persönlich gegraben, wenn ich der Meinung war, eine Grabungsstätte wäre zu empfindlich, sie in ungeschicktere Hände zu geben. Anfangs hielt er das für unangemessen, daß der Vorarbeiter selbst grub, aber ich sagte: Nein, nein, Dr. Huukaminaan, ich bitte Euch, mir diese Ehre zu gewähren, und er verstand und gestattete es. Wie kann ich Euch helfen, denjenigen zu finden, der dieses grauenhafte Verbrechen begangen hat?« Er wirkte so ernst und geradeheraus und offen, daß Valentine auf der Stelle argwöhnisch wurde. Vathiimeraaks kräftige, dröhnende Stimme und seine äußerst förmliche Ausdrucksweise hatten etwas Theatralisches. Seine übertriebene Aufrichtigkeit wirkte genau wie die extreme Überschwenglichkeit der Begrüßung durch die Dorfbewohner, das Knien und Küssen seines Saums: exzessiv und deshalb unglaubwürdig. Du bist diesen Leuten gegenüber zu mißtrauisch, sagte er sich. Dieser Mann spricht einfach nur so, wie man seiner Ansicht nach mit einem Pontifex sprechen muß. In jedem Fall denke ich, kann er nützlich sein. Er sagte: »Was wißt Ihr darüber, wie der Mord begangen wurde?« Vathiimeraak antwortete ohne Zögern, als hätte er eine gut einstudierte Antwort parat gehabt. »Ich weiß, daß es spät in der Nacht geschah, vergangene Woche, irgendwann zwischen der Stunde des Gihorna und der Stunde des Schakals. Eine oder mehrere Personen lockten Dr. Huukaminaan aus seinem Zelt und führten ihn zu den Tischen der Götter, wo er getötet und in Stücke geschnitten wurde. Wir fanden die verschiedenen Teile seines Leichnams am nächsten Morgen auf der westlichen Plattform, bis auf den Kopf. Den entdeckten wir später am selben Tag in einem der Alkoven am Fundament des Schreins des Untergangs.« Weitgehend die übliche Darstellung, dachte Valentine. Mit einer kleinen Ausnahme., »Schrein des Untergangs? Diesen Ausdruck habe ich bisher noch nicht gehört.« »Den Schrein der Siebten Pyramide, den meine ich«, sagte Vathiimeraak. »Den ungeöffneten Schrein, den Dr. Magadone Sambisa gefunden hat. Der Name, den ich genannt habe, ist der, den wir ihm unter uns gegeben haben. Wie Ihr hört, sage ich nicht, daß sie ihn ›entdeckt‹ hat. Wir haben immer gewußt, daß er da war, neben der zerstörten Pyramide. Aber niemand hat uns je danach gefragt, und darum haben wir nie etwas gesagt.« Valentine sah zu Deliamber, der fast unmerklich nickte. Wieder hsirthiir, ja. Aber etwas stimmte nicht ganz. »Ich glaube, Dr. Magadone Sambisa sagte mir, daß sie und Dr. Huukaminaan den siebten Schrein gemeinsam gefunden haben«, sagte Valentine. »Sie deutete an, daß Dr. Huukaminaan so überrascht gewesen war, ihn dort zu finden, wie sie selbst. Wollt Ihr behaupten, daß Ihr von seiner Existenz wußtet, er aber nicht?« »Es gibt keinen Piurivar, der nicht von der Existenz des Schreins des Untergangs weiß«, sagte Vathiimeraak ungerührt. »Er wurde zur Zeit der Schandtat versiegelt und enthält, wie wir glauben, Beweise für die Schandtat selbst. Wenn Dr. Magadone Sambisa den Eindruck erweckte, daß Dr. Huukaminaan nichts von seiner Existenz wußte, dann ist das nicht korrekt.« Wieder bebten und flackerten die Gesichtszüge des Vorarbeiters. Er sah besorgt zu Magadone Sambisa und sagte: »Ich möchte Euch nicht beleidigen, indem ich Euch widerspreche, Dr. Magadone Sambisa.« »Keine Bange«, sagte sie ein wenig verschnupft. »Aber wenn Huukaminaan von dem Schrein wußte, bevor wir ihn gefunden haben, hat er zu mir jedenfalls kein Wort davon gesagt.« »Vielleicht hatte er gehofft, daß er nicht gefunden würde«, antwortete Vathiimeraak. Das bewirkte kaum verhohlene Konsterniertheit bei Magadone Sambisa; und auch Valentine selbst spürte, daß sie hier, auf etwas gestoßen waren, das überprüft werden mußte. Aber sie schweiften vom eigentlichen Thema ab. »Es ist erforderlich«, sagte Valentine zu dem Vorarbeiter, »daß wir von jedem einzelnen Ihrer Leute den Aufenthaltsort zur Tatzeit erfahren.« Er sah Vathiimeraaks Reaktion Gestalt annehmen und fügte rasch hinzu: »Wir glauben nicht, daß jemand aus dem Dorf Dr. Huukaminaan getötet hat. Im Augenblick steht noch gar niemand unter Verdacht. Aber wir müssen genau wissen, wer in jener Nacht an der Ausgrabungsstätte oder in der Nähe gewesen ist.« »Ich werde tun, was ich kann, um es herauszufinden.« »Ich weiß, Eure Hilfe wird unschätzbar sein«, sagte Valentine. »Ihr solltet Euch auch der Hilfe unseres Khivanivod versichern«, sagte Vathiimeraak. »Er ist heute nicht unter uns. Er hat sich im entlegensten Bezirk der Stadt in eine spirituelle Klausur begeben, um für die Läuterung der Seele des Mörders von Dr. Huukaminaan zu beten, wer immer es sein mag. Ich werde ihn zu Euch schicken, sobald er wieder hier ist.« Noch eine kleine Überraschung. Ein Khivanivod war ein heiliger Mann der Piurivar, ein Mittelding zwischen einem Priester und einem Zauberer. Im modernen Leben der Metamorphen waren sie recht unüblich, um so bemerkenswerter schien es, daß sich einer in diesem schäbigen, abgelegenen Dorf aufhalten sollte. Es sei denn, natürlich, die höchsten religiösen Führer der Piurivar hatten beschlossen, daß es das beste wäre, für die Dauer der Ausgrabung einen nach Velalisier zu entsenden, damit alles mit dem bei heiligen Stätten gebotenen Respekt geschah. Seltsam war, daß Magadone Sambisa ihm gegenüber nichts von der Anwesenheit eines Khivanivod erwähnt hatte. »Ja«, sagte Valentine ein wenig unbehaglich. »Schickt ihn zu mir, ja. Auf jeden Fall.« Als sie aus dem Dorf der Arbeiter ritten, sagte Nascimonte: »Nun, Valentine, ich muß, obwohl es mich schmerzt, doch, gestehen, daß ich wieder einmal gezwungen bin, Eure Urteilsfähigkeit in Zweifel zu ziehen.« »Ihr leidet meinetwegen viele Schmerzen«, sagte Valentine mit einem schelmischen Lächeln. »Sagt mir, Nascimonte: Wo habe ich mich diesmal geirrt?« »Ihr habt diesen Vathiimeraak zu Eurem Verbündeten bei den Ermittlungen gemacht. Ihr habt ihn sogar behandelt, als wäre er ein vertrauenswürdiger Polizist.« »Auf mich macht er einen zuverlässigen Eindruck. Und die Dorfbewohner haben Angst vor ihm. Was kann es schaden, wenn wir ihn bitten, sie für uns zu befragen? Wenn wir sie selbst verhören, werden sie einfach schweigen – oder uns bestenfalls alle möglichen phantastischen Geschichten erzählen. Wogegen es Vathiimeraak gelingen könnte, ihnen die Wahrheit abzunötigen. Jedenfalls einen nützlichen Teil davon.« »Nicht, wenn er selbst der Mörder ist«, sagte Nascimonte. »Ah, das ist es? Ihr habt das Verbrechen aufgeklärt, mein Freund? Vathiimeraak hat es getan?« »Könnte sehr gut sein.« »Das müßt Ihr mir erklären.« Nascimonte gab Aarisiim ein Zeichen. »Sagt Ihr es ihm.« Der Metamorph sagte: »Majestät, als ich Vathiimeraak zum erstenmal sah, sagte ich Euch, daß ich ihn von irgendwo zu kennen glaubte. Und so ist es tatsächlich, obwohl ich noch eine Weile gebraucht habe, bis ich ihn einordnen konnte. Er ist ein Verwandter des Rebellen Faraataa. Als ich mit Faraataa in Piurifayne war, ist dieser Vathiimeraak häufig an unserer Seite gewesen.« Das kam unerwartet. Aber Valentine behielt seine Reaktion für sich. Ruhig sagte er: »Spielt das eine Rolle? Was ist mit unserer Amnestie, Aarisiim? Allen Rebellen, die geschworen haben, nach der Niederlage von Faraataa Frieden zu wahren, wurde vergeben, und sie bekamen sämtliche Bürgerrechte zurück. Ausgerechnet dich sollte ich daran kaum erinnern müssen.«, »Das bedeutet nicht, daß sie über Nacht alle zu braven Bürgern geworden sind, nicht wahr, Valentine?« fragte Nascimonte. »Es wäre doch denkbar, daß dieser Vathiimeraak, ein Mann von Faraataas Geblüt, immer noch ausgeprägte Rachegelüste ..« Valentine sah zu Magadone Sambisa. »Als Ihr ihn als Vorarbeiter einstelltet, habt Ihr da gewußt, daß er mit Faraataa verwandt ist?« Sie wirkte peinlich berührt. »Nein, Majestät, das habe ich nicht. Aber ich wußte, daß er an der Rebellion teilgenommen und die Amnestie akzeptiert hatte. Und er kam mit den besten Empfehlungen. Wir sollen doch glauben, daß die Amnestie einen Sinn hat, nicht wahr? Daß die Rebellion aus und vorbei ist, daß allen, die daran teilgenommen und bereut haben, gestattet wird ..« »Und glaubt Ihr, er hat wirklich bereut?« fragte Nascimonte. »Kann jemand das wirklich wissen? Ich sage, er ist von Kopf bis Fuß ein Betrüger. Diese laute, dröhnende Stimme! Diese geschraubte Ausdrucksweise! Dieses Übermaß an Ehrerbietung gegenüber dem Pontifex! Heuchelei, ohne Ausnahme. Und was die Ermordung von Huukaminaan betrifft, seht ihn Euch doch nur an! Glaubt Ihr, es war einfach, diesen armen Mann derart in Stücke zu schneiden? Aber Vathiimeraak ist wie ein Bidlakbulle gebaut. In diesem Dorf mit seinen dünnen, schwächlichen Leutchen fällt er auf wie ein Dwikkabaum auf einer Wiese.« »Daß er die Kraft für das Verbrechen hat, heißt noch lange nicht, daß er es auch getan hat«, sagte Valentine leicht verärgert. »Und diese andere Sache, daß er mit Faraataa verwandt ist – welches Motiv gäbe ihm das, diesen harmlosen alten Archäologen der Piurivar abzuschlachten? Nein, Nascimonte. Nein. Nein. Nein. Ihr und Tunigorn würdet keine fünf Minuten brauchen, um zu dem Urteil zu kommen, daß der Mann für den Rest seines Lebens in den Kerkern von Sangamor eingesperrt werden sollte, die tief unter dem Schloß liegen. Aber wir brauchen handfeste Beweise, bevor wir jemanden des Mordes beschuldigen.« Zu, Magadone Sambisa sagte er: »Aber was hat es mit diesem Khivanivod auf sich? Warum wurde uns nicht gesagt, daß ein Khivanivod in diesem Dorf lebt?« »Er ist seit dem Tag nach dem Mord nicht mehr hier, Euer Majestät«, sagte sie und sah Valentine besorgt an. »Um ganz ehrlich zu sein, ich hatte ihn vollkommen vergessen.« »Was für eine Person ist er? Beschreibt ihn mir.« Ein Achselzucken. »Alt. Schmutzig. Eine erbärmliche Kreatur, die den Aberglauben anderer ausnutzt, wie all diese Stammesschamanen. Was soll ich sagen? Ich mag es nicht, ihn in meiner Nähe zu haben. Aber ich schätze, er ist der Preis, den wir zahlen müssen, um hier graben zu dürfen.« »Hat er Euch Ärger gemacht?« »Ein wenig. Er schnüffelt andauernd in allem herum und macht sich ständig Sorgen, daß wir ein Sakrileg begehen. Sakrileg, und das in einer Stadt, die die Piurivar selbst zerstört und verflucht haben! Welchen Schaden könnten wir hier anrichten, nach allem, was sie schon angerichtet haben?« »Dies war ihre Hauptstadt«, sagte Valentine. »Es stand ihnen frei, damit zu machen, was sie wollten. Das bedeutet nicht, daß sie froh sind, wenn wir hierherkommen und in den Ruinen wühlen. Aber hat er tatsächlich versucht, Euch in Eurer Arbeit zu behindern, dieser Khivanivod?« »Er ist dagegen, daß wir den Schrein des Untergangs öffnen.« »Aha. Ihr sagt, daß es politische Probleme deswegen gibt. Er hat eine offizielle Protestnote übergeben, nicht wahr?« Zu den Bedingungen, die Valentine für das Recht ausgehandelt hatte, Archäologen nach Velalisier zu schicken, gehörte auch ein Vetorecht der Piurivar bei jedem Aspekt der Arbeit, der ihnen mißfiel. »Bis jetzt hat er uns einfach nur gesagt, er wolle nicht, daß wir den Schrein öffnen«, sagte Magadone Sambisa. »Er und ich und Dr. Huukaminaan wollten uns deswegen letzte Woche zusammensetzen und versuchen, einen Kompromiß auszuarbeiten, auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, welche, Möglichkeiten es für einen Kompromiß geben könnte, wenn eine Partei den Schrein öffnen und die andere ihn nicht öffnen will. Jedenfalls kam es aus den offensichtlichen tragischen Gründen nie zu dem Treffen. Jetzt, wo Ihr hier seid, könnt Ihr vielleicht den Disput für uns aus der Welt schaffen, wenn Torkkinuuminaad wieder von dort zurückkehrt, wohin er verschwunden ist.« »Torkkinuuminaad?« sagte Valentine. »Ist das der Name des Khivanivod?« »Torkkinuuminaad, ja.« »Diese zungenbrecherischen Gestaltwandlernamen«, sagte Nascimonte mürrisch. »Torkkinuuminaad! Vathiimeraak! Huukaminaan!« Er warf Aarisiim einen giftigen Blick zu. »Beim Göttlichen, Mann, war es wirklich unbedingt notwendig für Eure Rasse, sich Namen zu geben, die so vollkommen unaussprechlich sind, wo es doch ganz leicht ..« »Das System ist äußerst logisch«, erwiderte Aarisiim gelassen. »Die Verdopplung der Vokale im ersten Teil des Namens hat ..« »Verschiebt diese Diskussion auf ein andermal, bitte«, sagte Valentine und machte eine entsprechende Handbewegung. Zu Magadone Sambisa sagte er: »Aus reiner Neugier, wie war das Verhältnis zwischen dem Khivanivod und Dr. Huukaminaan? Schwierig? Gespannt? Hielt er es für ein Sakrileg, die Ruinen vom Unkraut zu befreien und einige der Gebäude wieder aufzubauen?« »Überhaupt nicht«, sagte Magadone Sambisa. »Sie haben Hand in Hand gearbeitet. Sie empfanden größten Respekt füreinander, auch wenn der Göttliche allein weiß, wie Dr. Huukaminaan diesen schmutzigen alten Wilden auch nur eine Minute ertragen konnte .Warum? Wollt Ihr andeuten, daß Torkkinuuminaad der Mörder gewesen sein könnte?« »Ist das so unwahrscheinlich? Ihr selbst hattet nicht ein einziges gutes Wort über ihn zu sagen.« »Er ist ein Ärgernis, und zumindest in der Frage des Schreins hat er ein echtes Hindernis für unsere Arbeit dargestellt. Aber ein, Mörder? Nicht einmal ich würde soweit gehen, Euer Majestät. Jeder konnte sehen, daß er und Huukaminaan große Zuneigung füreinander empfanden.« »Wir sollten ihn trotzdem befragen«, sagte Nascimonte. »Wahrlich«, entgegnete Valentine. »Ich möchte, daß morgen Kundschafter durch die Ausgrabungsstätte geschickt werden, um nach ihm zu suchen. Er hält sich irgendwo in den Ruinen auf, richtig? Finden wir ihn und bringen ihn her. Wenn das seine spirituelle Klausur unterbricht, dann tut sie das eben. Sagt ihm, daß der Pontifex ihn zu sich befiehlt.« »Ich werde dafür sorgen«, sagte Magadone Sambisa. »Der Pontifex ist jetzt sehr müde«, sagte Valentine. »Der Pontifex geht schlafen.« Als er sich nach den endlosen Mühen des Tages endlich allein in seinem königlichen Zelt befand, vermißte er Carabella mit einer Intensität, die ihn überraschte: die kleine und drahtige Frau, die sein Schicksal während jener seltsamen Zeit, als er, seines Gedächtnisses und Wissens um sich selbst beraubt, in Pidruid an der Küste des anderen Kontinents gewesen war, fast von Anfang an mit ihm geteilt hatte. Sie, die ihn nur um seiner selbst willen geliebt hatte, ohne zu wissen, daß er in Wahrheit ein von seinem rechtmäßigen Thron gestoßener, seiner wahren Identität beraubter Coronal war, hatte ihm geholfen, sich der Jongleurstruppe von Zalzan Kavol anzuschließen; nach und nach hatten ihrer beider Leben sich ineinander verschlungen; und als er seine erstaunliche Rückkehr an die Macht bewerkstelligt gehabt hatte, da war sie ihm auf den Gipfel der Welt gefolgt. Er wünschte sich, sie wäre jetzt bei ihm. Würde neben ihm sitzen und mit ihm reden, wie immer vor dem Schlafengehen. Um sich mit ihm über alle verzwickten Probleme zu unterhalten, mit denen er im Laufe des Tages konfrontiert worden war. Um ihm zu helfen, den Sinn hinter diesen verschlungenen Rätseln zu begreifen, die ihm diese tote Stadt aufgab. Und einfach, um bei ihm zu sein., Aber Carabella war nicht mit ihm nach Velalisier gekommen. Es sei eine alberne Zeitverschwendung, hatte sie gesagt, daß er persönlich dorthin gehe, um den Mord aufzuklären. Schick Tunigorn; schick Mirigant; schick Sleet; schick jeden beliebigen hohen pontifikalen Beamten! Aber warum solltest du selbst gehen? »Weil ich muß«, hatte Valentine geantwortet. »Weil ich die Verantwortung dafür übernommen habe, die Metamorphen in das Leben dieser Welt zu integrieren. Die Ausgrabungen in Velalisier sind ein wichtiger Teil dieses Unternehmens. Und der Mord an dem alten Archäologen bringt mich zu der Überzeugung, daß Kräfte am Werk sind, die versuchen, diese Ausgrabungen zu behindern.« »Das ist weit hergeholt«, hatte Carabella darauf erwidert. »Und wenn schon. Aber du weißt, wie sehr ich mich nach jeder Gelegenheit sehne, das Labyrinth zu verlassen, und sei es nur eine oder zwei Wochen. Aus diesem Grund werde ich nach Velalisier gehen.« »Und ich nicht. Ich verabscheue diesen Ort, Valentine. Es ist ein gräßlicher Ort des Todes und der Zerstörung. Ich habe ihn zweimal gesehen und kann ihm immer noch nichts abgewinnen. Wenn du gehst, mußt du ohne mich gehen.« »Ich habe vor, zu gehen, Carabella.« »Dann geh. Wenn du mußt.« Und sie gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze, denn es entsprach nicht ihren Gepflogenheiten, zu streiten oder auch nur uneins zu sein. Aber als er ging, ging er tatsächlich ohne sie. Sie befand sich heute nacht in den königlichen Gemächern im Labyrinth, und er hier, in diesem prunkvollen, aber einsamen Zelt in dieser ausgedörrten und verfallenen Stadt uralter Geister. In der Nacht besuchten sie ihn in seinen Träumen, diese Geister. Sie besuchten ihn derart deutlich, daß er glaubte, eine Sendung zu erleben – eine verständliche und absichtliche direkte Kommunikation in Form eines Traums., Aber es glich keiner Sendung, die er je gehabt hatte. Kaum hatte er die Augen geschlossen, da wanderte er im Schlaf zwischen den rissigen und bröckelnden Häusern des toten Velalisier einher. Unheimliches Geisterlicht, geheimnisvolles Licht, tanzte aus jedem geborstenen Stein. Die Stadt erstrahlte limonengrün und zitronengelb und pulsierte vor innerem Leuchten. Strahlende Gesichter, Geistergesichter, grinsten aus der Luft spöttisch auf ihn herab. Die Sonne selbst wirbelte und schlug ungestüme Kapriolen am Himmel. Ein dunkles Loch, das in die Erde führte, lag offen vor ihm, und er betrat es ohne jedes Zögern und ging eine lange Treppenflucht massiver, mit Flechten verkrusteter Steinstufen hinunter, in die archaische, verschnörkelte Runen eingeritzt waren. Jede Bewegung war mühsam. Obwohl er immer weiter hinabstieg, war der Kraftaufwand derselbe, als würde er aufwärtsklettern. Unter großer Anstrengung stieg er immer tiefer, kam sich dabei aber so vor, als würde er gegen einen mächtigen Sog ankämpfen und aufwärtsgehen, eine umgekehrte Pyramide erklimmen, aber keine schlanke, wie die oberirdischen in dieser Stadt, sondern von unvorstellbarem Umfang und Durchmesser. Er stellte sich vor, daß er sich einen Berghang hinaufkämpfte; aber es war ein Berg, der nach unten führte, tief in die Eingeweide der Welt hinein. Und der Pfad führte ihn abwärts, wie er wußte, in ein Labyrinth hinab, das weitaus furchteinflößender war als das, in dem er sein tägliches Leben verbrachte. Die wirbelnden Geistergesichter sausten schwindelerregend vorbei und verschwanden. Kicherndes Gelächter drang aus der Dunkelheit zu ihm. Die Luft war feucht und heiß und abgestanden. Der Sog der Schwerkraft war erdrückend. Bei seinem endlosen Abstieg, Ebene für Ebene, zeigten ihm gelbe Lichtblitze Höhlen, die in alle Richtungen verliefen und sich in unverständlichen Winkeln erstreckten, die konkav und konvex zugleich waren., Und nun herrschte plötzlich blendende Helligkeit. Das pulsierende Feuer einer unterirdischen Sonne strahlte ihm aus den Tiefen entgegen, ein harscher, bedrohlicher Glanz. Valentine wurde auf dieses schreckliche Licht zu gezogen, ohne etwas dagegen tun zu können; und dann befand er sich ohne wahrnehmbaren Übergang nicht mehr unter der Erde, sondern auf der weiten Ebene von Velalisier, auf einer der riesigen Plattformen aus blauem Stein, die als Tische der Götter bekannt waren. Er hielt ein großes Messer in der Hand, einen Krummdolch, der in der gleißenden Mittagssonne funkelnde Blitze warf. Und als er über die Ebene schaute, sah er eine gewaltige Prozession von Osten her auf sich zukommen, aus der Richtung des fernen Meeres: Tausende Leute, Hunderttausende, wie eine marschierende Ameisenarmee. Nein, zwei Armeen; denn die Marschierenden waren in zwei gewaltige parallele Reihen geteilt. Valentine konnte am Ende jeder Reihe, fast am Horizont, zwei riesige Wagen aus Holz auf titanischen Rädern erkennen. Gewaltige Taue waren daran befestigt, und die Marschierenden zogen die Wagen unter enormer Anstrengung langsam vorwärts, mit jedem Ruck vielleicht einen halben Meter, auf das Stadtzentrum zu. Auf jedem Wagen lag ein kolossaler Wasserkönig festgezurrt, ein Meeresdrachen von monströser Größe. Die gewaltigen Geschöpfe sahen die Leute, die sie gefangen hatten, böse an, konnten sich aber nicht einmal mit den Riesenkräften der Meeresdrachen von ihren Fesseln befreien, wie sehr sie sich auch bemühten. Und mit jedem Zug an den Tauen brachten die Wagen sie näher an die beiden Plattformen, an die Tische der Götter. Dem Ort des Opfers. Der Stätte, wo der schreckliche Wahnsinn der Schandtat stattfinden sollte. Wo Valentine, der Pontifex von Majipoor, mit dem großen funkelnden Messer in der Hand wartete., »Majestät? Majestät?« Valentine blinzelte und erwachte benommen. Ein Gestaltwandler stand über ihm, außerordentlich groß und von kräftiger Gestalt, die Augen so ausgeprägt schräg und zusammengekniffen, daß es auf den ersten Blick aussah, als hätte er gar keine. Valentine wollte erschrocken aufspringen, aber nach einem Moment erkannte er in dem Eindringling Aarisiim und entspannte sich. »Ihr habt geschrien«, sagte der Metamorph. »Ich war auf dem Weg hierher, um Euch eine seltsame Neuigkeit wissen zu lassen, die ich herausgefunden habe, und als ich vor Eurem Zelt stand, habe ich Eure Stimme gehört. Ist alles in Ordnung, Euer Majestät?« »Nur ein Traum. Ein sehr häßlicher Traum.« Der immer noch auf unangenehme Weise in seinem Kopf herumspukte. Valentine erschauerte und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Wie spät ist es, Aarisiim?« »Die Stunde des Haigus, Majestät.« Das war nach Mitternacht. Noch lange bis zur Dämmerung. Valentine zwang sich, völlig wach zu werden. Mit weit geöffneten Augen starrte er in das praktisch konturlose Gesicht. »Ihr sagt, es gibt Neuigkeiten? Was für Neuigkeiten?« Die Farbe des Metamorphen veränderte sich von einem blassen zu einem tiefen Grün, und er blinzelte drei- oder viermal mit den Augenschlitzen. »Ich habe heute abend mit einer Archäologin gesprochen, der Frau namens Hieekraad, die die Aufzeichnungen über die gefundenen Artefakte anlegt. Der Vorarbeiter der Gräber hat sie zu mir gebracht, der Mann Vathiimeraak aus dem Dorf. Es scheint, als wären er und Hieekraad ein Liebespaar.« Valentine regte sich ungeduldig. »Kommt zur Sache, Aarisiim.« »Ich bin dabei, Sir. Die Frau Hieekraad hat, so scheint es, dem Mann Vathiimeraak Dinge über die Ausgrabungen enthüllt, die ein gewöhnlicher Vorarbeiter sonst nicht wissen würde. Diese Dinge hat er mir heute abend erzählt.«, »Und?« »Sie haben uns belogen, Majestät – alle Archäologen, die ganze Bande –, haben uns absichtlich etwas verheimlicht. Etwas ziemlich Wichtiges, eine bedeutende Entdeckung. Vathiimeraak brachte die Hieekraad zu mir, nachdem er von ihr erfahren hatte, daß wir auf diese Weise getäuscht worden waren, und bewegte sie dazu, mir die ganze Geschichte zu offenbaren.« »Weiter.« »Es ist folgendes«, sagte Aarisiim. Er schwieg einen Moment und schwankte, als würde er jeden Moment in einen bodenlosen Abgrund stürzen. »Dr. Huukaminaan fand zwei Wochen vor seinem Tod eine Grabstätte, die bis dahin unentdeckt war. Diese lag in einer sonst verlassenen Region am westlichen Stadtrand. Magadone Sambisa war bei ihm. Es war eine Stätte aus der Zeit, nachdem die Stadt verlassen worden war, wie die historische Datierung ergab. Nämlich aus einer Ära nicht lange nach der von Lord Stiamot.« »Aber wie kann das sein?« fragte Valentine stirnrunzelnd. »Selbst wenn wir die Kleinigkeit, daß dieser Ort verflucht war und kein Piurivar gewagt hätte, nach seiner Zerstörung auch nur einen Fuß hineinzusetzen, völlig außer acht lassen – zu der Zeit lebten nicht einmal Piurivar auf diesem Kontinent. Stiamot hatte sie alle in Reservate auf Zimroel bringen lassen. Das weißt du sehr gut, Aarisiim. Hier stimmt etwas nicht.« »Es war keine Grabstätte der Piurivar, Euer Majestät.« »Was?« »Es war das Grab eines Menschen«, sagte Aarisiim. »Das Grab eines Pontifex, wie diese Frau Hieekraad sagte.« Valentine hätte nicht überraschter sein können, wenn Aarisiim eine Bombe gezündet hätte. »Eines Pontifex?« wiederholte er benommen. »Das Grab eines Pontifex, hier in Velalisier?« »Das hat Hieekraad behauptet. Eine eindeutige Bestimmung. Die Symbole an den Wänden des Grabes .das Zeichen des Labyrinths und andere ähnliche Details .die zeremoniellen Gegenstände, die bei dem Leichnam gefunden wurden .., Inschriften: Alles deutete daraufhin, daß es sich um das Grab eines Pontifex handelte, Tausende Jahre alt. Das hat sie gesagt, und ich denke, es war die Wahrheit. Vathiimeraak stand neben ihr, während sie es erzählte, und schaute finster drein. Sie hatte in dem Moment zu große Angst vor ihm, um irgendwelche Lügen aufzutischen.« Valentine stand auf und schritt aufgebracht im Zelt hin und her. »Beim Göttlichen, Aarisiim! Wenn das stimmt, hätte man mich sofort in Kenntnis setzen müssen, nachdem der Fund gemacht wurde. Oder es zumindest nach meiner Ankunft hier erwähnen müssen! Das Grab eines alten Pontifex, und sie verheimlichen es vor mir? Unglaublich. Unglaublich!« »Es war Magadone Sambisa selbst, die den Befehl gab, daß alle Neuigkeiten über die Entdeckung zurückgehalten werden sollten. Es fand keine öffentliche Bekanntmachung statt. Nicht einmal den Grabarbeitern wurde gesagt, was sie freigelegt hatten. Es war ein Geheimnis, das nur den Archäologen der Ausgrabung bekannt sein sollte.« »Auch das hat Hieekraad gesagt?« »Ja, Majestät. Sie sagte, daß Magadone Sambisa die Befehle noch am selben Tag gab, als das Grab gefunden wurde. Diese Hieekraad erzählte mir darüber hinaus, daß Dr. Huukaminaan ganz und gar nicht mit Magadone Sambisas Entscheidung einverstanden war, daß sie sogar einen heftigen Streit deswegen hatten. Aber schließlich fügte er sich. Und als der Mord geschah und bekannt wurde, daß Ihr Velalisier einen Besuch abstatten würdet, berief Magadone Sambisa eine Sitzung ein und ordnete an, daß man Euch nichts davon sagen sollte. Alle, die mit der Ausgrabung zu tun hatten, bekamen den ausdrücklichen Befehl, dieses Wissen vor Euch geheimzuhalten.« »Absolut unglaublich«, murmelte Valentine. Aarisiim sagte ernst: »Ihr müßt die Frau Hieekraad beschützen, Majestät, wenn Ihr diese Angelegenheit untersucht. Sie wird große Schwierigkeiten bekommen, wenn Magadone, Sambisa erfährt, daß sie diejenige war, die die Geschichte von der Grabstätte ausgeplaudert hat.« »Hieekraad ist nicht die einzige, die große Schwierigkeiten bekommen wird«, sagte Valentine. Er schlüpfte aus seinem Nachtgewand und zog sich an. »Noch etwas, Majestät. Der Khivanivod Torkkinuuminaad – er hält sich derzeit an der Grabstätte auf. Dorthin hat er sich zum Gebet zurückgezogen. Ich habe diese Information von Vorarbeiter Vathiimeraak.« »Großartig«, sagte Valentine. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. »Der Khivanivod des Dorfes spricht seine Piurivargebete im Grab eines Pontifex! Wunderbar! Ausgezeichnet! – Bringt Magadone Sambisa sofort zu mir, Aarisiim.« »Majestät, es ist sehr früh und ..« »Habt Ihr nicht gehört, Aarisiim?« »Majestät«, sagte der Gestaltwandler, diesmal unterwürfiger. Er verbeugte sich tief. Und ging hinaus, um Magadone Sambisa zu holen. »Das urzeitliche Grab eines Pontifex, Magadone Sambisa, und nichts darüber wird bekanntgegeben? Das urzeitliche Grab eines Pontifex, und wenn der derzeitige Pontifex kommt, um sich ein Bild von der Ausgrabung zu machen, tut Ihr alles, was in Eurer Macht steht, um zu verhindern, daß er davon erfährt? Ich darf Euch versichern, daß es mir äußerst schwerfällt, das alles zu glauben.« Es war immer noch eine Stunde bis zur Dämmerung. Magadone Sambisa, die wegen dieses Gesprächs aus dem Schlaf gerissen worden war, sah noch blasser und hagerer aus als gestern, und nun konnte man auch eine Andeutung von Furcht in ihren Augen erkennen. Aber trotz alledem gelang es ihr immer noch, etwas von der unnachgiebigen Kraft zu mobilisieren, die sie zu der hervorragenden Archäologin gemacht hatte, die sie war. Ihre Stimme hatte sogar einen stählernen Unterton von Trotz, als, sie sagte: »Wer hat Euch von diesem Grab erzählt, Euer Majestät?« Valentine ließ die Frage unbeantwortet. »Es geschah auf Euren Befehl hin, daß die Geschichte geheimgehalten wurde, nicht wahr?« »Ja.« »Gegen die vehementen Einwände von Dr. Huukaminaan, soweit man mir gesagt hat.« Nun huschte Wut über ihre Gesichtszüge. »Sie haben Euch alles erzählt, richtig? Wer war es? Wer?« »Ich darf Euch daran erinnern, Lady, daß ich derjenige bin, der hier die Fragen stellt. Stimmt es also, daß Dr. Huukaminaan nicht mit Eurer Anweisung übereinstimmte, die Entdeckung geheimzuhalten?« »Ja.« Mit sehr kläglicher Stimme. »Und warum?« »Er betrachtete es als Verbrechen gegen die Wahrheit«, sagte Magadone Sambisa immer noch sehr leise. »Ihr müßt begreifen, Majestät, daß Dr. Huukaminaan nur für seine Arbeit lebte. Und die bestand, wie bei uns allen, darin, durch rigorose Anwendung der archäologischen Disziplinen verlorengegangene Aspekte unserer Vergangenheit ans Licht zu bringen. Dem allein galt sein ganzes Sinnen und Trachten, er war ein wahrer und hingebungsvoller Wissenschaftler.« »Wohingegen Ihr selbst nicht ganz so hingebungsvoll seid?« Magadone Sambisa errötete und wandte beschämt den Blick ab. »Ich muß gestehen, mein Vorgehen könnte diesen Eindruck erwecken. Aber manchmal muß selbst die Suche nach der Wahrheit zumindest vorübergehend vor taktischen Überlegungen zurückstehen. Ihr, ein Pontifex, könnt das gewiß nicht bestreiten. Und ich hatte Gründe, die mir persönlich durchaus stichhaltig zu sein schienen, die Neuigkeit über dieses Grab nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Dr. Huukaminaan stimmte nicht mit meinem Standpunkt überein; er und ich hatten deswegen einen langen und erbitterten Streit. Es war das einzige Mal, während unserer gesamten Zelt als gemeinschaftliche Leiter dieser Expedition, daß wir eine Meinungsverschiedenheit hatten.« »Bis es zuletzt unvermeidlich wurde, daß Ihr ihn ermorden ließt? Weil er sich Euch nur widerstrebend gefügt hatte und Ihr nicht sicher wart, ob er schweigen würde?« »Majestät!« Es war ein Schrei – sie war offenbar so schockiert, daß sie nicht mehr sagen konnte. »Das könnte ein Motiv für den Mord sein. Ist es nicht so?« Sie sah wie vom Donner gerührt drein. Sie ruderte hilflos mit den Armen und hielt flehentlich die Handflächen nach außen. Es verging eine ganze Weile, bis sie wieder imstande war, zu sprechen. Als es soweit war, hatte sie auch einen Großteil ihrer Fassung wiedergewonnen. »Majestät, was Ihr eben angedeutet habt, ist eine schwere Beleidigung für mich. Ich trage die Verantwortung dafür, daß die Entdeckung des Grabes geheimgehalten wurde, ja. Aber ich schwöre Euch, daß ich nichts mit Dr. Huukaminaans Tod zu tun habe. Ich kann Euch mit Worten nicht begreiflich machen, wie sehr ich diesen Mann bewundert habe. Wir hatten unsere beruflichen Differenzen, aber ..« Sie schüttelte den Kopf. Sie sah erschöpft aus. Sehr leise sagte sie: »Ich habe ihn nicht getötet. Ich habe keine Ahnung, wer es war.« Valentine beschloß, das vorerst zu akzeptieren. Es fiel ihm schwer, zu glauben, daß sie ihm ihre Seelenqual nur vorspielte. »Nun gut, Magadone Sambisa. Aber nun verratet mir, warum Ihr beschlossen habt, den Fund dieses Grabes geheimzuhalten.« »Vorher muß ich Euch eine alte Legende der Piurivar erzählen, eine Geschichte aus ihrer Mythologie, die ich am Tag, als wir das Grabmal fanden, von dem Khivanivod Torkkinuuminaad gehört habe.« »Muß das sein?« »Es muß sein, ja.« Valentine seufzte. »Dann fahrt fort.« Magadone Sambisa befeuchtete sich die Lippen und holte tief Luft., »Es gab einmal einen Pontifex, so geht diese Geschichte«, sagte sie, »der in den Jahren unmittelbar nach der Niederwerfung der Piurivar durch Lord Stiamot lebte. Dieser Pontifex hatte als junger Mann selbst im Eroberungskrieg gekämpft, die Aufsicht über ein Gefangenenlager der Piurivar gehabt und sich einige ihrer mündlichen Überlieferungen angehört. Darunter war auch die Geschichte von der Schandtat in Velalisier – vom Opfer der beiden Meeresdrachen durch den Letzten König und die anschließende Zerstörung der Stadt. Sie erzählten ihm auch von der verwüsteten Siebten Pyramide und dem Schrein darunter, dem Schrein des Untergangs, wie sie ihn nannten. In dem, sagten sie, gewisse Artefakte aus der Zeit der Schandtat begraben waren –Artefakte, die, bei entsprechender Anwendung, ihrem Besitzer gottgleiche Macht über sämtliche Kräfte von Raum und Zeit verschaffen würden. Diese Geschichte vergaß er nie, und viele Jahre später, als er selbst Pontifex geworden war, kam er in der Absicht nach Velalisier, den Schrein der Siebten Pyramide zu finden, den Schrein des Untergangs, und ihn zu öffnen.« »Zu dem Zweck, diese magischen Artefakte herauszuholen und sie zu benutzen, um gottgleiche Macht über die Kräfte von Raum und Zeit zu erlangen?« »Genau«, sagte Magadone Sambisa. »Ich glaube, ich weiß, worauf das hinausläuft.« »Möglich, Majestät. Man sagte uns, daß er die zerstörte Pyramide aufsuchte. Er ließ einen Tunnel in den Boden graben; er kam zu dem Steindurchgang, der zur Wand des Schreins führt. Er fand die Wand und traf Anstalten, sie einreißen zu lassen.« »Aber Ihr sagtet mir, daß der siebte Schrein unversehrt ist. Seit die Stadt verlassen wurde, hat ihn niemand mehr betreten. Glaubt Ihr jedenfalls.« »Es hat ihn nie jemand betreten. Da bin ich ganz sicher.« »Aber dieser Pontifex ..?« »War gerade im Begriff, die Wand des Schreins zu durchbrechen, als ein Piurivar, der sich über Nacht in dem, Tunnel versteckt hatte, aus der Dunkelheit kam und ihm ein Schwert ins Herz stieß.« »Einen Moment«, sagte Valentine. Verdruß breitete sich in ihm aus. »Ein Piurivar kam aus dem Nichts und tötete ihn, sagt Ihr? Ein Piurivar? Ich habe mich gerade mit Aarisiim über diese Sache unterhalten. Zu diesem Zeitpunkt gab es nicht nur überhaupt keine Piurivar auf Alhanroel, weil Stiamot sie alle auf Zimroel in Reservate gesperrt hatte, sondern auf diesem Ort sollte auch ein Fluch liegen, der verhinderte, daß sich Angehörige ihrer Rasse auch nur in die Nähe der Stadt wagten.« »Abgesehen von den Wächtern des Schreins, die von dem Fluch ausgenommen waren«, sagte Magadone Sambisa. »Wächter?« fragte Valentine. »Was für Wächter? Ich habe noch nie etwas über Wächter der Piurivar hier in der Stadt gehört.« »Ich auch nicht, bis mir Torkkinuuminaad diese Geschichte erzählte. Aber offenbar wurde zu der Zeit, als die Stadt zerstört und verlassen wurde, die Entscheidung getroffen, eine kleine Gruppe von Wachen hier zurückzulassen, damit niemand in den siebten Schrein eindringen und sich seinen Inhalt aneignen konnte. Und diese Wachmannschaft blieb über die vielen Jahrhunderte hinweg hier postiert. Es waren noch Wachen hier, als der Pontifex kam, um den Schrein zu plündern. Einer von ihnen versteckte sich in dem Tunnel und tötete den Pontifex, als er im Begriff war, durch die Wand zu brechen.« »Und seine Leute haben ihn hier begraben? Warum, um alles in der Welt, sollten sie das tun?« Magadone Sambisa lächelte. »Natürlich um alles zu vertuschen. Bedenkt, Majestät: Ein Pontifex kommt nach Velalisier, um verbotenes Geheimwissen zu suchen, und wird von einem Piurivar ermordet, der sich unerkannt in der angeblich verlassenen Stadt aufgehalten hat. Wenn das bekanntgeworden wäre, dann hätten alle ziemlich schlecht ausgesehen.« »Das mag zutreffen.«, »Den Vertrauten des Pontifex wäre es sicher nicht recht gewesen, wenn bekanntgeworden wäre, daß ihr Herr vor ihren Augen getötet wurde. Und sie waren bestimmt auch nicht erpicht darauf, die Nachricht von dem geheimen Schrein zu verbreiten, was andere vielleicht dazu verleitet hätte, ebenfalls herzukommen und danach zu suchen. Und ganz gewiß wollten sie niemanden wissen lassen, daß der Pontifex von der Hand eines Piurivar gestorben war, weil das sämtliche Wunden des Eroberungskrieges wieder aufgerissen und möglicherweise ziemlich schlimme Repressalien zur Folge gehabt hätte.« »Und darum haben sie alles vertuscht«, sagte Valentine. »Genau. Sie haben in einer entlegenen Ecke der Ruinen ein Grab angelegt, den Pontifex mit einem angemessenen Ritual bestattet und sind mit der Nachricht ins Labyrinth zurückgekehrt, daß Seine Majestät in den Ruinen ganz plötzlich von einer geheimnisvollen Krankheit befallen worden sei und man es für unklug erachtet habe, den Leichnam für ein traditionelles Staatsbegräbnis von Velalisier mitzubringen. – Ghorban hieß er. Im Grab findet sich eine Inschrift, die den Namen verrät. Er hat wirklich existiert. Ich habe im Haus der Aufzeichnungen nachgeforscht. Ihr werdet ihn dort aufgelistet finden.« »Der Name ist mir nicht vertraut.« »Er war nicht gerade einer der berühmten. Und wer kann sich schon an alle erinnern? Im Verlauf der Jahrtausende waren es Hunderte und Aberhunderte. Ghorban war nur kurze Zeit Pontifex, und das einzige bedeutende Ereignis während seiner Herrschaft wurde sorgfältig aus den Aufzeichnungen gelöscht. Ich spreche von seinem Besuch in Velalisier.« Valentine nickte. Er hatte oft genug selbst vor der großen Tafel vor dem Haus der Aufzeichnungen im Labyrinth gestanden, viele Male die lange Liste seiner Vorgänger studiert und über die Namen fast vergessener Monarchen gestaunt, Meyk und Spurifon und Heslaine und Kandibal und Dutzende mehr. Die zu ihrer Zeit große Männer gewesen sein mußten, aber ihre Zeit lag Tausende Jahre in der Vergangenheit. Zweifellos stand ein, Ghorban auf der Liste, wenn Magadone Sambisa sagte, daß es ihn gegeben hatte: der eine Zeitlang in königlicher Pracht als Coronal Lord Ghorban auf dem Burgberg geherrscht, im reifen Alter das Pontifikat angetreten und aus irgendeinem Grund die verfluchte Stadt Velalisier besucht hatte, wo er gestorben und begraben worden und in Vergessenheit geraten war. »Eine seltsame Geschichte«, sagte Valentine. »Aber weshalb wollt Ihr die Entdeckung von Ghorbans Grab geheimhalten, was ist der Grund?« »Derselbe, der die längst vergessenen Vertrauten des Pontifex veranlaßte, die wahren Begleitumstände seines Todes zu verschweigen«, entgegnete Magadone Sambisa. »Ihr wißt sicher, daß die gewöhnlichen Leute ohnehin schon in Angst vor dieser Stadt leben. Die schreckliche Geschichte der Schandtat, der Fluch, das Geschwätz von Geistern, die in den Ruinen hausen, die unheimliche Aura des Ortes – nun, Ihr wißt, wie die Leute sind, Majestät. Wie verzagt sie im Angesicht des Unbekannten sein können. Ich hatte Angst, wenn Ghorbans wahre Geschichte bekannt würde – der geheime Schrein, die Suche eines obskuren uralten Pontifex nach mysteriösen magischen Gegenständen, die Ermordung dieses Pontifex durch einen Piurivar –, dann würde die Stimmung der Öffentlichkeit sich gegen die Ausgrabungen in Velalisier wenden und das Projekt beendet werden. Ich wollte nicht, daß es dazu kommt. Das ist alles, Euer Majestät. Ich habe versucht, meinen Job zu retten, nehme ich an. Mehr nicht.« Es war ein demütigendes Eingeständnis. Ihr Tonfall, der lebhaft genug gewesen war, als sie die Geschichte erzählt hatte, war nun niedergeschlagen, müde, fast leblos. Valentine fand, daß er sich durch und durch aufrichtig anhörte. »Und Dr. Huukaminaan stimmte nicht mit Euch überein, daß es eine Gefahr für die Fortsetzung Eurer Arbeit hier wäre, die Entdeckung des Grabes publik zu machen?« »Er sah das Risiko ein. Es war ihm egal. Für ihn kam immer zuallererst die Wahrheit. Sollte die Ausgrabung unter dem Druck der Öffentlichkeit beendet werden und fünfzig oder hundert oder, hundertfünfzig Jahre niemand mehr hier graben, ihm wäre es recht gewesen. Seine Integrität hätte nicht zugelassen, eine derart erstaunliche historische Entdeckung zu verheimlichen, aus welchen Gründen auch immer. Deshalb hatten wir einen heftigen Streit, aber schließlich konnte ich ihn zum Nachgeben überreden. Ihr habt gesehen, wie störrisch ich sein kann. Aber ich habe ihn nicht getötet. Wenn ich jemanden hätte töten wollen, dann ganz gewiß nicht Dr. Huukaminaan. Es wäre der Khivanivod gewesen, der tatsächlich will, daß die Ausgrabung beendet wird.« »Tatsächlich? Ihr sagtet, daß er und Huukaminaan Hand in Hand gearbeitet hätten.« »Im allgemeinen, ja. Wie ich gestern sagte, gab es ein Thema, bei dem er und Huukaminaan uneins waren: wenn es darum ging, den Schrein zu öffnen. Huukaminaan und ich, müßt Ihr wissen, hatten vorgehabt, ihn zu öffnen, sobald Ihr und Lord Hissune dabeisein konntet. Aber der Khivanivod war leidenschaftlich dagegen. Den Rest unserer Arbeit hier fand er akzeptabel, aber das nicht. Der Schrein des Untergangs, sagte er immer wieder, ist die heiligste Stätte der Piurivar, ihr Allerheiligstes.« »Damit könnte er nicht ganz unrecht haben«, sagte Valentine. »Findet Ihr auch, daß wir nicht in den Schrein hineinschauen sollten?« »Ich denke, es gibt eine ganze Reihe bedeutender Führer der Piurivar, die ganz und gar nicht wünschen, daß das passiert.« »Aber die Danipur selbst hat uns die Erlaubnis gegeben, hier zu graben! Nicht nur das, sie und alle anderen Anführer der Piurivar haben gewußt, daß wir hierhergekommen sind, um die Stadt zu restaurieren – daß wir hoffen, soviel wie möglich von dem Schaden zu beseitigen, den Jahrtausende der Vernachlässigung angerichtet haben. Sie haben keine Einwände dagegen. Um ganz sicher zu sein, daß unsere Arbeit der Gemeinschaft der Piurivar kein Dorn im Auge sein würde, waren wir uns alle einig, daß die Expedition zu gleichen Teilen aus Piurivar- und Nicht-Piurivar-Archäologen bestehen sollte und, Dr. Huukaminaan und ich ihre gleichberechtigten Leiter sein würden.« »Aber als es zu einer größeren Unstimmigkeit zwischen euch beiden kam, stellte sich heraus, daß Ihr ein kleines bißchen gleichberechtigter wart als er, nicht wahr?« »In dem Fall von Ghorbans Grab, ja«, sagte Magadone Sambisa, die nur ein wenig außer Fassung zu sein schien. »Aber nur dies eine Mal. Bei allem anderen stimmten er und ich vollkommen überein. Zum Beispiel, als es darum ging, den Schrein zu öffnen.« »Eine Entscheidung, gegen die der Khivanivod dann sein Veto einlegte.« »Der Khivanivod besitzt keine Befugnis, ein Veto einzulegen, Majestät. Wir waren uns einig, daß jeder Piurivar, der sich aus religiösen Gründen gegen einen Aspekt unserer Arbeit aussprach, eine Eingabe bei der Danipur machen konnte, die das Problem dann nach Konsultation mit Euch und Lord Hissune bereinigen sollte.« »Ja. Dieses Dekret habe ich sogar selbst geschrieben.« Valentine machte einen Moment die Augen zu und preßte die Fingerspitzen darauf. Ihm hätte klar sein müssen, überlegte er sich, daß solche Probleme früher oder später auftauchen würden. Diese Stadt hatte eine zu tragische Geschichte. Schreckliche Dinge waren hier geschehen. Die geheimnisvolle Aura der piurivarischen Zauberei beherrschte den Ort noch Jahrtausende nach seiner Zerstörung. Er hatte gehofft diese Aura teilweise durch Entsendung dieser Wissenschaftler auflösen zu können. Statt dessen hatte er sich nur selbst in ihrem dunklen Netz verfangen. Nach einer gewissen Zeit schaute er auf und sagte: »Aarisiim hat mir mitgeteilt, daß der Khivanivod sich für seine Klausur eben das Grab von Ghorban ausgesucht hat, das Ihr mit soviel Aufwand vor mir verbergen wolltet, und sich in diesem Augenblick dort aufhält. Ist das richtig?« »Ich glaube, ja.«, Der Pontifex ging zum Zelteingang und sah hinaus. Die ersten Bronzestreifen der Dämmerung über der Wüste zogen über die gewaltige Himmelskuppel. »Gestern nacht«, sagte er, »habe ich Euch gebeten, Kundschafter nach ihm zu schicken, und Ihr habt versprochen, daß Ihr das tun würdet. Natürlich habt Ihr mir nicht gesagt, daß Ihr wußtet, wo er sich aufhält. Aber da Ihr es wißt, schickt Eure Boten los. Ich möchte als erstes heute morgen mit ihm sprechen.« »Und wenn er sich weigert, zu kommen, Majestät?« »Dann laßt ihn mit Gewalt herschaffen.« Der Khivanivod Torkkinuuminaad war in jeder Hinsicht so abstoßend, wie Magadone Sambisa ihn Valentine geschildert hatte, und die Tatsache, daß Valentines Männer ihm androhen mußten, ihn unter Gewaltanwendung aus Ghorbans Grab zu schleppen, hatte sicher nicht zur Verbesserung seiner Stimmung beigetragen. Lisamon Hultin hatte ihm befohlen, dort herauszukommen, ohne seine Drohungen und Flüche zu beachten. Hexereien und Magie der Piurivar beeindruckten sie nur wenig, und sie hatte ihn wissen lassen, wenn er nicht mehr oder weniger freiwillig und auf seinen zwei Füßen zu Valentine kommen würde, würde sie ihn zum Pontifex tragen. Der Schamane der Gestaltwandler war ein uralter, ausgemergelter Mann, nackt bis auf ein paar trockene Grashalme um die Taille und ein abscheuliches Amulett aus geflochtenen Insektenbeinen und anderen – ähnlichen – Zutaten, das er an einer verschlissenen Kordel um den Hals hängen hatte. Er war so alt, daß seine grüne Haut einen schwachen Grauton angenommen hatte, und er sah Valentine mit Schlitzaugen in faltigen Wülsten gummiartiger Haut, in denen blanke Wut loderte, haßerfüllt an. Valentine begann in einem versöhnlichen Tonfall. »Ich bitte um Vergebung, daß ich Eure Meditation unterbrechen mußte. Aber gewisse dringende Angelegenheiten müssen geregelt, werden, bevor ich in das Labyrinth zurückkehre, und dafür war Eure Anwesenheit erforderlich.« Torkkinuuminaad sagte nichts. Valentine fuhr fort, ohne darauf Rücksicht zu nehmen. »Zunächst einmal wurde auf der Ausgrabungsstätte ein schweres Verbrechen begangen. Die Ermordung von Dr. Huukaminaan ist nicht nur ein Verbrechen gegen die Gesetze, sondern gegen das Wissen selbst. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, daß der Mörder entlarvt und bestraft wird.« »Was hat das mit mir zu tun?« fragte der Khivanivod finsteren Blickes. »Wenn ein Mord begangen wurde, dann solltet Ihr den Mörder finden und bestrafen, ja, wenn Ihr der Meinung seid, daß Ihr es tun müßt. Aber warum muß ein Diener der Götter Die Sind gezwungen werden, seine heilige Kommunion auf diese Weise zu unterbrechen? Weil es der Pontifex von Majipoor befiehlt?« Torkkinuuminaad lachte schroff. »Der Pontifex! Warum sollten die Befehle des Pontifex eine Bedeutung für mich haben? Ich diene nur den Göttern Die Sind.« »Ihr dient auch der Danipur«, sagte Valentine mit ruhiger, gelassener Stimme. »Und die Danipur und ich sind Kollegen in der Regierung von Majipoor.« Er zeigte auf Magadone Sambisa und die anderen Archäologen, Menschen wie Metamorphen, die in der Nähe standen. »Diese Leute arbeiten heute in Velalisier, weil die Danipur ihnen die Erlaubnis erteilt hat, hier zu sein. Ihr selbst seid auf die Bitte der Danipur hier, soweit ich weiß. Um all denen von Eurem Volk, die mit der Arbeit befaßt sind, spirituellen Beistand zu gewähren.« »Ich bin hier, weil die Götter Die Sind es von mir verlangen, und aus keinem anderen Grund.« »Das mag sein, wie es will – Euer Pontifex steht vor Euch, er hat Fragen an Euch, und Ihr werdet antworten.« Die Antwort des Schamanen darauf war ein giftiger Blick. »In der Nähe der Ruinen der Siebten Pyramide wurde ein Schrein entdeckt«, fuhr Valentine fort. »Soweit ich weiß, hatte der, verstorbene Dr. Huukaminaan die Absicht, diesen Schrein zu öffnen. Ihr hattet heftige Einwände dagegen, habe ich recht?« »Ihr habt recht.« »Einwände auf welcher Basis?« »Daß der Schrein ein heiliger Ort ist und nicht durch profane Hände entweiht werden darf.« »Wie kann es einen heiligen Ort in einer Stadt geben«, fragte Valentine, »über die ein Fluch ausgesprochen wurde?« »Der Schrein ist trotzdem heilig«, sagte der Khivanivod störrisch. »Auch wenn niemand weiß, was im Inneren sein könnte?« »Ich weiß, was im Inneren ist«, sagte der Khivanivod. »Ihr? Wieso?« »Ich bin der Hüter des Schreins. Das Wissen wird von Hüter zu Hüter weitergereicht.« Valentine verspürte einen kalten Schauer auf dem Rücken. »Aha«, sagte er. »Der Hüter. Des Schreins.« Er schwieg einen Moment. »Als offiziell ernannter Nachfolger eines Hüters, nehme ich an, der hier vor Tausenden von Jahren einen Pontifex ermordet hat. Der Ort, wo man Euch gerade beim Beten gefunden hat, ist das Grab dieses Pontifex, wie mir gesagt wurde. Stimmt das?« »Es stimmt.« »In dem Fall«, sagte Valentine und gestattete sich die Andeutung eines Lächelns um die Mundwinkel, »muß ich meine Wachen bitten, Euch sehr genau im Auge zu behalten. Denn als nächstes, mein Freund, werde ich Magadone Sambisa und ihren Leuten den Auftrag erteilen, sofort damit anzufangen, den siebten Schrein zu öffnen. Und nun sehe ich, daß mir dadurch eine Gefahr von Euch drohen könnte.« Torkkinuuminaad sah verblüfft drein. Unvermittelt machte der Schamane der Metamorphen ein ganzes Repertoire heftiger Veränderungen seiner Gestalt durch, zog sich ungestüm zusammen und dehnte sich, und die Umrisse seines Körpers, verschwammen und formierten sich mit erstaunlicher Schnelligkeit neu. Aber auch die Archäologen, die Menschen, die beiden Ghayrogs und die kleine, dicht beisammen stehende Gruppe der Gestaltwandler, sahen Valentine an, als hätte er gerade etwas vollkommen Unverständliches gesagt. Selbst Tunigorn und Mirigant und Nascimonte waren fassungslos. Tunigorn wandte sich an Mirigant und sagte etwas, worauf Mirigant nur mit einem Achselzucken antwortete und Nascimonte, der in ihrer Nähe stand, ebenfalls vollkommen ratlos die Schultern zuckte. Magadone Sambisa sagte mit heiserer Stimme: »Majestät? Ist das Euer Ernst? Sagtet Ihr nicht erst vor kurzer Zeit, daß es das beste sei, den Schrein ungeöffnet zu lassen?« »Ich habe das gesagt? Ich?« Valentine schüttelte den Kopf. »O nein. Nein. Wie lange wird es dauern, bis Ihr damit anfangen könnt?« »Nun .mal sehen ..« Er hörte sie murmeln. »Die Aufzeichnungsgeräte, die Scheinwerfer, die Steinbohrer ..« Sie verstummte, als würde sie die Auflistung im Geiste fortsetzen. Dann sagte sie: »Wir könnten in einer halben Stunde anfangen.« »Gut. Dann machen wir uns ans Werk.« »Nein! Das wird nicht geschehen!« kreischte Torkkinuuminaad – ein schriller Wutschrei. »Es wird geschehen«, sagte Valentine. »Und Ihr werdet dabeisein und zusehen. Genau wie ich.« Er winkte Lisamon Hultin. »Sprich mit ihm, Lisamon. Mach ihm klar, daß es viel besser für ihn ist, wenn er ruhig bleibt.« Magadone Sambisa sagte verwundert: »Ist das wirklich alles Euer Ernst, Pontifex?« »O ja. Ja. Mein völliger Ernst.« Der Tag schien hundert Stunden lang zu sein. Eine verschlossene Grabungsstätte zu öffnen wäre schon unter normalen Umständen eine prekäre Angelegenheit gewesen. Aber in diesem Fall war sie so bedeutend, so mit symbolischer, Bedeutung befrachtet, so explosiv in ihren möglichen politischen Folgen, daß jeder Arbeitsgang mit dreifacher Sorgfalt erledigt wurde. Valentine selbst wartete im Anfangsstadium der Arbeit über der Erde. Man hatte ihm genau erklärt, was sie da unten machten: Sie verlegten Kabel für die Scheinwerfer und Lüftungsrohre für diejenigen, die die eigentlichen Ausgrabungsarbeiten durchführten; sie vergewisserten sich mit Ultraschallsonden, daß die Decke des Vorraums nicht einstürzen würde, wenn die Wand des Schreins geöffnet wurde; auch das Innere des Schreins selbst wurde einer Ultraschallsondierung unterzogen, um zu sehen, ob etwas Wichtiges unmittelbar an der Wand stand, das durch die Bohrung beschädigt werden konnte. Das alles erforderte Stunden. Schließlich waren sie bereit, mit dem Einschnitt in die Mauer anzufangen. »Würdet Ihr gern zusehen, Majestät?« fragte Magadone Sambisa. Trotz der Lüftungsanlage fiel es Valentine schwer, in dem Tunnel zu atmen. Bei seinem ersten Besuch war die Luft schon heiß und abgestanden gewesen; aber jetzt, wo sich so viele Menschen da unten tummelten, war die Luft dünn und kümmerlich, und er mußte die Lungen anstrengen, damit ihm nicht schwindlig wurde. Die dichtgedrängten Archäologen machten ihm Platz, damit er nach vorne gehen konnte. Starke Scheinwerfer strahlten die weiße Steinfassade des Schreins an. Fünf Leute hatten sich dort versammelt, drei Piurivars und zwei Menschen. Die eigentliche Bohrung schien Aufgabe des vierschrötigen Vorarbeiters Vathiimeraak zu sein. Kaastisiik, der Piurivar-Archäologe und Leiter der Ausgrabung, assistierte. Dicht hinter ihm stand Driismiil, der Architekturexperte der Piurivar, und eine Menschenfrau namens Shimrayne Gelvoin, die offenbar ebenfalls Architektin war. Magadone Sambisa stand dahinter und erteilte leise Befehle., Sie trugen die Wand Stein für Stein ab. Über der Reihe der Opferalkoven war bereits ein knapp einen Quadratmeter großes Stück der Fassade entfernt worden. Dahinter lag eine Mauer aus grobem Stein, lediglich eine Schicht dick. Vathiimeraak, der auf Piurivar vor sich hin murmelte, meißelte an einem der Steine. Er löste sich in einer Geröllmasse und gab den Blick auf eine innere Wand aus demselben feinen schwarzen Stein frei, aus dem auch die Tunnelmauer selbst bestand. Danach folgte wieder eine lange Pause, während die verschiedenen Schichten der Mauer gemessen und fotografiert wurden. Dann setzte Vathiimeraak die Bohrung nach innen fort. Valentine war in der abgestandenen, beißenden Luft einer Ohnmacht nahe, beherrschte sich aber erfolgreich. Vathiimeraak schnitt tiefer, verharrte dann und ließ Kaastisiik einige abgebrochene Trümmer des schwarzen Steins entfernen. Die beiden Architekten traten vor, inspizierten die Öffnung und unterhielten sich erst miteinander und daraufhin mit Magadone Sambisa; und dann näherte sich Vathiimeraak der Öffnung wieder mit seinem Bohrer. »Wir brauchen eine Fackel«, sagte Magadone Sambisa plötzlich. »Gebt mir eine Fackel, los!« Eine Handfackel wurde vom hinteren Ende des Tunnels durch die Menge weitergereicht. Magadone Sambisa hielt sie in die Öffnung, sah hinein, keuchte. »Majestät? Majestät, würdet Ihr bitte herkommen und Euch das ansehen?« Im Lichtschein konnte Valentine einen großen, rechteckigen Raum sehen, der vollkommen leer zu sein schien, abgesehen von einem großen, dunklen Steinquader. Er hatte große Ähnlichkeit mit dem glänzenden Block aus schwarzem Opal mit den Adern aus scharlachrotem Rubin, aus dem der grandiose Confalume- Thron im Schloß des Coronals gefertigt worden war. Etwas lag auf dem Block. Aber was es war, konnte man auf diese Entfernung unmöglich erkennen., »Wie lange wird es dauern, die Öffnung groß genug zu machen, daß jemand den Raum betreten kann?« fragte Valentine. »Vielleicht drei Stunden.« »Macht es in zwei. Ich warte oben. Ruft mich, wenn die Öffnung fertig ist. Aber achtet darauf, daß niemand vor mir eintritt.« »Ihr habt mein Wort, Majestät.« Nachdem er eine Stunde lang die abgestandene Luft da unten geatmet hatte, kam ihm selbst die trockene Wüstenluft köstlich vor. Valentine konnte anhand der langen Schatten, die über die tiefen Höhlen der fernen Dünen wanderten, deutlich sehen, daß der Nachmittag schon fortgeschritten war. Tunigorn, Mirigant und Nascimonte stapften in den Trümmern der zerstörten Pyramide herum. Der Vroon Deliamber stand ein kleines Stück entfernt. »Und?« fragte Tunigorn. »Sie haben ein kleines Stück der Wand geöffnet. Es ist etwas darin, aber wir wissen noch nicht, was es ist.« »Schätze?« fragte Tunigorn mit einem lüsternen Grinsen. »Bergeweise Smaragde und Diamanten und Jade?« »Ja«, sagte Valentine. »Das alles und mehr. Schätze. Ein gewaltiger Schatz, Tunigorn.« Er wandte sich kichernd ab. »Habt Ihr Wein dabei, Nascimonte?« »Wie immer, mein Freund. Einen edlen Tropfen von Muldemar.« Er reichte die Flasche dem Pontifex, der mit tiefen Zügen trank, ohne das Bukett zu genießen, und den Wein wie Wasser hinunterschüttete. Die Schatten wurden dunkler. Einer der kleineren Monde ging am Horizont auf. »Majestät? Würdet Ihr nach unten kommen?« Es war der Archäologe Vo-Siimifon. Valentine folgte ihm in den Tunnel., Die Öffnung in der Wand war jetzt groß genug für eine Person. Magadone Sambisa gab Valentine mit zitternder Hand die Fackel. »Ich muß Euch bitten, Majestät, nichts zu berühren, gar nichts zu verändern. Wir werden Euch das Privileg, als erster einzutreten, nicht verweigern, aber Ihr müßt daran denken, daß es ein wissenschaftliches Unternehmen ist. Wir müssen alles aufzeichnen, wie wir es finden, bevor etwas, und sei es noch so unbedeutend, verändert wird.« »Ich verstehe«, sagte Valentine. Er stieg vorsichtig über den Rest der Wand unter der Öffnung und zwängte sich hinein. Der Boden des Schreins bestand aus einem glatten, glänzenden Stein, möglicherweise Rosenquarz. Eine feine Staubschicht bedeckte ihn. Seit zwanzigtausend Jahren hat niemand mehr diesen Boden betreten, dachte Valentine. Und eines Menschen Fuß überhaupt noch nie. Er näherte sich dem großen Quader aus schwarzem Stein in der Mitte des Raums und ließ das Licht der Fackel darauf fallen. Ja, ein einziger Block rubingeäderten Opals, genau wie der Confalume-Thron. Darauf lag unter einer dünnen Staubschicht, die den Glanz kaum beeinträchtigte, eine Platte aus Gold, mit den verschnörkelten Schriftzeichen der Piurivar geschmückt und mit Cabochons aus Beryll und Karneol und Lapislazuli, wie es schien. Zwei lange, schmale Gegenstände, bei denen es sich um Dolche aus weißem Stein hätte handeln können, lagen nebeneinander genau in der Mitte der goldenen Platte. Valentine verspürte einen Schauer tiefster Ehrfurcht. Er wußte, worum es sich bei den beiden Gegenständen handelte. »Majestät? Majestät?« rief Magadone Sambisa. »Sagt uns, was Ihr seht! Sagt es uns, bitte!« Aber Valentine antwortete nicht. Es war, als hätte Magadone Sambisa gar nichts gesagt. Er war tief in Gedanken, war acht Jahre in die Vergangenheit gereist, zurück zur entscheidenden Stunde der Rebellion., In jener Stunde hatte er ein dolchähnliches Ding genau wie diese beiden vor ihm in der Hand gehalten und seine seltsame Kühle gespürt, eine Kühle, die auf einen heißen Kern im Inneren hindeutete, und hatte im Geiste eine vielstimmige, ferne Musik gehört, die davon ausging, eine turbulente Folge schwindelerregender Klänge. Damals war es der Zahn eines Meeresdrachen gewesen, den er in seiner Hand gehalten hatte. Etwas Geheimnisvolles in diesem Zahn hatte seinen Geist in Verbindung mit dem Geist des mächtigen Wasserkönigs Maazmoorn gebracht, eines Drachen des fernen Inneren Meeres. Und mit geistiger Unterstützung Maazmoorns hatte der Pontifex Valentine die Welt überbrückt, den reulosen Rebellen Faraataa niedergestreckt und den traurigen Aufstand beendet. Wessen Zähne mochten diese sein? Er glaubte es zu wissen. Dies war der Schrein des Untergangs, der Ort der Schandtat. Nicht weit von hier waren vor langer Zeit zwei Wasserkönige vom Meer hergeschleppt worden, um auf den Plattformen aus blauem Stein geopfert zu werden. Das war kein Mythos. Es war tatsächlich geschehen. Valentine zweifelte nicht daran, denn der Meeresdrache Maazmoorn hatte es ihm durch die Kommunion des Geistes auf eine Weise gezeigt, die keine Fragen offen ließ. Er kannte sogar ihre Namen: Einer war der Wasserkönig Niznorn, der andere der Wasserkönig Domsitor. War das hier der Zahn von Niznorn und der dort der von Domsitor? Zwanzigtausend Jahre. »Majestät? Majestät?« »Einen Moment«, sagte Valentine, der sprach, als sei er eine halbe Welt entfernt. Er nahm den linken Zahn. Umklammerte ihn fest. Sog zischend Luft ein, als die feurige Kälte ihm die Handfläche verbrannte. Schloß die Augen und ließ die Magie in seinen Verstand strömen. Fühlte seine Seele hinausfliegen, hinaus, hinaus zu einem wartenden Meeresdrachen – möglicherweise, wieder Maazmoorn, wer konnte das wissen, oder ein anderer der Giganten, die in jenen Gewässern dort draußen schwammen –, während er die ganze Zeit die läutenden Glocken, die jubilierende Musik aus dem Geist des Meeresdrachen hörte. Und ihm wurde eine Vision des längst vergangenen Opfers der beiden Meeresdrachen gewährt, des Ereignisses, das als die Schandtat in die Geschichte eingegangen war. Er wußte bereits, daß jener traditionelle Name auf einem Irrtum beruhte, hatte es von Maazmoorn bei jener Begegnung ihrer Geister erfahren. Es war zu keiner Schandtat gekommen. Es war ein freiwilliges Opfer gewesen; die Meeresdrachen hatten in aller Form die Macht Dessen Das Ist akzeptiert, welches die höchste aller Kräfte des Universums ist. Die Wasserkönige hatten sich mit Freuden den Piurivar des längst untergegangenen Velalisier ergeben, um sich abschlachten zu lassen. Die Schlächter selbst hatten vielleicht gewußt, was sie taten, aber die einfachen Piurivar der umliegenden Provinzen nicht; und diese einfachen Piurivar hatten es daher als Schandtat bezeichnet, den Letzten König von Velalisier zum Tode verurteilt, die Siebte Pyramide zerschmettert und danach den Rest dieser großen Hauptstadt zerstört und sie für alle Zeiten mit einem Fluch belegt. Aber den Schrein dieser Zähne hatten sie nicht zu berühren gewagt. Valentine, der den Zahn hielt, wurde erneut Zeuge des Opfers. Nicht mit den gefesselten Meeresdrachen, die sich wütend aufbäumten, während sie dem Messer zum Opfer fielen, wie er es im Alptraum der vergangenen Nacht gesehen hatte. Nein. Er sah es jetzt als ruhige und heilige Zeremonie, bei der lebendes Fleisch heiter aufgegeben wurde. Und als die Messer blitzten, als die gewaltigen Meeresbewohner starben, als ihr dunkles Fleisch zu den riesigen Scheiterhaufen getragen wurde, um verbrannt zu werden, erscholl eine Klangwelle triumphaler Harmonie bis an die Grenzen des Universums. Er legte den Zahn hin und hob den anderen auf. Griff zu. Fühlte. Ergab sich seiner Macht., Diesmal war die Musik dissonanter. Die Vision, die ihn überkam, zeigte einen unbekannten Mann mittleren Alters in einem prunkvollen Kostüm antiker Machart, Kleidung, die eines Pontifex würdig war. Im rauchigen Licht einer flackernden Fackel schlich er eben den Gang vor diesem Raum entlang, wo sich gerade Magadone Sambisa und ihre Archäologen drängten. Valentine sah zu, wie der Pontifex aus längst vergangener Zeit sich der weißen, unbefleckten Mauer des Schreins näherte. Sah ihn die flache Hand dagegen drücken, als hoffte er, er könnte allein durch seine Kraft eindringen. Dann wandte er sich davon ab, winkte Arbeitern mit Spitzhacken und Spaten herbei und gab ihnen zu verstehen, daß sie die Mauer einreißen sollten. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit, ein Gestaltwandler, groß und schlank, mit grimmiger Miene, der einen großen Schritt vorwärts machte und mit einer raschen, unaufhaltsamen Bewegung ein Messer von unten aufwärts in das Herz des Mannes im Brokatgewand eines Pontifex stieß .»Majestät, ich flehe Euch an!« Magadone Sambisas Stimme, voller Besorgnis. »Ja«, sagte Valentine im geistesabwesenden Tonfall eines Mannes, der in einem Traum verloren war. »Ich komme.« Vorläufig hatte er genug Visionen gehabt. Er legte die Fackel auf den Boden und richtete sie auf die Öffnung in der Wand, damit sie den Weg beleuchtete. Behutsam hob er die beiden Drachenzähne auf – ließ sie vorsichtig auf den Handflächen ruhen und achtete drauf, sie nur leicht zu berühren, um ihre Macht nicht zu aktivieren, da er ihnen seinen Geist nicht öffnen wollte – und kletterte aus dem Schrein hinaus. Magadone Sambisa sah ihn entsetzt an. »Ich hatte Euch gebeten, Majestät, keine Gegenstände in der Gruft zu berühren, nichts zu verändern, bis ..« »Ja. Das weiß ich. Ihr werdet mir verzeihen, was ich getan habe.« Es war keine Bitte., Die Archäologen wichen vor ihm zurück und gaben ihm den Weg frei, als er zwischen ihnen hindurch zum Ausgang in die Oberwelt ging. Aller Augen waren auf die Gegenstände gerichtet, die auf Valentines Handflächen ruhten. »Bringt den Khivanivod zu mir«, sagte er leise zu Aarisiim. Das Tageslicht war fast verschwunden, die Ruinen nahmen das geheimnisvollere Äußere an, das nachts über sie kam, wenn der kalte Schein des Mondlichts über die Steintrümmer der uralten Stadt tanzte. Der Gestaltwandler eilte davon. Valentine hatte den Khivanivod nicht in der Nähe haben wollen, als der Schrein geöffnet wurde; und so war Torkkinuuminaad trotz seiner heftigen Proteste im Hauptquartier der Archäologen der Aufsicht von Valentines Leibwächtern übergeben worden. Zwei hünenhafte, zottelige Skandars brachten ihn nun herbei und hielten ihn an den Armen. Wut und Haß stiegen blubbernd von dem Schamanen auf wie schwarzes Gas aus einer brodelnden Marsch. Und als er in den zerklüfteten grünen Keil von einem Gesicht sah, spürte Valentine überdeutlich die uralte Magie dieser Welt, die Geheimnisse, die vom Anbeginn der zeitlosen nebligen Dämmerung Majipoors nach ihm griff, als die Gestaltwandler allein und ungestört über diesen großen Planeten der Wunder und Pracht gewandelt waren. Der Pontifex hielt die beiden Zähne der Meeresdrachen hoch. »Wißt Ihr, was das ist, Torkkinuuminaad?« Die gummiartigen Augenfalten wurden aufgerissen. Die schmalen Augen waren gelb vor Wut. »Ihr habt das schrecklichste aller Sakrilege begangen und werdet unter schrecklichsten Qualen sterben.« »Ihr wißt also, was das ist, hm?« »Sie sind das Heiligste vom Heiligen! Ihr müßt sie unverzüglich in den Schrein zurückbringen!« »Warum habt Ihr Dr. Huukaminaan töten lassen, Torkkinuuminaad?«, Die einzige Antwort des Khivanivod war ein noch wütenderer und trotzigerer Blick. Er würde mich mit seiner Magie töten, wenn er könnte, dachte Valentine. Warum auch nicht? Ich weiß, was ich für Torkkinuuminaad bin. Denn ich bin der Kaiser von Majipoor und damit Majipoor selbst, und wenn ein Hieb unser aller Untergang bedeuten würde, dann würde er diesen Hieb führen. Ja. Valentine war die Verkörperung des Feindes in Person: Er gehörte zu denen, die vom Himmel gekommen waren und den Piurivar ihre Welt weggenommen hatten, die ihre eigenen riesigen Städte auf jungfräulichen Wäldern und Sümpfen gebaut hatten, die zu Milliarden ins empfindliche Geflecht des bebenden Netzes des Lebens der Piurivar eingedrungen waren. Und darum würde Torkkinuuminaad ihn töten, wenn er könnte, und indem er den Pontifex tötete, würde er, durch den Symbolgehalt der Magie, das ganze von Menschen beherrschte Majipoor töten. Aber Magie kann man mit Magie bekämpfen, dachte Valentine. »Ja, seht mich an«, sagte er zu dem Schamanen. »Seht mir genau in die Augen, Torkkinuuminaad!« Und schloß die Finger fest um die beiden Talismane, die er aus dem Schrein mitgebracht hatte. Die vereinte Kraft der beiden Zähne strömte mit schrecklicher Wucht in Valentine ein, als er den geistigen Kreis schloß. Er verspürte das gesamte Spektrum der Empfindungen gleichzeitig, nicht nur doppelt, sondern vielfach verstärkt. Dennoch hielt er sich aufrecht; er bündelte seine Konzentration zu schärfster Intensität; er zielte mit seinem Verstand auf den des Khivanivod. Schaute. Drang ein. Erforschte das Gedächtnis des Khivanivod und fand schnell, wonach er suchte. Mitternächtliche Dunkelheit. Ein Splitter Mondschein. Sterne funkeln am Himmel. Das gebauschte Zelt der Archäologen. Jemand kommt heraus, ein Piurivar, sehr dünn, der sich mit der Vorsicht des Alters bewegte. Ganz bestimmt Dr. Huukaminaan., Eine schlanke Gestalt steht wartend auf der Straße: ein anderer Metamorph, ebenfalls alt, genauso hager, zerlumpt und seltsam gekleidet. Das ist der Khivanivod. Der sich selbst mit seinem geistigen Auge betrachtet. Schattenhafte Gestalten bewegen sich hinter ihm, fünf, sechs, sieben. Allesamt Gestaltwandler. Dorfbewohner, wie es aussieht. Der alte Archäologe scheint sie nicht zu sehen. Er spricht mit dem Khivanivod; der Schamane gestikuliert, zeigt in eine Richtung. Es folgt eine Art Diskussion. Dr. Huukaminaan schüttelt den Kopf Weitere Gesten. Weitere Diskussionen. Zustimmende Gebärden. Alles scheint geklärt zu sein. Unter Valentines Blicken gehen der Khivanivod und Huukaminaan gemeinsam die Straße entlang, die ins Herz der Ruinen führt. Nun treten die Dorfbewohner aus den Schatten, die sie verborgen haben. Umzingeln den alten Mann; ergreifen ihn; halten ihm den Mund zu, damit er nicht schreit. Der Khivanivod kommt auf ihn zu. Der Khivanivod hat ein Messer. Valentine sah den Rest der Szene nicht. Wollte die monströse Zeremonie der Verstümmelung auf der Steinplattform nicht sehen, auch nicht das anschließende unheimliche Ritual in dem Tunnel, der zum Schrein des Untergangs führt, wo der Kopf des toten Mannes in den Alkoven gelegt wurde. Er löste den Griff um die beiden Meeresdrachenzähne und legte sie sehr behutsam neben sich auf den Boden. »Also«, sagte er zu dem Khivanivod, dessen Miene sich von kaum beherrschter Wut zu fast so etwas wie Resignation verwandelt hatte. »Ich glaube, wir brauchen uns nichts mehr vorzumachen. Warum habt Ihr Dr. Huukaminaan getötet?« »Weil er den Schrein geöffnet hätte.« Die Stimme des Khivanivod klang völlig tonlos, bar jeglicher Emotion. »Ja, natürlich. Aber Magadone Sambisa war ebenfalls dafür, ihn zu öffnen. Warum habt Ihr nicht statt dessen sie getötet?« »Er war einer von uns und ein Verräter«, sagte Torkkinuuminaad. »Sie war nicht wichtig. Und er war gefährlicher für unsere Sache. Wir wissen, daß sie daran gehindert worden, wäre, den Schrein zu öffnen, wenn wir lautstark genug protestiert hätten. Aber ihn hätte nichts aufgehalten.« »Aber der Schrein wurde dennoch geöffnet«, sagte Valentine. »Ja, aber nur, weil Ihr hergekommen seid. Sonst wäre die Ausgrabung beendet worden. Der Aufschrei wegen Huukaminaans Tod hätte der ganzen Welt bewiesen, daß der Fluch dieses Ortes immer noch Macht hat. Ihr seid gekommen und habt den Schrein geöffnet, aber der Fluch wird Euch vernichten, so wie er vor langer Zeit Pontifex Ghorban vernichtet hat.« »Es gibt keinen Fluch«, sagte Valentine ruhig. »Dies ist eine Stadt, die viele Tragödien gesehen hat, aber es gibt keinen Fluch, nur ein Mißverständnis auf das nächste gehäuft.« »Die Schandtat ..« »Es gab auch keine Schandtat, nur ein Opfer. Die Zerstörung der Stadt durch die Leute aus den Provinzen war ein schrecklicher Fehler.« »Demnach versteht Ihr unsere Geschichte besser als wir, Pontifex?« »Ja«, sagte Valentine. »So ist es.« Er wandte sich von dem Schamanen ab und sagte zum Vorarbeiter des Dorfes gewandt: »Vathiimeraak, es leben Mörder in Eurer Siedlung. Ich weiß, wer sie sind. Geht in Euer Dorf und verkündet allen, wenn die Schuldigen vortreten und ihr Verbrechen gestehen, wird ihnen vergeben werden, nachdem ihre Seelen vollständig geläutert wurden.« Als nächstes wandte er sich an Lisamon Hultin und sagte: »Was den Khivanivod angeht, möchte ich, daß er den Beamten der Danipur übergeben und vor deren Gericht angeklagt wird. Dies fällt in ihren Zuständigkeitsbereich. Und dann ..« »Majestät!« rief jemand. »Vorsicht!« Valentine wirbelte herum. Die Skandarwachen waren von dem Khivanivod abgerückt und starrten ihre zitternden Hände an, als wären sie in einem Feuerofen verbrannt worden., Torkkinuuminaad, von ihrem Griff befreit, näherte das Gesicht dem Valentines. Seine Miene war diabolisch verzerrt. »Pontifex!« flüsterte er. »Schaut mich an, Pontifex! Schaut mich an!« Valentine, der völlig überrascht war, hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Eine seltsame Taubheit war bereits über ihn gekommen. Torkkinuuminaad veränderte seine Gestalt und durchlief eine Reihe grotesker Veränderungen mit derartiger Schnelligkeit, daß er ein Dutzend Arme und Beine gleichzeitig zu haben schien, und ein halbes Dutzend Körper; und er wob eine Art Zauber. Valentine verfing sich darin wie ein Falter im listig gewobenen Netz einer Spinne. Die Luft vor ihm schien zäh und trüb zu sein, und wie aus dem Nichts war ein Wind aufgekommen. Valentine stand perplex da und versuchte, den Blick von den feurigen Augen des Khivanivod abzuwenden, aber es gelang ihm nicht. Auch fand er nicht die Kraft, nach den beiden Drachenzähnen zu greifen, die zu seinen Füßen lagen. Er stand benommen und wie erstarrt da und schwankte. Er hatte ein brennendes Gefühl in der Brust und mußte sich anstrengen, auch nur Luft zu holen. Überall um ihn herum schienen Phantome zu lauern. Ein Dutzend Gestaltwandler .hundert, tausend .Verzerrte Gesichter. Böse Blicke. Zähne; Klauen; Messer. Eine Horde ungestüm wirbelnder Mörder, die ihn umringten, tanzten, hüpften, sich drehten, zischten, ihn verspotteten, höhnisch seinen Namen riefen – Er war verloren in einem Wirbelwind uralter Zauberei. »Lisamon?« rief Valentine bestürzt. »Deliamber? Helft mir – helft ..« Aber er war sich nicht sicher, ob ihm die Worte wirklich über die Lippen gekommen waren. Dann sah er, daß seine Leibwächter die Gefahr tatsächlich gesehen hatten. Deliamber, der erste, der reagierte, kam rasch hinzu und bewegte seine zahlreichen Tentakel hastig zu einem Gegenzauber, einer Abfolge von Gebärden und Ausbrüchen von Geisteskraft, die neutralisieren sollten, was immer von, Torkkinuuminaad ausging. Und dann, als der kleine Vroon den Schamanen in das Netz vroonischer Magie zu wickeln begann, kam Vathiimeraak von der anderen Seite auf Torkkinuuminaad zu, packte den Schamanen tollkühn, ohne dessen Magie Beachtung zu schenken, rang ihn zu Boden und drückte ihn nieder, bis dessen Stirn den Boden vor Valentines Füßen berührte. Valentine spürte, wie der Einfluß der Magie des Schamanen nachließ und immer weiter abklang, bis sie zuletzt ihren Einfluß auf seine Seele völlig verlor. Der Kontakt zwischen Torkkinuuminaads Geist und dem seinen brach mit einem nahezu hörbaren Knacken ab. Vathiimeraak ließ den Khivanivod los und trat zurück. Lisamon Hultin trat neben den Schamanen und stand bedrohlich über ihm. Aber der Zwischenfall war vorbei. Der Schamane blieb, wo er war, vollkommen reglos und über seine Niederlage bitterlich schluchzend. »Danke«, sagte Valentine zu Deliamber und Vathiimeraak. Und dann, mit einer wegwerfenden Geste: »Schafft ihn weg.« Lisamon Hultin warf Torkkinuuminaad über ihre Schulter wie einen Sack Calimbots und ging mit ihm die Straße hinab. Ein langes, fassungsloses Schweigen folgte. Magadone Sambisa brach es schließlich. Mit gedämpfter Stimme fragte sie: »Euer Majestät, alles in Ordnung?« Er antwortete nur mit einem Nicken. »Und die Ausgrabung«, fuhr sie nach einem weiteren Augenblick nervös fort. »Was wird damit? Werden wir damit fortfahren?« »Warum nicht?« entgegnete Valentine. »Es gibt immer noch viel zu tun.« Er entfernte sich einen oder zwei Schritte von ihr. Er hielt sich die Hände an die Brust, den Hals. Er konnte den Druck dieser erbarmungslosen unsichtbaren Hände fast immer noch spüren. Magadone Sambisa war aber noch nicht fertig mit ihm., »Und die hier?« fragte sie und zeigte auf die Meeresdrachenzähne. Sie sprach jetzt aggressiver, als wäre sie wieder Herrin der Lage, und erlangte ihre Lebhaftigkeit und Fassung zurück. »Wenn ich sie jetzt haben könnte, Majestät ..« »Ja, nehmt sie«, sagte Valentine zornig. »Aber bringt sie in den Schrein zurück. Und dann versiegelt Ihr das Loch wieder, das Ihr heute gemacht habt.« Die Archäologin sah ihn an, als hätte er sich selbst in einen Piurivar verwandelt. Mit einem Unterton unverhohlener Schroffheit in der Stimme sagte sie: »Wie bitte, Euer Majestät? Wie bitte? Dr. Huukaminaan ist für diese Zähne gestorben! Diesen Schrein zu finden, das war die Krönung seiner Arbeit. Wenn wir ihn jetzt wieder versiegeln ..« »Dr. Huukaminaan war der vollkommene Wissenschaftler«, sagte Valentine, der sich keine Mühe mehr gab, seine große Müdigkeit zu verbergen. »Seine Liebe zur Wahrheit hat ihn das Leben gekostet. Eure eigene Wahrheitsliebe ist, glaube ich, nicht ganz so vollkommen, und darum werdet Ihr mir in diesem Punkt gehorchen.« »Ich flehe Euch an, Majestät ..« »Nein. Genug gefleht. Ich maße mir nicht an, selbst ein Wissenschaftler zu sein, aber ich kenne meine Verantwortung. Manche Dinge sollten begraben bleiben. Diese Zähne sind nichts, das wir handhaben und studieren und in einem Museum ausstellen sollten. Der Schrein ist ein heiliger Ort für die Piurivar, auch wenn sie seine Heiligkeit nicht verstehen. Es ist eine traurige Angelegenheit für uns alle, daß er jemals freigelegt wurde. Bringt diese Zähne zurück. Versiegelt den Schrein, und haltet Euch von ihm fern. Haben wir uns verstanden?« Sie sah ihn benommen an und nickte. »Gut. Gut.« Inzwischen hatte sich völlige Dunkelheit über die Wüste gesenkt. Valentine konnte die Myriaden Geister von Velalisier ringsum schweben spüren. Es schien, als würden Knochenfinger, an seiner Tunika zupfen, als würden unheimlich flüsternde Stimmen ihm gefährliche Zaubersprüche ins Ohr raunen. Er sehnte sich von ganzem Herzen danach, diese Ruinen zu verlassen. Er hatte für den Rest seines Lebens genug davon. Zu Tunigorn sagte er: »Kommt, alter Freund, gebt die Befehle, bereitet alles für unseren sofortigen Aufbruch vor.« »Jetzt, Valentine? Zu dieser späten Stunde?« »Jetzt, Tunigorn. Jetzt.« Er lächelte. »Wißt Ihr, nach diesem Ort kommt mir das Labyrinth beinahe anheimelnd vor! Ich verspüre den großen Wunsch, in seine tröstliche Vertrautheit zurückzukehren. Kommt: Macht alles für unseren Aufbruch bereit. Wir sind lange genug hier gewesen.«, Erdsee URSULA K. LE GUIN, DER MAGIER DER ERDSEE (1979) DIE GRÄBER VON ATUAN (1979) DAS FERNE UFER (1979) TEHANU (1992) Die Inselwelt Erdsee wird von Menschen und Drachen bewohnt. Die Drachen sind verschrobene und gefährliche Wesen, deren angeborenes Idiom die Sprache des Schöpfens ist. Einige Ereignisse und Geschichten (in Tehanu) deuten darauf hin, daß es eine Zeit gab, als Drachen und Menschen eins waren, aber nun sind sie seit langem getrennt und verfeindet. Unter Menschen ist Magie eine Gabe, mit der manche schon geboren werden, die aber auch wie eine Kunst oder Wissenschaft gelernt werden muß. Von entscheidender Bedeutung für die Ausübung der Magie ist es, zumindest ein paar Worte der Sprache des Schöpfens zu beherrschen, in der den Dingen ihre wahren Namen gegeben werden. Wenn sie den wahren Namen lernen, bekommen die Hexe oder der Zauberer Macht über das Ding oder die Person. Diese Macht kann man natürlich zum Guten wie zum Bösen nutzen. Der Magier der Erdsee beginnt auf der Insel Gont. Ged, ein junger Bauernbursche mit einem großen Talent für Magie, besucht die Zaubererschule auf der Insel Roke. Dort versucht er, einem anderen Jungen seine Überlegenheit zu demonstrieren, und ruft ein Schattenwesen aus dem Reich der Toten in die Welt der Lebenden. Dieser Schatten jagt ihn über die Inseln und treibt ihn immer wieder in die Arme der Gefahr und des Bösen. Schließlich wendet Ged sich unter Anleitung seines alten Lehrmeisters Ogion gegen den Schatten und verfolgt ihn verzweifelt auf einer Route, die ihn aus der Welt hinaus und über die Grenze des Todes führt. Dort treten Ged und sein Schatten gegeneinander an und stellen fest, daß sie ein und derselbe sind; auf diese Weise wird Geds Wesen geheilt und wieder zu einem Ganzen., Die Gräber von Atuan spielt auf einer der vier Inseln der Kargish, deren Sprache und Bräuche sich von denen der Bewohner des Archipels unterscheiden. Ein Kind namens Tenar wird ihren Eltern weggenommen, bekommt den Namen Arha, »die Verzehrte«, und wird zur Hohepriesterin der Gräber ausgebildet, einer uralten Zuflucht in der Wüste von Atuan, die nur Frauen und Eunuchen besuchen dürfen. Gegen Ende ihrer Ausbildung begegnet sie im unterirdischen Labyrinth, dem Herzen der heiligen Stätte, einem Fremden, einem Mann. Das ist Ged, inzwischen ein mächtiger Zauberer, der die fehlende Hälfte des Rings von Erreth-Akbe sucht, auf dem die zerbrochene Rune des Friedens eingraviert ist. Es wäre die Pflicht der jungen Priesterin, ihn zu töten. Aber als sie mit ihrem Gefangenen redet, sieht sie ein, daß auch sie eine Gefangene der Gräber ist, durch ein sinnloses und grausames Ritual gebunden. Ged gibt ihr ihren wahren Namen zurück, Tenar. So, wie er sie befreit hat, befreit sie ihn: Sie führt ihn aus dem Labyrinth, und die beiden entkommen mit dem wieder vereinten Ring des Friedens. Tenar wird in Havnor geehrt, der Stadt der Könige von Erdsee, aber Ged möchte, daß sie bei Ogion, seinem alten Lehrmeister auf Gont, lebt und studiert. In Das ferne Ufer bricht Ged, inzwischen Erzmagier von Roke und der mächtigste Mann des Archipels, mit dem jungen Arren, Prinz von Enlad, zu einer Suche auf, bei der er herausfinden will, weshalb die Magie ihre Macht zu verlieren scheint. Nach seltsamen Abenteuern im fernen Süden werden sie zu den Inseln der Drachen geführt; und auf Selidor, der westlichsten von ihnen, führt ihre Suche sie ins Reich des Todes, das trockene Land der Dunkelheit. Dort finden sie den Zauberer Cob, der die Wand zwischen Leben und Tod eingerissen hat, um selbst Unsterblichkeit zu erlangen. Ged beraubt Cob seiner Macht und verschließt die Wunde in der Welt, aber dabei verbraucht er seine gesamte Macht. Arren, der den Thron von Erdsee erben wird, welcher seit fünfhundert Jahren verwaist ist, holt ihn ins Leben zurück. Der Drache Kalessin trägt sie beide nach Roke, wo Ged, Arren als den neuen König begrüßt; dann bringt Kalessin Ged nach Hause auf die Insel Gont. Tehanu, obwohl siebzehn Jahre nach Das ferne Ufer geschrieben, setzt die Geschichte da fort, wo sie aufgehört hat. Tenar von den Gräbern ist nicht bei Ogion geblieben, sondern hat Flint geheiratet, einen Farmer, zwei Kinder bekommen und zwei Jahre als Farmersfrau gelebt. Der sterbende Ogion läßt sie zu sich rufen. Nach seinem Tod bleibt sie im Haus des alten Magiers. Ihre Adoptivtochter ist bei ihr. Dieses Mädchen, Therru, die von den Männern, die mit ihrer Mutter reisten, vergewaltigt und verbrannt und als tot liegen gelassen wurde, ist ein schweigsames Kind, voller Furcht, aber auch einer Macht, die sie nicht begreift. Der Drache bringt Ged nach Gont. Der ausgelaugte und kranke Ged, der seine magischen Kräfte verloren hat, ist voller Scham und verbirgt sich selbst vor Arren, der ihn besuchen kommt. Aspen, ein Schüler von Cob, braut auf Gont böse Magie; Handy, einer der Männer, die das Kind Therru mißbraucht haben, treibt sich in der Nähe herum. Der junge König bringt Tenar zurück zur Farm ihres Mannes. Dort versuchen Handy und die anderen, Tenar und das Kind in die Hände zu bekommen; Ged trifft gerade noch rechtzeitig ein, um ihr zu helfen, sie abzuwehren. In jenem Winter bleibt Ged bei Tenar auf der Farm, und obwohl er die Macht der Magie verloren hat, findet er endlich seine Erfüllung als sexuelles menschliches Wesen. Im Frühling lockt Aspen Ged und Tenar zu Ogions Haus zurück, und da sie keinen Zauber bewirken können, sind sie ihm schutzlos ausgeliefert. Er demütigt sie und ist im Begriff, sie zu töten. Nun findet das verstümmelte, ohnmächtige Kind Therru endlich seinen wahren Namen, Tehanu, und ihre eigene Macht. In der Sprache der Drachen, der Sprache des Schöpfens, ruft sie den Drachen Kalessin. Der Drache vernichtet Aspen und begrüßt Therru als eine Tochter. Sie wird zunächst bei Ged und Tenar leben, später aber bei den Drachen: »Ich gebe Euch mein Kind«, sagt Kalessin zu Ged, »so wie Ihr mir Eures geben werdet.«,

URSULA K. LE GUIN Drachenkind

1. Iria Die Vorfahren ihres Vaters hatten eine große, fruchtbare Domäne auf der großen, fruchtbaren Insel Weg besessen. In den Tagen der Könige weder einen Titel noch das Hofprivileg gefordert, das Land und seine Menschen in den dunklen Jahren nach dem Fall von Maharion mit strenger Hand geführt, ihre Gewinne wieder in das Land investiert, eine Art von Gerechtigkeit aufrechterhalten und kleine Tyrannen abgewehrt. Als unter der Herrschaft der weisen Männer von Roke wieder Ordnung und Frieden im Archipel einkehrten, erlebte die Familie mit ihren Farmen und Dörfern zumindest eine Zeitlang eine Blüte. Wohlstand und die Schönheit der Wiesen und Hochlandweiden und eichengekrönten Hügel machten die Domäne zu einem geflügelten Wort, so daß die Leute sagten: »so fett wie eine Kuh von Iria« oder »glücklich wie ein Irianer«. Die Herren und viele Pächter der Domäne fügten den Namen ihrem eigenen hinzu und nannten sich selbst Irian. Aber auch wenn die Farmer und Schafhirten so zuverlässig und standhaft wie die Eichen von einer Jahreszeit zur nächsten lebten, von Jahr zu Jahr und Generation zu Generation, veränderte sich die Familie, die das Land besaß, durch Zeit und Wechselfall. Ein Streit zwischen Brüdern wegen des Erbes entzweite sie. Ein Erbe trieb sein Gut durch Habgier in den Ruin, der andere, durch Dummheit. Einer hatte eine Tochter, die einen Kaufmann heiratete und versuchte, ihr Gut von der Stadt aus zu führen, der andere hatte einen Sohn, dessen Söhne wieder stritten und das geteilte Land erneut teilten. Zu der Zeit, als das Mädchen namens Drachenkind geboren wurde, war die Domäne Iria, obschon immer noch eine der bezauberndsten Regionen von Hügeln und Feldern und Wiesen in ganz Erdsee, ein Schlachtfeld der Fehden und Prozesse. Farmland lag brach, Farmhäuser blieben ohne Dach, Melkschuppen standen leer, und die Schafhirten folgten ihren Herden über die Berge zu besseren Weiden. Das alte Haus, das einst Mittelpunkt der Domäne gewesen war, stand als Ruine zwischen den Eichen auf dem Hügel. Sein Besitzer war einer von vier Männern, die sich Herren von Iria nannten. Die anderen drei nannten ihn Herr von Alt-Iria. Er verschwendete seine Jugend und den Rest seines Erbes in Gerichtssälen und den Vorzimmern der Lords von Weg in Shelieth, wo er versuchte, sein Anrecht auf das gesamte Gut geltend zu machen, wie es vor hundert Jahren gewesen war. Er kam ohne Erfolg und verbittert zurück und verbrachte sein Alter damit, den herben Rotwein seines letzten Weinbergs zu trinken und mit einem Rudel mißhandelter, unterernährter Hunde seine Grenzen abzuschreiten, um Eindringlinge von seinem Land fernzuhalten. Während seines Aufenthaltes in Shelieth hatte er geheiratet, eine Frau, über die niemand in Iria etwas wußte, denn sie kam von einer anderen Insel, sagte man, irgendwo im Westen, und sie kam nie nach Iria, denn sie starb im Kindbett dort in der Stadt. Als er nach Hause kam, hatte er eine drei Jahre alte Tochter bei sich. Er übergab sie der Haushälterin und vergaß sie. Wenn er betrunken war, erinnerte er sich manchmal an sie. Wenn er sie finden konnte, ließ er sie neben seinem Stuhl stehen oder auf seinen Knien sitzen und anhören, welches Unrecht ihm und dem Haus Iria angetan worden war. Er fluchte und weinte und trank und ließ sie auch trinken und schwören, daß sie zu ihrem Erbe stehen und das Haus Iria ehren sollte. Sie trank den Wein, aber, sie haßte die Flüche und Schwüre und Tränen und die feuchten Liebkosungen, die danach kamen. Sie floh, wenn sie konnte, und ging zu den Hunden und Pferden und dem Vieh hinunter und schwor ihnen, daß sie treu zu ihrer Mutter stehen würde, die niemand kannte oder ehrte oder achtete außer ihr. Als sie dreizehn war, sagten der alte Winzer und die Haushälterin, die als einzige vom Personal übrig waren, dem Hausherrn, daß es Zeit für den Namenstag seiner Tochter wurde. Sie fragten, ob sie den Zauberer aus Westteich kommen lassen sollten oder ob die hiesige Dorfhexe genügte. Der Herr von Iria bekam einen Tobsuchtsanfall. »Eine Dorfhexe? Ein Hexenweib soll Irians Tochter ihren wahren Namen geben? Oder ein kriecherischer, verräterischer, zaubernder Lakai der diebischen Emporkömmlinge, die meinem Großvater Westteich gestohlen haben? Wenn dieser Haderlump es wagt, einen Fuß auf mein Land zu setzen, lasse ich die Hunde seine Leber fressen, sagt ihm das, wenn ihr wollt!« Und so weiter. Die alte Daisy ging in ihre Küche zurück, der alte Coney zu seinen Reben, und die dreizehnjährige Drachenkind rannte aus dem Haus und bergab ins Dorf und schleuderte den Hunden, die wegen des Gebrülls ihres Vaters ganz durchgedreht vor Aufregung waren und hinter ihr her rannten, seine Flüche entgegen. »Kehr um, du hartherzige Schlampe!« schrie sie. »Nach Hause, du kriecherischer Verräter!« Und die Hunde verstummten und schlichen mit eingeklemmten Schwänzen nach Hause zurück. Drachenkind fand die Dorfhexe, wie sie gerade dabei war, Maden aus einem entzündeten Riß am Rumpf eines Schafes zu klauben. Der Rufname der Hexe war Rose, wie bei vielen Frauen von Weg und dem Hardischen Archipel. Leute mit geheimen Namen, in denen ihre Macht funkelt wie Licht in einem Diamanten, mögen es, wenn ihre öffentlichen Namen gewöhnlich und weit verbreitet sind wie die Namen anderer Menschen. Rose murmelte mechanisch einen Zauberspruch, erledigte aber den größten Teil der Arbeit mit den Händen und einem, kleinen scharfen Messer. Das Mutterschaf ertrug das Messer geduldig, seine milchigen, bernsteinfarbenen Augen blickten in die Stille; nur ab und zu stapfte es mit dem schmalen linken Vorderhuf auf und seufzte. Drachenkind sah Rose aufmerksam bei der Arbeit zu. Rose zog eine Made heraus, ließ sie fallen, spuckte darauf und suchte weiter. Das Mädchen lehnte sich gegen das Mutterschaf, und das Mutterschaf lehnte sich gegen das Mädchen, um Trost zu geben und zu nehmen. Rose zog die letzte Made heraus, ließ sie fallen, spuckte darauf und sagte: »Gib mir bitte den Eimer dort.« Sie wusch die Schwäre mit Salzwasser aus. Das Mutterschaf seufzte tief und lief plötzlich los, nach Hause. Es hatte genug Medizin gehabt. »Bucky!« rief Rose. Ein pummeliger Junge, der unter einem Busch geschlafen hatte, kam hervor und trottete hinter dem Mutterschaf her, dessen Aufseher er nominell sein sollte, obwohl das Tier älter, größer, besser im Futter und wahrscheinlich auch klüger war als er. »Sie haben gesagt, du sollst mir meinen Namen geben«, sagte Drachenkind. »Vater hat einen Wutanfall bekommen. Soviel dazu.« Die Hexe sagte nichts. Sie wußte, das Mädchen hatte recht. Wenn der Herr von Iria einmal gesagt hatte, daß er etwas duldete oder nicht duldete, ließ er sich nicht mehr umstimmen und brüstete sich mit seiner Unnachgiebigkeit, da nur schwache Männer etwas zurücknahmen, was sie gesagt hatten. »Warum kann ich mir meinen wahren Namen nicht selbst geben?« fragte Drachenkind, während Rose ihre Hände und das Messer mit Salzwasser wusch. »Geht nicht.« »Warum nicht? Warum muß es eine Hexe oder ein Zauberer sein? Was macht ihr dabei?« »Nun«, sagte Rose und schüttete das Salzwasser auf den kahlen Boden des kleinen Hofs vor ihrem Haus, das wie alle Hexenhäuser ein Stück vom Dorf entfernt stand. »Nun«, sagte sie, richtete sich auf und sah sich um, wie auf der Suche nach einer Antwort, einem Mutterschaf oder einem Handtuch. »Du, mußt etwas über die Macht wissen, weißt du«, sagte sie schließlich und sah Drachenkind mit einem Auge an. Ihr anderes Auge schaute ein klein wenig zur Seite. Manchmal glaubte Drachenkind, daß Rose mit dem linken Auge schielte, und manchmal schien es das rechte zu sein, aber immer sah ein Auge einen gerade an, während das andere etwas außer Sichtweite zu beobachten schien, hinter einer Biegung, anderswo. »Welche Macht?« »Die Macht«, sagte Rose. So unvermittelt, wie das Mutterschaf fortgelaufen war, ging sie ins Haus. Drachenkind folgte ihr, aber nur bis zur Tür. Niemand betrat das Haus einer Hexe ungebeten. »Du hast gesagt, daß ich sie habe«, sagte das Mädchen ins stinkende Halbdunkel des einzigen Zimmers der Hütte hinein. »Ich habe gesagt, daß du eine Kraft in dir hast, eine ziemlich große«, sagte die Hexe aus der Dunkelheit. »Und das weißt du auch. Was du damit anfangen sollst, das weiß ich nicht, und du auch nicht. Das gilt es herauszufinden. Aber die Macht, sich selbst einen Namen zu geben, gibt es nicht.« »Warum nicht? Was ist persönlicher als der eigene wahre Name?« Ein langes Schweigen. Die Hexe kam mit einer Spindel aus Speckstein und einem Knäuel fettiger Wolle heraus. Sie setzte sich auf die Bank neben der Tür und ließ die Spindel kreisen. Als sie antwortete, hatte sie schon einen Meter graubraunes Garn gesponnen. »Mein Name bin ich. Stimmt. Aber was ist ein Name? Wie mich ein anderer nennt. Wenn es keinen anderen gäbe, nur mich, wozu brauchte ich dann einen Namen?« »Aber«, sagte Drachenkind und verstummte, weil das Argument sie aus dem Gleichgewicht brachte. Nach einer Weile sagte sie: »Also muß ein Name ein Geschenk sein?« Rose nickte. »Gib mir meinen Namen, Rose«, sagte das Mädchen. »Dein Vater sagt nein.« »Ich sage ja.«, »Er ist der Herr hier.« »Er kann mich arm und dumm und wertlos halten, aber er kann mich nicht namenlos halten!« Die Hexe seufzte, genau wie das Mutterschaf, unbehaglich und beklommen. »Heute abend«, sagte Drachenkind. »Bei unserem Brunnen, unter dem Iriaberg. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.« Ihre Stimme klang halb lockend, halb wütend. »Du solltest einen richtigen Namenstag haben, ein Fest mit Tanz, wie jedes junge Mädchen«, sagte die Hexe. »Bei Tagesanbruch sollte der Name vergeben werden. Und danach sollte ein Fest mit Musik und so weiter stattfinden. Kein nächtliches Herumschleichen, damit es niemand weiß ..« »Ich werde es wissen. Woher weißt du, welcher Name es ist, Rose? Verrät ihn dir das Wasser?« Die Hexe schüttelte kurz das stahlgraue Haupt. »Ich kann es dir nicht sagen.« Ihr »kann nicht« bedeutete nicht »werde nicht«. Drachenkind wartete. »Es ist die Macht, wie ich schon sagte. Das kommt einfach so.« Rose hörte auf zu spindein und sah mit einem Auge zu einer Wolke im Westen; das andere schaute ein wenig nordwärts in den Himmel. »Ihr seid zusammen im Wasser, du und das Kind. Du nimmst den Kindernamen weg. Die Leute benutzen diesen Namen vielleicht weiter als Rufnamen, aber es ist nicht mehr ihr Name und war es auch nie. Also ist sie jetzt kein Kind mehr und hat keinen Namen. Und dann wartest du. Du öffnest sozusagen den Geist. Als würdest du dem Wind die Türen eines Hauses öffnen. Und dann kommt er. Deine Zunge spricht ihn aus, den Namen. Dein Atem macht ihn. Du gibst ihn dem Kind, den Atem, den Namen. Du kannst ihn dir nicht ausdenken. Du läßt ihn zu dir kommen. Er muß durch dich zu ihr kommen, der er gehört. Das ist die Macht, so funktioniert sie. Es ist immer so. Es ist nichts, was du tust. Du mußt wissen, wie du es tun lassen kannst. Darin besteht die Meisterschaft.« »Magier können mehr als das tun«, sagte das Mädchen. »Niemand kann mehr als das tun«, sagte Rose., Drachenkind ließ den Kopf auf dem Hals kreisen, überdehnte ihn, bis der Halswirbel knackte, streckte rastlos die langen Arme und Beine aus. »Wirst du es tun?« fragte sie. Rose nickte einmal. Sie trafen sich im Dunkel der Nacht, lange nach Sonnenuntergang, lange vor Sonnenaufgang, auf dem Weg unter dem Iriaberg. Rose erzeugte ein schwaches Leuchten von Werlicht, damit sie den Weg durch den marschigen Boden um die Quelle herum finden konnten, ohne in ein Sinkloch zwischen den Schilfgräsern zu fallen. In der kalten Dunkelheit, unter wenigen Sternen und der schwarzen Kurve des Hügels, zogen sie sich aus und wateten in das flache Wasser, wo ihre Füße tief in den samtigen Schlamm einsanken. Die Hexe berührte das Mädchen an der Hand und sprach die Worte: »Ich nehme deinen Namen, Kind. Du bist kein Kind mehr. Du hast keinen Namen.« Es war vollkommen still. Flüsternd sagte die Hexe: »Frau, nimm deinen Namen. Du bist Irian.« Sie verweilten noch einen Moment in der Stille; dann wehte der Nachtwind über ihre Schultern, sie wateten erschauernd hinaus, trockneten sich ab, so gut sie konnten, stolperten barfuß und kläglich durch das scharfkantige Schilfgras und das Wurzelgeflecht und gelangten wieder zum Weg zurück. Und dort sagte Drachenkind in einem abgehackten, wütenden Flüstern: »Wie konntest du mir diesen Namen geben!« Die Hexe sagte nichts. »Er ist nicht richtig. Das ist nicht mein wahrer Name! Ich dachte, mein Name würde bewirken, daß ich ich bin. Aber der macht es nur noch schlimmer. Du hast dich geirrt. Du bist nur eine Hexe. Du hast dich geirrt. Das ist sein Name. Er kann ihn haben. Er ist so stolz darauf, auf sein dummes Gut, seinen dummen Großvater. Ich will ihn nicht. Ich nehme ihn nicht. Er ist nicht ich. Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin. Aber ich bin nicht Irian!« Sie verstummte unvermittelt, als sie den Namen ausgesprochen hatte., Die Hexe sagte immer noch nichts. Sie schritten nebeneinander in der Dunkelheit dahin. Schließlich sagte Rose mit beschwichtigender, ängstlicher Stimme: »Er kam mir so –« »Wenn du ihn jemals jemandem sagst, töte ich dich«, sagte Drachenkind. Daraufhin blieb die Hexe stehen. Sie fauchte wie eine Katze. »Jemand sagen?« Drachenkind blieb ebenfalls stehen. »Tut mir leid«, sagte sie nach einem Moment. »Aber ich komme mir vor – ich komme mir vor, als hättest du mich betrogen.« »Ich habe deinen wahren Namen ausgesprochen. Er ist nicht das, was ich erwartet hatte. Und mir ist nicht wohl dabei. Als hätte ich etwas unvollendet gelassen. Aber es ist dein Name. Wenn er dich verrät, dann ist das seine Wahrheit.« Rose zögerte und fuhr dann kühl, aber nicht mehr so wütend fort: »Wenn du die Macht willst, mich zu verraten, Irian, die gebe ich dir. Mein Name ist Etaudis.« Der Wind war wieder aufgekommen. Sie erschauerten beide und klapperten mit den Zähnen. Sie standen einander auf dem schwarzen Weg von Angesicht zu Angesicht gegenüber und konnten doch kaum erkennen, wo die andere war. Drachenkind streckte tastend die Hand aus und ergriff die der Hexe. Sie legten die Arme zu einer heftigen, langen Umarmung umeinander. Dann eilten sie weiter, die Hexe zu ihrer Hütte am Dorfrand, die Erbin von Iria den Hügel hinauf zu dem verfallenen Haus, wo alle Hunde, die sie ohne viel Aufhebens hatten gehen lassen, sie mit einem derartigen Lärm und Aufruhr von Bellen empfingen, daß im Umkreis von einer halben Meile alle davon wach wurden, außer dem Hausherrn, der besinnungslos betrunken vor seinem kalten Kamin lag. 2. Elfenbein Birke, der Herr von Iria von Westteich, besaß das alte Haus nicht, aber ihm gehörte das zentral gelegene fruchtbarste Land der alten, Domäne. Sein Vater, der sich mehr für Weingärten und Haine interessierte als für Zwistigkeiten mit seinen Verwandten, hatte Birke ein florierendes Unternehmen hinterlassen. Birke hatte Männer eingestellt, die sich um Farm, Weinberge, Böttcherei und Fahrlohn und alles kümmerten, während er seinen Reichtum genoß. Er heiratete die schüchterne Tochter des jüngeren Bruders des Lord von Wegfürde und erfreute sich maßlos an dem Gedanken, daß seine Töchter von adligem Geblüt waren. Zu der Zeit war es der letzte Schrei unter Adligen, einen Magier zu beschäftigen, einen echten Magier mit Stab und grauem Mantel, der auf der Insel der Weisen ausgebildet worden war, und so holte sich der Herr von Iria von Westteich einen Magier von Roke. Es überraschte ihn, wie leicht man einen bekommen konnte, wenn man den Preis bezahlte. Der junge Mann, der Elfenbein hieß, hatte noch gar keinen Stab und Mantel; er erklärte, daß er zum Magier gemacht werden würde, wenn er nach Roke zurückkehrte. Die Meister hätten ihn in die Welt hinausgeschickt, um Erfahrungen zu sammeln, denn kein Schulunterricht kann einem Mann die Erfahrung vermitteln, die er braucht, um ein Magier zu sein. Das quittierte Birke mit einem zweifelnden Blick, aber Elfenbein erklärte ihm, daß ihm während seiner Ausbildung auf Roke jede Form von Magie beigebracht worden war, die in Iria von Westteich auf Weg gebraucht werden konnte. Um das zu beweisen, ließ er es so aussehen, als würde ein Rudel Wild durch das Eßzimmer laufen, gefolgt von einer Schar Schwäne, die auf wundersame Weise zur Südwand hereingeschwebt kamen und durch die Nordwand verschwanden; und zuletzt sprudelte ein Springbrunnen in einem silbernen Becken mitten auf dem Tisch. Und als der Hausherr und seine Familie zaghaft dem Beispiel des Magiers folgten und ihre Tassen daran füllten und das Wasser kosteten, schmeckte es lieblich wie goldener Wein. »Wein von den Andraden«, sagte der junge Mann mit einem bescheidenen, höflichen Lächeln. Inzwischen waren Frau und Töchter rundum überzeugt. Und Birke dachte, daß der junge Mann sein Geld wert war, auch wenn, er insgeheim den trockenen roten Fanian seines eigenen Weinbergs bevorzugte, der einen betrunken machte, wenn man genug davon trank, wohingegen dieses gelbe Zeug nur Honigwasser war. Wenn der junge Magier Erfahrung suchte, bekam er nicht viel geboten in Westteich. Wann immer Birke Gäste aus Kembermünde oder von den umliegenden Domänen hatte, hatten Wild, Schwäne und der Springbrunnen goldenen Weins ihren Auftritt. An einem warmen Frühlingsabend brachte er auch ein sehr hübsches Feuerwerk zustande. Aber wenn die Aufseher der Haine und Weinberge zum Hausherrn kamen und fragten, ob der Magier dieses Jahr einen Wachstumszauber über die Birnen sprechen oder die Schwarzfäule von den Fanianreben am Südhang hexen konnte, sagte Birke: »Ein Magier von Roke läßt sich nicht zu so etwas herab. Sagt dem Dorfzauberer, daß er sich seinen Lebensunterhalt verdienen soll!« Und als die jüngste Tochter einen schlimmen Husten bekam, wagte Birkes Frau nicht, den weisen jungen Mann damit zu behelligen, sondern schickte bescheiden nach Rose aus Alt-Iria und bat sie, zur Hintertür hereinzukommen und vielleicht einen Breiumschlag zu machen oder einen Gesang anzustimmen, der das Mädchen wieder gesund machte. Elfenbein merkte gar nichts von der Krankheit des Mädchens noch von den Birnbäumen oder Reben. Er blieb für sich, wie es einem Mann von Fertigkeit und Ausbildung geziemte. Er verbrachte seine Tage damit, auf dem hübschen schwarzen Pferd über Land zu reiten, das ihm sein Arbeitgeber überlassen hatte, nachdem er ihm klargemacht hatte, daß er nicht von Roke hierhergekommen war, um zu Fuß durch Schlamm und Staub von Feldwegen zu stapfen. Bei seinen Ausritten kam er häufig an einem alten Haus unter großen Eichen auf einem Hügel vorbei. Wenn er vom Weg zum Dorf abwich und den Hügel hinaufritt, kam eine Meute abgemagerter, kläffender Hunde bellend auf ihn zugerannt. Die Stute hatte Angst vor Hunden und würde wahrscheinlich scheuen und ausschlagen, daher hielt er Abstand. Aber er hatte einen Blick, für Schönheit und sah das alte Haus gern an, das verträumt im gesprenkelten Licht der Frühsommernachmittage stand. Er fragte Birke nach dem Haus. »Das ist Iria«, sagte Birke. »Alt-Iria, wollte ich sagen. Rechtmäßig gehört das Haus mir. Aber nach hundert Jahren Fehden und Streit deswegen verzichtete mein Großvater darauf, um den Streit beizulegen. Obwohl der Hausherr dort immer noch mit mir streiten würde, wenn er nicht regelmäßig zu betrunken zum Reden wäre. Hab den Alten seit Jahren nicht gesehen. Ich glaube, er hatte eine Tochter.« »Sie heißt Drachenkind und macht die ganze Arbeit, und ich hab sie letztes Jahr einmal gesehen. Sie ist groß und so schön wie ein Baum in der Blüte«, sagte Rose, die jüngste Tochter, die emsig damit beschäftigt war, ein ganzes Leben aufmerksamer Beobachtungen in die vierzehn Jahre zu zwängen, die sie dafür haben sollte. Sie verstummte hustend. Ihre Mutter warf dem Magier einen ängstlichen, flehenden Blick zu. Gewiß würde er das Husten doch diesmal hören? Er lächelte der jungen Rose zu, und ihrer Mutter wurde leicht ums Herz. Gewiß würde er nicht so lächeln, wenn Roses Husten etwas Ernstes wäre. »Hat nichts mit uns zu tun, diese Bande in dem alten Haus«, sagte Birke ungehalten. Der taktvolle Elfenbein stellte keine weiteren Fragen. Aber er wollte das Mädchen sehen, das schön wie ein Baum in der Blüte war. Er ritt regelmäßig an Alt-Iria vorbei. Er versuchte, in dem Dorf am Fuß des Hügels Rast zu machen und Fragen zu stellen, aber man konnte nirgendwo Rast machen, und es gab niemanden, der Fragen beantwortete. Eine schielende Hexe warf einen Blick auf ihn und verschwand hastig in ihrer Hütte. Wenn er zum Haus hinaufgehen würde, mußte er sich mit der Meute von Höllenhunden und wahrscheinlich mit einem betrunkenen alten Mann herumschlagen. Aber vielleicht lohnte sich das Risiko, dachte er; das öde Leben in Westteich langweilte ihn zu Tode, und er scheute sich nie, ein Risiko einzugehen. Er ritt den Hügel hinauf, bis die Hunde wie toll bellend um ihn herumsprangen und nach den Beinen der Stute schnappten. Sie bockte und schlug mit den Hufen nach den, Hunden aus, und er hinderte sie nur durch einen Bleibezauber und die Kraft seiner Arme daran, einfach durchzugehen. Inzwischen sprangen die Hunde hoch und schnappten nach seinen Beinen, und er wollte der Mähre gerade ihren Willen lassen, als jemand zwischen die Hunde trat, ihnen Flüche entgegenschleuderte und sie mit einem Gürtel zurückjagte. Als er die schäumende, keuchende Stute dazu gebracht hatte, still stehenzubleiben, sah er das Mädchen, das so schön wie ein Baum in der Blüte war. Sie war sehr groß und sehr verschwitzt, hatte große Hände und Füße und Augen und Mund und Nase und einen dichten, staubigen Haarschopf. Sie schrie die winselnden, geduckten Hunde an: »Runter! Zurück zum Haus, ihr Aas, ihr elenden Hurensöhne!« Elfenbein klopfte mit der Hand an sein rechtes Bein. Ein Hundezahn hatte ihm die Reithose an der Wade aufgerissen, ein dünnes Rinnsal Blut kam heraus. »Ist sie verletzt?« sagte die Frau. »Oh, das verräterische Gezücht!« Sie strich über das rechte Vorderbein der Mähre. Ihre Hände wurden naß von blutigem Pferdeschweiß. »Sachte, sachte«, sagte sie. »Mein tapferes Mädchen, mein tapferes Herz.« Die Mähre senkte den Kopf und zitterte vor Erleichterung. »Warum hast du sie mitten zwischen den Hunden stehen lassen?« wollte die Frau wütend wissen. Sie kniete neben dem Bein des Pferdes und schaute zu Elfenbein auf, der vom Rücken seines Pferdes zu ihr hinabsah; und doch kam er sich klein vor, kam er sich winzig vor. Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Ich bringe sie hinauf«, sagte das Mädchen, stand auf und streckte die Hand nach dem Zügel aus. Elfenbein wurde klar, daß er jetzt absteigen sollte. Er tat es mit den Worten: »Ist es sehr schlimm?« und begutachtete das Bein des Pferds, sah aber nur blutigen Schaum. »Komm mit, Liebes«, sagte die junge Frau, nicht zu ihm. Die Mähre folgte ihr zutraulich. Sie folgten dem unebenen Feldweg um den Hügel herum zu einem alten Stall aus Stein und Ziegeln, ohne Pferde, nur von den Schwalben bewohnt, die über den, Dächern kreisten und zwitschernd Klatsch und Tratsch austauschten. »Halt sie still«, sagte die junge Frau und ließ ihn die Zügel der Mähre an diesem verlassenen Ort halten. Nach einiger Zeit kehrte sie zurück, schleppte einen schweren Eimer und machte sich daran, das Bein der Mähre mit dem Schwamm zu säubern. »Nimm ihr den Sattel ab«, sagte sie, und in ihrem Tonfall schwang das unausgesprochene, ungeduldige »Du Narr!« mit. Elfenbein gehorchte, halb verärgert über diese unhöfliche Riesin und halb fasziniert. Sie erinnerte ihn ganz und gar nicht an einen Baum in der Blüte, aber schön war sie tatsächlich, auf eine großartige, heftige Weise. Die Mähre fügte sich ihr rückhaltlos. Wenn sie sagte: »Beweg das Bein«, dann bewegte die Mähre das Bein. Die Frau rieb sie am ganzen Körper ab, legte ihr die Satteldecke wieder auf und vergewisserte sich, daß sie in der Sonne stand. »Sie wird wieder«, sagte die junge Frau. »Sie hat eine Rißwunde, aber wenn Sie sie täglich mehrmals mit warmem Salzwasser auswaschen, wird sie sauber heilen. Es tut mir leid.« Das letzte sagte sie aufrichtig, wenn auch zähneknirschend, als könnte sie immer noch nicht fassen, daß er seine Stute einfach so stehenlassen konnte, während sie angegriffen wurde, und sah ihn zum erstenmal direkt an. Ihre Augen waren klar und orange- braun, wie dunkler Topas oder Bernstein. Es waren seltsame Augen, auf gleicher Höhe wie seine. »Mir tut es auch leid«, sagte er und versuchte, sorglos und beiläufig zu sprechen. »Das ist das Pferd Irias von Westteich. Demnach sind Sie der Magier?« Er verbeugte sich. »Elfenbein, vom Großen Hafen von Havnor, zu Ihren Diensten. Darf ich?« Sie unterbrach ihn. »Ich dachte, Sie kämen von Roke.« »So ist es.« Er hatte seine Fassung wiedererlangt. Sie sah ihn mit diesen großen Augen an, die so undeutbar wie die eines Schafes waren, fand er. Dann platzte sie heraus: »Haben Sie dort gelebt? Dort studiert? Kennen Sie den Erzmagier?«, »Ja«, sagte er lächelnd. Dann zuckte er zusammen und preßte einen Moment die Hand ans Schienbein. »Sind Sie auch verletzt?« »Es ist nichts«, sagte er. Tatsächlich hatte die Verletzung, sehr zu seinem Verdruß, schon aufgehört zu bluten. Die Frau sah ihm wieder ins Gesicht. »Wie ist .wie ist es so .auf Roke?« Elfenbein ging, nur leicht hinkend, zu einem alten Aufsteigeblock in der Nähe und setzte sich darauf. Er streckte das Bein aus, rieb sich die verletzte Stelle und sah zu der Frau auf. »Es wird lange dauern, Ihnen zu erzählen, wie Roke ist«, sagte er. »Aber es wäre mir ein Vergnügen.« »Der Mann ist ein Magier, jedenfalls fast«, sagte Rose die Hexe, »ein Magier von Roke! Du darfst ihm keine Fragen stellen!« Sie war mehr als nur erschüttert, sie war verängstigt. »Es stört ihn nicht«, versicherte Drachenkind ihr. »Er antwortet nur so gut wie nie.« »Natürlich nicht!« »Warum natürlich nicht?« »Weil er ein Magier ist! Weil du eine Frau bist, ohne Kunstfertigkeit, ohne Wissen, ohne Ausbildung!« »Du hättest mir etwas beibringen können! Du wolltest nur nie!« Rose tat alles, was sie gelehrt hatte oder hätte lehren können, mit einer Handbewegung ab. »Nun, dann muß ich eben von ihm lernen«, sagte Drachenkind. »Magier unterrichten keine Frauen. Du bist von Sinnen.« »Du und Besen, ihr tauscht Zaubersprüche aus.« »Besen ist ein Dorfzauberer. Dieser Mann ist ein weiser Mann. Er hat die Hohen Künste im Großhaus auf Roke gelernt!« »Er hat mir gesagt, wie es ist«, sagte Drachenkind. »Man geht durch die Stadt Thwil. Eine Tür befindet sich an der Straße, aber die Tür ist verschlossen. Sie sieht aus wie eine gewöhnliche Tür.«, Die Hexe lauschte und war außerstande, der Verlockung offenbarter Geheimnisse und der ansteckenden Wirkung leidenschaftlichen Verlangens zu widerstehen. »Ein Mann kommt, wenn man klopft, der wie ein ganz normaler Mann aussieht. Und man muß eine Prüfung bei ihm bestehen. Man muß ein bestimmtes Wort sagen, ein Kennwort, ehe er einen einläßt. Wenn man es nicht weiß, kommt man nie hinein. Aber wenn er einen hineinläßt, dann sieht man, daß die Tür von innen ganz anders ist – sie besteht aus Horn, in das ein Baum geschnitzt wurde, und der Rahmen ist aus einem Zahn gemacht, dem Zahn eines Drachen, der lange, lange vor Erreth-Akbe und vor Morred lebte, bevor es Menschen auf Erdsee gab. Am Anfang gab es nur Drachen. Sie haben den Zahn auf dem Berg Onn in Havnor gefunden, im Mittelpunkt der Welt. Und die Blätter des Baums sind so dünn geschnitzt, daß das Licht durch sie scheint, aber die Tür ist so stark, daß kein Zauberspruch sie je öffnen könnte, wenn der Türhüter sie geschlossen hat. Und dann führt einen der Türhüter einen Flur entlang, und noch einen Flur, bis man ratlos ist und sich verirrt hat, und plötzlich kommt man unter freiem Himmel heraus. Im Hof des Springbrunnens, im tiefsten Inneren des Großen Hauses. Und dort ist der Erzmagier, wenn er da ist ..« »Fahr fort«, murmelte die Hexe. »Das ist alles, was er mir bis jetzt erzählt hat«, sagte Drachenkind, die zurückkehrte zu dem milden, wolkenverhangenen Frühlingstag und der unendlich vertrauten Dorfstraße, Roses Vorgarten, ihren eigenen sieben Milchschafen, die auf dem Berg Iria grasten, den bronzefarbenen Kronen der Eichen. »Er ist sehr vorsichtig, wenn er von den Meistern spricht.« Rose nickte. »Aber er hat mir von einigen der Schüler erzählt.« »Ich schätze, das kann nicht schaden.« »Ich weiß nicht«, sagte Drachenkind. »Es ist wunderbar, etwas über das Großhaus zu hören, aber ich dachte, die Leute dort, wären – ich weiß auch nicht. Natürlich sind sie fast alle noch Knaben, wenn sie dorthin gehen. Aber ich dachte mir, sie wären ..« Sie sah mit besorgter Miene zu den Schafen auf dem Hügel. »Manche von ihnen sind wirklich schlecht und dumm«, sagte sie mit leiser Stimme. »Sie besuchen die Schule, weil sie reich sind. Und sie studieren nur dort, um noch reicher zu werden. Oder um Macht zu erlangen.« »Aber natürlich«, sagte Rose, »deshalb sind sie doch dort!« »Aber Macht – von der du mir erzählst hast – ist nicht dasselbe, wie Leute tun lassen, was du willst, oder dich bezahlen lassen ..« »Nicht?« »Nein!« »Wenn ein Wort heilen kann, kann ein Wort auch verletzen«, sagte die Hexe. »Wenn eine Hand töten kann, dann kann eine Hand auch gesund machen. Ein Wagen, der nur in eine Richtung fährt, ist ein armseliger Wagen.« »Aber auf Roke lernen sie, die Macht zum Guten einzusetzen, nicht zum Schaden oder um sich zu bereichern.« »Alles geschieht irgendwie, um sich zu bereichern, würde ich sagen. Die Menschen müssen leben. Aber was weiß ich schon? Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, daß ich das mache, wovon ich etwas verstehe. Aber ich spiele nicht mit den großen Künsten herum, den gefährlichen Mächten, zum Beispiel, die Toten zu rufen«, und Rose machte das Handzeichen, um die Gefahr abzuwenden, die sie angesprochen hatte. »Alles ist gefährlich«, sagte Drachenkind und sah nun durch die Schafe, die Hügel und die Bäume hindurch in ruhige Tiefen, in eine farblose, weite Leere, die dem klaren Himmel vor Sonnenaufgang glich. Rose beobachtete sie. Sie wußte, sie hatte keine Ahnung, wer Irian war oder was sie sein könnte. Eine große, kräftige, linkische, unwissende, unschuldige, zornige junge Frau, ja. Aber seit sie ein Kind war, hatte Rose etwas in ihr gespürt, etwas jenseits dessen, was sie war. Und wenn Irian so wie jetzt aus der Welt hinaus, schaute, dann schien sie jenen Ort oder jene Zeit oder jenes Wesen jenseits ihrer selbst zu betreten, das sich Roses Kenntnis vollkommen entzog. Dann fürchtete Rose sie und fürchtete um sie. »Du solltest aufpassen«, sagte die Hexe grimmig. »Alles ist gefährlich, das stimmt, am allermeisten aber, sich mit Magiern einzulassen.« Aus Liebe, Respekt und Vertrauen hätte Drachenkind niemals eine Warnung von Rose in den Wind geschlagen; aber sie war unfähig, sich Elfenbein als gefährlich vorzustellen. Sie verstand ihn nicht, aber an die Vorstellung, ihn zu fürchten, ihn persönlich, konnte sie sich nicht gewöhnen. Sie versuchte, respektvoll zu sein, aber das war unmöglich. Sie fand ihn klug und recht hübsch, dachte aber nicht oft an ihn, lediglich daran, was er ihr alles erzählen konnte. Er wußte, was sie wissen wollte, und erzählte es ihr Stück für Stück, nur war es dann eigentlich doch nicht das, was sie wissen wollte, aber trotzdem wollte sie mehr erfahren. Er war geduldig mit ihr, und sie war ihm dankbar für seine Geduld, weil sie wußte, daß er viel schneller war als sie. Manchmal lächelte er über ihre Unwissenheit, aber er wurde niemals höhnisch oder machte sich über sie lustig. Er beantwortete Fragen gern mit Gegenfragen, genau wie die Hexe; aber die Antworten auf Roses Fragen waren stets etwas, das sie immer gewußt hatte, während die Antworten auf seine Fragen unvorstellbar und erschreckend waren, unerwünscht, manchmal schmerzlich, auf jeden Fall aber angetan, ihre sämtlichen Überzeugungen ins Wanken zu bringen. Wenn sie sich Tag für Tag im alten Stall von Iria trafen, was ihnen zur Gewohnheit geworden war, stellte sie ihm Fragen, und er erzählte ihr mehr, wenn auch widerwillig und stets nur zum Teil; er schützte seine Meister, dachte sie, und versuchte, das strahlende Bild von Roke aufrechtzuerhalten, bis er eines Tages ihrer Beharrlichkeit nachgab und offen sprach. »Es gibt gute Männer dort«, sagte er. »Der Erzmagier war bestimmt groß und weise. Aber er ist fort. Und die Meister .., Manche halten sich abseits, folgen geheimem Wissen, suchen immer mehr Formen, immer mehr Namen, nutzen ihr Wissen aber in keiner Weise. Andere verbergen ihren Ehrgeiz unter dem grauen Mantel der Weisheit. Roke ist nicht länger der Ort der Macht auf Erdsee. Die ist auf das Gericht in Havnor übergegangen. Roke lebt von seiner großen Vergangenheit und wird durch tausend Zaubersprüche vor der Gegenwart geschützt. Und was ist hinter diesen Mauern der Zaubersprüche? Wetteifernde Ambitionen, Angst vor allem Neuen, Angst vor jungen Männern, die die Macht der alten in Frage stellen. Und im Zentrum – nichts. Ein leerer Innenhof. Der Erzmagier wird nie zurückkehren.« »Woher weißt du das?« flüsterte sie. Er sah sie streng an. »Der Drache hat ihn fortgebracht.« »Du hast es gesehen? Das hast du gesehen?« Sie ballte die Fäuste, als sie sich diesen Flug vorstellte. Nach langer Zeit kehrte sie zum Sonnenlicht und dem Stall und ihren Gedanken und Rätseln zurück. »Aber auch wenn er fort ist«, sagte sie, »sind doch gewiß einige der Meister wahrhaft weise?« Als er aufschaute und antwortete, geschah es mit der Andeutung eines melancholischen Lächelns. »Weißt du, bei Licht betrachtet laufen alle Geheimnisse und die Weisheit der Meister auf nicht besonders viel hinaus. Tricks des Berufs – wunderbare Illusionen. Aber die Leute wollen das nicht glauben. Sie wollen die Geheimnisse, die Illusionen. Wer kann es ihnen verdenken? Im Leben der meisten gibt es so wenig, das schön oder wertvoll ist.« Als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, hob er ein Stück Stein von dem gebrochenen Pflaster auf und warf es in die Luft, und als er weitersprach, flatterte es mit zarten blauen Schwingen um ihre Köpfe, ein Schmetterling. Er streckte den Finger aus, und der Schmetterling landete darauf. Er schüttelte den Finger, worauf der Schmetterling zu Boden fiel, ein Stück Stein., »In meinem Leben gibt es nicht viel, das viel wert ist«, sagte sie und senkte den Blick auf das Pflaster. »Ich weiß nur, wie man die Farm führt, und versuche, aufrecht zu sein und die Wahrheit zu sagen. Aber wenn ich glaubte, daß alles nur Tricks und Lügen sind, selbst auf Roke, würde ich diese Männer dafür hassen, daß sie mich zum Narren halten, uns alle zum Narren halten. Es können keine Lügen sein. Nicht nur. Der Erzmagier ist zu den Eisgrauen Männern ins Labyrinth hinabgestiegen und mit dem Ring des Friedens zurückgekehrt. Er hat mit dem jungen König das Land des Todes besucht und den Spinnenmagier besiegt und ist zurückgekehrt. Das wissen wir durch das Wort des Königs selbst. Selbst hierher sind die Harfner gekommen, um dieses Lied zu singen, und ein Geschichtenerzähler kam, um davon zu berichten ..« Elfenbein nickte ernst. »Aber der Erzmagier verlor seine ganze Macht im Land des Todes. Vielleicht wurde da die ganze Magie geschwächt.« »Die Zaubersprüche von Rose funktionieren wie eh und je«, sagte sie verstockt. Elfenbein lächelte. Er sagte nichts, aber sie wußte, wie unbedeutend ihm das Wirken einer Dorfhexe vorkommen mußte, wo er doch große Taten und Mächte gesehen hatte. Sie seufzte und sagte aus tiefstem Herzen: »Ach, wenn ich doch nur keine Frau wäre!« Er lächelte wieder. »Du bist eine wunderschöne Frau«, sagte er, aber schlicht, nicht auf die schmeichelhafte Weise, die er anfangs ihr gegenüber angewandt hatte, bevor sie ihm klarmachte, wie zuwider ihr das war. »Warum möchtest du ein Mann sein?« »Damit ich nach Roke gehen könnte! Um zu sehen, zu lernen! Warum, warum können nur Männer dorthin?« »So wurde es vor Jahrhunderten vom ersten Erzmagier bestimmt«, sagte Elfenbein. »Aber .das habe ich mich auch schon gefragt.« »Wirklich?«, »Oft. Man sieht nur Knaben und Männer, tagein, tagaus, im Großhaus und auf dem gesamten Gelände der Schule. Man weiß, den Frauen aus der Stadt ist durch Bannspruch verboten, auch nur einen Fuß auf die Felder um den Kogel von Roke zu setzen. Einmal in vielen Jahren gestattet man vielleicht einer großen Dame, kurz einen der äußeren Höfe zu betreten .Warum das so ist? Sind alle Frauen unfähig zu verstehen? Oder fürchten die Meister sie, fürchten sie, korrumpiert zu werden – nein, aber sie fürchten, Frauen zuzulassen könnte das Gesetz ändern, an das sie sich klammern – die .Reinheit dieses Gesetzes ..« »Frauen können so gut wie Männer keusch leben«, sagte Drachenkind unverblümt. Sie wußte, daß sie unverblümt und grob war, wo er feinfühlig und hintergründig war, aber sie wußte nicht, wie sie sonst hätte sein sollen. »Natürlich«, sagte er, und sein Lächeln wurde strahlend. »Aber Hexen sind nicht immer keusch, oder? .Vielleicht haben die Meister davor Angst. Vielleicht ist der Zölibat nicht so zwingend notwendig, wie das Gesetz von Roke besagt. Vielleicht ist es kein Mittel, die Macht rein zu bewahren, sondern nur, die Macht für sich selbst zu bewahren. Frauen auszuschließen, alle auszuschließen, die nicht bereit sind, sich zu Eunuchen zu machen, um diese spezielle Form von Macht zu erlangen .Wer weiß? Eine Magierin! Das würde alles verändern, sämtliche Regeln!« Sie konnte sehen, daß sein Geist vor ihrem her tanzte, Einfälle aufgriff und damit spielte, sie verwandelte, so wie er Steine in Schmetterlinge verwandelte. Sie konnte nicht mit ihm tanzen, sie konnte nicht mit ihm spielen, aber sie sah ihn staunend an. »Du könntest nach Roke gehen«, sagte er mit vor Aufregung, Schalkhaftigkeit, Aufmüpfigkeit leuchtenden Augen. Als er ihr fast flehentliches, ungläubiges Schweigen bemerkte, beharrte er: »Das könntest du. Du bist eine Frau, aber es gibt Mittel und Wege, dein Äußeres zu verändern. Du hast das Herz, die Willenskraft, den Mut eines Mannes. Du könntest das Großhaus betreten. Ich weiß es.«, »Und was würde ich dort tun?« »Was alle Schüler tun. Allein in einer Zelle aus Stein leben und lernen, weise zu sein! Es ist vielleicht nicht das, was du dir erträumt hast, aber auch das könntest du lernen.« »Könnte ich nicht. Sie würden es merken. Ich könnte nicht mal hinein. Du hast gesagt, da ist der Türhüter. Ich weiß nicht, welches Wort ich ihm sagen muß.« »Das Kennwort, ja. Aber das könnte ich dir beibringen.« »Das kannst du? Ist das denn erlaubt?« »Mir ist einerlei, was ›erlaubt‹ ist«, sagte er mit einem Stirnrunzeln, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. »Der Erzmagier selbst hat gesagt: Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden. Ungerechtigkeit macht die Regeln, und Mut bricht sie. Ich habe den Mut, wenn du ihn auch hast!« Sie sah ihn an. Sie brachte kein Wort heraus. Sie stand auf und ging nach einem Moment aus dem Stall, quer über den Hügel, auf dem Weg, der auf halber Höhe um ihn herum führte. Einer der Hunde, ihr Liebling, ein großer, häßlicher Köter mit breitem Schädel, folgte ihr. Auf dem Hang über der Quelle im Marschland, wo Rose ihr vor zehn Jahren ihren Namen gegeben hatte, hielt sie an. Sie stand dort; der Hund setzte sich neben sie und sah ihr ins Gesicht. Kein klarer Gedanke ging ihr durch den Kopf, aber dieselben Worte kamen immer wieder: Ich könnte nach Roke gehen und herausfinden, wer ich bin. Sie schaute über die Schilfgraswiesen und Weidenbäume und ferneren Hügel nach Westen. Der gesamte westliche Himmel war leer, klar. Sie stand still, und ihre Seele schien in diesen Himmel einzugehen und fort zu sein, fort von ihr. Ein kaum hörbares Geräusch ertönte, das leise Klipp-klapp der Hufe des Pferdes, das auf dem Weg näher kam. Dann kehrte Drachenkind in sich selbst zurück, rief nach Elfenbein und rannte den Hügel hinab zu ihm. »Ich werde gehen«, sagte sie. Er hatte ein derartiges Abenteuer weder geplant noch beabsichtigt, aber so verrückt es war, es gefiel ihm um so besser,, je länger er darüber nachdachte. Bei der Aussicht, den langen, grauen Winter in Westteich zu verbringen, wurde ihm ganz schwermütig ums Herz. Hier gab es nichts für ihn, außer dem Mädchen Drachenkind, das sein ganzes Denken beherrschte. Ihre enorme, unschuldige Kraft hatte ihn bereits vollkommen unterworfen, aber er tat, was ihr gefiel, damit sie tat, was ihm gefiel, und er fand, daß sich dieses Spiel lohnte. Wenn sie mit ihm fortging, war es so gut wie gewonnen. Und was den Spaß daran betraf, das Vorhaben, sie tatsächlich als Mann verkleidet in die Schule von Roke einzuschmuggeln, so bestand kaum eine Chance, es durchzuziehen, aber es gefiel ihm als Geste der Respektlosigkeit im Angesicht von Pietät und Pomp der Meister und ihrer Schmeichler. Und sollte es irgendwie doch gelingen, sollte er tatsächlich eine Frau durch diese Tür bringen können, und sei es nur für einen Augenblick, was wäre das für eine süße Rache! Geld war ein Problem. Das Mädchen glaubte natürlich, daß er als ein großer Magier nur mit den Fingern zu schnippen brauchte, um sie mit einem verzauberten Boot, das mit verzaubertem Wind reiste, über das Meer zu bringen. Aber als er ihr sagte, daß sie eine Schiffspassage buchen müßten, antwortete sie nur: »Ich habe das Käsegeld.« Er schätzte ihre derben Aussprüche. Manchmal machte sie ihm angst, was ihm nicht gefiel. In seinen Träumen von ihr gab sie sich ihm niemals hin, sondern er selbst ergab sich einer wilden, verzehrenden Süße, sank in eine vernichtende Umarmung; Träume, in denen sie etwas Unbegreifliches war und er gar nichts. Er erwachte erschüttert und beschämt aus diesen Träumen. Bei Tage, wenn er ihre großen, schmutzigen Hände sah, wenn sie redete wie ein Bauerntölpel, ein Einfaltspinsel, fühlte er sich wieder überlegen. Er wünschte nur, es gäbe jemanden, vor dem er ihre Aussprüche wiederholen könnte, einem seiner Freunde in dem Großen Hafen, der sie amüsant finden würde. »Ich habe das Käsegeld«, wiederholte er bei sich,, als er nach Westteich zurückritt, und lachte. »Das habe ich in der Tat«, sagte er lauf. Die schwarze Mähre zuckte mit den Ohren. Er erzählte Birke, er habe eine Sendung von seinem Lehrer auf Roke erhalten, dem Meister Hand, und müsse sofort zurückkehren, in welcher Angelegenheit, könne er natürlich nicht sagen, aber wenn er erst einmal dort sei, sollte es nicht allzu lange dauern; einen halben Monat für die Hinfahrt, einen halben für die Rückreise; spätestens vor den Brachen würde er wieder zurück sein. Er müsse Meister Birke bitten, ihm einen Vorschuß auf seinen Lohn zu geben, damit er Schiffspassage und Unterkunft bezahlen könne, denn ein Magier von Roke solle niemals ausnutzen, daß die Leute bereit wären, ihm alles zu geben, was er brauchte, sondern bezahlen wie ein gewöhnlicher Mann. Da Birke dem zustimmte, mußte er Elfenbein eine Börse für seine Reise geben. Es war das erste richtige Geld, das dieser seit Jahren in der Tasche hatte: zehn Elfenbeinscheiben mit dem Otter von Schelieth auf einer und der Rune des Friedens auf der anderen Seite, zu Ehren von König Lebannen. »Hallo, kleine Namensvettern«, sagte er zu ihnen, als er allein mit ihnen war. »Ihr und das Käsegeld werdet euch prächtig miteinander verstehen.« Er erzählte Drachenkind recht wenig von seinen Plänen, hauptsächlich weil er kaum welche hatte und mehr dem Zufall und seinen Geistesgaben vertraute, die ihn selten im Stich ließen, wenn er eine faire Chance erhielt, sie einzusetzen. Das Mädchen stellte fast keine Fragen. »Werde ich den ganzen Weg als Mann reisen?« war eine. »Ja«, sagte er, »aber nur verkleidet. Ich werde den Ähnlichkeitszauber erst über dich sprechen, wenn wir auf der Insel Roke eingetroffen sind.« »Ich dachte, es wäre ein Zauber der Verwandlung«, sagte sie. »Das wäre unklug«, entgegnete er und ahmte den salbungsvollen Tonfall des Meisters Verwandter ausgezeichnet nach. »Sollte es erforderlich sein, werde ich es natürlich tun. Aber du wirst feststellen, daß Magier höchst sparsam mit den großen Zaubersprüchen umgehen. Und das mit gutem Grund.«, »Das Gleichgewicht«, sagte sie und akzeptierte seine Worte im einfachsten Sinne, wie immer. »Und vielleicht, weil diese Künste nicht mehr die Macht haben, die sie einst hatten«, sagte er. Er wußte nicht, warum er ihr Vertrauen in die Zauberei erschüttern wollte; vielleicht, weil jede Abschwächung ihrer Stärke, ihrer Ganzheit, ein Gewinn für ihn war. Es hatte damit angefangen, daß er versucht hatte, sie in sein Bett zu locken, ein Spiel, das er nur zu gern spielte. Das Spiel war zu einer Art von Wettbewerb geworden, mit dem er nicht gerechnet hatte, den er aber auch nicht beenden konnte. Er war jetzt fest entschlossen, sie nicht nur zu erobern, sondern zu besiegen. Er konnte nicht zulassen, daß sie ihn besiegte. Er mußte ihr und sich selbst beweisen, daß seine Träume ohne Bedeutung waren. Ziemlich zu Anfang, als er es sattgehabt hatte, gegen ihre massive körperliche Gleichgültigkeit anzugehen, hatte er eine Hexerei zu Hilfe genommen, den Verführungsspruch eines Magiers, dessen er sich schämte, noch während er ihn wob, auch wenn er um seine Wirksamkeit wußte. Er belegte sie damit, als sie, typisch für sie, ein Kuhhalfter flickte. Das Ergebnis war nicht die dahinschmelzende Willigkeit der Mädchen gewesen, bei denen er ihn in Havnor und Thwil angewandt hatte. Drachenkind war nach und nach verschlossen und mürrisch geworden. Sie stellte keine ihrer endlosen Fragen nach Roke mehr und antwortete nicht, als er sie ansprach. Als er sich ihr sehr zaghaft näherte und ihre Hand nahm, wehrte sie ihn mit einem Schlag auf den Kopf ab, von dem ihm ganz schwindlig wurde. Er sah, wie sie ohne ein Wort aufstand und den Stall verließ, und der häßliche Hund, den sie so mochte, trottete hinter ihr her. Der Köter drehte sich zu ihm um und schien zu grinsen. Sie ging den Weg zum alten Haus hinauf. Als seine Ohren nicht mehr klingelten, folgte er ihr und hoffte, daß der Zauber doch wirkte und dies nur ihre besonders derbe Art war, ihn endlich zu ihrem Bett zu führen. Als er sich dem Haus näherte, hörte er Geschirr zerbrechen. Der Vater, der Trunkenbold, kam, verwirrt und ängstlich aus dem Haus, und Drachenkinds Stimme hallte hinter ihm her: »Aus dem Haus, du betrunkener, kriechender Verräter! Du niederträchtiger, schamloser Lüstling!« »Sie hat mir meinen Becher weggenommen«, sagte der Hausherr von Iria zu dem Fremden und winselte wie ein Welpe, während die Hunde an seiner Seite bellten. »Sie hat ihn zerbrochen.« Elfenbein verabschiedete sich. Er kehrte zwei Tage nicht zurück. Am dritten Tag ritt er probehalber an Alt-Iria vorbei, und sie kam zu ihm herunter. »Es tut mir leid, Elfenbein«, sagte sie und sah mit ihren rauchigen orange-braunen Augen zu ihm auf. »Ich weiß nicht, was vorgestern über mich gekommen ist. Ich war wütend. Aber nicht auf dich. Ich bitte um Verzeihung.« Er verzieh ihr gnädig und probierte nie wieder einen Liebeszauber an ihr aus. Bald, dachte er jetzt, würde er keinen mehr brauchen. Er würde wahre Macht über sie haben. Endlich hatte er gesehen, wie er die Macht bekommen konnte. Sie hatte sie ihm in die Hände gegeben. Ihre Stärke und Willenskraft waren enorm, aber glücklicherweise war sie dumm und er nicht. Birke schickte einen Fuhrunternehmer mit sechs Fässern zehn Jahre alten Fanians nach Kembermünde, die der dortige Weinhändler bestellt hatte. Seinen Magier schickte er mit Freuden als Begleitschutz mit, denn der Wein war wertvoll, und auch wenn der junge König sich bemühte, so schnell wie möglich die Ordnung wiederherzustellen, trieben immer noch Banden von Wegelagerern auf den Straßen ihr Unwesen. So verließ Elfenbein Westteich auf einem großen Wagen, der von vier großen Pferden gezogen wurde, die langsam dahintrabten, und ließ die Beine baumeln. Unten am Eselshügel erhob sich eine ungeschlachte Gestalt am Wegesrand und bat den Fuhrunternehmer, sie mitzunehmen. »Ich kenne dich nicht«, sagte der Fuhrunternehmer und hob die Peitsche, um den Fremden zu verscheuchen, aber Elfenbein kam um den Wagen herum und, sagte: »Lassen Sie den Burschen mitfahren, guter Mann. Er wird keinen Schaden anrichten, solange ich bei Ihnen bin.« »Dann behalten Sie ihn im Auge, Meister«, sagte der Fuhrunternehmer. »Das werde ich«, sagte Elfenbein und zwinkerte Drachenkind zu. Sie war durch Schmutz und die alte Kutte eines Feldarbeiters und enge Hosen und einen abscheulichen Filzhut bestens verkleidet und erwiderte sein Zwinkern nicht. Sie spielte ihre Rolle sogar, während sie nebeneinandersaßen und die Beine über die Heckklappe baumeln ließen und sechs große Fässer Wein hinter ihnen rumpelten und der schläfrige Fuhrunternehmer dahinter saß und die verschlafenen sommerlichen Hügel und Felder langsam, langsam vorbeizogen. Elfenbein versuchte, sie zu necken, aber sie schüttelte nur den Kopf. Vielleicht hatte sie jetzt, wo sie ihn in die Tat umsetzten, Angst vor dem verwegenen Plan bekommen. Schwer zu sagen. Sie war ernst und schweigsam. Diese Frau könnte mich sehr langweilen, dachte Elfenbein, wenn ich sie erst einmal unter mir gehabt habe. Dieser Gedanke erregte ihn fast unerträglich, aber als er sie ansah, vergingen ihm solche Gedanken im Angesicht ihrer übermächtigen Präsenz. Es gab keine Gasthäuser an diesem Abschnitt der Straße, die durch das Gebiet führte, das einst zur Domäne Iria gehört hatte. Als die Sonne sich den westlichen Ebenen näherte, machten sie Rast an einem Farmhaus, wo es einen Stall für die Pferde, einen Schuppen für den Wagen und Stroh im Heuschober für die Fuhrleute gab. Der Schober war dunkel und stickig, das Stroh klamm. Elfenbein verspürte nicht das geringste Begehren, obwohl Drachenkind keinen Meter von ihm entfernt lag. Sie hatte den ganzen Tag lang so überzeugend einen Mann gespielt, daß sie sogar ihn halb überzeugt hatte. Vielleicht würde sie die alten Männer doch zum Narren halten! dachte er, grinste bei dem Gedanken und schlief ein. Den ganzen nächsten Tag ging es auf holprigen Wegen weiter, durch ein oder zwei Sommergewitter, bis sie in der Abenddämmerung in Kembermünde eintrafen, einer befestigten,, wohlhabenden Hafenstadt. Sie ließen den Fuhrunternehmer die Geschäfte seines Herrn und Meisters erledigen und suchten ein Gasthaus bei den Docks. Drachenkind betrachtete die Sehenswürdigkeiten der Stadt schweigend, was auf Ehrfurcht oder Mißfallen oder bloße Gleichgültigkeit hindeuten konnte. »Dies ist eine hübsche kleine Stadt«, sagte Elfenbein, »aber die einzig wahre Stadt der Welt ist Havnor.« Es hatte keinen Zweck, sie beeindrucken zu wollen; sie sagte nur: »Es fahren nicht viele Handelsschiffe nach Roke, oder? Wird es lange dauern, bis wir eines finden, das uns mitnimmt – was meinst du?« »Nicht, wenn ich einen Stab trage«, sagte er. Sie sah sich nicht mehr um, sondern schlenderte eine Weile nachdenklich dahin. Sie war wunderschön, wenn sie sich bewegte, kühn und anmutig und den Kopf hoch erhoben. »Du meinst, sie werden einem Magier gefällig sein? Aber du bist kein Magier.« »Das ist eine reine Formsache. Wir ranghöheren Zauberer dürfen einen Stab tragen, wenn wir im Auftrag von Roke unterwegs sind. Und das bin ich.« »Weil du mich hinbringst?« »Weil ich ihnen einen Studenten bringe, ja. Einen hochbegabten Studenten!« Sie stellte keine Fragen mehr. Sie widersprach niemals; das war einer ihrer Vorzüge. An diesem Abend fragte sie beim Essen in dem Gasthaus am Hafen ungewöhnlich schüchtern: »Bin ich hoch begabt?« »Meiner Meinung nach, ja«, sagte er. Sie überlegte – eine Unterhaltung mit ihr war häufig eine langwierige Angelegenheit – und sagte: »Rose hat immer gesagt, daß ich Macht hätte, aber sie wußte nicht, was für eine. Und ich .ich weiß auch, daß es so ist, aber ich weiß nicht, was sie ist.« »Du gehst nach Roke, um das herauszufinden«, sagte er, hob das Glas und sah ihr in die Augen. Einen Moment später hob sie ihres und lächelte ihn an, ein so strahlendes und zärtliches, Lächeln, daß er spontan hinzufügte: »Und möge, was du findest, alles sein, was du suchst!« »Wenn, dann ist das dein Verdienst«, sagte sie. In diesem Augenblick liebte er sie ihres aufrichtigen Herzens wegen und hätte jeden Gedanken an sie aufgegeben, es sei denn als seine Gefährtin in einem kühnen Abenteuer, einem heldenhaften Streich. In dem überfüllten Gasthaus mußten sie sich ein Zimmer mit zwei anderen Reisenden teilen, aber Elfenbeins Gedanken waren vollkommen keusch, obwohl er deshalb ein wenig über sich selbst lachte. Am nächsten Morgen pflückte er einen Kräuterzweig aus dem Küchengarten des Gasthauses und verzauberte ihn zu einem stattlichen Stab, kupferbeschlagen und genau von seiner Größe. »Was ist das für ein Holz?« fragte Drachenkind fasziniert, als sie ihn sah, und als er lachend antwortete: »Rosmarin«, lachte sie auch. Sie schlenderten am Kai entlang und fragten nach einem Schiff Richtung Süden, das einen Magier und seinen Lehrling mit zur Insel der Weisen nehmen könnte, und fanden wenig später ein schweres Handelsschiff nach Wathort, dessen Kapitän den Magier umsonst und seinen Lehrling zum halben Preis beförderte. Selbst der halbe Preis war das halbe Käsegeld, aber sie kamen in den Vorzug einer Kabine, denn die Seeotter war ein gedeckter Zweimaster. Als sie mit dem Kapitän sprachen, fuhr ein Wagen am Pier vor, und sechs altbekannte Fässer wurden ausgeladen. »Das sind unsere«, sagte Elfenbein, worauf der Kapitän erwiderte: »Für Hort bestimmt«, und Drachenkind leise sagte: »Von Iria.« Da sah sie zum Land zurück. Es war das erste Mal, daß er sie je einen Blick zurückwerfen sah. Der Wetterwirker des Schiffs kam kurz vor dem Auslaufen an Bord, kein Magier von Roke, sondern ein wettergegerbter Bursche im abgetragenen Seemantel. Elfenbein schwenkte den Stab ein wenig, um ihn zu grüßen. Der Zauberer sah ihn von, oben bis unten an und sagte: »Ein Mann wirkt Wetter auf diesem Schiff. Wenn ich es nicht bin, verschwinde ich.« »Ich bin lediglich Passagier, Meister Handlungsreisender. Die Winde überlasse ich gern Ihren Händen.« Der Zauberer sah Drachenkind an, die stocksteif daneben stand und schwieg. »Gut«, sagte er, und das war das letzte Wort, das er mit Elfenbein wechselte. Während der Reise unterhielt er sich jedoch mehrmals mit Drachenkind, was Elfenbein ein wenig nervös machte. Ihre Unwissenheit und Vertrauensseligkeit konnten sie in Gefahr bringen, und damit auch ihn. Worüber hatten sie und der Handlungsreisende gesprochen? fragte er, worauf sie antwortete: »Was aus uns werden soll.« Er sah sie an. »Aus uns allen. Aus Weg und Felkweg und Havnor und Wathort und Roke. Aus allen Bewohnern der Inseln. Er sagt, als König Lebannen letzten Herbst gekrönt werden sollte, hat er nach dem alten Erzmagier auf Gont geschickt, damit der ihn krönen sollte, und er wollte nicht kommen. Und es gab keinen neuen Erzmagier. Also hat er sich die Krone selbst aufgesetzt. Aber viele sagen, das ist falsch und sein Anspruch auf den Thron nicht rechtens. Aber andere sagen, der König selbst ist der neue Erzmagier. Doch er ist kein Zauberer, nur ein König. Darum behaupten andere, die dunklen Jahre werden wiederkommen, als es keine Gesetze gab und die Magie mit bösen Absichten eingesetzt wurde.« Nach einer Pause sagte Elfenbein: »Das alles sagt dieser alte Wetterwirker?« »Ich glaube, das wird allgemein gesagt«, entgegnete Drachenkind in ihrer ernsten, schlichten Art. Der Wetterwirker verstand immerhin sein Handwerk. Die Seeotter segelte geschwind nach Süden; sie gerieten in sommerliche Regenschauer und rauhen Seegang, aber nie in einen Sturm oder widrigen Wind. Sie legten an und nahmen Fracht in den Häfen an, der Nordküste von O an Bord, in Ilien, Leng, Kamery und O Port, und dann segelten sie nach Westen, um die Passagiere nach Roke zu bringen. Und im Angesicht des Westkurses wurde Elfenbein ein wenig flau im Magen, denn er wußte nur zu gut, wie Roke bewacht wurde. Weder er noch der Wetterwirker würden irgend etwas gegen den Wind von Roke ausrichten können, falls er gegen sie wehte. Und falls er das tat, würde Drachenkind nach dem Warum fragen. Warum wehte der Wind gegen sie? Es freute ihn zu sehen, daß auch der Zauberer nervös war, der beim Steuermann stand und einen Ausguck im Topp sitzen hatte, um bei einem Hauch von Westwind die Segel einzuholen. Aber der Wind wehte konstant von Norden. Er brachte ein Gewitter mit sich, und Elfenbein ging in die Kabine, aber Drachenkind blieb an Deck. Sie hatte Angst vor dem Wasser, hatte sie ihm erzählt. Sie konnte nicht schwimmen; sie sagte: »Es muß schrecklich sein, zu ertrinken! Keine Luft zu atmen ..« Sie erschauerte bei dem Gedanken. Es war das einzige Mal, daß sie Furcht vor etwas erkennen ließ. Aber sie mochte die niedrige, enge Kabine nicht, war jeden Tag an Deck geblieben und hatte in warmen Nächten sogar dort geschlafen. Elfenbein hatte nicht versucht, sie in die Kabine zu locken. Er wußte, daß es nichts nützte, sie zu locken. Wenn er sie haben wollte, mußte er sie meistern; und das würde ihm gelingen, wenn sie nur erst einmal auf Roke waren. Er kam wieder an Deck. Als die Sonne unterging, brachen die Wolken im ganzen Westen auf und zeigten einen goldenen Himmel über der hohen, dunklen Silhouette eines Hügels. Elfenbein sah den Hügel mit einer Art von Haßliebe an. »Das ist der Kogel von Roke, Bursche«, sagte der Wetterwirker zu Drachenkind, die neben ihm an der Reling stand. »Wir laufen jetzt in die Bucht von Thwil ein. Wo es keinen Wind gibt außer dem Wind, den sie wollen.«, Als sie in die Bucht eingelaufen waren und den Anker gesetzt hatten, war es dunkel, und Elfenbein sagte zum Schiffsmeister: »Morgen früh gehe ich an Land.« Unten in ihrer winzigen Kabine saß Drachenkind und wartete auf ihn, ernst wie immer, aber ihre Augen leuchteten vor Aufregung. »Wir gehen morgen früh an Land«, wiederholte er für sie, worauf sie ergeben nickte. Sie sagte: »Sehe ich gut aus?« Er setzte sich auf seine schmale Pritsche und sah sie auf ihrer an; sie konnten einander nicht direkt gegenüber sitzen, weil nicht genügend Platz für die Knie war. In O Port hatte sie sich ein anständiges Hemd und Reithosen gekauft, damit sie wie ein Kandidat der Schule aussah. Ihr Gesicht war vom Wind gerötet und sauber geschrubbt. Das Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, und der Zopf war eingeschlagen, wie der von Elfenbein. Auch die Hände waren sauber, und sie lagen flach auf den Oberschenkeln, lange, kräftige Hände, wie die eines Mannes. »Du siehst nicht wie ein Mann aus«, sagte er. Sie machte ein langes Gesicht. »Für mich nicht. Für mich wirst du nie wie ein Mann aussehen. Aber sei unbesorgt. Für sie schon.« Sie nickte mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Der erste Test ist der große Test, Drachenkind«, sagte er. Jede Nacht, die er allein in ihrer Kabine gelegen hatte, hatte er dieses Gespräch geübt. »In das Großhaus zu gelangen; durch jene Tür zu treten.« »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie hastig und ernst. »Könnte ich ihnen nicht einfach sagen, wer ich bin? Wenn du dabei bist, um für mich zu sprechen, um ihnen zu sagen, daß ich eine Gabe habe, auch wenn ich eine Frau bin – und ich könnte versprechen, den Eid zu schwören und das Gelübde des Zölibats abzulegen und abseits wohnen, wenn sie wollen ..« Er schüttelte während der ganzen Rede den Kopf. »Nein, nein, nein, nein. Hoffnungslos. Nutzlos. Fatal.« »Auch wenn du ..« »Auch wenn ich für dich sprechen würde. Sie würden nicht zuhören. Das Gesetz von Roke verbietet, daß Frauen die Hohe, Kunst oder auch nur ein Wort der Sprache des Schöpfens beigebracht wird. Das war immer so. Sie werden nicht zuhören. Also muß man es ihnen zeigen! Und wir werden es ihnen zeigen, du und ich. Wir werden ihnen eine Lektion erteilen. Du mußt tapfer sein, Drachenkind. Du darfst nicht schwach werden und denken: ›Oh, wenn ich sie einfach anflehe, mich einzulassen, können sie es mir nicht verwehren.‹ Sie können es tun, und sie werden es tun. Und wenn du dich zu erkennen gibst, werden sie dich bestrafen. Und mich.« Er legte eine besondere Betonung auf das letzte Wort und murmelte innerlich: »Behüte.« Sie sah ihn mit unergründlichen Augen an und sagte schließlich: »Was muß ich tun?« »Vertraust du mir, Drachenkind?« »Ja.« »Wirst du mir rückhaltlos vertrauen – wohl wissend, daß mein Risiko viel größer ist als dein Risiko bei diesem Unterfangen?« »Ja.« »Dann mußt du mir das Wort sagen, das du dem Türhüter sagen wirst.« Sie sah ihn an. »Aber ich dachte, das würdest du mir sagen – das Kennwort.« »Das Kennwort, das er von dir wissen will, ist dein wahrer Name.« Er ließ sie das eine Weile verarbeiten, dann fuhr er sanft fort: »Und damit ich den Zauber der Ähnlichkeit bei dir wirken kann, damit er so vollständig und tief wird, daß die Meister von Roke einen Mann in dir sehen und nichts anderes, damit ich das kann, muß auch ich deinen Namen kennen.« Er machte wieder eine Pause. Während er es sagte, kam ihm jedes Wort wahr und aufrichtig vor, und seine Stimme klang bewegt und sanft, als er fortfuhr. »Ich hätte ihn schon vor langer Zeit erfahren können. Aber ich habe beschlossen, diese Künste nicht anzuwenden. Ich wollte, daß du mir genug vertraust, um mir deinen Namen selbst zu verraten.«, Sie betrachtete ihre Hände, die sie jetzt um die Knie geschlungen hatte. Im schwachen rötlichen Licht der Kabinenlaterne warfen ihre Wimpern lange, feine Schatten auf ihre Wangen. Sie schaute auf und sah ihn unverwandt an. »Mein Name ist Irian«, sagte sie. Er lächelte. Sie lächelte nicht. Er sagte nichts. Tatsächlich war er ratlos. Wenn er gewußt hätte, daß es so einfach sein würde, hätte er ihren Namen und damit die Macht, sie tun zu lassen, was er wollte, schon vor Tagen, vor Wochen haben können, hätte diesen irren Plan nur vortäuschen müssen – ohne sein Salär und sein zweifelhaftes Ansehen aufs Spiel zu setzen, ohne diese Seereise zu unternehmen, ohne den ganzen Weg bis Roke dafür zurücklegen zu müssen! Denn nun betrachtete er den ganzen Plan als Narretei. Er konnte sie unmöglich so verkleiden, daß sie den Türhüter auch nur eine Sekunde täuschen würde. Sein Wunsch, die Meister so zu demütigen, wie sie ihn gedemütigt hatten, war reine Traumtänzerei. Er war so besessen davon gewesen, das Mädchen rumzukriegen, daß er selbst in die Falle getappt war, die er ihr gestellt hatte. Verbittert sah er ein, daß er stets seine eigenen Lügen glaubte und sich in den Netzen verfing, die er auf so kunstvolle Weise knüpfte. Nachdem er sich auf Roke zum Narren gemacht hatte, war er zurückgekehrt, um es noch einmal zu machen. Eine gewaltige, trostlose Wut wallte in ihm auf. Es war vergeblich, alles war vergeblich. »Was ist los?« fragte sie. Ihre sanfte, heisere und tiefe Stimme raubte ihm den Mut, und er verbarg das Gesicht in den Händen und kämpfte gegen die Schande der Tränen an. Sie legte ihm eine Hand auf das Knie. Es war das erste Mal, daß sie ihn berührte. Er ließ es geschehen, erduldete die Wärme und Last ihrer Berührung, für die er soviel Zeit vergeudet hatte. Er wollte ihr weh tun, sie schütteln, damit diese schreckliche, unwissende Güte von ihr abfiel, aber als er endlich wieder Worte fand, sagte er: »Ich wollte nur mit dir schlafen.« »Wirklich?«, »Hast du geglaubt, ich wäre einer ihrer Eunuchen? Daß ich mich mit Zaubersprüchen kastrieren würde, um heilig zu sein? Was meinst du, warum ich keinen Stab habe? Was meinst du, warum ich nicht in der Schule bin? Hast du alles geglaubt, was ich dir gesagt habe?« »Ja«, sagte sie. »Es tut mir leid.« Ihre Hand lag immer noch auf seinem Knie. »Wir können immer noch miteinander schlafen, wenn du willst.« Er richtete sich auf, blieb still sitzen. »Was bist du?« sagte er schließlich zu ihr. »Ich weiß nicht. Deshalb wollte ich nach Roke kommen. Um es herauszufinden.« Er riß sich los, stand gebückt auf; sie konnten beide in der niedrigen Kabine nicht aufrecht stehen. Er ballte die Fäuste und entspannte sie wieder, wandte ihr den Rücken zu und blieb so weit von ihr entfernt stehen, wie er konnte. »Du wirst es nicht herausfinden. Es sind alles nur Lügen und Täuschungen. Alte Männer, die Spiele mit Worten spielen. Ich wollte ihr Spiel nicht mitspielen, darum bin ich gegangen. Weißt du, was ich getan habe?« Er drehte sich um und bleckte die Zähne zu einer Fratze des Triumphs. »Ich habe ein Mädchen, ein Mädchen aus der Stadt, in mein Zimmer kommen lassen. Meine Zelle. Meine kleine Zölibatzelle aus Stein. Ich hatte ein Fenster mit Ausblick auf eine Gasse. Keine Zaubersprüche – man kann bei ihrer ganzen Magie keine Zaubersprüche wirken. Aber sie wollte kommen und kam, und ich ließ eine Strickleiter zum Fenster hinunter, und sie kletterte hoch. Und wir waren gerade dabei, als die alten Männer hereingeplatzt sind! Ich hatte es ihnen gezeigt! Und wenn ich dich hineingeschmuggelt hätte, dann hätte ich es ihnen wieder gezeigt, dann hätte ich ihnen eine Lektion erteilt!« »Nun, ich werde es versuchen«, sagte sie. Er starrte sie an., »Nicht aus demselben Grund wie du«, sagte sie, »aber ich will es immer noch. Wir sind schon so weit gekommen. Und du kennst meinen Namen.« Das stimmte. Er kannte ihren Namen: Irian. Er war wie ein Kohlefeuer, wie brennende Glut in seinem Geist. Sein Denken konnte ihn nicht halten. Sein Wissen konnte ihn nicht benutzen. Seine Zunge konnte ihn nicht aussprechen. Sie schaute zu ihm auf, und das dunkle Laternenlicht machte ihr kräftiges, markantes Gesicht weicher. »Wenn du mich nur hergebracht hast, um mit mir zu schlafen, Elfenbein«, sagte sie, »das können wir tun. Wenn du es immer noch willst.« Er schüttelte nur wortlos den Kopf. Nach einer Weile konnte er wenigstens lachen. »Ich glaube, über diese .Möglichkeit sind wir hinaus ..« Sie sah ihn ohne Bedauern, Vorwürfe oder Scham an. »Irian«, sagte er, und nun kam ihm ihr Name mühelos, süß und kühl wie Quellwasser über die Lippen. »Irian, du mußt folgendes tun, wenn du das Großhaus betreten willst ..« 3. Azver Er verabschiedete sich an der Straßenecke von ihr, einer schmalen, düsteren, irgendwie verschlagen aussehenden Straße, die zwischen konturlosen Mauern zu einer Holztür in einer höher gelegenen Mauer führte. Er hatte seinen Zauber an ihr gewirkt, und sie sah wie ein Mann aus, auch wenn sie sich nicht wie einer fühlte. Sie und Elfenbein nahmen einander in die Arme, denn schließlich waren sie Freunde und Gefährten gewesen, und er hatte das alles für sie getan. »Mut!« sagte er und ließ sie gehen. Sie ging die Straße hinauf und blieb vor der Tür stehen. Dort drehte sie sich um, aber er war fort. Sie klopfte. Nach einer Weile hörte sie einen Riegel klappern. Die Tür ging auf. Ein Mann mittleren Alters von gewöhnlichem Aussehen, stand da. »Was kann ich für dich tun?« fragte er. Er lächelte nicht, aber seine Stimme war freundlich. »Sie können mich in das Großhaus einlassen, Sir.« »Kennst du den Weg herein?« Seine mandelförmigen Augen waren aufmerksam und schienen sie doch aus Meilen oder Jahren Entfernung anzusehen. »Dies ist der Weg hinein, Sir.« »Weißt du, welchen Namen du mir sagen mußt, bevor ich dich einlasse?« »Meinen eigenen: Irian.« »Tatsächlich?« sagte er. Das machte sie stutzig. Sie schwieg abwartend. »Es ist der Name, den mir die Hexe Rose aus meinem Dorf auf Weg im Frühling unter dem Iriaberg gegeben hat«, sagte sie schließlich und sprach aufrecht die Wahrheit. Der Türhüter sah sie eine Weile an, die ihr lange vorkam. »Dann ist es dein Name«, sagte er. »Aber vielleicht nicht dein ganzer Name. Ich glaube, du hast noch einen.« »Den kenne ich nicht, Sir.« Nach einer weiteren langen Pause sagte sie: »Vielleicht kann ich ihn hier lernen, Sir.« Der Türhüter verneigte sich ein wenig. Ein sehr schwaches Lächeln zauberte sichelförmige Kurven auf seine Wangen. Er trat beiseite. »Komm herein, Tochter«, sagte er. Sie trat über die Schwelle des Großhauses. Elfenbeins Ähnlichkeitszauber fiel von ihr ab wie ein Spinnennetz. Sie war wieder sie selbst und sah auch so aus. Sie folgte dem Türhüter einen Durchgang aus Stein hinab. Erst am Ende dachte sie daran, sich umzudrehen und zu sehen, wie das Licht durch die tausend Blätter des in die hohe Tür mit ihrem weißen Hornrahmen geschnitzten Baums fiel. Ein junger Mann in grauem Mantel, der den Gang entlang geeilt kam, blieb ruckartig stehen, als er sie sah. Er starrte Irian an; dann ging er mit einem kurzen Nicken weiter. Sie drehte sich nach ihm um. Er hatte sich nach ihr umgedreht., Eine Kugel aus dunstigem grünem Licht schwebte in Augenhöhe rasch den Flur entlang und folgte dem jungen Mann offenbar. Der Türhüter winkte mit einer Hand danach, und die Kugel wich ihm aus. Irian sprang beiseite und duckte sich hastig, spürte aber dennoch, wie das kalte Feuer in ihrem Haar kribbelte, als es über sie hinweg schwebte. Die Türhüter hatte sich zu ihr umgeschaut, und nun war sein Lächeln breiter. Auch wenn er nichts sagte, spürte sie, daß er auf sie achtete, um sie besorgt war. Sie stand auf und folgte ihm. Vor einer Eichentür blieb er stehen. Anstatt zu klopfen, skizzierte er mit der Spitze seines Stabs, eines leichten Stabs aus einem grauen Holz, ein kleines Zeichen oder eine Rune darauf. Die Tür ging auf, als eine tiefe Stimme dahinter sagte: »Herein!« »Warte hier bitte einen Moment, Irian«, sagte der Türhüter und ging in das Zimmer, ließ die Tür hinter sich aber weit offen. Sie konnte Bücherregale sehen, einen Tisch mit weiteren Bücherstapeln, Tintenfässern und Schriftrollen, zwei oder drei Jungen, die an dem Tisch saßen, und den grauhaarigen, gedrungenen Mann, mit dem der Türhüter sprach. Sie sah, wie sich der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte, wie er einen kurzen, verblüfften Blick auf sie warf, wie er dem Türhüter mit leiser, nachdrücklicher Stimme Fragen stellte. Sie kamen beide zu ihr. »Der Meister Verwandler von Roke – Irian von Weg«, sagte der Türhüter. Der Meister Verwandler starrte sie unverblümt an. Er war nicht so groß wie sie. Er sah den Türhüter an, dann wieder sie. »Vergib mir, daß ich in deinem Beisein über dich spreche, junge Frau«, sagte er, »aber es muß sein. Meister Türhüter, Sie wissen, daß ich Ihr Urteil niemals in Frage stelle, aber das Gesetz ist eindeutig. Ich muß fragen, was Sie veranlaßt hat, das Gesetz zu brechen und ihr Einlaß zu gewähren.« »Sie hat darum gebeten«, sagte der Türhüter. »Aber ..« Der Meister Verwandler verstummte. »Wann hat eine Frau zum letztenmal gebeten, die Schule zu betreten?«, »Sie wissen, daß das Gesetz es nicht erlaubt.« »Hast du das gewußt, Irian?« fragte der Türhüter, und sie antwortete: »Ja, Sir.« »Also was hat dich hierher geführt?« fragte der Meister Verwandler streng, aber ohne seine Neugier zu verbergen. »Meister Elfenbein sagte, ich könnte als Mann gelten. Aber ich dachte, ich sage lieber, wer ich bin. Ich werde so zölibatär wie alle anderen leben, Sir.« Die langen Kurven erschienen wieder auf den Wangen des Türhüters und schlossen das langsam entstehende Lächeln ein. Das Gesicht des Meisters Verwandler blieb streng, aber er blinzelte und sagte nach kurzem Nachdenken: »Da bin ich sicher – ja – es war eindeutig der bessere Plan, ehrlich zu sein. Von welchem Meister hast du gesprochen?« »Elfenbein«, sagte der Türhüter. »Ein junger Mann aus dem Großen Hafen von Havnor, den ich vor drei Jahren herein- und letztes Jahr wieder hinausgelassen habe, wie Sie sich erinnern werden.« »Elfenbein! Der Bursche, der mit Hand studiert hat? Ist er hier?« wollte der Meister der Verwandlungen erbost von Irian wissen. Sie stand aufrecht und sagte nichts. »Nicht in der Schule«, sagte der Türhüter lächelnd. »Er hat dich zum Narren gehalten, junge Frau. Hat dich zur Närrin gemacht, indem er versucht hat, uns zu Narren zu machen.« »Ich habe ihn benutzt, damit er mir hilft, hierherzukommen, und mir verrät, was ich dem Türhüter sagen muß«, sagte Irian. »Ich bin nicht hier, um jemanden zum Narren zu halten, sondern um zu lernen, was ich wissen muß.« »Ich habe mich oft gefragt, warum ich den Jungen hereingelassen habe«, sagte der Türhüter. »Allmählich komme ich dahinter.« Nun sah ihn der Meister Verwandler an und fragte nach einer kurzen Pause ernst: »Türhüter, woran denken Sie?«, »Ich glaube, Irian von Weg könnte nicht nur zu uns gekommen sein, um zu lernen, was sie wissen muß, sondern auch, was wir wissen müssen.« Der Tonfall des Türhüters war ebenfalls ernst, sein Lächeln verschwunden. »Ich denke, dies sollte Anlaß zu einem Gespräch unter uns neun sein.« Das nahm der Meister Verwandler mit einer Miene aufrichtigen Erstaunens hin; aber er stellte dem Türhüter keine Frage. Er sagte nur: »Aber nicht unter den Schülern.« Der Türhüter schüttelte zustimmend den Kopf. »Sie kann in der Stadt wohnen«, sagte der Meister Verwandler sichtlich erleichtert. »Während wir hinter ihrem Rücken reden?« »Sie werden sie doch nicht in den Ratssaal bringen?« fragte der Meister Verwandler fassungslos. »Der Erzmagier hat den Knaben Arren dorthin gebracht.« »Aber .aber Arren war König Lebannen ..« »Und wer ist Irian?« Der Meister Verwandler schwieg einen Moment und sagte dann leise, voll Respekt: »Mein Freund, was gedenken Sie zu tun, um zu lernen? Was ist sie, daß Sie das für sie verlangen?« »Wer sind wir«, entgegnete der Türhüter, »daß wir sie ablehnen, ohne zu wissen, was sie ist?« »Eine Frau«, sagte der Meister Gebieter. Irian hatte einige Stunden in der Kammer des Türhüters gewartet, einem niedrigen, hellen, kahlen Raum mit einem Fenster, dessen kleine Scheiben Ausblick auf die Küchengärten des Großhauses boten – hübsche, gepflegte Gärten, lange Reihen und Beete mit Gemüse, Grünpflanzen und Kräutern, mit Beerenstauden und dahinter Obstbäumen. Sie sah einen vierschrötigen, dunklen Mann und zwei Jungen herauskommen und eines der Gemüsebeete jäten. Es beruhigte sie, ihnen bei ihrer gründlichen Arbeit zuzusehen. Sie wünschte sich, sie hätte ihnen dabei helfen können. Das Warten und die seltsame Atmosphäre waren schwer zu ertragen. Einmal kam der Türhüter, herein und brachte ihr einen Teller mit kaltem Braten und Brot und Frühlingszwiebeln, und sie aß, weil er es ihr sagte, obwohl es Schwerarbeit war, zu kauen und zu schlucken. Die Gärtner gingen wieder, und danach gab es nichts mehr in dem Garten zu sehen, außer wachsenden Kohlköpfen und herumhüpfenden Sperlingen und ab und zu einen Falken am Himmel; und den Wind, der sanft durch die Wipfel der hohen Bäume jenseits der Gärten wehte. Der Türhüter kam zurück und sagte: »Komm, Irian, und lerne die Meister von Roke kennen.« Ihr Herz begann zu galoppieren wie ein Karrengaul. Sie folgte ihm durch ein Labyrinth von Korridoren zu einem Zimmer mit dunklen Wänden und einer Reihe hoher Spitzbogenfenster. Eine Gruppe Männer stand darin, und jeder einzelne drehte sich zu ihr um, als sie das Zimmer betrat. »Irian von Weg, meine Herren«, sagte der Türhüter. Sie schwiegen alle. Er winkte ihr, weiter in den Raum zu kommen. »Den Meister Verwandler hast du schon kennengelernt«, sagte er. Er nannte ihr die Namen der anderen, aber sie konnte sich nicht die Namen der Meisterschaften merken, abgesehen vom Kräutermeister – das war derjenige, den sie für den Gärtner gehalten hatte – und dem unter ihnen, der am jüngsten aussah, ein großer Mann mit strengem, schönem Gesicht, das aus dunklem Stein geschnitten zu sein schien – das war der Meister Gebieter. Er ergriff das Wort, als der Türhüter fertig war. »Eine Frau«, sagte er. Der Türhüter nickte einmal, milde wie immer. »Dafür hast du die neun zusammengerufen? Aus diesem und keinem andern Grund?« »Aus diesem und keinem andern Grund«, sagte der Türhüter. »Drachen wurden über dem Inneren Meer gesehen. Roke hat keinen Erzmagier, die Inseln keinen wahrhaft gekrönten König. Es gibt richtige Arbeit«, sagte der Gebieter, und seine Stimme war wie Stein, kalt und schwer. »Wann sollen wir sie tun?«, Es folgte ein unbehagliches Schweigen, als der Türhüter nicht antwortete. Schließlich sagte ein kleiner Mann mit leuchtenden Augen, der eine rote Tunika unter dem Magiermantel trug: »Haben Sie diese Frau als Schülerin in das Haus gebracht, Meister Türhüter?« »Wenn ja, wäre es an Ihnen allen, die Entscheidung zu billigen oder abzulehnen«, sagte er. »Ist es so?« fragte der Mann in der roten Tunika und lächelte verhalten. »Meister Hand«, sagte der Türhüter, »sie hat gebeten, als Schülerin eintreten zu dürfen, und ich sah keinen Grund, es ihr zu verwehren.« »Allen Grund«, sagte der Gebieter. Ein Mann mit einer tiefen, klaren Stimme ergriff das Wort. »Nicht unsere persönliche Meinung ist hier ausschlaggebend, sondern das Gesetz von Roke, das zu befolgen wir geschworen haben.« »Ich bezweifle, daß sich der Türhüter leichtfertig darüber hinwegsetzen würde«, sagte einer von ihnen, den Irian nicht bemerkt hatte, bis er sich zu Wort meldete, obwohl er ein großer Mann war, weißhaarig, mit kräftigem Knochenbau und einem faltigen Gesicht. Im Gegensatz zu den anderen sah er sie an, während er sprach. »Ich bin Kurremkarmerruk«, sagte er zu ihr. »Als der Meister Namengeber hier gehe ich nach Gutdünken mit Namen um, meinen eigenen eingeschlossen. Wer hat dir deinen Namen gegeben, Irian?« »Die Hexe Rose aus unserem Dorf, Herr«, antwortete sie und blieb aufrecht stehen, auch wenn ihre Stimme sich schrill und brüchig anhörte. »Trägt sie einen falschen Namen?« fragte der Türhüter den Namengeber. Kurremkarmerruk schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ..« Der Gebieter, der mit dem Rücken zu ihnen gestanden hatte, dem kalten Kamin zugewandt, drehte sich zu ihnen um. »Die Namen, die Hexen einander geben, gehen uns hier nichts an«,, sagte er. »Wenn Sie ein Interesse an dieser Frau haben, Türhüter, sollte ihm außerhalb dieser Wände nachgegangen werden – vor der Tür, die zu hüten Sie geschworen haben. Sie hat hier nichts zu suchen und wird es nie haben. Sie kann nur Verwirrung, Zwietracht und größere Schwäche unter uns bringen. Ich werde nicht mehr sprechen und in ihrer Gegenwart nichts mehr sagen. Die einzige Antwort auf einen offensichtlichen Irrtum ist Schweigen.« »Schweigen ist nicht genug, mein Herr«, sagte einer, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Für Irian sah er seltsam aus mit seiner blaßroten Haut, dem langen hellen Haar und den schmalen eisfarbenen Augen. Seine Ausdrucksweise war ebenfalls seltsam, steif und irgendwie deformiert. »Schweigen ist die Antwort auf alles und auf nichts«, sagte er. Der Gebieter hob das edle, dunkle Gesicht und sah durch das Zimmer zu dem blassen Mann, sagte aber nichts. Ohne ein weiteres Wort oder eine Geste drehte er sich wieder um und verließ den Raum. Als er langsam an Irian vorbeiging, wich sie vor ihm zurück. Es war, als hätte sich ein Grab aufgetan, ein winterliches Grab, kalt, naß, dunkel. Der Atem stockte ihr in der Kehle. Sie rang keuchend nach Luft. Als sie sich wieder erholt hatte, sah sie, daß der Meister Verwandler und der blasse Mann sie eindringlich ansahen. Der mit der Stimme wie eine tief tönende Glocke sah sie ebenfalls an und sprach mit einer schlichten, freundlichen Strenge zu ihr. »Wie ich es sehe, hat der Mann, der dich hierhergebracht hat, Böses geplant, aber du nicht. Aber durch dein Hiersein, Irian, schadest du uns und dir. Alles, was nicht an seinem Platz ist, richtet Schaden an. Ein einziger Ton, wie schön er auch immer gesungen wird, verdirbt eine Melodie, wenn er nicht dazugehört. Frauen unterrichten Frauen. Hexen lernen ihr Gewerbe von anderen Hexen und Zauberern, nicht von Magiern. Was wir hier lehren, ist in einer Sprache, die nicht für die Zungen von Frauen bestimmt ist. Das jugendliche Herz rebelliert gegen solche Gesetze und nennt sie ungerecht und willkürlich. Aber es sind, wahre Gesetze, die nicht darauf basieren, was wir wollen, sondern was ist. Die Gerechten und Ungerechten, die Weisen und Törichten, alle müssen ihnen gehorchen, andernfalls vergeuden sie Leben und bringen Trauer über sich.« Der Meister Verwandler und ein dünner alter Mann mit schmalem Gesicht, der neben ihm stand, nickten zustimmend. Meister Hand sagte: »Irian, es tut mir leid. Elfenbein war mein Schüler. Wenn ich ihn schon schlecht unterrichtet habe, so habe ich es noch schlimmer gemacht, als ich ihn weggeschickt habe. Ich hielt ihn für unbedeutend und darum harmlos. Aber er hat dich belogen und getäuscht. – Du darfst keine Scham empfinden. Es war seine Schuld – und meine.« »Ich schäme mich nicht«, sagte Irian. Sie sah alle an. Sie überlegte, ob sie ihnen für ihre Höflichkeit danken sollte, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Sie nickte ihnen steif zu, drehte sich um und verließ den Raum. Der Türhüter holte sie ein, als sie an eine Kreuzung kam und nicht wußte, welche Richtung sie einschlagen sollte. »Hier entlang«, sagte er und hielt mit ihr Schritt, und nach einer Weile: »Hier entlang«, und auf diese Weise kamen sie wenig später zu einer Tür. Sie bestand nicht aus Elfenbein und Horn. Sie bestand aus schmucklosem Eichenholz, schwarz und massiv, mit einem vom Alter abgenutzten Riegel aus Eisen. »Dies ist die Hintertür«, sagte der Magier und öffnete sie. »Medras Tor wurde sie genannt. Ich bin der Hüter beider Türen.« Er öffnete sie. Die Helligkeit des Tages tat Irian in den Augen weh. Als sie klar sehen konnte, sah sie einen Weg, der von der Tür durch die Gärten und Felder dahinter führte; jenseits der Felder standen hohe Bäume, und auf der rechten Seite erhob sich die Wölbung des Kogel von Roke. Aber unmittelbar vor der Tür stand der Mann mit hellem Haar und zusammengekniffenen Augen auf dem Weg, als hätte er auf sie gewartet. »Formgeber«, sagte der Türhüter, nicht im geringsten überrascht., »Wohin schicken Sie diese Dame?« fragte der Formgeber in seiner seltsamen Sprechweise. »Nirgends«, sagte der Türhüter. »Ich lasse sie hinaus, wie ich sie hereingelassen habe, auf ihren Wunsch.« »Möchtest du mit mir kommen?« fragte der Formgeber Irian. Sie sah ihn und den Türhüter an und sagte nichts. »Ich lebe nicht in diesem Haus. In keinem der Häuser«, sagte der Formgeber. »Ich lebe dort. In dem Hain. Ah«, sagte er und drehte sich unvermittelt um. Der große, weißhaarige Mann, der Namengeber Kurremkarmerruk, stand am Ende des Wegs. Er stand erst da, seit der andere Magier »Ah« gesagt hatte. Irian sah mit äußerster Verwunderung von einem zum anderen. »Dies ist nur ein Abbild von mir, eine Darstellung, eine Sendung«, sagte der alte Mann zu ihr. »Ich lebe auch nicht hier. Meilen entfernt.« Er zeigte nach Norden. »Du kannst dorthin kommen, wenn du mit dem Formgeber fertig bist. Ich würde gern mehr über deinen Namen erfahren.« Er nickte den beiden anderen Magiern zu und war plötzlich nicht mehr da. Eine Hummel summte träge durch die Luft, wo er gewesen war. Irian sah zu Boden. Nach einer langen Zeit räusperte sie sich und sagte, ohne aufzuschauen: »Stimmt es, daß ich durch mein Hiersein Schaden anrichte?« »Ich weiß es nicht«, sagte der Türhüter. »Im Hain kann es nicht schaden«, sagte der Formgeber. »Komm mit. Es gibt da ein altes Haus, eine Hütte. Alt, schmutzig. Das stört dich doch nicht, oder? Bleib ein Weilchen. Du wirst schon sehen.« Und er ging zwischen Petersilie und Staudenbohnen den Weg entlang. Sie sah den Türhüter an; er lächelte verhalten. Sie folgte dem Mann mit den hellen Haaren. Sie gingen etwa eine halbe Meile. Rechts von ihnen erhob sich der Kogel in der Sonne, die im Westen stand. Hinter ihnen erstreckte sich grau und mit vielen Dächern die Schule auf dem flacheren Hügel. Vor ihnen ragte nun der Hain auf. Sie sah Eichen und Weiden, Kastanien und Eschen und hohe Nadelbäume. Aus der dichten, sonnendurchfluteten Dunkelheit, der Bäume floß ein Bach mit grünen Ufern und vielen braunen, abgetretenen Stellen, wo Rinder und Schafe zur Tränke gingen oder ihn überquerten. Sie waren von einer Wiese durch den Zauntritt gekommen, wo fünfzig oder sechzig Schafe in dem kurzen, hellen Grün grasten, und standen nun am Bach. »Dieses Haus«, sagte der Magier und zeigte auf ein flaches, moosbewachsenes Dach, das von dem nachmittäglichen Schatten der Bäume vor Blicken verborgen wurde. »Bleib heute nacht. Ja?« Er bat sie, zu bleiben, er befahl es ihr nicht. Sie konnte nur nicken. »Ich bringe etwas zu essen«, sagte er und ging mit schnellen Schritten, so daß er bald, wenn auch nicht so unvermittelt wie der Namengeber, in Licht und Schatten unter den Bäumen verschwand. Irian sah ihm nach, bis er ganz sicher fort war, dann ging sie durch hohes Gras und Unkraut zu dem kleinen Haus. Es sah sehr alt aus. Es war sichtlich immer wieder ausgebessert worden, aber in letzter Zeit wohl nicht mehr. Und es machte den Eindruck, als hätte auch lange niemand mehr darin gewohnt. Aber es hatte eine angenehme Atmosphäre, als hätten alle, die darin geschlafen hatten, friedlich geschlafen. Was altersschwache Wände, Mäuse, Spinnweben und karges Mobiliar betraf, das alles war Irian nicht neu. Sie fand einen Reisigbesen und fegte ein wenig aus. Sie rollte ihre Decke auf dem Pritschenbett aus. Sie fand einen gesprungenen Krug in einem Schrank mit schiefen Türen und füllte ihn mit Wasser aus dem Bach, der zehn Schritte von der Tür entfernt klar und leise floß. Das alles erledigte sie in einer Art von Trance, und als sie es erledigt hatte, setzte sie sich mit dem Rücken zur Hauswand, die die Wärme der Sonne speicherte, ins Gras und schlief ein. Als sie aufwachte saß Meister Formgeber neben ihr, und ein Korb stand zwischen ihnen im Gras. »Hungrig? Iß«, sagte er. »Ich esse später, Sir. Danke«, sagte Irian. »Ich bin jetzt hungrig«, sagte der Magier. Er holte ein gekochtes Ei aus dem Korb, schlug es auf, schälte und aß es., »Sie nennen es das Otternhaus«, sagte er. »Sehr alt. So alt wie das Großhaus. Alles ist alt hier. Wir sind alt – die Meister.« »Sie nicht«, sagte Man. Sie schätzte sein Alter auf dreißig bis vierzig, aber das war schwer zu sagen; sie nahm an, daß sein Haar weiß war, weil es nicht schwarz war. »Aber ich komme von weit her. Meilen können Jahre sein. Ich bin Kargisch aus Karego. Kennst du das?« »Die Eisgrauen Männer!« sagte Irian und starrte ihn unverhohlen an. Daisys Balladen von den Eisgrauen Männern, die aus dem Osten gesegelt kamen, um das Land in Schutt und Asche zu legen und unschuldige Babys auf ihren Lanzen aufzuspießen, und die Geschichte, wie Erreth-Akbe seinen Ring des Friedens verloren hatte, und die neuen Lieder und die Geschichte des Königs darüber, wie der Erzmagier Sperber zu den Eisgrauen Männern hinabgestiegen und mit dem Ring zurückgekommen war – »Eisgrau?« fragte der Formgeber. »Frostig. Weiß«, sagte sie und wandte sich verlegen ab. »Ah.« Dann sagte er: »Der Meister Gebieter ist nicht alt.« Und sie bemerkte einen schiefen Blick aus diesen schmalen, eisfarbenen Augen. Sie sagte nichts. »Ich glaube, du hast Angst vor ihm gehabt.« Sie nickte. Als sie nichts sagte und einige Zeit vergangen war, sagte er: »In den Schatten dieser Bäume gibt es kein Leid. Nur Wahrheit.« »Als er an mir vorüberging«, sagte sie mit leiser Stimme, »habe ich ein Grab gesehen.« »Ah«, sagte der Formgeber. Er machte aus den Eierschalen ein kleines Häufchen auf dem Boden neben seinem Knie. Er legte die weißen Bruchstücke zu einer Rundung und schloß sie zu einem Kreis. »Ja«, sagte.er, studierte die Eierschalen, kratzte die Erde ein wenig auf und vergrub sie fein säuberlich. Er klopfte die Hände ab. Wieder streifte er Irian mit einem kurzen Blick., »Bist du eine Hexe gewesen, Irian?« »Nein.« »Aber du besitzt etwas Wissen?« »Nein. Tu ich nicht. Rose wollte mir nichts beibringen. Sie sagte, sie würde es nicht wagen. Weil ich Macht habe, aber sie nicht wüßte, was für eine.« »Deine Rose ist eine weise Blume«, sagte der Magier, ohne zu lächeln. »Aber ich weiß, ich muß – ich muß etwas tun, etwas sein. Darum wollte ich hierherkommen. Um das herauszufinden. Auf der Insel der Weisen.« Sie gewöhnte sich an sein seltsames Gesicht und konnte es auch lesen. Sie dachte, daß er traurig aussah. Seine Art zu sprechen war knapp, schnell, trocken, friedlich. »Die Männer der Insel sind nicht immer weise«, sagte er. »Vielleicht der Türhüter.« Er sah sie jetzt an, nicht verstohlen; sondern offen, und fing ihren Blick mit seinem ein. »Aber hier. Im Wald. Unter den Bäumen. Hier existiert die alte Weisheit. Niemals alt. Ich kann dich nicht lehren. Ich kann dich in den Hain mitnehmen.« Nach einer Minute stand er auf. »Ja?« »Ja«, sagte sie unsicher. »Ist das Haus in Ordnung?« »Ja ..« »Morgen«, sagte er und ging fort. Und so kam es, daß Irian während der heißen Sommertage einen halben Monat oder länger im Otternhaus, wo es friedlich war, schlief und aß, was der Meister Formgeber in seinem Korb brachte – Eier, Käse, Gemüse, Obst, geräuchertes Hammelfleisch –, und jeden Nachmittag mit ihm in den Hain mit den hohen Bäumen ging, wo die Wege niemals exakt so zu sein schienen, wie sie sie in Erinnerung hatte, und häufig hatte sie den Eindruck, daß sie weit über die Grenzen des Waldes hinausführten. Sie gingen schweigend dort spazieren und sprachen selten, wenn sie ausruhten. Der Magier war ein stiller Mann. Obwohl es eine Spur Wildheit in ihm gab, zeigte er sie ihr nie, und seine Gegenwart, war so angenehm wie die der Bäume und seltenen Vögel und vierbeinigen Geschöpfe des Hains. Wie er gesagt hatte, versuchte er nicht, sie zu lehren. Als sie ihn nach dem Hain fragte, sagte er ihr, daß er, genau wie der Kogel von Roke, schon existierte, als Segoy die Inseln der Welt gemacht hatte und alle Magie in den Wurzeln der Bäume wohnte, die mit den Wurzeln aller Wälder verflochten waren, die gewesen waren oder sein würden. »Und manchmal ist der Hain an diesem Ort«, sagte er, »und manchmal an einem anderen. Aber er ist immer.« Sie hatte nie gesehen, wo er lebte. In diesen warmen Sommernächten, dachte sie, schlief er wahrscheinlich, wo immer er Lust dazu hatte. Sie fragte ihn, woher das Essen kam, das sie zu sich nahmen; was die Schule selbst nicht zur Verfügung stellte, sagte er, das gaben die Bauern der Umgebung, denen als Gegenleistung der Schutz genügte, den die Meister für ihre Herden und Felder und Haine boten. Das leuchtete ihr ein. Auf Weg bedeutete »ein Magier ohne seinen Haferbrei« etwas Unvorstellbares, Unerhörtes. Aber sie war kein Magier, und um ihren Haferbrei zu verdienen, bemühte sie sich nach Kräften, das Otternhaus zu reparieren, wozu sie Werkzeuge von einem Farmer auslieh und Nägel und Mörtel in Thwil kaufte, denn sie hatte immer noch das halbe Käsegeld. Der Formgeber besuchte sie niemals vor der Mittagszeit, daher hatte sie die Vormittage zur freien Verfügung. Sie war an Einsamkeit gewöhnt, aber dennoch vermißte sie Rose und Daisy und Coney, die Hühner und Kühe und Milchschafe und die rüpelhaften, dummen Hunde sowie die ganze Arbeit, die sie zu Hause getan hatte, um Alt-Iria zusammenzuhalten und das Essen auf den Tisch zu bringen. Sie arbeitete jeden Morgen gemächlich, bis sie den Magier, dessen sonnenfarbenes Haar im Sonnenschein leuchtete, zwischen den Bäumen hervorkommen sah. Hier im Hain dachte sie nicht daran, etwas zu erarbeiten, zu verdienen oder auch nur zu lernen. Hier zu sein, das war genug, war alles., Als sie ihn fragte, ob Schüler aus dem Großhaus hierherkamen, sagte er: »Manchmal.« Ein andermal sagte er: »Meine Worte sind nichts. Hör auf die Blätter.« Das war das einzige, das er jemals sagte, das man als Lehre bezeichnen konnte. Wenn sie spazierenging, hörte sie auf die Blätter, wenn der Wind darin rauschte oder in den Baumwipfeln stürmte; sie verfolgte das Spiel der Schatten und dachte über die Wurzeln der Bäume unten in der Dunkelheit der Erde nach. Sie war durchaus damit zufrieden, hier zu sein. Und doch hatte sie, ohne Mißvergnügen oder Ungeduld, stets das Gefühl, daß sie wartete. Und diese stumme Erwartung war am deutlichsten und klarsten, wenn sie aus dem Schutz des Waldes trat und den freien Himmel sah. Einmal, als sie eine weite Strecke gegangen waren und dunkle Nadelbäume, die sie nicht kannte, hoch um sie herum aufragten, hörte sie einen Ruf – den Ton eines Horns oder einen Schrei? –, weit entfernt, gerade an der Hörgrenze. Sie blieb stehen und horchte nach Westen. Der Magier ging weiter und drehte sich erst um, als er merkte, daß sie stehengeblieben war. »Ich hörte ..«, sagte sie, konnte aber nicht sagen, was sie gehört hatte. Er lauschte. Schließlich gingen sie weiter in einer Stille, die nach dem fernen Ruf noch umfassender und alles beherrschend wirkte. Sie ging nie ohne ihn in den Hain, und es vergingen viele Tage, bis er sie darin allein ließ. Aber eines Tages, als sie an eine Lichtung zwischen einer Eichengruppe kamen, sagte er: »Ich werde hierher zurückkommen, ja«, ging mit seinen raschen, lautlosen Schritten weiter und verschwand fast augenblicklich in den gefleckten, sich verändernden Tiefen des Waldes. Sie hatte nicht den Wunsch, den Wald allein zu erforschen. Der friedliche Ort gebot Stille, Beobachten, Zuhören; und sie wußte, wie trügerisch die Wege waren, und daß der Hain, wie der Formgeber sich ausdrückte, »innen größer als außen« war. Sie setzte sich auf einer sonnenfleckigen Stelle inmitten der Schatten nieder und verfolgte das Schattenspiel des Laubs auf dem Boden., Eine tiefe Schicht Eicheln lag am Boden verstreut; sie hatte noch nie Wildschweine in dem Wald gesehen, aber hier sah sie ihre Fährten. Einen Moment lang nahm sie den Geruch eines Fuchses wahr. Ihre Gedanken bewegten sich so leicht und angenehm wie die Brise in dem warmen Licht. Häufig schien ihr Kopf ganz frei von Gedanken und ganz von dem Wald selbst erfüllt zu sein, aber an diesem Tag überfielen sie lebhafte und deutliche Erinnerungen. Sie dachte an Elfenbein, den sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde, und fragte sich, ob er ein Schiff gefunden hatte, das ihn zurück nach Havnor brachte. Er hatte ihr gesagt, daß er nie wieder nach Westteich zurückkehren würde; der einzige Ort für ihn sei der Große Hafen, die Stadt des Königs. Seinetwegen könnte die ganze Insel weg tief im Meer versinken. Aber sie dachte voller Liebe an die Straßen und Felder von Weg. Sie dachte an das Dorf von Alt-Iria, die marschige Quelle unter dem Iriaberg, das alte Haus darauf. Sie dachte an Daisy, die in der Küche ihre Balladen sang, an Winterabende, an ihre Holzpantoffeln, mit denen sie den Takt der Sekunden klopfte; und an den alten Coney mit seinem scharfen Messer in den Weingärten, wo er ihr zeigte, wie man die Reben »bis auf das Leben in ihnen« zurückschnitt; und an Rose, ihre Etaudis, die Zaubersprüche flüsterte, um die Schmerzen im gebrochenen Arm eines Kindes zu lindern. Ich habe weise Menschen kennengelernt, dachte sie. Ihr Geist schrak vor Erinnerungen an ihren Vater zurück, aber die Bewegungen von Blättern und Schatten beschworen sie dennoch herauf. Sie sah ihn betrunken und brüllend. Sie spürte seine tastenden, zitternden Hände auf sich. Sie sah ihn elend und beschämt weinen, und Kummer erfüllte ihren Körper und löste sich wieder auf wie ein Schmerz, der langsam abklingt. Er bedeutete ihr weniger als die Mutter, die sie nie gekannt hatte. Sie streckte sich, spürte das Wohlgefühl ihres Körpers in der Wärme, und ihre Gedanken wanderten zu Elfenbein zurück. Sie hatte niemanden in ihrem Leben, den sie begehrt hätte. Als der junge Magier zum erstenmal so jung und arrogant vorbeigeritten, war, hatte sie sich gewünscht, sie hätte ihn wollen können; aber sie konnte nicht, und daher hatte sie geglaubt, daß er durch eine Magie geschützt sei. Rose hatte ihr erklärt, wie die Zaubersprüche von Magiern wirkten, »damit das Verlangen dir nie in den Kopf eindringt, und in ihren auch nicht, weil das auf Kosten ihrer Macht gehen würde, sagen sie«. Aber Elfenbein, der arme Elfenbein, war nur allzu ungeschützt gewesen. Wenn jemand unter einem Keuschheitszauber stand, dann mußte sie das gewesen sein, denn so bezaubernd und hübsch er auch war, sie hatte nie etwas anderes für ihn empfinden können als Zuneigung, und ihre einzige Lust war gewesen, zu lernen, was er ihr beibringen konnte. Sie dachte über sich selbst nach, während sie in der tiefen Stille des Hains saß. Kein Vogel sang; der Wind hatte sich gelegt; die Blätter hingen still. Bin ich behext? Bin ich ein steriles Ding, nicht vollständig, keine Frau? fragte sie sich und betrachtete ihre kräftigen bloßen Arme und die sanften Rundungen der Brüste im Schatten unter dem Kragen ihres Hemdes. Sie schaute auf und sah den Eisgrauen Mann aus dem dunklen Korridor unter den Eichen treten und über die Lichtung auf sie zukommen. Er blieb vor ihr stehen. Sie spürte, wie sie errötete, wie ihr Gesicht und ihr Hals brannten, ihr schwindlig wurde, ihr die Ohren klingelten. Sie suchte Worte, etwas, das sie sagen konnte, um seine Aufmerksamkeit von ihr abzulenken, fand aber überhaupt nichts. Er setzte sich neben sie. Sie senkte den Blick, als würde sie das Gerippe eines Blatts vom vergangenen Jahr betrachten. Was will ich? fragte sie sich, und die Antwort kam nicht in Worten, sondern durchströmte ihren ganzen Körper und ihre Seele: das Feuer, ein größeres Feuer als das, der Flug, der brennende Flug – Sie kehrte wieder in sich selbst zurück, in die Stille unter den Bäumen. Der Eisgraue Mann saß neben ihr und hatte den Kopf gesenkt, und sie dachte, wie schmal und leicht er aussähe, wie still, und traurig. Sie mußte ihn nicht fürchten. Er wollte ihr nicht schaden. Er sah zu ihr hinüber. »Irian«, sagte er, »hörst du die Blätter?« Die Brise wehte wieder sanft; sie konnte den Hauch eines Flüsterns zwischen den Eichen hören. »Ein bißchen«, sagte sie. »Verstehst du die Worte?« »Nein.« Sie stellte keine Fragen, und er sagte nichts mehr. Schließlich stand er auf, und sie folgte ihm auf dem Weg, der sie stets, früher oder später, aus dem Wald und zu der Lichtung am Thwilbach und dem Otternhaus führte. Als sie dort eintrafen, war es später Nachmittag. Er ging zum Bach und trank an der Stelle, wo er aus dem Wald herauskam, oberhalb der ganzen Spuren. Sie folgte seinem Beispiel. Als sie im kühlen, hohen Gras am Ufer saßen, fing er an, zu erzählen. »Mein Volk, die Kargs, betet Götter an. Zwillingsgötter, Brüder. Und der König dort ist ebenfalls ein Gott. Aber davor und danach existieren die Bäche. Höhlen, Steine, Hügel. Bäume. Die Erde. Die Dunkelheit der Erde.« »Die Alten Mächte«, sagte Irian. Er nickte. »Dort kennen Frauen die Alten Mächte. Und hier auch, Hexen. Und das Wissen ist böse – nicht wahr?« Wenn er dieses fragende »nicht wahr« an eine scheinbare Feststellung anhängte, überraschte er sie damit immer wieder. Sie sagte nichts. »Dunkelheit ist schlecht«, sagte der Formgeber. »Nicht wahr?« Irian holte tief Luft und sah ihm fest in die Augen, während sie dasaßen. »›Nur in der Dunkelheit ist Licht‹«, sagte sie. »Ah«, sagte er. Er wandte sich ab, so daß sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Ich sollte gehen«, sagte sie. »Ich kann im Hain spazierengehen, aber nicht dort leben. Er ist nicht mein .mein Ort. Und der Meister Sänger hat gesagt, daß ich durch mein Hiersein Schaden anrichte.«, »Wir alle richten durch unser Sein Schaden an«, sagte der Formgeber. Er tat, was er häufig tat, schaffte eine kleine Form aus allem, was eben zur Hand war: Auf den Sand des Ufers vor sich legte er den Stiel eines Blatts, einen Grashalm und mehrere Kieselsteine. Er betrachtete sie und ordnete sie neu. »Jetzt muß ich von Schaden sprechen«, sagte er. Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Du weißt, daß ein Drache unseren Lord Sperber zusammen mit dem jungen König von der Küste des Todes zurückgebracht hat. Danach trug der Drache Sperber in seine Heimat, denn seine Macht war dahin, er war kein Magier mehr. Aus diesem Grund versammelten sich die Meister von Roke zu gegebener Zeit, um einen neuen Erzmagier zu wählen, und zwar hier, im Hain, wie immer. Oder nicht wie immer. Bevor der Drache kam, war auch der Gebieter vom Tod zurückgekehrt, wohin er gehen, wohin seine Kunst ihn führen kann. Er hatte unseren Herrn und den jungen König dort gesehen, in jenem Land auf der anderen Seite der Steinmauer. Er sagte, sie würden nicht zurückkehren. Er sagte, Lord Sperber habe ihm gesagt, daß er zu uns zurückkehren solle, ins Leben, und die Kunde verbreiten. Und so trauerten wir um unseren Herrn. Doch dann kam der Drache Kalessin und brachte ihn lebend. Der Gebieter war bei uns, als wir auf dem Kogel von Roke standen und den Erzmagier vor König Lebannen knien sahen. Und als der Drache unseren Freund fortbrachte, fiel der Gebieter um. Er lag da wie tot, kalt, sein Herz schlug nicht, und doch atmete er. Der Kräutermeister setzte seine ganze Kunstfertigkeit ein, konnte ihn aber nicht erwecken. ›Er ist tot‹, sagte er. ›Der Atem will nicht aus ihm weichen, aber er ist tot.‹ Und so trauerten wir um ihn. Aber weil Uneinigkeit zwischen uns herrschte und meine Muster alle von Veränderung und Gefahr sprachen, trafen wir uns, um einen neuen Hüter von Roke zu, wählen, einen Erzmagier, der uns führen sollte. Und nach unserer Beratung setzten wir den jungen König anstelle des Gebieters ein. Uns kam es richtig vor, daß er in unserer Mitte sitzen sollte. Nur der Verwandler sprach sich zunächst dagegen aus, stimmte dann aber zu. Wir trafen uns, wir saßen beisammen, aber wir konnten uns nicht einigen. Wir sagten dies und das, aber kein Name wurde genannt. Doch dann überkam mich ..« Er machte eine Pause. »Mich überkam das, was mein Volk eduevanu nennt, den anderen Atem. Worte strömten in mich ein, und ich sprach sie aus. Ich sagte: Hama Gondun! – Und Kurremkarmerruk sagte ihnen dies in Hardisch: ›Eine Frau auf Gont.‹ Aber als ich wieder zu mir kam, konnte ich ihnen nicht sagen, was das bedeutete. Und so gingen wir auseinander, ohne daß ein Erzmagier gewählt wurde. Der König brach kurz danach auf, und der Meister Windschlüssel ging mit ihm. Bevor der König gekrönt werden sollte, gingen sie nach Gont und suchten unseren Herrn auf, um herauszufinden, was ›eine Frau auf Gont‹ zu bedeuten hatte. Aber sie sahen ihn nicht, nur meine Landsmännin Tenar vom Ring. Sie sagte, daß sie nicht die Frau sei, die sie suchten. Und sie fanden niemanden, nichts. So entschied Lebannen, daß es sich um eine Prophezeiung handelte, die noch erfüllt werden müßte. Und in Havnor setzte er sich die Krone selbst auf das Haupt. Der Kräutermeister und auch ich waren der Ansicht, daß der Gebieter tot sei. Wir glaubten, daß sein Atem von einem Zauberspruch seiner Kunst übrig war, den wir nicht verstanden, so wie der Zauber, den Schlangen kennen, der ihre Herzen noch schlagen läßt, wenn sie schon lange tot sind. So schrecklich es schien, einen Leib zu begraben, der noch atmete, er war kalt, sein Blut floß nicht, und keine Seele war in ihm. Das war schrecklicher. Also trafen wir Vorkehrungen, ihn zu begraben. Und dann, an seinem Grab, schlug er die Augen auf. Er bewegte sich und sprach. Er sagte: ›Ich habe mich selbst wieder ins Leben zurückgerufen, um zu tun, was getan werden muß.‹«, Die Stimme des Formgebers war rauher geworden, und plötzlich fegte er das kleine Muster der Kieselsteine mit der Hand beiseite. »Also waren wir bei der Rückkehr Windschlüssels wieder zu neunt. Aber uneins. Denn der Gebieter sagte, wir müßten uns wieder treffen und einen Erzmagier wählen. Der König hätte in unserer Mitte nichts verloren, sagte er. Und ›eine Frau auf Gont‹, wer immer sie sein mochte, habe unter den Männern von Roke ebenfalls nichts verloren. Na? Der Windschlüssel, der Sänger, der Verwandter, die Hand, sie sagen, er hat recht. Und sie sagen, da König Lebannen einer ist, der von den Toten wiedergekehrt ist und diese Prophezeiung erfüllt hat, wird auch der Erzmagier einer sein, der von den Toten zurückgekehrt ist.« »Aber ..«, sagte Irian und verstummte. Nach einer Weile sagte der Formgeber: »Diese Kunst, das Gebieten, weißt du, ist sehr .schrecklich. Sie ist .immer gefährlich. Hier«, und er sah in die grün-goldene Dunkelheit der Bäume hinauf, »hier gibt es kein Gebieten. Keine Rückkehr über die Mauer. Keine Mauer.« Sein Gesicht war das Gesicht eines Kriegers, aber wenn er die Bäume ansah, wurde es sanfter, sehnsüchtig. »Nun«, sagte er, »macht er dich zum Grund für unser Zusammentreffen. Aber ich werde nicht zum Großhaus gehen. Ich lasse nicht über mich gebieten.« »Wird er nicht hierherkommen?« »Ich glaube nicht, daß er im Wald spazierengehen wird. Auch nicht auf dem Kogel von Roke. Was auf dem Kogel ist, das ist so.« Sie wußte nicht, was er meinte, fragte aber nicht, da ihr andere Gedanken durch den Kopf gingen: »Du sagst, er macht mich zum Grund für ein Treffen.« »Ja. Es braucht neun Magier, um eine Frau wegzuschicken.« Er lächelte selten, und wenn, dann rasch und wild. »Wir sollen uns treffen, um dem Gesetz von Roke Geltung zu verschaffen. Und um einen Erzmagier zu wählen.«, »Wenn ich weggehen würde ..« Sie sah ihn den Kopf schütteln. »Ich könnte zum Namengeber gehen ..« »Hier bist du sicherer.« Die Vorstellung, Schaden anzurichten, bekümmerte sie, aber an Gefahr hatte sie noch nicht gedacht. Das fand sie unvorstellbar. »Mir geschieht schon nichts«, sagte sie. »Also der Namengeber, und du .und der Türhüter? ..« ».wünschen nicht, daß Thorion Erzmagier wird. Auch der Kräutermeister nicht, aber der gräbt und sagt wenig.« Er sah, wie Irian ihn erstaunt ansah. »Thorion der Gebieter nennt seinen wahren Namen«, sagte er. »Er ist gestorben, nicht wahr?« Sie wußte, daß König Lebannen seinen wahren Namen offen benutzte. Auch er war von den Toten zurückgekehrt. Aber daß der Gebieter es ebenfalls tat, schockierte und beunruhigte sie, wenn sie darüber nachdachte. »Und die .Schüler?« »Ebenfalls uneins.« Sie dachte an die Schule, wo sie so kurz gewesen war. Von hier, unter den Wipfeln des Hains, sah sie die Schule als Steinmauern, die alle eine Art von Sein ein- und alle anderen ausschlossen, wie ein Stall, ein Käfig. Wie konnte einer von ihnen an so einem Ort sein Gleichgewicht wahren? Der Formgeber schob auf dem Sand vier kleine Kiesel zu einem Halbkreis zusammen und sagte: »Ich wünschte, Sperber wäre nicht gegangen. Ich wünschte, ich könnte lesen, was die Schatten schreiben. Aber ich kann die Blätter nur eines sagen hören, Veränderung, verändern .Alles wird sich verändern, außer ihnen.« Er sah wieder mit diesem sehnsüchtigen Blick zu den Blättern auf. Die Sonne ging unter; er stand auf, sagte Irian sanft gute Nacht, ging fort und verschwand unter den Bäumen. Sie blieb eine Weile beim Thwilbach sitzen. Was er ihr gesagt hatte, beunruhigte sie, ebenso ihre Gedanken und Gefühle in dem Hain, und es beunruhigte sie, daß ein Gedanke oder Gefühl sie dort beunruhigen konnte. Sie ging zum Haus, bereitete sich ein Abendessen mit Rauchfleisch und Brot und Sommersalat und, aß es, ohne etwas zu schmecken. Sie ging rastlos zum Ufer und zum Bach zurück. Es war sehr still und warm in der Dämmerung, nur die hellsten Sterne konnte man durch die milchige Wolkendecke sehen. Sie streifte die Sandalen ab und steckte die Füße ins Wasser. Es war kühl, aber von der Sonne gewärmte Ströme flossen darin. Sie schlüpfte aus ihrer Kleidung, den Männerhosen und dem Hemd, die alles waren, was sie besaß, glitt nackt in das Wasser und spürte den Sog und das Kitzeln der Strömung am ganzen Körper. In den Bächen von Iria war sie nie geschwommen, und das wogende und graue Meer hatte sie gehaßt, aber dieses rasch fließende Gewässer gefiel ihr heute abend. Sie ließ sich treiben, strich unter Wasser mit den Händen über seidige Steine und die eigenen seidigen Flanken, und ihre Beine glitten durch Wasserpflanzen. Das fließende Wasser spülte ihre Sorgen und Rastlosigkeit von ihr ab, sie schwebte entzückt in der Liebkosung des Bachs und schaute zum weißen, sanften Feuer der Sterne auf. Kälte durchlief sie. Das Wasser wurde kalt. Sie riß sich zusammen, obwohl ihre Gliedmaßen immer noch entspannt und locker waren, sah auf und erblickte am Ufer über sich die schwarze Gestalt eines Mannes. Sie stand im Wasser auf. »Fort mit dir!« rief sie. »Geh weg, du Verräter, du elender Lüstling, oder ich schneide dir die Leber aus dem Leib!« Sie sprang ans Ufer, zog sich an dem robusten Schilfgras hoch und rappelte sich auf. Niemand war da. Sie stand erzürnt und vor Wut bebend da. Sie hüpfte am Ufer entlang, fand ihre Kleidung und zog sie immer noch fluchend an – »Du feiger Magier! Du verräterischer Hurensohn!« »Irian?« »Er war da!« schrie sie. »Dieser üble Kerl, dieser Thorion!« Sie stapfte dem Formgeber entgegen, der beim Haus ins Sternenlicht trat. »Ich habe im Bach gebadet, und er hat dagestanden und mich beobachtet!«, »Eine Sendung – nur ein Abbild von ihm. Er konnte dir nichts tun, Irian.« »Eine Sendung mit Augen, ein Abbild, das sehen kann. Möge er –« Sie verstummte, weil ihr plötzlich die Worte fehlten. Ihr war übel. Sie erschauerte und schluckte den kalten Speichel, der sich in ihrem Mund sammelte. Der Formgeber kam näher und nahm ihre Hände in seine. Seine Hände waren warm, und ihr war so sterbenskalt, daß sie sich seiner Körperwärme wegen an ihn drückte. So standen sie eine Weile da, ihr Gesicht von ihm abgewandt, aber die Hände vereint und die Körper dicht beisammen. Schließlich riß sie sich los, richtete sich auf und strich sich das nasse, strähnige Haar zurück. »Danke«, sagte sie. »Mir war kalt.« »Ich weiß.« »Mir ist nie kalt«, sagte sie. »Das war er.« »Ich sage dir, Irian, er kann nicht hierherkommen, er kann dir hier kein Leid zufügen.« »Er kann mir nirgendwo ein Leid zufügen«, sagte sie, und das Feuer strömte wieder durch ihre Adern. »Wenn er es versucht, werde ich ihn vernichten.« »Ah«, sagte der Formgeber. Sie sah ihn im Sternenlicht an und sagte: »Sag mir deinen Namen .nicht deinen wahren Namen .nur den, mit dem ich dich ansprechen kann. Wenn ich an dich denke.« Er blieb einen Moment schweigend stehen, dann sagte er: »Als ich noch ein Barbar war, in Karego-At, war ich Azver. Es ist Hardisch und heißt das Banner des Krieges.« »Danke«, sagte sie. Sie lag wach in dem kleinen Haus, spürte die erstickende Luft und die Decke drohte ihr auf den Kopf zu fallen, dennoch schlief sie plötzlich fest ein. Sie erwachte ebenso unvermittelt, als es im Osten gerade hell wurde. Sie ging zur Tür, um zu sehen, was sie sich am liebsten ansah, den Himmel vor Sonnenaufgang. Als sie nach unten schaute, erblickte sie Azver, den Formgeber, in seinen, grauen Mantel eingerollt, fest schlafend auf ihrer Schwelle. Sie zog sich lautlos ins Haus zurück. Nach einer Weile sah sie ihn in seinen Wald zurückkehren, ein wenig steifbeinig und sich am Kopf kratzend, wie es die Art von Leuten ist, die erst halb wach sind. Sie begann mit der Arbeit, schabte die Innenwand des Hauses ab und machte sich daran, sie neu zu verputzen. Aber bevor die Sonne zu den Fenstern hereinschien, wurde an die Tür geklopft. Draußen stand der Mann, den sie für einen Gärtner gehalten hatte, der Kräutermeister, der handfest und gleichmütig wie ein brauner Ochse neben dem hageren, grimmigen alten Namengeber wirkte. Sie kam zur Tür und murmelte eine Art von Begrüßung. Sie schüchterten sie ein, diese Meister von Roke, und ihre Anwesenheit bedeutete auch, daß die friedliche Zeit, da sie mit dem Formgeber schweigend Spaziergänge im sonnigen Wald unternommen hatte, vorbei war. Sie war letzte Nacht zu Ende gegangen. Das wußte sie, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. »Der Formgeber hat nach uns geschickt«, sagte Meister Kräutermeister. Er sah unbehaglich drein. Als er ein Büschel Unkraut unter dem Fenster bemerkte, sagte er: »Das ist Velvet Jemand von Havnor hat ihn dort gepflanzt. Ich wußte nicht, daß es auf der Insel welchen gibt.« Er untersuchte die Pflanze eingehend und steckte einige Samenkapseln in seinen Beutel. Irian betrachtete den Namengeber heimlich, aber gleichermaßen aufmerksam, und versuchte zu ergründen, ob er eine Sendung war, wie er es nannte, oder leibhaftig anwesend. Nichts an ihm wirkte substanzlos, aber sie glaubte, daß er nicht da war, und als er in das schräge Sonnenlicht trat und keinen Schatten warf, da wußte sie es. »Ist es ein weiter Weg von dort, wo Sie wohnen, Sir?« fragte sie. Er nickte. »Habe mich auf halbem Weg zurückgelassen«, sagte er. Er sah auf; der Formgeber, jetzt hellwach, kam auf sie zu., Er begrüßte sie und fragte: »Wird der Türhüter kommen?« »Er meinte, daß er besser die Türen hüten sollte«, sagte der Kräutermeister. Er machte seinen Beutel mit den vielen Taschen sorgfältig zu und sah die anderen an. »Aber ich weiß nicht, ob er einen Deckel auf dem Ameisenhaufen halten kann.« »Was ist los?« fragte Kurremkarmerruk. »Ich habe über Drachen gelesen. Nicht weiter darauf geachtet. Aber alle Jungen, die ich im Turm lernen ließ, sind fort.« »Gerufen«, sagte der Kräutermeister trocken. »Und?« sagte der Namengeber noch trockener. »Ich kann nur sagen, wie es mir zu sein scheint«, sagte der Kräutermeister zögernd, unbehaglich. »Tu das«, sagte der alte Magier. Der Kräutermeister zauderte immer noch. »Diese Dame ist nicht von unserer Art«, sagte er schließlich. »Sie ist von meiner«, sagte Azver. »Sie kam zu dieser Zeit an diesen Ort«, sagte der Namengeber. »Und zu dieser Zeit kommt niemand zufällig an diesen Ort. Wir alle wissen nur, wie es uns zu sein scheint. Es gibt Namen hinter Namen, mein Lord Heiler.« Darauf neigte der Magier mit den dunklen Augen den Kopf und sagte: »Nun denn«, und akzeptierte offenbar erleichtert ihr Urteil. »Thorion hat viel Zeit mit den anderen Meistern und den jungen Männern verbracht. Geheime Treffen, innere Kreise. Gerüchte und Getuschel. Die jüngeren Schüler haben Angst, und viele haben mich oder den Türhüter gefragt, ob sie gehen können. Und wir würden sie gehen lassen. Aber es liegt kein Schiff im Hafen, und seit das Schiff dich hergebracht hat, junge Dame, und nach Wathort weitergesegelt ist, hat kein anderes mehr die Bucht von Thwil angelaufen. Der Windschlüssel wendet den Wind von Roke gegen alle. Und wenn der König selbst kommen sollte, könnte er nicht an Rokes Küste landen.« »Bis sich der Wind dreht, nicht wahr?« sagte der Formgeber. »Thorion sagt, Lebannen ist kein richtiger König, weil kein Erzmagier ihn gekrönt hat.«, »Unsinn! Nicht verbürgt!« sagte der alte Namengeber. »Der erste Erzmagier kam Jahrhunderte nach dem letzten König. Roke regierte anstelle der Könige.« »Ah«, sagte der Formgeber. »Es fällt dem Haushälter schwer, den Schlüssel abzugeben, wenn der Besitzer nach Hause kommt.« »Der Ring des Friedens ist wieder ganz«, sagte der Kräutermeister mit seiner ruhigen, besorgten Stimme, »die Prophezeiung ist erfüllt, der Sohn von Morred gekrönt, und doch haben wir keinen Frieden. Wo haben wir uns geirrt? Warum können wir kein Gleichgewicht finden?« »Was hat Thorion vor?« fragte der Namengeber. »Lebannen hierherzubringen«, sagte der Kräutermeister. »Die jungen Männer sprechen von der ›wahren Krone‹. Eine zweite Krönung hier. Durch den Erzmagier Thorion!« »Behüte!« stieß Irian hervor und machte das Zeichen, um zu verhindern, daß aus Wort Tat wurde. Keiner der Männer lächelte, und der Kräutermeister machte kurz darauf dieselbe Geste. »Wie hält er sie alle?« fragte der Namengeber. »Kräutermeister, du warst hier, als Sperber und Thorion von Irioth herausgefordert wurden. Ich glaube, seine Gabe war so groß wie die von Thorion. Er wandte sie an, um Männer zu benutzen, um sie ganz und gar zu beherrschen. Ist es das, was Thorion macht?« »Ich weiß nicht«, sagte der Kräutermeister. »Ich kann euch nur sagen, wenn ich bei ihm bin, wenn ich im Großhaus bin, dann ist mir, als könnte nichts getan werden, das nicht schon getan worden ist. Daß nichts sich verändern wird. Nichts wachsen wird. Daß die Krankheit zum Tode führen wird, welche Heilmittel ich auch einsetze.« Er sah sie alle an wie ein verwundeter Ochse. »Und ich glaube, es ist wahr. Es gibt keine andere Möglichkeit mehr, das Gleichgewicht wiederherzustellen, als durch Stillhalten. Wir sind zu weit gegangen. Daß der Erzmagier und Lebannen leibhaftig in den Tod gegangen und zurückgekehrt sind – das war nicht recht. Sie haben ein Gesetz gebrochen, das nicht gebrochen werden darf. Um diesem Gesetz wieder Geltung zu verschaffen, ist Thorion zurückgekehrt.«, »Was – um sie in den Tod zurückzuschicken?« fragte der Namengeber, und der Kräutermeister sagte: »Wem steht es an, zu sagen, was das Gesetz ist?« »Es existiert eine Mauer«, sagte der Kräutermeister. »Diese Mauer ist nicht so tief verwurzelt wie meine Bäume«, sagte der Formgeber. »Aber du hast recht, Kräutermeister, wir sind aus dem Gleichgewicht«, sagte Kurremkarmerruk mit rauher und schroffer Stimme. »Wann und wo haben wir angefangen, zu weit zu gehen? Was haben wir vergessen, übersehen, wem den Rücken zugewandt?« Irian sah von einem zum anderen. »Wenn das Gleichgewicht gestört ist, nützt es nichts, nur stillzuhalten. Es muß schlimmer werden«, sagte der Formgeber. »Bis ..« Er machte eine rasche Geste der Umkehr mit den Händen, von oben nach unten, von unten nach oben. »Was könnte falscher sein, als sich selbst von den Toten zurückzurufen?« fragte der Namengeber. »Thorion war der beste von uns allen – ein tapferes Herz, von edler Gesinnung.« Der Kräutermeister sprach fast zornig. »Sperber liebte ihn. Wie wir alle.« »Das Gewissen plagte ihn«, sagte der Namengeber. »Das Gewissen sagte ihm, daß er allein alles wieder richten könne. Um das zu bewerkstelligen, trotzte er seinem Tod. Und nun trotzt er dem Leben.« »Und wer soll sich gegen ihn erheben?« fragte der Formgeber. »Ich kann mich nur in meinen Wäldern verbergen.« »Und ich in meinem Turm«, sagte der Namengeber. »Und du, Kräutermeister, und der Türhüter, ihr sitzt im Großhaus in der Falle. Den Mauern, die wir errichtet haben, um alles Böse draußen zu halten. Oder drinnen, wie sich erweisen könnte.« »Wir sind vier gegen ihn«, sagte der Formgeber. »Sie sind fünf gegen uns«, sagte der Kräutermeister., »Ist es so weit gekommen«, sagte der Namengeber, »daß wir am Rand des Hains stehen, den Segoy selbst gepflanzt hat, und darüber reden, wie wir einander vernichten können?« »Ja«, sagte der Formgeber. »Was zu lange unverändert bleibt, vernichtet sich selbst. Der Wald ist ewig, weil er stirbt und wieder stirbt und dadurch lebt. Ich werde nicht zulassen, daß mich diese tote Hand berührt. Oder den König berührt, der uns Hoffnung gebracht hat. Ein Versprechen wurde gegeben, durch mich gegeben, ich habe es ausgesprochen – ›Eine Frau auf Gont‹ –, ich werde nicht zusehen, wie dieses Wort in Vergessenheit gerät.« »Sollen wir also nach Gont gehen?« fragte der Kräutermeister, der sich von Azvers Leidenschaft anstecken ließ. »Sperber ist dort.« »Tenar vom Ring ist dort«, sagte Azver. »Vielleicht liegt dort unsere Hoffnung«, sagte der Namengeber. Sie standen unschlüssig beisammen und versuchten, der Hoffnung Raum zu geben. Auch Irian schwieg, aber ihre Hoffnung schwand und wich einem Gefühl der Scham und völligen Bedeutungslosigkeit. Dies waren tapfere, weise Männer, die zu retten trachteten, was sie liebten, aber nicht wußten, wie sie es anstellen sollten. Und sie hatte keinen Anteil an ihrer Weisheit, kein Mitspracherecht bei ihren Entscheidungen. Sie entfernte sich von ihnen, und sie bemerkten es nicht. Sie ging weiter, zum Thwilbach, wo er aus dem Wald herauskam und über eine kleine Steingruppe fiel. Im morgendlichen Sonnenlicht funkelte das Wasser und gab ein glückliches Murmeln von sich. Sie wollte weinen, aber im Weinen war sie noch nie gut gewesen. Sie stand da, betrachtete das Wasser, und ihre Scham verwandelte sich allmählich in Zorn. Sie ging zu den drei Männern zurück und sagte: »Azver.« Er drehte sich erschrocken zu ihr um und kam ein Stück näher. »Warum habt ihr meinetwegen euer Gesetz gebrochen? War es fair mir gegenüber, die niemals sein kann, was ihr seid?«, Azver runzelte die Stirn. »Der Türhüter hat dich eingelassen, weil du darum gebeten hast«, sagte er. »Ich brachte dich in den Hain, weil die Blätter der Bäume deinen Namen nannten, noch ehe du überhaupt hier warst. Irian, sagten sie. Irian. Ich weiß nicht, warum du gekommen bist, aber nicht aus Zufall. Auch der Gebieter weiß das.« »Vielleicht bin ich gekommen, um ihn zu vernichten.« Er sah sie an und sagte nichts. »Vielleicht bin ich hergekommen, um Roke zu vernichten.« Seine blassen Augen blitzten. »Versuch´s!« Ein Schauer durchlief sie, wie sie ihm so gegenüber stand. Sie fühlte sich größer, als er war, größer, als sie selbst war, sehr viel größer. Sie konnte einen Finger heben und ihn vernichten. Er stand da in seinem kleinen, tapferen, kurzen Menschsein, seiner Sterblichkeit, schutzlos. Sie holte tief, tief Luft. Sie rückte von ihm ab. Das Gefühl gewaltiger Kraft strömte aus ihr. Sie neigte den Kopf ein wenig und sah überrascht ihren braunen Arm, den hochgekrempelten Ärmel, das frische grüne Gras um die Sandalen an ihren Füßen herum. Sie sah den Formgeber wieder an, und er schien immer noch ein verletzbares Wesen zu sein. Sie bedauerte und ehrte ihn. Sie wollte ihn vor der Gefahr warnen, in der er schwebte. Aber sie brachte kein einziges Wort heraus. Sie drehte sich um und ging zum Bachufer, zu dem winzigen Wasserfall zurück. Dort ließ sie sich auf die Hacken nieder, verbarg das Gesicht in den Armen, schloß ihn aus, schloß die Welt aus. Die Stimmen der Magier waren wie die Stimmen des fließenden Bachs. Der Bach sprach seine Worte und sie die ihren, aber es waren alles nicht die richtigen Worte. 4. Irian Als Azver zu den anderen Männern zurückkehrte, veranlaßte sein Gesichtsausdruck den Kräutermeister zu der Frage: »Was ist?«, »Ich weiß nicht«, sagte Azver. »Vielleicht sollten wir Roke nicht verlassen.« »Vielleicht können wir das gar nicht«, sagte der Kräutermeister. »Wenn der Windschlüssel die Winde gegen uns wendet ..« »Ich kehre dahin zurück, wo ich bin«, sagte Karremkamerruk unvermittelt. »Ich lasse mich nicht gern herumliegen wie einen alten Schuh. Ich geselle mich heute abend wieder zu euch.« Und damit war er verschwunden. »Ich würde gern ein wenig unter deinen Bäumen spazierengehen, Azver«, sagte der Kräutermeister mit einem Stoßseufzer. »Geh nur, Deyala. Ich bleibe hier.« Der Kräutermeister entfernte sich. Azver setzte sich auf die rauhe Bank, die Irian gemacht hatte, und lehnte sich an die Vorderseite des Hauses. Er sah stromaufwärts zu ihr, die reglos am Ufer verharrte. Schafe auf der Wiese zwischen ihnen und dem Großhaus blökten leise. Die Morgensonne wurde heiß. Sein Vater hatte ihm den Namen Banner des Krieges gegeben. Er war nach Westen gekommen, hatte alles zurückgelassen, was er kannte, seinen wahren Namen von den Bäumen des Innewohnenden Hains erfahren und war zum Formgeber von Roke geworden. Das ganze Jahr sprachen die Formen der Schatten und der Äste und der Wurzeln, die stumme Sprache seines Waldes, von Zerstörung, von Überwindung, von der Veränderung aller Dinge. Und nun war diese Veränderung über sie gekommen, das wußte er. Mit ihr. Sie unterstand seinem Einfluß, seiner Obhut, das hatte er gewußt, als er sie gesehen hatte. Auch wenn sie gekommen war, um Roke zu vernichten, wie sie gesagt hatte, mußte er ihr dienen. Er tat es bereitwillig. Sie war mit ihm durch den Wald gegangen, groß, linkisch, furchtlos; sie hatte die dornigen Arme von Büschen mit ihrer behutsamen Hand beiseite gehalten. Ihre Augen, bernsteinbraun wie das Wasser des Thwilbachs in der Dämmerung, sahen alles; sie hatte zugehört; sie war still gewesen., Er wollte sie beschützen und wußte, daß er es nicht konnte. Er hatte ihr ein wenig Wärme gespendet, als ihr kalt gewesen war. Sonst hatte er ihr nichts zu geben. Wohin sie gehen mußte, dahin würde sie gehen. Sie hatte keinen Begriff von Gefahr. Sie hatte keine Weisheit außer ihrer Unschuld, keinen Panzer außer ihrem Zorn. Wer bist du, Irian? sagte er zu ihr und sah sie an, geduckt wie ein in seiner Sprachlosigkeit gefangenes Tier. Sein Freund kam aus dem Wald zurück und setzte sich eine Weile neben ihn auf die Bank. Um die Mittagszeit kehrte er ins Großhaus zurück und willigte ein, am Morgen mit dem Türhüter zurückzukommen. Sie würden alle anderen Meister bitten, sich im Hain mit ihnen zu treffen. »Aber er wird nicht kommen«, sagte Deyala, und Azver nickte. Den ganzen Tag hielt er sich in der Nähe des Otternhauses auf, behielt Irian im Auge, sorgte dafür, daß sie eine Kleinigkeit mit ihm aß. Sie kam zum Haus, aber nachdem sie gegessen hatten, kehrte sie zu der Stelle am Bach zurück und verweilte reglos dort. Und auch er verspürte eine Lethargie von Geist und Körper, eine Dummheit, gegen die er ankämpfte, die er aber nicht abschütteln konnte. Er dachte an die Augen des Gebieters, und da wurde ihm kalt, obwohl er in der Wärme des Sommertages saß. Wir werden von den Toten regiert, dachte er. Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war dankbar, als er Kurremkarmerruk langsam von Norden am Ufer des Thwilbachs entlang kommen sah. Der alte Mann watete barfuß durch den Bach, hielt seine Schuhe in der einen und einen langen Stab in der anderen Hand und fauchte, wenn er auf den Steinen abrutschte. Am diesseitigen Ufer setzte er sich hin, trocknete die Füße ab und zog die Schuhe wieder an. »Wenn ich zum Turm zurückkehre«, sagte er, »fahre ich. Ich miete einen Kutscher, kaufe ein Maultier. Ich bin alt, Azver.« »Komm mit zum Haus«, sagte der Formgeber und servierte dem Namengeber Wasser und Essen. »Wo ist das Mädchen?«, »Schläft.« Azver nickte zu der schlafenden Gestalt, die zusammengerollt im Gras oberhalb des kleinen Wasserfalls lag. Die Hitze des Tages ließ langsam nach, die Schatten des Hains fielen auf das Gras, aber das Otternhaus lag noch im Sonnenlicht. Kurremkarmerruk saß mit dem Rücken zur Hauswand, Azver auf der Schwelle. »Wir sind am Ende angelangt«, sagte der alte Mann in die Stille. Azver nickte stumm. »Was hat dich hierhergeführt, Azver?« fragte der Namengeber. »Das wollte ich dich schon oft fragen. Es war ein langer, langer Weg. Und soweit ich weiß, gibt es keine Magier in den Landern der Kargisch.« »Nein. Aber wir haben alles, woraus die Magie gemacht ist. Wasser, Steine, Bäume, Worte ..« »Aber nicht die Worte des Schöpfens.« »Nein. Auch keine Drachen.« »Niemals?« »Nur in einigen sehr, sehr alten Geschichten. Bevor die Götter existierten. Bevor die Menschen existierten. Bevor die Menschen Menschen wurden, waren sie Drachen.« »Also das ist interessant«, sagte der alte Gelehrte und richtete sich auf. »Ich habe dir gesagt, daß ich über Drachen gelesen habe. Du weißt, es wird gemunkelt, daß sie über dem Inneren Meer fliegen, sogar östlich bis Gont. Das war zweifellos Kalessin, der Ged nach Hause gebracht hat, vervielfältigt durch Matrosen, die eine gute Geschichte noch besser machen wollten. Aber ein Junge hat mir geschworen, daß sein ganzes Dorf dieses Frühjahr Drachen hat fliegen sehen, westlich des Berges Onn. Und darum habe ich die alten Bücher gelesen, um zu erfahren, wann sie das letzte Mal östlich von Pendor gewesen sind. Und in einem stieß ich auf deine Geschichte, oder etwas Ähnliches. Daß Menschen und Drachen eine Rasse waren, sich aber zerstritten haben. Einige gingen nach Osten und einige nach Westen, und sie, wurden zwei Rassen und vergaßen, daß sie je eine gewesen waren.« »Wir sind am weitesten nach Osten gezogen«, sagte Azver. »Aber weißt du, wie in meiner Sprache der Führer einer Armee heißt?« »Erdan«, sagte der Namengeber prompt und lachte. »Drake. Drache ..« Nach einer Weile sagte er: »Ich könnte der Etymologie im Angesicht des Untergangs nachspüren .Und ich glaube, genau da sind wir, Azver. Wir werden ihn nicht besiegen.« »Er ist im Vorteil«, sagte Azver trocken. »So ist es. Also .also, wenn wir das Unwahrscheinliche annehmen, wenn wir das Unmögliche annehmen – wenn wir ihn besiegen – wenn er in den Tod zurückkehren und uns lebend hier zurücklassen würde – was würden wir tun? Was kommt als nächstes?« Erst nach langer Zeit sagte Azver: »Ich habe keine Ahnung.« »Verraten deine Blätter und Schatten dir nichts?« »Veränderung, Veränderung«, sagte der Formgeber. »Verwandlung.« Plötzlich schaute er auf. Die Schafe, die beim Zauntritt in einer Gruppe gestanden hatten, stoben davon, und jemand kam den Weg vom Großhaus herunter. »Eine Gruppe junger Männer«, sagte der Kräutermeister atemlos, als er näher kam. »Thorions Armee. Auf dem Weg hierher. Um das Mädchen zu holen. Sie wegzuschicken.« Er blieb stehen und holte Luft. »Der Türhüter hat mit ihnen gesprochen, als ich ging. Ich glaube ..« »Da ist er«, sagte Azver, und da stand der Türhüter, dessen glattes, gelblich-braunes Gesicht gelassen wie immer wirkte. »Ich habe ihnen gesagt«, sagte der Türhüter, »wenn sie heute durch Medras Tor hinausgingen, würden sie nie wieder das Haus betreten, das sie kannten. Da waren einige dafür, umzukehren. Aber der Windschlüssel und der Sänger trieben sie an. Sie werden bald hier sein.«, Sie konnten auf den Feldern östlich des Hains Männerstimmen hören. Azver ging rasch zu Irian, die beim Bach lag, und die anderen folgten ihm. Sie erwachte, stand auf und sah sich dumpf und benommen um. Sie standen um sie herum, eine Art Wache, als die Gruppe von dreißig oder mehr Männern an dem kleinen Haus vorbeiging und auf sie zukam. Es waren überwiegend ältere Schüler; fünf oder sechs Zauberstäbe waren in der Menge zu sehen, und der Meister Windschlüssel führte sie an. Sein schmales, scharfgeschnittenes Gesicht sah abgespannt und müde aus, aber er begrüßte die vier Magier höflich mit ihren Titeln. Sie begrüßten ihn ebenfalls, und Azver ergriff das Wort: »Komm in den Hain, Meister Windschlüssel«, sagte er, »dort werden wir auf die anderen von uns neun warten.« »Zuerst müssen wir die Frage klären, die uns entzweit«, sagte der Windschlüssel. »Das ist eine steinerne Frage«, sagte der Namengeber. »Diese Frau bei dir verstößt gegen das Gesetz von Roke«, sagte der Windschlüssel. »Sie muß gehen. Am Pier wartet ein Boot, um sie mitzunehmen, und ich kann dir versichern, daß der Wind bis Weg günstig wehen wird.« »Daran zweifle ich nicht, mein Herr«, sagte Azver, »aber ich bezweifle, daß sie gehen wird.« »Mein Lord Formgeber, möchtest du gegen unser Gesetz und unsere Gemeinschaft verstoßen, die so lange Ordnung gegen die Kräfte des Untergangs aufrechterhält? Willst von allen Männern ausgerechnet du es sein, der die Form nicht wahrt?« »Es ist kein Glas zu zerbrechen«, sagte Azver. »Es ist Atem. Es ist Feuer.« Es kostete ihn Anstrengung, zu sprechen. »Es kennt keinen Tod«, sagte er, aber in seiner eigenen Sprache, daher verstanden sie ihn nicht. Er rückte näher zu Irian. Er spürte ihre Körperwärme. Sie stand wachsam da, in diesem tiergleichen Schweigen, als würde sie keinen von ihnen verstehen., »Lord Thorion ist vom Tod zurückgekehrt, um uns alle zu retten«, sagte der Windschlüssel hitzig und mit Nachdruck. »Er wird Erzmagier sein. Unter seiner Herrschaft wird Roke sein wie einst. Der König wird die wahre Krone aus seiner Hand empfangen und unter seiner Führung regieren, wie Morred regiert hat. Keine Hexen werden heiligen Boden entweihen. Keine Drachen werden das Innere Meer bedrohen. Ordnung, Sicherheit und Frieden werden herrschen.« Keiner der Magier antwortete ihm. In der Stille murmelten die Männer in seiner Begleitung untereinander, und einer sagte: »Gebt uns die Hexe.« »Nein«, sagte Azver, konnte aber sonst nichts sagen. Er hielt seinen Weidenstab, doch der war nur Holz in seiner Hand. Von den vieren machte nur der Türhüter eine Bewegung und sprach. Er trat vor und sah von einem jungen Mann zum nächsten. »Ihr habt mir vertraut«, sagte er, »und mir eure Namen verraten. Werdet ihr mir jetzt vertrauen?« »Mein Herr«, sagte einer von ihnen mit einem feingeschnittenen, dunklen Gesicht und dem Eichenstab eines Magiers, »wir vertrauen Ihnen und bitten Sie daher, die Hexe gehen zu lassen, damit wieder Frieden einkehrt.« Irian trat dazwischen, bevor der Türhüter antworten konnte. »Ich bin keine Hexe«, sagte sie. Nach den tiefen Stimmen der Männer klang ihre Stimme schrill, metallisch. »Ich besitze keine Kunst. Kein Wissen. Ich bin hergekommen, um zu lernen.« »Wir unterrichten hier keine Frauen«, sagte der Windschlüssel. »Das weißt du.« »Ich weiß nichts«, sagte Irian. Sie trat wieder vor und wandte sich direkt an den Magier. »Sagen Sie mir, wer ich bin.« »Lerne, wo dein Platz ist, Frau«, antwortete der Magier voll kalter Leidenschaft. »Mein Platz«, sagte sie langsam und verschleppte die Worte, »mein Platz ist auf dem Hügel. Wo die Dinge sind, wie sie sind. Sagen Sie dem toten Mann, dort werde ich ihn treffen.«, Der Windschlüssel schwieg, aber die Gruppe der Männer murmelte wütend, und einige rückten vor. Azver stellte sich zwischen Irian und die Gruppe, da ihre Worte ihn von der geistigen und körperlichen Lähmung befreit hatten, die über ihn gekommen war. »Sagt Thorion, wir erwarten ihn auf dem Kogel von Roke«, sagte er. »Wenn er kommt, werden wir dasein. Jetzt komm mit mir«, wandte er sich an Irian. Der Namengeber, der Türhüter und der Kräutermeister folgten ihm mit ihr in den Hain. Dort tat sich ein Weg für sie auf. Aber als einige der jungen Männer ihnen folgen wollten, war kein Weg mehr da. »Kommt mit zurück«, sagte der Windschlüssel zu den Männern. Sie drehten sich unsicher um. Die tiefstehende Sonne schien immer noch hell auf die Felder und die Dächer des Großhauses, aber im Wald herrschten nur Schatten. »Hexerei«, sagten sie, »Sakrileg, Entweihung.« »Kommt am besten da weg«, sagte der Meister Windschlüssel mit verkniffenem und ernstem Gesicht, und seine scharfen Augen blickten bekümmert. Er ging zur Schule zurück, und sie schlossen sich ihm an und stritten und diskutierten frustriert und zornig. Sie waren nicht weit in das Wäldchen vorgedrungen und immer noch am Bach, als Irian stehenblieb, sich abwandte und bei den gewaltigen, knorrigen Wurzeln einer Weide niederkauerte, die über die Wasseroberfläche ragte. Die vier Magier blieben auf dem Weg stehen. »Sie sprach mit dem anderen Atem«, sagte Azver. Der Namengeber nickte. »Also müssen wir ihr folgen?« fragte der Kräutermeister. Diesmal nickte der Türhüter. Er lächelte zaghaft und sagte: »So scheint es.« »Nun gut«, sagte der Kräutermeister mit seiner geduldigen, besorgten Miene; und er ging ein Stück beiseite, um eine kleine, Pflanze oder einen Pilz auf dem Waldboden in Augenschein zu nehmen. Die Zeit verging wie immer in dem Hain, scheinbar ohne zu vergehen, und doch verging sie, der Tag verrann mit einigen leisen Atemzügen, einem Erbeben von Blättern, einem Vogel, der weit entfernt sang, und einem anderen, der noch weiter entfernt antwortete. Irian stand langsam auf. Sie sagte nichts, sondern sah den Weg entlang und ging ihn dann hinunter. Die vier Männer folgten ihr. Sie kamen in die ruhige, klare Abendluft hinaus. Im Westen herrschte noch etwas Licht, als sie den Thwilbach überquerten und über die Felder zum Kogel von Roke gingen, der sich als hoher, dunkler Bogen vor ihnen vom Himmel abhob. »Sie kommen«, sagte der Türhüter. Vom Großhaus kamen Männer auf dem Weg durch die Gärten näher, alle Magier und viele Schüler. Der hochgewachsene Thorion, der Gebieter in seinem grauen Mantel, war ihr Anführer, der einen Stab aus Holz trug, weiß wie ein Knochen, von einem schwachen Leuchten von Werlicht umflackert. Wo sich die beiden Wege vereinten und zur Anhöhe des Kogel hinaufführten, blieb Thorion stehen und wartete auf sie. Irian ging weiter und trat ihm entgegen. »Irian von Weg«, sagte der Gebieter mit seiner tiefen, klaren Stimme, »damit Friede und Ordnung herrschen, und um des Gleichgewichts aller Dinge willen, gebiete ich dir nun, diese Insel zu verlassen. Wir können dir nicht geben, was du suchst, und dafür bitten wir dich um Verzeihung. Aber wenn du danach trachtest, hier zu bleiben, verwirkst du die Verzeihung und mußt erfahren, was auf Ungehorsam folgt.« Sie streckte sich, war fast so groß wie er und ebenso aufrecht. Eine ganze Minute schwieg sie, und dann sagte sie mit hoher, schroffer Stimme: »Komm auf den Hügel, Thorion.« Sie ließ ihn an der Gabelung stehen, auf ebener Erde, und ging ein paar Schritte den Pfad zum Gipfel hinauf. Sie drehte sich um, und sah zu ihm hinunter. »Was hält dich vom Hügel fern?« fragte sie. Die Luft um sie herum wurde dunkler. Der Westen war nur noch eine dunkelrote Linie, der Himmel im Osten ein Schatten über dem Meer. Der Gebieter schaute zu Irian auf. Langsam hob er die Arme und den weißen Stab zu einem Zauberspruch, den er in der Sprache ihrer Kunst sprach, der Sprache des Schöpfens, die alle Zauberer und Magier von Roke gelernt hatten: »Irian, durch deinen Namen gebiete ich dir und verpflichte dich, mir zu gehorchen!« Sie zögerte, schien einen Moment nachzugeben, zu ihm zu kommen, und rief dann aus: »Ich bin nicht nur Irian!« Daraufhin rannte der Gebieter zu ihr hinauf, streckte die Hand aus und sprang auf sie zu, als wollte er sie packen und festhalten. Sie waren jetzt beide auf dem Hügel. Sie ragte unglaublich über ihm auf, Feuer loderte zwischen ihnen, eine gleißende rote Flamme in der Nachtluft, das Glänzen von rotgoldenen Schuppen, von gewaltigen Schwingen – dann verschwand es, und es war nichts mehr da, außer einer Frau auf dem Hügelpfad und dem großen Mann, der sich vor ihr verbeugte, langsam bis zum Erdboden verbeugte, und sich flach hinlegte. Der Kräutermeister, der Heiler, bewegte sich als erster. Er ging den Weg hinauf und kniete neben Thorion nieder. »Mein Herr«, sagte er, »mein Freund.« Unter der Wölbung des grauen Mantels fanden seine Hände nur einen wirren Haufen Kleidungsstücke und trockene Knochen und einen zerbrochenen Stab. »Es ist besser so, Thorion«, sagte er, aber er weinte. Der alte Namengeber trat vor und sagte zu der Frau auf dem Hügel: »Wer bist du?« »Ich kenne meinen anderen Namen nicht«, sagte sie. Sie sagte es wie er, wie sie mit dem Gebieter gesprochen hatte, in der Sprache des Schöpfens, der Sprache der Drachen., Sie wandte sich ab und ging den Hügel hinauf. »Irian«, sagte Azver der Formgeber, »wirst du zu uns zurückkommen?« Sie blieb stehen und ließ ihn zu sich kommen. »Das werde ich, wenn ihr mich ruft«, sagte sie. Sie streckte den Arm aus und berührte seine Hand. Er holte zischend Luft. »Wohin gehst du?« fragte er. »Zu denen, die mir meinen Namen geben werden«, sagte sie. »In Feuer, nicht in Wasser. Zu meinem Volk.« »In den Westen«, sagte er. Sie sagte: »Jenseits des Westens.« Sie wandte sich von ihm ab und ging in der zunehmenden Dunkelheit den Weg hinauf. Als sie sich weiter von ihnen entfernte, sahen sie sie, die großen goldenen Flanken, den spitzen, zuckenden Schwanz, die Klauen und den Atem, der loderndes Feuer war. Auf der Kuppe des Kogels verweilte sie einen Moment, drehte den länglichen Kopf und blickte über die Insel Roke, am längsten zum Hain, jetzt nur noch ein dunkler, verschwommener Schatten in der Dunkelheit. Dann wurden die breiten, hautigen Schwingen mit einem Rasseln wie von Messingstücken ausgebreitet, und der Drache schwang sich in die Lüfte, umkreiste den Kogel von Roke einmal und flog davon. Eine Flammenlocke, ein Rauchwölkchen schwebten aus der dunklen Luft herab. Azver der Formgeber hielt sich die rechte Hand mit der linken, wo ihre Berührung ihn verbrannt hatte. Er sah den Hügel hinab zu den Männern, die stumm dastanden und dem Drachen nachstarrten. »Nun, meine Freunde«, sagte er, »was nun?« Nur der Türhüter antwortete. Er sagte: »Ich denke, wir sollten in unser Haus gehen und die Türen öffnen.«, Die Chronik von Osten Ard TAD WILLIAMS, DER DRACHENBEINTHRON (1991) DER ABSCHIEDSSTEIN (1993) DIE NORNENKÖNIGIN (1994) DER ENGELSTURM (1994) Tad Williams´ Tetralogie spielt im ganzen Land Osten Ard, von den Marschen des südlichen Wran bis Yiqanuc, der eisigen nördlichen Heimat der Trolle, aber hauptsächlich in der großen, hohen Festung, die Hochhorst genannt wird. Die Geschichte beginnt, als der Tod von Priester Johan, dem mächtigen Menschenkönig, der viele Jahre lang Herr über das Schloß war und sein Reich von Erkynland aus ständig vergrößert hatte, so daß er fast alle Nationen von Osten Ard regierte, einen Zwist unter seinen königlichen Söhnen auslöst – einen Krieg, der schließlich die ganze Welt an den Rand der buchstäblichen Vernichtung führt, als der untote Unsterbliche Ineluki den Konflikt für seine Zwecke ausnutzt. Zu denen, die in diesen umfassenden apokalyptischen Kampf hineingezogen werden, gehören der Küchenjunge Simon Schneelocke; Miriamel, die Tochter eines der königlichen Brüder; Binabik der Troll; die geheimnisvolle Hexe namens Geloë; und mehrere Angehörige von Inelukis Sithi – fast unsterbliche Wesen, für deren Schutz er einst sein Leben hingab. Fünf Jahrhunderte vor der Ära von Priester Johan, in der Endphase des jahrtausendealten Reichs seiner Rasse, war Ineluki Lord des Hochhorst gewesen, der damals noch unter seinem uralten Namen Asu´a bekannt war. Als Sterbliche seine Festung belagerten, hatte er einen schrecklichen Zauberspruch gesprochen, ein letzter und selbstmörderischer Versuch, die menschlichen Emporkömmlinge zu besiegen. Ineluki und seine Anhänger waren in der Feuersbrunst umgekommen, und Asu´a war weitgehend zerstört worden, aber die Sterblichen, die überlebten, bauten einfach auf den Ruinen der gewaltigen, Festung der Sithi und machten sie zu ihrer eigenen. Im Lauf von Jahrhunderten erhoben verschiedene Könige aus unterschiedlichen Ländern Anspruch auf das Schloß, darunter der Reiherkönig, der Hochkönig und der Fischerkönig aus den Legenden von Osten Ard, aber keiner konnte sie lange halten, bis Priester Johan seine legendäre Regentschaft begann.,

TAD WILLIAMS Der brennende Mann

Jahre, viele Jahre später schrecke ich immer noch in tiefster Nacht hoch und sehe sein gequältes Gesicht vor mir. Und in diesen schrecklichen Träumen bin ich stets hilflos und kann sein Leiden nicht lindern. Darum werde ich euch die Geschichte in der Hoffnung erzählen, daß die letzten Geister ihre Ruhe finden, sofern das an einem Ort wie diesem, wo es mehr Geister als lebende Seelen gibt, je passieren kann. Aber ihr werdet genau zuhören müssen – dies ist eine Geschichte, die auch der Erzähler nicht ganz versteht. Ich werde euch von Lord Sulis erzählen, meinem berühmten Stiefvater. Ich werde euch erzählen, was mir die Hexe vorhergesagt hat. Ich werde euch von der Liebe erzählen, die mein war und die ich verloren habe. Ich werde euch von der Nacht erzählen, als ich den brennenden Mann gesehen habe. Tellarin schenkte mir Kleinigkeiten, aber für mich waren es keine Kleinigkeiten. Mein Liebster brachte mir Bonbons und lachte, wenn er sie mich so gierig essen sah. »Ah, kleine Breda«, sagte er zu mir. »Es ist seltsam und wunderbar, daß ein einfacher Soldat Honigfeigen in das Gemach einer Königstochter schmuggeln muß.« Und dann küßte er mich,, drückte sein rauhes Gesicht an meines und küßte mich, und das war süßer als die köstlichste Leckerei, die Gott je gemacht hat. Aber Sulis war kein wahrer König und ich nicht seine wahre Tochter. Tellarin irrte sich freilich nicht in allem. Das Glück, das ich empfand, wenn ich meinen Soldaten sah oder unter dem Fenster pfeifen hörte, war wahrhaftig seltsam und wunderbar. Mein wirklicher Vater, der Mann, dessen Lenden ich entsprang, starb in den kalten Wassern des Königsees, als ich noch sehr klein war. Seine Gefährten sagten, daß ein großer Schwertfisch sich in den Netzen verfangen und meinen Vater Ricwald in den Tod durch Ertrinken gezogen hatte, aber andere flüsterten, daß seine Gefährten selbst ihn ermordet und seinen Leichnam mit Steinen beschwert haben. Alle wußten, daß meinem Vater Standarte und Speer des Großthans überreicht worden wären, wenn alle Thans der Seenvölker beim nächsten Treffen zusammengekommen wären. Sein Vater und Onkel waren beide vor ihm Großthan gewesen, daher flüsterten einige, daß Gott meinen armen Vater niedergestreckt hätte, weil keine Familie so lange an der Macht bleiben sollte. Andere glaubten, daß meines Vaters Gefährten auf dem Boot einfach Schandgold bezahlt bekommen hatten, um ihn zu ertränken, damit eine der anderen Familien ihren Ehrgeiz befriedigen konnte. Das alles weiß ich nur aus den Geschichten meiner Mutter Cynethrith. Sie war jung, als mein Vater starb, und hatte zwei kleine Kinder – mich, noch keine fünf Jahre alt, und meinen Bruder Aelfric, zwei Jahre älter als ich. Gemeinsam zogen wir in das Haus meines Großvaters, weil wir die letzten seines Geschlechts waren, ein unter den Seenvölkern von Erkynland hochangesehenes Geschlecht. Aber es war kein glückliches Haus. Godric, mein Großvater, war selbst zweimal zehn Jahre Großthan gewesen, bevor Krankheit seiner Regentschaft ein Ende bereitete, und er machte sich große Hoffnungen, daß mein, Vater seine Nachfolge antreten würde, aber als mein Vater gestorben war, mußte Godric mitansehen, wie statt dessen ein Mann einer anderen Familie auserkoren wurde, Speer und Standarte zu tragen. Von diesem Tage an schien für meinen Großvater alles, was in der Welt geschah, nur ein weiterer Beweis dafür zu sein, daß die besten Tage Erkynlands und der Seenvölker vorbei waren. Godric starb vor Vollendung meines siebenten Lebensjahres, aber er machte die Jahre zwischen dem Tod meines Vaters und seinem eigenen zu sehr unglücklichen Jahren für meine Mutter, mit vielen Klagen und scharfen Tadeln wegen der Art und Weise, wie sie den Haushalt führte und Aelfric und mich erzog, die beiden einzigen Kinder seines toten Sohnes. Mein Großvater verbrachte viel Zeit mit Aelfric und versuchte, einen Mann aus ihm zu machen, der Speer und Standarte in unsere Familie zurückholen konnte, aber mein Bruder war klein und verschüchtert – es muß klar gewesen sein, daß er niemals mehr regieren würde als seinen eigenen Haushalt. Daran gab Godric meiner Mutter die Schuld. Er warf ihr vor, sie hätte den Jungen auf weibische Weise erzogen. Für mich interessierte sich Großvater weniger. Er war niemals grausam zu mir, nur brüsk und wortkarg, aber mit seinem weißen Vollbart, der knurrenden Stimme und mehreren fehlenden Fingern war er eine derart furchteinflößende Gestalt, daß ich nie anders konnte, als vor ihm zurückzuschrecken. Wenn auch das ein Grund dafür war, daß er so wenig Freude am Leben fand, so tut es mir heute leid. Wie auch immer, die Witwenschaft meiner Mutter war eine traurige, bittere Zeit für sie. Nachdem sie Herrin ihres eigenen Hauses und Frau des Großthans gewesen war, war sie nun nichts weiter als eine von drei erwachsenen Töchtern im Haus eines galligen alten Mannes, denn eine Schwester meines Vaters hatte ebenfalls ihren Mann verloren, und die jüngste hatte man unverheiratet im Haus behalten, damit sie für ihren Vater an seinem Lebensabend sorgen konnte., Wenn auch nur der bescheidenste Fischer meiner Mutter den Hof gemacht hätte, hätte sie ihn, wie ich glaube, mit Wohlwollen betrachtet, solange er ein eigenes Haus und keine lebenden Verwandten gehabt hätte. Aber statt dessen kam ein Mann, der die gesamte Ära erzittern ließ, und sprach vor. »Wie war er?« fragte mich Tellarin einst. »Erzähl mir von deinem Stiefvater.« »Er ist dein Herr und Gebieter.« Ich lächelte. »Was kann ich dir erzählen, das du nicht schon weißt?« »Erzähl mir, was er sagt, wenn er in seinem Haus ist, an seinem Tisch, was er macht.« Da sah mich Tellarin an, und plötzlich war sein längliches Gesicht jungenhaft und überrascht. »Ha! Es kommt mir wie ein Sakrileg vor, allein solche Gedanken zu haben!« »Er ist nur ein Mann«, sagte ich ihm und verdrehte die Augen. Was für alberne Empfindungen Männer gegenüber anderen Männern haben – daß dieser so groß und wichtig ist, und sie selbst so klein! »Er ißt, er schläft, er läßt Winde fahren. Als meine Mutter noch lebte, sagte sie, daß er mehr Platz im Bett brauchte als drei andere, weil er um sich schlug und im Schlaf sprach.« Ich stellte meinen Stiefvater mit Absicht so gewöhnlich dar, weil es mir nicht gefiel, wenn sich Tellarin für ihn ebensosehr zu interessieren schien wie für mich. Da wurde mein Nabbanaisoldat ernst. »Wie es ihn bekümmert haben muß, als deine Mutter starb. Er muß sie sehr geliebt haben.« Als ob es mich nicht bekümmert hätte! Ich widerstand dem Drang, wieder die Augen zu verdrehen, und sagte ihm statt dessen mit der ganzen Überzeugung der Jugend: »Ich glaube, daß er sie überhaupt nicht geliebt hat.« Meine Mutter hat einmal gesagt, als mein Stiefvater und sein Hausstand zum erstenmal über die Wiesen nach Norden zum Königsee geritten kamen, sei es so gewesen, wie wenn die, himmlischen Heerscharen selbst auf die Erde herabgekommen wären. Trompeten verkündeten ihre Ankunft und lockten aus allen Städten Leute an, als ob sie eine vorbeiziehende Pilgerschar oder die Prozession der Reliquien eines Heiligen betrachteten. Rüstungen und Lanzen der Ritter waren poliert, bis sie glänzten, und der Reiher im Wappen ihres Herrn prangte in Goldfäden auf allen großen Bannern. Selbst die Pferde der Männer aus Nabban waren größer und stolzer als unsere armseligen erkynländischen Ponys. Der kleinen Armee folgten Schaf- und Viehherden sowie Dutzende und Aberdutzende Wagen und Ochsenkarren, ein derart gewaltiger Zug, daß die Spuren davon dem Land noch sechzig Jahre später anzusehen sind. Aber ich war ein Kind und sah nichts von alledem – da noch nicht. Im Saal meines Großvaters hörte ich nur Gerüchte und das, was meine Tanten und meine Mutter beim Nähen tuschelten. Der mächtige Herr, der gekommen war, war ein Edelmann der Nabbanai, wußten sie zu berichten, der von vielen Sulis der Renegat genannt wurde. Er behauptete, er komme in Frieden und wolle sich hier, am Königsee, nur ein Heim errichten. Er sei ein Flüchtling aus dem eigenen Land, sagten manche, ein Häretiker, den der Lektor wegen seiner impertinenten Fragen nach Usires Ädon, unserem gesegneten Erlöser, unter Androhung der Exkommunizierung vertrieben hatte. Nein, er sei aufgrund von Machenschaften der Escritors gezwungen gewesen, seine Heimat zu verlassen, sagten andere. Einen Kirchenmann zu ärgern ist wie auf eine Schlange treten, sagten sie. Mutter Kirche übte damals noch einen nicht sonderlich starken Einfluß in Erkynland aus, und auch wenn die meisten im ädonitischen Glauben getauft worden waren, trauten die wenigsten der Seevölker dem Sancellan Ädonitis. Viele sprachen von »dieser Priesterbande« und sagten, daß ihr vornehmstes Ziel nicht Gottes Werk sei, sondern die Ausweitung ihrer Macht. Viele denken das immer noch, aber sie reden nicht mehr schlecht über die Kirche, wenn Fremde sie hören können., Heute weiß ich viel mehr über diese Dinge als damals, als sie sich zutrugen. Ich verstehe ach so viel, jetzt, wo ich alt bin und alle in meiner Geschichte tot sind. Natürlich bin ich nicht die erste, die diesen besonderen traurigen Weg beschritten hat. Ich glaube, man versteht immer zu spät. Lord Sulis hatte sich tatsächlich mit der Kirche überworfen, und da Kirche und Staat in Nabban so eng miteinander verflochten waren, hatte er sich auch den Imperator im Sancellan Mahistrevis zum Feind gemacht, doch die Familie meines künftigen Stiefvaters war so mächtig und bedeutend, daß er nicht eingekerkert oder hingerichtet wurde, sondern man ihm statt dessen mit allem Nachdruck ans Herz legte, Nabban zu verlassen. Seine Landsleute glaubten, daß er seinen Hausstand nach Erkynland verlegte, weil jeder Edelmann in diesem abgelegenen Land – meinem Land – König werden konnte, aber Sulis hatte seine eigenen Gründe, dunkler und seltsamer, als irgend jemand sich vorstellen konnte. Und so kam es, daß er seinen gesamten Hausstand, seine Ritter und Knappen und ihre Frauen und Kinder, die Bevölkerung einer kleinen Stadt, ans Ufer des Königsees führte. Trotz der Schärfe ihrer Schwerter und der Härte ihrer Rüstungen behandelten die Nabbanai die Seevölker mit überraschender Höflichkeit, und in den ersten Wochen herrschten reger Handel und Kameradschaft zwischen ihrem Lager und unseren Städten. Erst als Lord Sulis die Thans der Seevölker wissen ließ, daß er sich im Hochhorst niederlassen wolle, dem verlassenen Schloß auf der Landspitze, wurde den Erkynländern mulmig zumute. Der riesige und verlassene Hochhorst, ein Reich, wo nur Wind und Schatten herrschten, schaute seit Anbeginn der ältesten Geschichten auf unser Land herab. Niemand konnte sich erinnern, wer ihn erbaut hatte – manche sagten Riesen, aber andere behaupteten, das Feenvolk selbst hätte ihn errichtet. Die Nordmänner aus Rimmersgard sollen sich eine Zeitlang darin verschanzt haben, aber sie waren schon längst wieder fort, von, einem Drachen aus der Festung vertrieben, die die Rimmersmänner den Friedfertigen gestohlen hatten. So viele Legenden rankten sich um das Schloß! Als ich klein war, sagte eine der Zofen meiner Mutter zu mir, daß der Hochhorst heute die Heimat von Frosthexen und rastlosen Geistern sei. In vielen Nächten hatte ich daran gedacht, wie er einsam und verlassen auf seiner windumtosten Klippe stand, nur einen halben Tagesritt entfernt, und mich so geängstigt, daß ich nicht schlafen konnte. Die Vorstellung, daß jemand die verfallene Festung neu aufbauen könnte, machte die Thans nervös, aber nicht nur aus Angst, die Geister zu wecken. Der Hochhorst hielt eine mächtige, vielleicht uneinnehmbare Stellung – selbst in ihrem verfallenen Zustand würden die Mauern fast unmöglich zu stürmen sein, wenn bewaffnete Männer sie verteidigten. Aber die Thans befanden sich in einer schwierigen Lage. Die Männer der Seenvölker mochten denen von Sulis vielleicht zahlenmäßig überlegen sein, aber die Ritter des Reihers waren besser bewaffnet, und die Disziplin der Nabbanaikämpfer war sprichwörtlich – eine halbe Legion der Seewölfe des Imperators hatte vor wenigen Jahren in einer Schlacht zehnmal so viele Thrithingmänner abgeschlachtet. Und Osweard, der neue Großthan, war jung und unerfahren als Anführer in einem Krieg. Die geringeren Thans baten meinen Großvater Godric, ihnen seine Weisheit zur Verfügung zu stellen, mit dem Herrn der Nabbanai zu sprechen und etwas über die wahren Absichten des Mannes herauszufinden. Und so geschah es, daß Lord Sulis zur Zwingburg meines Großvaters kam und meine Mutter zum erstenmal sah. Als kleines Mädchen gab ich mich gern dem Glauben hin, daß sich Sulis in dem Moment in meine Mutter Cynethrith verliebt hat, als er sie zum erstenmal sah, wie sie stumm hinter dem Stuhl ihres Schwiegervaters in dessen großem Saal stand. Sie war wunderschön, das weiß ich – bevor mein Vater starb, nannten alle Leute im Haushalt sie wegen ihres langen Halses und ihrer, weißen Schultern nur Ricwalds Schwan. Ihr Haar war von einem sehr blassen Gold, ihre Augen grün wie der Königsee im Sommer. Ein gewöhnlicher Mann hätte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Aber »gewöhnlich« muß das unpassendste aller Wörter gewesen sein, um meinen Stiefvater zu beschreiben. Als ich eine junge Frau war und mich selbst zum erstenmal verliebte, wußte ich mit Sicherheit, daß Sulis sie nicht geliebt haben konnte. Wie hätte jemand, der liebt, so kalt und distanziert sein können wie er? So übertrieben höflich? Da mir damals beim bloßen Gedanken an Tellarin, meine heimliche Liebe, schwer ums Herz wurde, wußte ich, daß ein Mann, der sich meiner Mutter gegenüber so verhielt, wie mein Stiefvater es tat, so etwas wie Liebe überhaupt nicht empfinden konnte. Heute bin ich nicht mehr so sicher. So vieles ist anders, wenn ich heute darüber nachdenke. In diesem hohen Alter bin ich weiter weg, als würde ich mein Leben von einem hohen Berg aus betrachten, aber in vieler Hinsicht scheine ich manches aus größerer Nähe zu sehen. Sulis war ein kluger Mann und kann nicht übersehen haben, wie sehr mein Großvater den neuen Großthan haßte – man merkte es an allem, was mein Großvater sagte. Er konnte nicht vom Wetter sprechen, ohne zu erwähnen, daß zu der Zeit, als er selbst noch Großthan gewesen war, die Sommer wärmer und die Winter kürzer gewesen seien, und wäre seinem Sohn vergönnt gewesen, seine Nachfolge anzutreten, so versicherte er geradezu, dann wäre jeder Tag der erste Tag des Monats Maia gewesen. Als Sulis das sah, schmiedete er einen Bund mit dem verbitterten alten Mann, zuerst mit den Geschenken und feinsinnigen Schmeicheleien, mit denen er ihn versah, aber bald auch, indem er Godrics Schwiegertochter den Hof machte. Als mein Großvater zunehmend beeindruckt vom gesunden Menschenverstand dieses ausländischen Edelmannes war, folgte Sulis´ Geniestreich. Er bot nicht nur einen Brautpreis für meine Mutter – eine Witwe! –, der höher war, als er für die jungfräuliche, Tochter eines Großthans üblich gewesen wäre, ein stattliches Vermögen in Schwertern und stolzen Rössern aus Nabban und goldenem Geschirr, sondern erzählte Godric auch, daß er sogar meinen Bruder und mich hierlassen würde, damit wir im Haus unseres Großvaters erzogen werden konnten. Godric hatte, was Aelfric betraf, noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, und dieser Vorschlag versetzte ihn in Entzücken, nur für mich hatte er keine nennenswerte Verwendung. Meine Mutter wäre glücklicher, kamen die beiden Männer am Ende überein, wenn man ihr gestatten würde, zumindest eines ihrer Kinder in ihre neue Heimat auf der Landspitze mitzunehmen. So wurde es geregelt, und der mächtige ausländische Herr heiratete in den Haushalt des alten Großthans ein. Godric sagte den anderen Thans, daß Sulis nur Gutes im Schilde führe und durch diese Geste kundgetan habe, daß er in Frieden mit den Seenvölkern leben wolle. Sulis habe Priester in seinem Gefolge, die den Hochhorst von allen rastlosen Geistern säubern würden, erklärte Godric den Thans – wie Sulis selbst es meinem Großvater erklärt hatte –, und daher sei es ein zweifacher Segen für unser Volk, wenn Sulis die uralte Festung für sich übernehmen würde. Was Osweard und die geringeren Thans davon hielten, weiß ich nicht. Im Angesicht von Godrics Begeisterung, der Macht des Nabbanai-Lords und möglicherweise ihrer eigenen Scham über den Tod meines Vaters, entschieden sie sich für ein Einlenken. Lord Sulis und seine frischgebackene Braut bekamen den verlassenen Hochhorst mit seinen geborstenen Mauern und seinen Geistern zum Geschenk. Hat meine Mutter ihren zweiten Mann geliebt? Das kann ich ebensowenig beantworten wie die Frage, was Sulis empfunden hat, und sie sind beide so lange tot, daß ich inzwischen der einzige lebende Mensch bin, der sie beide gekannt hat. Als sie ihn an der Tür von Godrics Haus zum erstenmal gesehen hat, muß er ganz bestimmt das Licht in jedermanns Auge gewesen sein. Er, war nicht jung – er hatte, wie meine Mutter, schon ein Ehegespons verloren, allerdings war ein Jahrzehnt vergangen, seit er zum Witwer geworden war, wohingegen die Wunde bei meiner Mutter noch frisch war –, aber er war ein großer Mann aus der größten aller Städte. Er trug einen blütenweißen Mantel über der Rüstung, der an den Schultern von einer Lapislazulispange mit dem Wappen seiner Familie, dem Reiher, zusammengehalten wurde. Den Helm hatte er unter den Arm geklemmt, als er den Saal betrat, und meine Mutter konnte sehen, daß er nur sehr wenige Haare hatte, nur einen Kranz Löckchen am Hinterkopf und über den Ohren, so daß seine Stirn im Schein des Feuers glänzte. Er war groß und kräftig, der glattrasierte Kiefer kantig, die Nase breit und vorstehend. Seine markanten, groben Gesichtszüge gaben ihm ein ernstes und nachdenkliches Aussehen, aber mit einer Spur von Traurigkeit – fast, wie mir meine Mutter einmal sagte, ein Gesicht von der Art, wie es Gott persönlich am Tag des Auswiegens zeigen könnte. Er machte ihr angst, und er erregte sie – beides erkannte ich daran, wie sie von dieser ersten Begegnung sprach. Aber liebte sie ihn da oder in den folgenden Tagen? Ich kann es nicht sagen. Spielt das eine Rolle? So viele Jahre später ist es schwer zu glauben, daß es das tut. Die Zeit im Haus ihres Schwiegervaters war hart gewesen. Wie immer es auch um ihre tieferen Gefühle für Sulis bestellt sein mochte, ich zweifle nicht daran, daß sie glücklich war, Sulis zu heiraten. In dem Monat, als meine Mutter starb – in meinem dreizehnten Lebensjahr –, sagte sie einmal zu mir, sie glaube, daß Sulis Angst davor gehabt hätte, sie zu lieben. Das erklärte sie mir nie – sie war sehr schwach, und das Sprechen fiel ihr schwer –, und ich weiß immer noch nicht, was sie damit gemeint hat. Das vorletzte, was sie zu mir sagte, schien mir noch rätselhafter. Als die Schwäche in ihrer Brust so schrecklich war, daß sie lange Augenblicke die Kraft zu atmen verlor, brachte sie, dennoch die Willenskraft auf, um zu verkünden: »Ich bin ein Geist.« Sie könnte ihr Leiden gemeint haben – daß sie der Meinung war, sie würde sich nur noch an die Welt klammern wie ein zaghafter Geist, der die Straße zum Himmel nicht beschreiten will, sondern an den Orten verweilt, die er kennt. Ihre letzte Bitte machte jedenfalls deutlich, daß sie der Kreise dieser Welt überdrüssig war. Aber seither habe ich mich gefragt, ob ihre Worte nicht eine andere Bedeutung gehabt haben könnten. Wollte sie damit sagen, daß ihr Leben nach dem Tod meines Vaters nichts weiter als ein Geisterleben gewesen war? Oder wollte sie ausdrücken, daß sie ein Schatten in ihrem eigenen Haus geworden war, etwas, das in den dunklen, heimgesuchten Fluren des Hochhorsts darauf wartete, daß die Fürsorge ihres zweiten Mannes ihm ein wahres Leben gab – eine Fürsorge, die sie von dem schweigsamen, von der Last von Geheimnissen niedergedrückten Mann nie erfahren würde? Meine arme Mutter. Unsere arme, gequälte Familie! An das erste Jahr der Ehe zwischen meiner Mutter und Lord Sulis kann ich mich kaum erinnern, aber den Tag, als wir in unser neues Heim einzogen, werde ich nie vergessen. Andere waren uns vorausgeeilt, um unsere Ankunft so angenehm wie möglich zu machen – das wußte ich, weil bereits ein großes Zelt auf dem Rasen im Inneren Zwinger aufgebaut worden war, wo wir in den ersten Monaten schliefen –, aber dem Kind, das ich war, kam es so vor, als ritten wir an einen Ort, wo niemals zuvor Sterbliche gewesen waren. Ich vermutete Hexen oder Trolle hinter jeder Ecke. Wir kamen die Straße an der Felsenklippe empor, am Rande des Königsees, bis wir die Blendwand erreichten und um die Burg selbst zogen. Die vor uns hier gewesen waren, hatten eine behelfsmäßige Straße im Schatten der Mauern angelegt, daher kamen wir deutlich leichter voran, als es noch vor Tagen der Fall gewesen wäre. Wir ritten durch einen zwischen Mauer und Wald, geschaffenen Tunnel. Wo Bäume und Gebüsch nicht abgehackt worden waren, wuchs der Königswald bis unmittelbar an den Rand der Burg und versuchte mit Wurzeln und Ranken, die gewaltigen Steinquader der Mauer zu brechen. Am Nordtor der Burg fanden wir nichts weiter als eine geräumte Stelle am Hang, eine Wüstenei von Baumstümpfen und verkohltem Gras – die blühende Stadt Erkynchester, die heute zu Füßen der Burg gelegen ist, existierte noch nicht einmal in Gedanken. Nicht der gesamte Wald war beseitigt worden. Ranken, die in den Rissen der seltsamen glänzenden Steine wurzelten, die als einziges von dem ursprünglichen Durchgang übriggeblieben waren, hafteten noch an den Säulen des verfallenen Torhauses und hingen wie große Zöpfe vor der Öffnung, so daß sie einen verfilzten lebenden Vorhang bildeten. »Seht ihr?« Lord Sulis breitete die kräftigen Arme aus, als hätte er die Wildnis persönlich geplant und angelegt. »Wir richten unser Heim im größten und ältesten aller Häuser ein.« Als er sie über die Schwelle in die Ruinen der uralten Burg führte, machte meine Mutter das Zeichen des Baums über der Brust. Heute weiß ich vieles, das ich an unserem ersten Tag im Hochhorst nicht wußte. Ich kann sagen, daß von den vielen Geschichten, die sich um den Ort ranken, einige falsch sind, aber bei anderen bin ich auch sicher, daß sie stimmen. Zunächst einmal besteht kein Zweifel daran, daß die Nordmänner hier gelebt haben. Im Lauf der Jahre habe ich viele ihrer Münzen mit der groben Rune »F« ihres Königs Fingil gefunden, und sie haben auch die verrotteten Überreste ihrer hölzernen Langhäuser im Äußeren Zwinger hinterlassen, die die Arbeiter meines Stiefvaters beim Graben entdeckten. Wenn die Geschichte stimmte, daß die Nordmänner hier gelebt hatten, dann konnte auch die Legende von dem Drachen wahr sein, und ebenfalls die schreckliche Mär, wie die Nordmänner die unsterblichen Bewohner der Burg abgeschlachtet hatten., Aber ich brauchte so profane Beweise wie Münzen oder Ruinen nicht, um zu wissen, daß unser Haus von rastlosen Geistern heimgesucht wurde. Das erfuhr ich ohne den geringsten Zweifel in der Nacht, als ich den brennenden Mann sah. Vielleicht hätte jemand, der in Nabban oder einer der anderen großen Städte im Süden aufgewachsen ist, beim Anblick des Hochhorsts nicht so erstaunt reagiert, aber ich war ein Kind der Seenvölker. Vor jenem Tag war das größte Gebäude, das ich je gesehen hatte, unsere große Stadthalle, wo sich die Thans jedes Frühjahr trafen – ein Gebäude, das man mühelos in einem beliebigen Flügel des Hochhorsts hätte verstecken können, ohne es jemals wiederzufinden. An jenem ersten Tag wurde mir klar, daß diese mächtige Burg nur von Riesen erbaut worden sein konnte. Die Kurtine war für ein kleines Mädchen eindrucksvoll genug – zehnmal so hoch wie ich, und aus riesigen, unbehauenen Steinen erbaut, die in meiner Vorstellungskraft von niemand Kleinerem als den größten aller Trolle herbeigeschleppt worden sein konnten –, aber die inneren Mauern waren, jedenfalls an den Stellen, wo sie noch standen, nicht nur riesengroß, sondern wunderschön obendrein. Sie bestanden aus glänzenden weißen Steinen, die poliert worden waren wie Juwelen, die einzelnen Blöcke so groß wie die der Außenmauer, aber mit derart feinen Fugen, daß jede Mauer aus einer gewissen Entfernung ein einziges Gebilde zu sein schien, ein gekrümmtes Stück Elfenbein oder Knochen, das aus dem Berghang entsprang. Viele der ursprünglichen Gebäude der Festung waren niedergebrannt oder abgerissen worden, teils damit die Männer aus Rimmersgard die Steine verwenden konnten, um ihren eigenen Turm zu bauen, grobschlächtig wie ein Faß, aber sehr hoch. An jedem anderen Ort hätte das riesige Bauwerk der Nordmänner sicher die gesamte Landschaft überragt und staunende Blicke auf sich gezogen. Aber an einem anderen Ort hätte auch nicht der Engelsturm gestanden., Damals kannte ich seinen Namen nicht – eigentlich hatte er gar keinen Namen, da man den Umriß des Engels auf seiner Spitze kaum erkennen konnte –, aber in dem Moment, als ich ihn sah, wußte ich, daß es nichts Vergleichbares auf Erden geben konnte, und die kindliche Übertreibung erwies sich dieses eine Mal als zutreffend. Der Eingang wurde durch Geröllhaufen versperrt, die die Nordmänner nie beiseite geräumt hatten, und der größte Teil der unteren Fassade war durch eine unvorstellbare Katastrophe geborsten und eingestürzt, so daß der unbearbeitete Stein des Fundaments zutage trat, aber dennoch ragte er in den Himmel wie ein gewaltiger weißer Fangzahn, höher als jeder Baum, höher als alles, was Sterbliche je erbaut hatten. Aufgeregt, aber auch furchtsam fragte ich meine Mutter, ob der Turm nicht auf uns herabstürzen könne. Sie versuchte mich zu beruhigen und sagte, daß der Turm schon länger stehe, als ich mir vorstellen könne, vielleicht schon seit der Zeit, als noch keine Menschen am Königsee gelebt hatten, aber danach hatte ich nur um so seltsamere Empfindungen. Die letzten Worte, die meine Mutter zu mir sagte, waren: »Bring mir eine Drachenklaue.« Zuerst dachte ich, in den letzten Stunden ihrer Krankheit wäre sie in Gedanken zu unseren ersten Tagen in der Burg zurückgekehrt. Die Geschichte vom Drachen des Hochhorsts, dem Geschöpf, das die letzten Nordmänner vertrieben hatte, war so alt, daß sie ihre furchteinflößende Wirkung größtenteils verloren hatte, aber auf ein kleines Mädchen verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Die Männer aus dem Gefolge meines Stiefvaters brachten mir Bruchstücke polierter Steine – später erfuhr ich, daß es sich um Bruchstücke der Fresken aus dem ältesten Teil der Burg handelten – und sagten zu mir: »Siehst du, hier ist ein abgebrochenes Stück der Klaue des großen roten Drachen. Er haust in den Höhlen unter dem Schloß, aber nachts kommt er, manchmal herauf und schnuppert herum. Er schnuppert nach kleinen Mädchen, die er fressen kann!« Die ersten paar Male glaubte ich ihnen. Als ich älter wurde und nicht mehr so leichtgläubig war, lernte ich, schon über die Vorstellung von einem Drachen zu lachen. Jetzt, wo ich eine alte Frau bin, quälen mich wieder Träume von ihm. Manchmal bilde ich mir sogar, wenn ich wach bin, ein, daß ich ihn drunten in der Dunkelheit unter dem Schloß spüren, die Augenblicke der Rastlosigkeit wahrnehmen kann, die seinen langen, tiefen Schlaf quälen. Ich dachte also in jener Nacht vor langer Zeit, als meine sterbende Mutter mich bat, ihr eine Drachenklaue zu bringen, daß sie sich an etwas aus unserem ersten Jahr im Schloß erinnern würde. Ich wollte mich auf die Suche nach einem der alten Steine machen, aber ihre Zofe Ulca – die Nabbanai hätten sie als Kammerjungfer oder Leibdienerin bezeichnet – sagte mir, daß meine Mutter das nicht meinte. Eine Drachenklaue, erklärte sie mir, sei ein Zauber, der Leidenden helfe, die Gnade eines schnellen Todes zu finden. Ulca hatte Tränen in den Augen, und ich glaube, sie war Ädonitin genug, daß der Gedanke ihr Kummer bereitete, aber sie war auch eine verständige junge Frau und vergeudete keine Zeit mit Diskussionen darüber, ob es richtig oder falsch war. Sie sagte mir, so etwas könne ich auf die Schnelle nur von einer Frau namens Xanippa in der Siedlung bekommen, die unmittelbar an den Mauern des Hochhorsts entstanden war. Ich war kaum zur jungen Frau herangereift, aber ich fühlte mich noch ganz wie ein Kind. Der bloße Gedanke an einen noch so kurzen nächtlichen Ausflug vor die Mauern der Burg ängstigte mich, aber meine Mutter hatte mich darum gebeten, und einer Sterbenden eine Bitte zu verwehren war eine Sünde, schon lange bevor Mutter Kirche daherkam und einteilte und aufzählte, was richtig und falsch im Leben war. Ich ließ Ulca an der Seite meiner Mutter zurück und lief rasch im Regen durch die finstere Burg., Die Frau Xanippa war einst eine Hure gewesen, aber als sie älter und dicker wurde, hatte sie beschlossen, sich auf ein anderes Gewerbe zu verlegen, und sich einen Namen als Kräuterweib gemacht. Ihre baufällige Hütte, die an der südöstlichen Kurtine des Schlosses über dem Königswald stand, war von Rauch und üblen Gerüchen erfüllt. Xanippa hatte Haare wie ein Vogelnest, die mit einem einst hübschen Band hochgebunden waren. Ihr Gesicht mag einst rundlich und gemütlich gewesen sein, aber Jahre und Fett hatten es in etwas verwandelt, das aussah, als wäre es mit einem Fischernetz eingeholt worden. Außerdem war ihre Leibesfülle derart immens, daß sie sich während der ganzen Zeit, die ich dort war – und bei den meisten anderen Gelegenheiten, dachte ich mir –, nicht einmal von ihrem Hocker am Kamin erhob. Anfangs begegnete Xanippa mir mit größtem Mißtrauen, aber dann fand sie heraus, wer ich war und was ich wollte, und als sie als weiteren Beweis mein Gesicht sah, nahm sie die drei Münzen, die ich ihr gab, und bedeutete mir, ihr eine Schatulle aus gesplittertem Holz aus der Ecke neben dem Kamin zu geben. Die Schatulle hatte, genau wie ihre Besitzerin, augenscheinlich einst bessere Zeiten gesehen und war hübsch bemalt gewesen. Xanippa stellte sie auf die Wölbung ihres Bauchs und suchte mit einer übertriebenen Sorgfalt darin, die in krassem Gegensatz zu ihrer sonstigen Erscheinung stand. »Ah, da«, sagte sie schließlich. »Drachenklaue.« Sie streckte die Hand aus und zeigte mir das krumme schwarze Ding. Es war eindeutig eine Klaue, aber viel zu klein für die eines Drachen, wie ich ihn mir vorstellte. Xanippa bemerkte mein Zögern. »Das ist bloß eine Eulenkralle, dummes Mädchen. ›Drachenklaue‹ ist nur ein Name.« Sie zeigte auf ein winziges Glaskügelchen über der Spitze der Klaue. »Zieh das nicht ab, und zerbrich es nicht. Eigentlich solltest du es gar nicht berühren. Hast du eine Tasche?« Ich zeigte ihr den kleinen Beutel, den ich stets an einer Kordel um den Hals hängen hatte. Xanippa runzelte die Stirn. »Der Stoff, ist sehr dünn.« Sie fand ein paar Lumpen in einer Tasche ihres weiten Gewandes und wickelte die Klaue hinein, worauf sie sie in meinen Beutel fallen ließ, den sie wieder unter meinem Leibchen verstaute. Dabei drückte sie meine Brust so fest, daß ich vor Schmerzen murmelte; sie tätschelte mir den Kopf. »Barmherziger Rhiap«, knurrte sie, »war ich jemals so jung? Sei auf jeden Fall vorsichtig, meine kleine Süße. Dies ist ein Herzensbann an der Spitze der Klaue, aus den Marschen von Wran. Wenn du nicht vorsichtig bist, ist dies dein erster Stich, und du stirbst trotzdem als Jungfrau.« Sie lachte. »Und das willst du doch nicht, oder?« Ich wich zur Tür zurück. Xanippa grinste, als sie meine Furcht sah. »Und du solltest deinem Stiefvater eine Nachricht von mir überbringen. Was er sucht, das wird er nicht beim hiesigen Weibervolk oder unter den Kräuterfrauen der Seenvölker finden. Sag ihm, er kann mir glauben, denn wenn ich sein Rätsel lösen könnte, würde ich es tun – aber, oh, ich würde ihn teuer dafür bezahlen lassen! Nein, er wird die Waldhexe finden und ihr seine Fragen stellen müssen.« Sie lachte wieder, als ich endlich die Tür aufbekam und entfloh. Es regnete jetzt noch heftiger, ich rutschte und fiel mehrmals hin, rannte aber doch den ganzen Rückweg zum Inneren Zwinger. Als ich wieder am Bett meiner Mutter anlangte, war der Priester schon dagewesen und wieder gegangen, ebenso mein Stiefvater, der, wie Ulca mir verriet, kein einziges Wort gesprochen hatte. Meine Mutter war, kurz nachdem ich zu meiner Besorgung aufgebrochen war, gestorben. Ich hatte sie im Stich gelassen – hatte sie leiden und sterben lassen, ohne einen Angehörigen an ihrer Seite. Scham und Kummer brannten so schlimm in mir, daß ich mir kaum vorstellen konnte, die Schmerzen würden jemals wieder weggehen. Als die anderen Frauen sie für das Begräbnis vorbereiteten, konnte ich nichts anderes tun als weinen. Die Drachenklaue baumelte nahezu vergessen an meinem Herzen., Wochenlang wanderte ich verloren und kläglich durch die Burg. Die Botschaft, die mir Xanippa mitgegeben hatte, fiel mir erst wieder ein, als meine Mutter fast einen Monat tot und begraben war. Ich fand meinen Stiefvater an der Mauer mit Ausblick auf den Königsee und teilte ihm mit, was Xanippa gesagt hatte. Er fragte mich nicht, wie ich dazu kam, Botschaften für so eine Frau zu übermitteln. Er ließ nicht einmal erkennen, daß er mich gehört hatte. Er schaute auf etwas in weiter Ferne – auf die Boote der Fischer vielleicht, die man verschwommen im Nebel erkennen konnte. Die ersten Jahre in dem verfallenen Hochhorst waren schwer, nicht nur für meine Mutter und mich. Lord Sulis mußte den Wiederaufbau beaufsichtigen, eine ungeheure und äußerst komplizierte Aufgabe, und darüber hinaus während des ersten strengen Winters seine Leute bei Laune halten. Es ist eine Sache, wenn Soldaten in der ersten Aufwallung loyaler Schmach schwören, daß sie ihrem Befehlshaber, dem Unrecht getan wurde, überall hin folgen werden. Es ist eine ganz andere Sache, wenn dieser Befehlshaber seßhaft, wenn aus dem Folgen ein wahrhaftes Exil wird. Als den Nabbanaisoldaten klar wurde, daß diese kalte Provinz von Erkynland für alle Zeiten ihre Heimat sein würde, fingen die Probleme an – Trunksucht und Prügeleien unter den Soldaten und sogar noch unglücklichere Vorfälle zwischen Sulis´ Männern und den Einheimischen .meinem Volk, auch wenn es mir manchmal schwerfiel, mich daran zu erinnern. Nach dem Tod meiner Mutter kam ich mir manchmal vor, als wäre in Wahrheit ich die Verbannte, da ich mitten in meinem Heimatland von Namen und Gesichtern und Sprache der Nabbanai umgeben war. Auch wenn uns dieser erste Winter nicht gefiel, wir überlebten ihn und machten weiter, wie wir angefangen hatten, ein Haushalt der Enteigneten. Aber wenn je ein Mann gerüstet war, das zu ertragen, dann mein Stiefvater., Wenn ich ihn heute in Gedanken vor mir sehe, wenn ich mir die breite, hohe Stirn und das strenge Gesicht vorstelle, denke ich ihn mir als eine Insel, allein auf der anderen Seite eines gefährlichen Gewässers, nahe, aber nie von jemandem besucht. Ich war zu jung und zu schüchtern, um den Versuch zu wagen, über den Schlund zu rufen, der uns voneinander trennte, aber das spielte kaum eine Rolle – Sulis machte nicht den Eindruck eines Mannes, der seine Einsamkeit bedauert. Inmitten eines Zimmers voller Menschen hatte er den Blick stets auf die Wände gerichtet, statt auf die Leute, als könnte er durch den Stein schauen und einen besseren Ort sehen. Selbst in glücklichster und ausgelassenster Stimmung hörte ich ihn selten einmal lachen, und sein rasches, zerstreutes Lächeln deutete darauf hin, daß man die Witze, die ihm am besten gefielen, einem anderen nie richtig erklären konnte. Er war kein böser Mann, nicht einmal ein schwieriger Mann, wie mein Großvater Godric einer gewesen war, aber wenn ich die grenzenlose Loyalität seiner Soldaten sah, fiel es mir manchmal schwer, sie zu verstehen. Tellarin hat mir gesagt, als er in Avalles´ Kompanie eingetreten sei, hätten ihm die anderen erzählt, wie Lord Sulis einmal zwei seiner verwundeten Leibeigenen durch einen Hagel von Pfeilen der Thrithingsmänner vom Schlachtfeld getragen hat – ein Ausflug für jeden. Wenn das stimmt, kann man leicht verstehen, warum seine Männer ihn liebten, aber in den hallenden Fluren des Hochhorsts gab es wenig Gelegenheit für ein derart offensichtliches tapferes Verhalten. Als ich noch jung war, tätschelte Sulis mir den Kopf, wenn wir uns begegneten, oder stellte mir Fragen, die väterliches Interesse demonstrieren sollten, aber häufig verrieten, daß er nicht wußte, wie alt ich war und was ich gerne tat. Als ich frauliche Formen entwickelte, wurde er korrekter und förmlicher und machte mir auf dieselbe einstudierte Art und Weise Komplimente über meine Kleidung oder meine Stickereien, wie er die Bewohner des Hochhorsts an Ädonmansa begrüßte, wo er jeden Mann beim, Namen nannte – er lernte sie aus der Kladde des Seneschalls –, wenn er an ihm vorbeiging, und ihm ein gutes Jahr wünschte. Im Jahr nach dem Tod meiner Mutter wurde Sulis noch distanzierter, als hätte der Verlust ihn endgültig der täglichen Aufgaben entrückt, die er stets auf eine so steife, geübte Weise erledigt hatte. Er verwendete zunehmend weniger Zeit auf die Regierungsgeschäfte und las statt dessen stundenlang – manchmal die ganze Nacht hindurch, der mitternächtlichen Kälte wegen in dicke Gewänder eingemummt, und verbrannte Kerzen schneller als der ganze Rest des Hauses zusammengenommen. Bei den Büchern, die er aus dem großen Haus seiner Familie in Nabban mitgebracht hatte, handelte es sich überwiegend um Folianten religiöser Unterweisung, aber auch um einige militärgeschichtliche und historische Werke. Gelegentlich gestattete er mir, einen Blick in eines zu werfen, aber obwohl ich lernte, konnte ich nur langsam lesen und mit den seltsamen Namen und Gerätschaften in den Schlachtenbeschreibungen wenig anfangen. Sulis besaß noch andere Bücher, die er nicht einmal mich sehen ließ, schlicht eingebundene Bände, die er in Holzkisten einschloß. Als ich das erste Mal sah, wie eines in seine Truhe zurückgelegt wurde, verfolgte mich die Erinnerung daran noch tagelang. Was waren das für Bücher, fragte ich mich, die man unter Verschluß halten mußte? Eine der verschlossenen Kisten enthielt seine eigenen Schriften, aber das fand ich erst zwei Jahre später heraus, als die Nacht des Schwarzen Feuers fast über uns gekommen war. Es war in der Zeit nach dem Tod meiner Mutter, da sah Lord Sulis mich, soweit ich mich erinnern kann, zum ersten und einzigen Mal wirklich, als er im grauen Licht las, das in den Thronsaal strömte. Als ich ihn schüchtern fragte, was er machte, ließ er mich das Buch auf seinem Schoß betrachten, eine wunderbar illustrierte Geschichte des Propheten Varris, deren Einband der goldgeprägte Reiher von Honsa Sulis zierte. Ich strich mit den, Fingern über eine Abbildung, die zeigte, wie Varris auf dem Rad gemartert wurde. »Armer, armer Mann«, sagte ich. »Wie er gelitten haben muß! Und alles, weil er seinen Gott nicht verleugnen wollte. Der Herr muß ihm ein schönes Willkommen im Himmel bereitet haben.« Das Bild von Yarns´ Qualen wackelte ein wenig – ich hatte meinen Stiefvater so erschreckt, daß er zusammenzuckte. Ich schaute auf und stellte fest, daß er mich durchdringend ansah und seine braunen Augen eine solche Tiefe von mir unbekannten Empfindungen ausdrückten, daß ich einen Moment schreckliche Angst hatte, er könnte mich schlagen. Er hob seine gewaltige Pranke, aber sanft. Er berührte mein Haar und ballte die Hand zur Faust, ohne einmal diesen sengenden Blick von mir abzuwenden. »Sie haben mir alles genommen, Breda.« Seine Stimme klang gepreßt von einem Schmerz, den ich nicht begreifen konnte. »Aber ich werde nie den Rücken krümmen. Niemals.« Ich hielt unsicher und noch ein wenig ängstlich den Atem an. Einen Augenblick später fing sich mein Stiefvater wieder. Er hielt die Faust an den Mund und tat so, als würde er husten – er war der unfähigste Heuchler, den ich je kennengelernt habe –, und dann bat er mich, ihn zu Ende lesen zu lassen, solange das Licht noch anhielt. Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, wer ihm seiner Meinung nach alles weggenommen haben sollte – der Imperator und sein Hof in Nabban? Die Priester von Mutter Kirche? Möglicherweise sogar Gott und seine Armee der Engel? Ich weiß aber, daß er mir zu sagen versuchte, was ihn innerlich verzehrte, jedoch nicht die Worte finden konnte. Ich weiß auch, daß sich zumindest in diesem Augenblick mein Herz nach dem Mann sehnte. Mein Tellarin hat mich einmal gefragt: »Wie kann es sein, daß dich nie ein anderer Mann für sich beansprucht hat? Du bist wunderschön und die Tochter eines Königs.«, Aber wie ich schon sagte, Lord Sulis war nicht mein Vater und auch kein König. Und der Spiegel, der einst meiner Mutter gehört hatte, legte den Verdacht nahe, daß mein Soldat auch hinsichtlich meiner Schönheit zur Übertreibung neigte. Während meine Mutter hell und lichterfüllt gewesen war, war ich dunkel. Während sie einen langen Hals und ebensolche Gliedmaßen und volle Hüften gehabt hatte, war ich klein und schmal wie ein Knabe. Ich habe auf der Erde nie viel Platz gebraucht – und das werde ich darunter auch nicht. Wo immer mein Grab geschaufelt wird, viel Erde wird dabei nicht bewegt werden. Aber Tellarin sagte es in der Sprache der Liebe, und Liebe ist eine Art Zauber, der jede Vernunft verbannt. »Was kann dir an einem ungehobelten Mann wie mir liegen?« fragte er mich. »Wie kannst du einen Mann lieben, der dir keine Ländereien geben kann, außer der Farm, die man sich mit der Pension eines Soldaten leisten kann? Der deinen Kindern keinen Adelstitel vererben kann?« Weil die Liebe nicht berechnend ist, hätte ich ihm sagen sollen. Die Liebe trifft Entscheidungen und hält sich rückhaltlos daran. Hätte er sich so sehen können, wie ich ihn zum erstenmal gesehen habe, hätte er freilich keine Fragen gestellt. Es war an einem Frühlingstag in meinem fünfzehnten Lebensjahr, und die Wachtposten hatten die Boote, die über den Königsee kamen, schon im Morgengrauen gesehen. Es waren keine gewöhnlichen Fischerboote, sondern Barken mit mehr als einem Dutzend Männer und ihren Schlachtrössern an Bord. Viele Bewohner der Burg hatten sich versammelt, um die Ankunft der Reisenden zu beobachten und von ihnen Neuigkeiten zu erfahren. Als sie ihre sämtlichen Habseligkeiten ans Ufer gebracht hatten, saßen Tellarin und die anderen auf und ritten den Hügelpfad hoch und zu den Haupttoren herein. Die Tore selbst waren erst jüngst wieder aufgebaut worden – sie waren eine primitive Angelegenheit aus schweren, schmucklosen Balken,, würden aber im Falle eines Krieges genügen. Mein Stiefvater hatte Grund zur Vorsicht, wie die Delegation, die an diesem Tag eintraf, beweisen sollte. Eigentlich wurde Tellarins Freund Avalles als Befehlshaber dieser Männer bezeichnet, weil er ein Ritter zu Pferde war, einer der Neffen der Familie Sulis, aber man konnte unschwer erkennen, wem die Soldaten in Wahrheit die Treue hielten. Mein Tellarin war am Tag, als ich ihn das erste Mal sah, kaum zwanzig Jahre alt. Er war keine Schönheit – sein Gesicht war zu lang, die Nase zu frech, um einen der Engel zu zieren, wie sie in den Büchern meines Stiefvaters abgebildet waren –, aber ich fand ihn sehr, sehr hübsch. Er hatte den Helm abgenommen und ließ beim Reiten die Morgensonne auf sich scheinen, und sein goldenes Haar wehte im Wind vom See. Selbst mein ungeübtes Auge sah, daß er sehr jung für einen Kämpfer war, aber ich konnte auch sehen, daß die Männer, die mit ihm ritten, ihn bewunderten. Sein Blick fiel auf mich in der Menge, die meinen Vater umgab, und er lächelte, als hätte er mich wiedererkannt, obwohl wir einander vorher noch nie gesehen hatten. Mein Blut geriet in Wallung, aber ich wußte so wenig von der Welt und erkannte das Fieber der Liebe nicht. Mein Stiefvater umarmte Avalles, dann ließ er Tellarin und die anderen vor sich knien und jeden nacheinander den Treueid schwören, aber ich bin sicher, Sulis wollte die Zeremonie nur hinter sich bringen, damit er zu seinen Büchern zurückkehren konnte. Die Gruppe war vom Familienrat meines Stiefvaters in Nabban geschickt worden. Ein Brief des Rates, den Avalles überbrachte, berichtete davon, daß am Hof des Imperators in Nabban erneut gegen Sulis geredet wurde, was überwiegend von den Ädonitenpriestern ausging. Ein armer Mann mit verschrobenen, möglicherweise gottlosen Überzeugungen war eines, schrieb der Rat, aber wenn ein Adliger mit Geld, Ländereien und einem berühmten Namen dieselben, Überzeugungen vertrat, betrachteten viele mächtige Leute ihn als eine Bedrohung. In Sorge um das Leben meines Stiefvaters hatte die Familie daher diese handverlesene Truppe mit der Warnung an Sulis geschickt, vorsichtiger denn je zu sein. Ungeachtet der grimmigen Mission der Schar wurden Nachrichten aus der Heimat stets begrüßt, und zahlreiche Soldaten der neuen Truppe hatten an der Seite von anderen Mitgliedern der Armee meines Stiefvaters gekämpft. Viele Freunde feierten frohes Wiedersehen. Als Lord Sulis endlich wieder zu seiner Lektüre zurückkehren durfte, aber bevor Ulca mich wieder ins Schloß bringen konnte, fragte Tellarin Avalles, ob er mir vorgestellt werden könne. Avalles selbst war ein dunkelhäutiger junger Mann mit breitem Gesicht und einem Bartflaum, nur wenige Jahre älter als Tellarin, hatte aber soviel vom Ernst der Familie Sulis in sich, daß er wie eine Art alberner älterer Onkel wirkte. Er drückte meine Hand zu fest und murmelte einige unbeholfene Komplimente darüber, wie hübsch die Blumen im Norden wuchsen, dann stellte er mich seinem Freund vor. Tellarin küßte mir nicht die Hand, hielt mich mit dem Blick seiner leuchtenden Augen aber um so wirksamer fest. Er sagte: »Ich werde diesen Tag nie vergessen, meine Dame«, und verbeugte sich. Ulca packte mich am Ellbogen und zog mich fort. Nicht einmal im Liebestaumel, der mein ganzes fünfzehntes Lebensjahr beherrschte, konnte ich übersehen, daß die Veränderungen, die nach dem Tod meiner Mutter in meinem Stiefvater vorgingen, schlimmer wurden. Lord Sulis verließ sein Gemach so gut wie nicht mehr, sonderte sich mit seinen Büchern und Schriften ab und kam nur noch zu den dringendsten Anlässen heraus. Die einzigen regelmäßigen Gespräche führte er mit Pater Ganaris, dem freimütigen Militärkaplan; er war der einzige Geistliche, der zusammen mit Lord Sulis Nabban verlassen hatte. Sulis hatte seinem alten Kampfgefährten die neu aufgebaute Kapelle der, Burg überlassen, und sie gehörte zu den wenigen Orten, die der Gebieter des Hochhorsts immer noch besuchte. Allerdings schienen seine Besuche dem alten Kaplan nicht viel Freude zu bereiten. Einmal sah ich, wie sie sich voneinander verabschiedeten, und als Sulis sich umdrehte und mit hochgezogenen Schultern durch den starken Wind über den Innenhof zu unseren Quartieren zurückstapfte, sah Ganaris ihm mit einer Miene nach, die grimmig und traurig zugleich war – der Ausdruck eines Mannes, dessen alter Freund eine tödliche Krankheit hat. Wenn ich es versucht hätte, hätte ich vielleicht etwas tun können, um meinem Stiefvater zu helfen. Vielleicht hätte es einen anderen Weg als den gegeben, der uns zum Fuß des Baumes führte, der in der Dunkelheit wächst. Die Wahrheit ist jedoch, daß ich den Zeichen keine Beachtung schenkte, obwohl ich sie alle sah. Tellarin, mein Soldat, hatte begonnen, mir den Hof zu machen – anfangs nur mit Blicken und Grüßen, später mit kleinen Geschenken –, und im Vergleich dazu schrumpfte alles andere in meinem Leben zur Bedeutungslosigkeit. Tatsächlich kam mir alles so verändert vor, als wäre eine neue, größere Sonne am Himmel über dem Hochhorst aufgegangen, die jeden Winkel mit ihrem Licht wärmte. Selbst die alltäglichsten Verrichtungen erhielten durch meine Gefühle für Tellarin mit seinen leuchtenden Augen eine neue Bedeutung. Meinem Katechismus- und Leseunterricht schenkte ich nun größte Aufmerksamkeit, damit mein Liebster mich nicht für ungebildet halten sollte .außer an den Tagen, an denen ich mich kaum darauf konzentrieren konnte, weil ich von ihm träumte. Meine Spaziergänge auf dem Gelände der Burg wurden zu Vorwänden, um nach ihm Ausschau halten zu können, in der Hoffnung auf einen raschen Blickwechsel über einen Innenhof oder einen Flur hinweg. Selbst die Märchen, die Ulca mir über unserer Stickerei erzählte, bislang lediglich ein angenehmer Zeitvertreib für mich, kamen mir vollkommen neu vor. Die Prinzen und Prinzessinnen, die sich ineinander verliebten, waren Tellarin und ich. Jeder, Augenblick ihres Leidens brannte wie Feuer in mir, ihre Triumphe am Ende versetzten mich in eine solche Erregung, daß ich an manchen Tagen fürchtete, ich könnte tatsächlich ohnmächtig werden. Nach einer Weile lehnte Ulca, die etwas ahnte, aber nichts wußte, es rundweg ab, mir Geschichten zu erzählen, in denen geküßt wurde. Aber da hatte ich schon meine eigene Geschichte und lebte sie in vollen Zügen aus. Meinen ersten richtigen Kuß bekam ich beim Spaziergang in dem kargen, windzerzausten Garten, der im Schatten des Turms der Nordmänner lag. Hinterher kam mir dieses häßliche Bauwerk stets wunderschön vor, und selbst an den kältesten Tagen wurde mir warm, wenn ich den Turm sehen konnte. »Dein Stiefvater könnte meinen Kopf fordern«, sagte mein Soldat zu mir, während seine Wange sanft meine berührte. »Ich habe sein Vertrauen und meine Position mißbraucht.« »Wenn du ohnehin verdammt bist«, flüsterte ich, »kannst du auch noch einmal stehlen.« Und ich zog ihn tiefer in den Schatten und küßte ihn, bis meine Lippen wund waren. Ich fühlte mich lebendig wie niemals zuvor und verlor dabei fast den Verstand. Mich dürstete nach ihm, seinen Küssen, seinem Atem, dem Klang seiner Stimme. Er schenkte mir Kleinigkeiten, die man im nüchternen und zweckdienlichen Haushalt von Lord Sulis nicht finden konnte – Blumen, Bonbons, kleine Nippsachen, die er auf den Märkten der neuen Stadt Erkynchester vor den Burgtoren aufgetan hatte. Ich konnte es kaum über mich bringen, die Honigfeigen zu essen, die er mir brachte, nicht etwa weil sie zu teuer für seinen schmalen Geldbeutel waren – was der Fall war, denn er war nicht so wohlhabend wie sein Freund Avalles –, sondern weil es Geschenke von ihm waren, und daher kostbar. Etwas so Zerstörerisches zu tun, wie sie zu essen, schien mir eine unvorstellbare Verschwendung zu sein., »Dann iß sie langsam«, sagte er zu mir. »Sie werden deine Lippen küssen, wenn ich es nicht kann.« Natürlich gab ich mich ihm hin, vollkommen und rückhaltlos. Ulcas dunklen Andeutungen über befleckte Frauen, die sich im Königsee ertränkten, über Bräute, die entehrt zu ihren Familien zurückgeschickt wurden, selbst über uneheliche Geburten als Ursache für ein Dutzend schrecklicher Kriege wurde keine Beachtung geschenkt. Ich bot Tellarin nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Körper dar. Wer hätte das nicht getan? Und wäre ich noch einmal das junge Mädchen, das aus dem Schatten seiner traurigen Kindheit in jenen strahlend hellen Tag tritt, würde ich es mit demselben Vergnügen wieder tun. Auch wenn ich heute einsehe, wie närrisch es war, kann ich dem Mädchen von damals keinen Vorwurf machen. Wenn man jung ist und das ganze Leben noch vor einem liegt, hat man keine Geduld – man kann nicht begreifen, daß es andere Tage gibt, andere Zeiten, andere Gelegenheiten. So hat Gott uns geschaffen. Wer weiß, warum Er sich so entschieden hat? Was mich betrifft, so kannte ich in jenen Tagen nichts außer dem Fieber in meinem Blut. Wenn Tellarin in finsterer Nacht an meine Tür klopfte, führte ich ihn zu meinem Bett. Wenn er mich verließ, weinte ich, aber nicht aus Scham. Er kam immer wieder zu mir, während der Herbst in den Winter überging, und im Lauf des Winters schufen wir uns unsere eigene warme, heimliche Welt. Ich konnte mir kein Leben mehr vorstellen, in dem er nicht jeden Augenblick bei mir war. Auch dies war die Torheit der Jugend, denn ich habe es heute geschafft, viele Jahre ohne ihn zu leben. Seit ich ihn verloren habe, hat es sogar viel Erfreuliches in meinem Leben gegeben, auch wenn ich so etwas damals nie hätte glauben können. Ich glaube aber nicht, daß ich jemals wieder so intensiv, so wahrhaftig wie in jenem Jahr unbekümmerter Entdeckungsfreude gelebt habe. Es war, als hätte ich irgendwie gewußt, daß unsere gemeinsame Zeit kurz sein würde., Ob man es nun Schicksal nennen will, unser Verhängnis, oder die Fügung des Himmels, heute kann ich zurückblicken und sehen, wie jeder von uns auf den Weg gebracht wurde, wie wir alle darauf vorbereitet wurden, an geheime, dunkle Orte zu reisen. Es war eine Nacht im Monat Feyever jenes Jahres, als mir klar wurde, daß mehr als nur simple Zerstreutheit über meinen Stiefvater gekommen war. Ich tänzelte den Flur zu meiner Kammer hinunter – ich hatte Tellarin gerade im großen Saal einen Abschiedskuß gegeben und war außer mir vor Entzückung – und stieß beinahe mit Lord Sulis zusammen. Ich war zuerst erschrocken, dann regelrecht entsetzt. Mein Verbrechen, dessen war ich mir ganz sicher, mußte so offensichtlich sein wie Blut auf einem weißen Laken. Ich wartete bebend darauf, daß er mich beschuldigen würde. Statt dessen blinzelte er nur und hielt die Kerze höher. »Breda?« sagte er. »Was machst du da, Mädchen?« Er hatte mich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr »Mädchen« genannt. Sein Haarkranz war zerzaust, als wäre er gerade selbst von einem Stelldichein gekommen, aber wenn dem so gewesen wäre, deutete sein bestürzter Ausdruck an, daß es kein erfreuliches gewesen war. Seine breiten Schultern hingen herab, und er schien so müde zu sein, daß er kaum den Kopf oben halten konnte. Der Mann, der meine Mutter am ersten Tag in Godrics Saal so beeindruckt hatte, hatte sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Mein Stiefvater war in Decken gehüllt, aber unterhalb der Knie waren die bloßen Beine zu sehen. Konnte das derselbe Sulis sein, fragte ich mich, der sich, seit ich ihn kannte, jeden Tag mit derselben Sorgfalt angezogen hatte, mit der er einst seine Schlachtordnung geplant hatte? Der Anblick seiner blassen nackten Füße war über die Maßen beunruhigend. »Ich .ich war rastlos und konnte nicht schlafen, Sire. Ich brauchte etwas frische Luft.« Sein Blick fiel kurz auf mich und schweifte wieder zu den Schatten ab. Er sah nicht nur verwirrt aus, sondern wirklich, verängstigt. »Du solltest deine Kammer nicht verlassen. Es ist spät, und diese Flure sind voll von ..« Er zögerte, dann schien er sich zu verbeißen, was er ursprünglich sagen wollte. »Voll zugiger Winde«, sagte er schließlich. »Voll kalter Luft. Geh auf dein Zimmer, Mädchen.« Alles an ihm verursachte mir Unbehagen. Als ich mich zurückzog, fühlte ich mich genötigt zu sagen: »Gute Nacht, Sire, und Gott segne Sie.« Er schüttelte den Kopf – es war fast ein Erschauern –, drehte sich um und trottete davon. Ein paar Tage später wurde die Hexe in Ketten auf den Hochhorst geführt. Ich erfuhr erst, daß die Frau in die Burg gebracht worden war, als Tellarin mir davon erzählte. Als wir, nachdem wir uns geliebt hatten, aneinander gekuschelt in meinem Bett lagen, verkündete er plötzlich: »Lord Sulis hat eine Hexe gefangen.« Ich war erschrocken. Selbst mit meiner geringen Erfahrung wußte ich, daß dies nicht das übliche Bettgeflüster war. »Was meinst du damit?« »Sie ist eine Frau, die im Wald von Aldheorte lebt«, sagte er und sprach den erkynländischen Namen mit seiner üblichen bezaubernden Unbeholfenheit aus. »Sie kommt häufig auf den Markt in einer Stadt unten am Ymstrecca, östlich von hier. Sie ist dort bestens bekannt – sie macht Kräuterkuren, glaube ich, hext Warzen weg, derlei Unsinn. Jedenfalls hat Avalles das gesagt.« Ich erinnerte mich an die Botschaft, die mir die einstige Hure Xanippa in der Nacht, als meine Mutter starb, für meinen Stiefvater mitgegeben hatte. Trotz der warmen Nacht zog ich die Decke über unsere feuchten Leiber. »Warum sollte Lord Sulis sie verhaften?« fragte ich. Tellarin schüttelte unbekümmert den Kopf. »Weil sie eine Hexe ist, denke ich, und damit ist sie gegen Gott. Avalles und einige der anderen Soldaten haben sie festgenommen und heute abend hierhergebracht.«, »Aber es gibt Dutzende Wurzelgräberinnen und Zauberweiber in der Küstenstadt, wo ich aufgewachsen bin, und vor den Burgmauern leben noch mehr. Was will er von ihr?« »Mein Herr glaubt nicht, daß sie ein beliebiges, harmloses altes Hexenweib ist«, sagte Tellarin. »Er hat sie in einen der tiefsten Kerker unter dem Thronsaal werfen und ihr Arme und Beine in Ketten legen lassen.« Das mußte ich natürlich selbst sehen, einerseits aus Neugier, andererseits aus Sorge um die anscheinend zunehmende geistige Verwirrung meines Stiefvaters. Am Morgen, als Lord Sulis noch im Bett lag, stieg ich in den Kerker hinunter. Die Frau war die einzige Gefangene – die tiefen Kerkerzellen wurden selten benutzt, weil die Insassen vermutlich eher an der klammen Kälte zugrunde gegangen wären, als eine Zeitspanne abzusitzen, die anderen zur Abschreckung dienen konnte –, und der diensthabende Wachmann ließ die Stieftochter des Schloßherrn nur zu gern die Hexe angaffen. Er zeigte auf die letzte Zellentür in dem unterirdischen Gewölbe. Ich mußte mich auf Zehenspitzen stellen, damit ich durch den vergitterten Schlitz in der Tür sehen konnte. Die einzige Lichtquelle war eine Fackel an der Wand hinter mir, daher war die Hexe weitgehend im Schatten verborgen. Sie trug Ketten an Handgelenken und Knöcheln, genau wie Tellarin gesagt hatte, und saß im hinteren Teil der fensterlosen Zelle auf dem Boden, wo ihre gekrümmten Schultern ihr das Aussehen eines vom Regen durchnäßten Falken verliehen. Als ich sie anstarrte, klirrten die Ketten leise, aber sie schaute nicht auf. »Was willst du, kleine Tochter?« Ihre Stimme klang überraschend tief. »Lord .Lord Sulis ist mein Stiefvater«, sagte ich schließlich, als würde das etwas erklären. Sie riß die riesigen gelben Augen auf. Schon vorher hatte mich ihre Gestalt an einen Raubvogel erinnert – nun fürchtete ich beinahe, sie würde auf mich zufliegen und mich mit scharfen, Klauen angreifen. »Kommst du, um Fürbitte für ihn zu leisten?« wollte sie wissen. »Ich sage dir, was ich ihm schon gesagt habe – es gibt keine Antwort auf seine Frage. Jedenfalls keine, die ich ihm geben könnte.« »Was für eine Frage?« sagte ich mit angehaltenem Atem. Die Hexe sah mich einen Moment stumm an, dann rappelte sie sich auf die Füße. Ich konnte sehen, welche Anstrengung es sie kostete, die Ketten zu heben. Sie schlurfte nach vorne, bis das Licht durch den Türschlitz direkt auf sie fiel. Ihr dunkles Haar war kurzgeschoren wie das eines Mannes. Sie war weder hübsch noch häßlich, weder groß noch klein, aber sie hatte eine Aura der Macht, besonders in den starr blickenden gelben Laternen ihrer Augen, die meinen Blick anzog und festhielt. Sie war etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte und nicht verstand. Sie redete wie eine normale Frau, hatte aber eine Wildheit gleich fernem Donnergrollen, gleich der Schnelligkeit eines fliehendes Rehs, in sich. Ich war so außerstande, mich abzuwenden, daß ich fürchtete, sie hätte mich mit einem Zauber belegt. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Ich werde dich nicht in den Wahnsinn deines Vaters hineinziehen, Kind.« »Er ist nicht mein Vater. Er hat meine Mutter geheiratet.« Ihr Lachen glich fast einem Bellen. »Ich verstehe.« Ich trat von einem Fuß auf den anderen und drückte das Gesicht weiter an die Gitterstäbe. Ich wußte nicht, warum ich überhaupt mit der Frau redete oder was ich von ihr wollte. »Warum bist du angekettet?« »Weil sie mich fürchten.« »Wie heißt du?« Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts, daher versuchte ich es mit etwas anderem. »Bist du wirklich eine Hexe?« Sie seufzte. »Kleine Tochter, geh weg! Wenn du mit den albernen Vorstellungen deines Stiefvaters nichts zu tun hast, ist es das beste, wenn du dich von all dem hier fernhältst. Man braucht keine Hexenmeisterin, um zu wissen, daß dies kein gutes Ende nehmen wird.«, Ihre Worte machten mir angst, aber ich konnte mich immer noch nicht von der Zellentür entfernen. »Möchtest du etwas haben? Essen? Trinken?« Sie sah mich wieder mit diesen fast fieberglänzenden Augen an. »Dieser Haushalt ist noch merkwürdiger, als ich gedacht habe. Nein, mein Kind. Ich will den freien Himmel und meinen Wald, doch das werde ich weder von dir noch einem anderen bekommen. Aber dein Vater sagt, er braucht mich – er wird mich nicht verhungern lassen.« Daraufhin drehte mir die Hexe den Rücken zu, schlurfte in den hinteren Teil der Zelle zurück und schleifte die Ketten über den Steinboden. Als ich die Treppe hinaufstieg, war mein Kopf so voll, daß er weh tat – aufgeregte Gedanken, traurige Gedanken, ängstliche Gedanken, alle wirbelten in heilloser Verwirrung durcheinander, wie Vögel in einem geschlossenen Raum. Mein Stiefvater hielt die Hexe gefangen, während der Monat Marris in den Avrel überging und die Frühlingstage verstrichen. Was immer er von ihr wollte, er bekam es nicht von ihr. Ich besuchte sie viele Male, aber obwohl sie auf ihre Art freundlich war, redete sie nur über belanglose Dinge mit mir. Häufig bat sie mich, ihr zu beschreiben, wie am Morgen der Frost auf dem Boden ausgesehen hatte und welche Vögel auf den Bäumen saßen und was sie sangen, weil sie in ihrer tiefen, fensterlosen Kerkerzelle, die direkt in den Stein der Landzunge gehauen war, nichts von der Außenwelt sehen und hören konnte. Ich weiß nicht, warum ich mich so zu ihr hingezogen fühlte. Irgendwie schien sie den Schlüssel zu vielen Geheimnissen zu besitzen – dem Wahnsinn meines Stiefvaters, dem Kummer meiner Mutter, meinen eigenen wachsenden Befürchtungen, daß die Fundamente unter meinem neuen Glück instabil waren. Obwohl mein Stiefvater ihr zu essen gab, wie sie vorhergesagt hatte, und nicht duldete, daß sie in irgendeiner Weise mißhandelt wurde, von der Tatsache ihrer Inhaftierung abgesehen, wurde die, Hexe Tag für Tag dünner, und dunkle Ringe bildeten sich wie Blutergüsse unter ihren Augen. Sie sehnte sich nach Freiheit, und wurde wie ein wildes Tier, das im Käfig gehalten wird, krank vor Unglück. Es schmerzte mich, sie zu sehen, als wäre mir selbst die Freiheit gestohlen worden. Jedesmal, wenn ich sie ausgezehrter und schwächer als das Mal zuvor sah, kamen mir Qual und Schmach der letzten, schrecklichen Tage meiner Mutter ins Gedächtnis zurück. Jedesmal, wenn ich den Kerker verließ, ging ich zu einer Stelle, wo ich allein sein konnte, und weinte. Nicht einmal meine gestohlenen Stunden mit Tellarin konnten die Traurigkeit lindern, die ich empfand. Ich hätte meinen Stiefvater für das gehaßt, was er ihr antat, aber auch er wurde mit jedem Tag kränker, als wäre er in einer Spiegelversion ihrer klammen Zelle gefangen. Welche Frage die Hexe auch immer gemeint haben mochte, sie quälte Sulis so sehr, daß er, ein anständiger Mensch, ihr die Freiheit geraubt – so sehr, daß er nachts kaum noch schlief, sondern bis zum Morgengrauen wach blieb, las und schrieb und wie in einer Art von Ekstase vor sich hin murmelte. Welche Frage es auch sein mochte, ich befürchtete langsam, daß sowohl er wie auch die Hexe ihretwegen sterben würden. Als ich ein einziges Mal den Mut aufbrachte, meinen Stiefvater zu fragen, warum er sie eingesperrt hatte, sah er über meinen Kopf hinweg zum Himmel, als hätte der eine völlig neue Farbe angenommen, und sagte zu mir: »Dieses Haus hat zu viele Türen, Mädchen. Man öffnet eine, dann noch eine, und dann steht man wieder dort, wo man angefangen hat. Ich kann meinen Weg nicht finden.« Wenn das die Antwort war, verstand ich sie nicht. Ich bot der Hexe den Tod an, und sie revanchierte sich mit einer Prophezeiung. Die Wachtposten des Inneren Zwingers riefen die Mitternachtsstunde aus, als ich aufstand. Ich war seit Stunden im, Bett, aber der Schlaf war nicht einmal in meine Nähe gekommen. Ich warf mir meinen dicksten Mantel über und stahl mich auf den Flur hinaus. Ich konnte meinen Stiefvater hinter seiner Tür wie mit einem Besucher sprechen hören. Es tat mir weh, seine Stimme zu hören, weil ich wußte, daß er allein war. Um diese Zeit war die einzige Wache im Kerker ein verkrüppelter alter Soldat, der sich nicht einmal im Schlaf regte, als ich an ihm vorbeiging. Die Fackel in der Wandhalterung war weit heruntergebrannt, daher konnte ich den Umriß der Hexe zuerst gar nicht in den Schatten erkennen. Ich wollte sie rufen, wußte aber nicht, was ich sagen sollte. Die Masse der immensen schlafenden Burg schien mich niederzudrücken. Schließlich klirrten die schweren Ketten. »Bist du das, kleine Tochter?« Ihre Stimme klang erschöpft. Nach einer Weile stand sie auf und kam nähergeschlurft. Selbst in dem schwachen Licht hatte sie das schreckliche Aussehen einer Sterbenden. Ich griff mit der Hand verstohlen an den Beutel, den ich um den Hals hängen hatte. Ich berührte meinen goldenen Baum, während ich ein stummes Gebet sprach, dann die Krümmung dieses anderen Gegenstands, den ich seit der Nacht bei mir trug, als meine Mutter gestorben war. In einem Augenblick, der von einem eigenen Licht erfüllt zu sein schien, unabhängig vom flackernden Schein der Fackel, zog ich die Drachenklaue heraus und gab sie ihr durch die Gitterstäbe. Die Hexe zog eine Braue hoch, als sie sie von mir entgegennahm. Sie drehte die Klaue sorgfältig auf der Handfläche um und lächelte traurig. »Eine vergiftete Eulenkralle. Sehr passend. Soll ich sie an meinen Häschern ausprobieren? Oder an mir selbst?« Ich zuckte hilflos die Achseln. »Du wolltest frei sein.« »Nicht damit, kleine Tochter«, sagte sie. »Jedenfalls diesmal nicht. Es ist so, daß ich bereits eingelenkt habe – besser gesagt, mich auf einen Handel eingelassen. Ich habe eingewilligt, deinem Stiefvater zu geben, was er zu wollen glaubt, und bekomme dafür, meine Freiheit. Ich muß den Himmel wieder sehen und fühlen.« Sanft gab sie mir die Klaue zurück. Ich sah sie an und war fast krank vom Bedürfnis, etwas zu erfahren. »Warum verrätst du mir deinen Namen nicht?« Wieder ein trauriges Lächeln. »Weil ich meinen wirklichen Namen niemandem verrate. Weil jeder andere Name eine Lüge wäre.« »Dann erzähl mir eine Lüge.« »Wirklich ein seltsamer Haushalt! Nun denn. Die Menschen im Norden nennen mich Valada.« Ich versuchte es in meiner. Sprache. »Valada. Er wird dir jetzt die Freiheit geben?« »Bald, wenn die Abmachung von beiden Seiten eingehalten wird.« »Was ist das für eine Abmachung?« »Eine schlechte für alle Beteiligten.« Sie sah meinen Gesichtsausdruck. »Glaub mir, du willst es eigentlich nicht wissen. Um dieses Wahnsinns willen wird jemand sterben – das sehe ich so deutlich wie dein Gesicht, das durch die Tür schaut.« Mein Herz lag wie ein kalter Stein in meiner Brust. »Jemand wird sterben? Wer?« Ihr Ausdruck wurde resigniert, und ich konnte sehen, daß es sie Anstrengung kostete, mit den Fesseln aufrecht zu stehen. »Ich weiß nicht. Und in meiner Erschöpfung habe ich dir schon zuviel gesagt, kleine Tochter. Du hast hiermit nichts zu schaffen.« Ich wurde noch kläglicher und verwirrter entlassen. Die Hexe würde frei sein, aber jemand anders würde sterben. Ich konnte nicht an ihren Worten zweifeln – niemand hätte das gekonnt, der ihre fiebrigen, traurigen Augen gesehen hatte, als sie es sagte. Als ich zu meiner Schlafkammer zurückging, schienen die Flure des Inneren Zwingers ein vollkommen neuer Ort für mich zu sein, eine fremde und unbekannte Welt. Meine Gefühle für Tellarin waren immer noch erstaunlich stark, aber in den Tagen nach der Weissagung der Hexe war ich so, umgeben von Unglück, daß unsere Liebe mehr einem Feuer glich, das ein kaltes Zimmer bewohnbar macht, als einer Sonne, die alles wärmt, so wie früher. Wenn mein Soldat nicht eigene Sorgen gehabt hätte, hätte er es mit Sicherheit bemerkt. Die Kälte in mir wurde so kalt wie der tiefste Winter, als ich ein Gespräch zwischen Tellarin und Avalles über einen Geheimauftrag mit anhörte, den Lord Sulis ihnen übertragen hatte, etwas, das mit der Hexe zu tun hatte. Es war schwer zu sagen, was genau beabsichtigt war – mein Liebster und sein Freund kannten das ganze Ausmaß von Sulis´ Plänen selbst nicht, und sie sprachen nur zueinander, nicht damit ihre heimliche Lauscherin sie verstand. Wie ich mir zusammenreimte, hatten die Bücher meines Stiefvaters ihm gezeigt, daß der Zeitpunkt für ein bedeutendes Ereignis in greifbare Nähe gerückt war. Sie würden eine Art Feuer suchen oder entfachen. Dazu wäre eine kurze nächtliche Reise erforderlich, aber sie sagten nicht – wußten es vielleicht auch noch nicht –, in welcher Nacht das sein würde. Sowohl mein Liebster wie auch Avalles waren erkennbar beunruhigt angesichts dessen, was ihnen bevorstand. Hatte ich bislang nur Angst empfunden, weil ich glaubte, daß für meinen armen, verwirrten Stiefvater das größte Risiko bestand, so war ich jetzt krank vor Entsetzen. Ich konnte mich kaum durch die verbliebenen Stunden des Tages schleppen, so sehr verzehrte mich der Gedanke, daß Tellarin etwas zustoßen könnte. Ich ließ meine Perlenstickerei so oft fallen, daß Ulca sie mir schließlich wegnahm. Als die Dunkelheit kam, konnte ich stundenlang nicht schlafen, und dann wachte ich keuchend und zitternd aus Träumen auf, in denen Tellarin in Flammen stand und gerade außerhalb meiner Reichweite verbrannte. Ich wälzte mich die ganze Nacht in meinem Bett herum. Wie konnte ich meinen Liebsten beschützen? Eine Warnung würde nichts nützen. Er war störrisch und bewahrte seine innersten Überzeugungen für Dinge, die er greifen und berühren konnte, daher wußte ich, er würde den Worten einer Hexe wenig Wert beimessen. Aber selbst wenn er mir glaubte, was hätte er tun, können? Aufgrund einer Warnung von mir, seiner heimlichen Geliebten, einen Befehl von Lord Sulis verweigern? Nein, es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn ich versuchen würde, Tellarin davon zu überzeugen, nicht zu gehen – er sprach fast so oft von seiner Loyalität seinem Herrn gegenüber wie von seiner Liebe zu mir. Ich litt die Qualen ängstlicher Neugier. Was hatte mein Stiefvater vor? Was hatte er in seinen Büchern gelesen, daß er nun nicht nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, sondern auch das meines Liebsten? Ich wußte, keiner von ihnen würde mir etwas erzählen. Selbst die Hexe hatte gesagt, daß es nicht meine Sache sei. Was immer ich herausfinden wollte, mußte ich selbst herausfinden. Ich beschloß, einen Blick in diejenigen Bücher meines Stiefvaters zu werfen, die er vor mir und allen anderen versteckt hielt. Einst wäre das so gut wie unmöglich gewesen, aber heute konnte ich mich – weil er die ganzen dunklen Stunden der Nacht hindurch saß und las und schrieb und vor sich hin flüsterte – darauf verlassen, daß er schlafen würde wie ein Toter, wenn er einmal schlief. Ich schlich mich früh am nächsten Morgen in die Gemächer meines Stiefvaters. Er hatte die Diener schon vor Wochen weggeschickt, und die Leute in der Burg wagten nicht mehr, an seine Tür zu klopfen, es sei denn, sie wurden gerufen. Die Zimmer waren verlassen, von meinem Stiefvater und mir abgesehen. Er lag ausgestreckt auf seinem Bett, sein Kopf hing über den Rand der Matratze herab. Hätte ich nicht gewußt, wie enthaltsam er in fast jeder Hinsicht war, hätte ich aus seinen tiefen, röchelnden Atemzügen und den zerwühlten Laken den Schluß gezogen, daß er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte; aber Sulis trank selten auch nur einen Becher Wein. Den Schlüssel für die abgeschlossenen Kisten trug er an einer Kordel um den Hals. Als ich ihn so behutsam, wie ich konnte,, aus Sulis´ Hemdkragen zog, kam ich nicht umhin, zu sehen, wieviel glücklicher seine im Schlaf entspannten Züge wirkten. Die Furchen auf seiner Stirn waren nicht mehr so tief, sein Mund war nicht mehr zu der zerstreuten Grimasse verkrampft, die sein ständiger Gesichtsausdruck geworden war. In diesem Augenblick tat er mir leid, obwohl ich ihn für das haßte, was er der Hexe Valada angetan hatte. Welcher Wahnsinn in letzter Zeit auch über ihn gekommen sein mochte, er war ein gütiger Mann gewesen, auf seine Weise, zu seiner Zeit. Er regte sich und gab einen unartikulierten Laut von sich. Mit klopfendem Herzen sputete ich mich, ihm Kordel und Schlüssel über den Kopf zu ziehen. Als ich die Holzkisten gefunden und aufgeschlossen hatte, machte ich mich daran, die verbotenen Bücher meines Stiefvaters herauszuholen und zu studieren, indem ich eines nach dem anderen rasch und leise durchblätterte, während ich mit einem Ohr auf seine Atemgeräusche achtgab. Die meisten der schlicht eingebundenen Folianten waren in Sprachen verfaßt, die ich nicht verstand, zwei oder drei mit Buchstaben, die ich nicht einmal kannte. Diejenigen, die ich teilweise ein wenig verstand, enthielten entweder Geschichten vom Feenvolk oder Berichte über den Hochhorst zur Zeit der Nordmänner. Fast eine Stunde war verstrichen, als ich ein lose gebundenes Buch mit dem Titel Schriften von Vargellis Sulis, Siebenter Lord von Honsa Sulis, jetzt Herr des Sulischen Hauses im Exil fand. Die penible Handschrift meines Stiefvaters füllte die ersten Seiten völlig aus, danach wurde sie größer und krakeliger, bis sie auf den letzten Seiten fast das Gekritzel eines Kindes zu sein schien, das gerade erst schreiben lernt. Ein Geräusch vom Bett her erschreckte mich, aber mein Stiefvater hatte nur gegrunzt und sich auf die Seite gedreht. Ich blätterte das Buch, so rasch ich konnte, weiter durch. Es schien nur der jüngste Band der Niederschriften eines ganzen Lebens zu sein – die ersten Datumsangaben darin stammten aus dem ersten Jahr, das wir im Hochhorst verbracht hatten. Der Großteil der, Seiten enthielt Listen mit Arbeiten, die beim Wiederaufbau des Hochhorsts zu erledigen waren, sowie wichtige Entscheidungen, die Sulis als Herr der Festung und der zugehörigen Ländereien getroffen hatte. Es gab weitere Anmerkungen persönlicherer Natur, doch die waren kurz und nüchtern. Zu jenem schrecklichen Tag vor drei Jahren hatte er nur angemerkt: »Cynethrith am Brustfieber gestorben. Sie wird auf der Landzunge begraben werden.« Ich wurde nur ein einziges Mal in einem einzelnen Satz von vor wenigen Monaten erwähnt: »Breda heute glücklich«. Es schmerzte mich auf seltsame Weise, daß mein ernster Stiefvater das bemerkt und notiert hatte. Auf den letzten Seiten fand sich fast keine Erwähnung von häuslichen oder öffentlichen Angelegenheiten, da Sulis im täglichen Leben das Interesse an beiden verloren hatte. Statt dessen fanden sich immer mehr Anmerkungen, die um Dinge zu kreisen schienen, von denen er in anderen Büchern gelesen hatte – eine lautete: »Plesinnen behauptet, daß die Sterblichkeit von Gott verzehrt wird, wie eine Flamme Zweig oder Ast verzehrt. Wie aber ..«, der Rest war verschmiert – ein Wort hätte »Nägel« heißen können, und weiter unten konnte ich »Heiliger Baum« entziffern. In einer anderen seiner Notizen wurden mehrere »Türen« aufgelistet, die jemand namens Nisses gefunden hatte, mit Erklärungen zu jeder einzelnen, die gar nichts erklärten – »Verwandelt« stand in der krakeligen Handschrift meines Stiefvaters neben einer, oder »aus einer Zeit ohne Besatzung« oder sogar »ein dunkles Ding getroffen«. Erst auf den letzten beiden Seiten fand ich Hinweise auf die Frau im Kerker unter dem Thronsaal. »Habe endlich Kunde von der Frau namens Valada erhalten«, verkündete das Gekritzel. »Niemand sonst, der nördlich von Perdruin lebt, weiß etwas über das Schwarze Feuer. Sie muß gezwungen werden, preiszugeben, was sie weiß.« Darunter stand in noch krakeligerer Handschrift eines anderen Tages: »Die Hexe sträubt sich, aber ich darf mir kein weiteres Scheitern wie am Abend von Elysiamansa leisten. In, der Steinigungsnacht wird die nächste Zeit der Lauten Stimmen unter dem Horst sein. Die Wände werden dünn sein. Sie muß mir den Weg des Schwarzen Feuers zeigen, sonst gibt es keine Hoffnung. Entweder sie antwortet, oder der Tod.« Ich lehnte mich zurück und versuchte, das alles zu verstehen. Was immer mein Stiefvater vorhatte, es würde bald passieren – die Steinigungsnacht war die letzte Nacht im Avrel und nur noch wenige Tage entfernt. Ich konnte der Niederschrift nicht entnehmen, ob die Hexe noch in Gefahr war – wollte er sie töten, wenn sie versagte, oder nur, wenn sie versuchen würde, ihn bei der Abmachung übers Ohr zu hauen? –, aber ich zweifelte nicht daran, daß diese Suche nach dem Ding namens Schwarzes Feuer alle anderen in Gefahr bringen würde, ganz besonders, was am beunruhigendsten war, meinen Soldaten Tellarin. Wieder murmelte mein Stiefvater im Schlaf, ein unglücklicher Laut. Ich schloß seine Bücher weg und schlich mich wieder hinaus. Den ganzen Tag fühlte ich mich zerstreut und fiebrig, aber diesmal war es nicht das Fieber der Liebe. Ich hatte Todesangst um Tellarin und fürchtete um meinen Stiefvater und die Hexe Valada, konnte aber niemandem sagen, was ich wußte und wie ich es herausgefunden hatte. Zum erstenmal, seit mein Soldat mich geküßt hatte, fühlte ich mich allein. Ich kannte eine Fülle von Geheimnissen, besaß aber im Gegensatz zu Sulis nicht einmal ein Buch, dem ich sie anvertrauen konnte. Nach langem Hin und Her beschloß ich, daß ich ihnen folgen würde. Ich würde ihnen an den Ort folgen, von dem mein Stiefvater gesprochen hatte, dem Ort unter der Festung, wo die Wände dünn und die Stimmen laut waren. Während sie nach dem Schwarzen Feuer suchten, würde ich auf Gefahren achten. Ich würde sie alle beschützen. Ich würde ihr Schutzengel sein. Endlich war die Steinigungsnacht gekommen. Auch wenn ich die Schriften meines Stiefvaters nicht gelesen hätte, hätte ich vermutlich gewußt, daß die Stunde gekommen war, da sie nach dem Schwarzen Feuer suchen wollten, weil, Tellarin so geistesabwesend und voller Schatten war. Obwohl er mir gegenüber nichts eingestand, als wir nebeneinander in meiner Schlafkammer lagen, konnte ich spüren, daß er sich Sorgen darüber machte, was ihm in dieser Nacht bevorstand. Aber er war meinem Stiefvater durch Ehre und Blut verbunden und hatte keine andere Wahl. Er fuhr mich an, als ich sein Ohr küßte und seine Locken um meine Finger wickelte. »Gönn einem Mann etwas Ruhe, Mädchen!« »Warum bist du ein Mann und ich ein Mädchen?« fragte ich ihn spöttisch und schützte eine Unbekümmertheit vor, die ich nicht wirklich empfand. »Ist der Altersunterschied zwischen uns so groß? Habe ich dir nicht schon gegeben, was mich zur Frau macht?« Mein Soldat war kurz angebunden und hörte die Liebe in meinen Worten nicht. »Jede, die keine Ruhe gibt, wenn man sie darum bittet, beweist damit, daß sie noch ein Kind ist. Und ich bin ein Mann, weil ich das Abzeichen eines Soldaten trage und mein Leben geben muß, wenn mein Herr es verlangt.« Tellarin war fünf Jahre älter als ich, und in jenen längst vergangenen Tagen war ich von dem Unterschied fast so sehr beeindruckt wie er, aber heute glaube ich, daß alle Männer jünger sind als ihre Frauen, besonders wenn ihre Ehre im Spiel ist. Als er die Decke anstarrte, trat Ernst an die Stelle des Zorns in seiner Miene, und ich wußte, daß er daran dachte, was er in dieser Nacht tun mußte. Ich hatte auch Angst, daher küßte ich ihn wieder, diesmal zärtlich, und entschuldigte mich. Als er sich unter vielen Vorwänden, die seine eigentliche Aufgabe verbergen sollten, verabschiedet hatte, bereitete ich mich auf meinen eigenen Ausflug vor. Ich hatte meinen dicksten Mantel und sechs große Kerzen an einer Stelle versteckt, wo Ulca und die anderen Gesindefrauen sie nicht finden würden. Als ich angekleidet und bereit war, berührte ich den goldenen Baum meiner Mutter, der an meinem Herzen ruhte, und betete fur die Sicherheit aller, die mit mir in die Dunkelheit gehen würden., Steinigungsnacht – die letzte Nacht des Avrel am Vorabend des Monats Maia, die schwarzen Stunden, wenn den Geschichten zufolge die Geister auf Erden wandeln, bis sie von der Dämmerung und dem Krähen des Hahns in ihre Gräber zurückgetrieben werden. Der Hochhorst erstreckte sich stumm um mich herum, während ich meinem Liebsten und den anderen durch die Dunkelheit folgte. Mir kam es nicht so vor, als schliefe die gewaltige Festung, sondern als hielte sie wartend den Atem an. Es gibt eine Treppe unter dem Engelsturm, und dorthin waren sie unterwegs. In dieser Nacht erfuhr ich zum erstenmal davon, als ich, in meinen dunklen Mantel gehüllt, im Schatten der dem Turm gegenüberliegenden Mauer stand und lauschte. Es waren vier, denen ich folgte – mein Stiefvater, Tellarin und sein Freund Avalles, und die Frau Valada. Trotz der Abmachung, die sie getroffen hatten, waren die Arme der Hexe noch in Ketten. Es schmerzte mich, sie wie ein Tier gefesselt zu sehen. Die Arbeiter, die den Turm wiederherstellten, hatten einen rauhen Holzboden auf die geborstenen Steinplatten des alten gelegt – vielleicht um zu gewährleisten, daß niemand in eines der zahlreichen Löcher fiel, vielleicht auch nur, um Zugänge zu den tiefsten Verliesen der Burg zu versperren. Einige hatten sogar vorgeschlagen, daß der gesamte Boden der alten Burg unter Steinplatten versiegelt werden sollte, damit auf diesem Weg nichts nach oben kommen und den Schlaf gottesfürchtiger Leute stören konnte. Wegen dieses Holzbodens wartete ich eine lange Zeit, bis ich ihnen durch das äußere Portal des Turms folgte, weil ich wußte, daß mein Stiefvater und seine beiden Getreuen einige Zeit brauchen würden, um die Dielen zu entfernen. Während ich im Schatten der Turmmauer wartete und der Wind durch den Inneren Zwinger heulte, dachte ich an den Engel, der auf der Turmspitze stand, die Statue einer Frau, schwarz vom Ruß der Jahrhunderte, den kein Regen abwaschen konnte, etwas schräg,, als würde sie das Gleichgewicht verlieren und stürzen. Wer war sie? Eine der gesegneten Heiligen? War sie ein Omen – würde sie über mich wachen, so wie ich über Tellarin und die anderen wachen wollte? Ich schaute nach oben, aber die Spitze des hohen Turms war in der Nacht nicht zu sehen. Schließlich versuchte ich mein Glück an der Klinke der Turmtür und stellte fest, daß der Riegel nicht vorgeschoben worden war. Ich hoffte, das bedeutete, daß der Engel tatsächlich über mich wachte. Ins Innere des Turms drang kein Mondlicht, daher zündete ich noch unter der Tür die erste Kerze mit dem verborgenen Zunderholz an, das fast heruntergebrannt war. Meine Schritte kamen mir in der aus Stein gemauerten Eingangshalle beängstigend laut vor, aber niemand trat aus den Schatten und fragte mich, was ich an jenem Ort verloren hätte. Ich hörte keinen Laut von meinem Stiefvater oder den übrigen. Ich verweilte einen Moment vor der großen Wendeltreppe nach oben und fragte mich unwillkürlich, was die Arbeiter finden würden, wenn sie die Trümmer beseitigt hatten und die Spitze erreichten – und das frage ich mich all die Jahre später immer noch, da die schwierige Aufgabe noch nicht vollendet ist. Ich nehme an, zu meinen Lebzeiten werde ich es nicht mehr erleben. Werden sie Schätze finden, die das Feenvolk zurückgelassen hat? Oder vielleicht nur die gebrechlichen Knochen dieser uralten Wesen? Auch ohne all das, was in jener schicksalsträchtigen Nacht passiert ist, würde mich der Engelsturm heimsuchen, so wie er diese große Festung und sämtliches Land unter seinem langen Schatten heimsucht. Ich glaube, kein Sterblicher wird jemals all seine Geheimnisse ergründen. Einst, vor langer Zeit, träumte ich, daß ich die Engelsfigur selbst von meinem Stiefvater überreicht bekam, um sie zu reinigen, aber sosehr ich es versuchte, ich konnte den schwarzen Belag nicht von ihren Gliedern und dem Gesicht abschrubben. Er sagte zu mir, daß es nicht meine Schuld sei, daß Gott mir die, Kraft gegeben hätte, wenn Er wirklich wollte, daß das Gesicht des Engels zu sehen wäre, aber ich weinte dennoch ob meines Unvermögens. Ich ging von der Eingangshalle zu der Stelle, wo der Boden in gewaltigen geborstenen Trümmern abfiel, und versuchte mir vorzustellen, was Steine derart gründlich zerschmettern und den Turm als Ganzes dennoch unversehrt stehen lassen konnte. Es war nicht leicht, meinem Stiefvater und meinem Liebsten auf ihrem Weg zu folgen, aber ich stieg das Geröll hinab, wobei ich mich vornüberbeugte und die Kerze abstellte, damit ich beide Hände frei hatte. Ich wünschte mir nicht zum letztenmal, ich hätte etwas anderes als meine weichen Schuhe angezogen. Ich kletterte immer weiter nach unten, stieß mir die Füße wund und zerriß mein Kleid an mehreren Stellen, bis ich den Wirrwarr kleinerer Steintrümmer erreichte, der den Boden bildete, mindestens das Halbdutzendfache meiner eigenen Körpergröße unter der Ebene des Inneren Zwingers. Inmitten dieses Trümmerfelds klaffte ein großes, schwarzes Loch, größer als alle anderen, ein zerklüfteter Mund, der darauf wartete, mich zu verschlucken. Als ich mich ihm knirschend näherte, hörte ich Stimmen aus der Tiefe emporschweben, die den anderen gehören mußten, auch wenn sie sich fremd in meinen Ohren anhörten. Weitere Steine waren beiseite geräumt worden, so daß der Zugang zur Treppe freigelegt war, eine weiß glänzende Lippe mit Stufen darin, die im Schatten verschwanden. Eine andere Stimme tönte lachend herauf. Sie gehörte niemandem, den ich kannte. Trotz allem, was sich an den vergangenen Tagen zugetragen hatte, hatte ich mich zuvor nicht so ängstlich gefühlt, aber ich wußte, Tellarin war da unten, an den dunklen Orten. Ich machte das Zeichen des Baums über der Brust und trat auf die Treppe. Zuerst konnte ich keine Spur von ihnen finden. Als ich hinabstieg, bewirkte das Licht meiner einzelnen Kerze nur, daß die Treppe noch mehr wie eine dunkle Kehle wirkte, die, nur darauf wartete, mich zu verschlingen, aber Furcht allein konnte mich nicht von meinem Liebsten fernhalten – wenn überhaupt, spornte sie mich zur Eile an. Ich hastete nach unten, bis ich den Eindruck hatte, ich müßte so tief unter dem Schloß sein, wie der Engelsturm darüber aufragte, hatte sie aber noch immer nicht eingeholt. Ich weiß nicht, ob es ein Streich des Schalls war oder an den Winden lag, die angeblich durch die Höhlen der Felsklippen über dem Königsee wehen sollen, jedenfalls hörte ich weiter unbekannte Stimmen. Wenn mir nicht das flackernde Licht der Kerze verraten hätte, daß die Treppe einsam und verlassen war, wäre ich überzeugt gewesen, ich hätte die Person, die mir zuflüsterte, mit ausgestreckter Hand berühren können. Die Stimmen murmelten und sangen manchmal in einer sanften, wehmütigen Zunge, die ich nicht verstand, nicht einmal kannte. Ich wußte, ich hätte zu große Angst haben sollen, um zu bleiben, ich hätte umkehren und zurück ins Mondlicht und in die klare Luft fliehen müssen, aber auch wenn das körperlose Flüstern mich mit Bangen erfüllte, spürte ich nichts Böses darin. Wenn es Geister waren, wußten sie vermutlich nicht einmal, daß ich hier war. Es war, als würde die Burg Selbstgespräche führen wie ein alter Mann, der am Kamin sitzt und selbstvergessen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten nachhängt. Die Treppe mündete in einen breiten Absatz mit offenen Türen an beiden Enden, und ich mußte unwillkürlich an die Türen denken, die in dem Buch meines Stiefvaters erwähnt wurden. Während ich stehenblieb und überlegte, welchen Weg ich einschlagen sollte, betrachtete ich die Bildwerke an den Wänden, zierliche Ranken und Blumen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Über einem Türrahmen saß eine Nachtigall auf dem Ast eines Baumes. Ein anderer Ast schmückte die gegenüberliegende Tür, oder, besser gesagt, es waren zwei Äste ein und desselben Baums, wie ich sah, als ich die Kerze bewegte, der direkt über mir ausgehauen worden war und sich über die Decke des Treppenhauses erstreckte, als wäre ich der, Baumstamm. Um den Ast über der anderen Tür wand sich eine zierliche Schlange. Ich erschauerte und ging auf die Tür der Nachtigall zu, aber in diesem Augenblick drangen Worte aus der Dunkelheit herauf. ».wenn du mich belogen hast. Ich bin ein geduldiger Mann, aber ..« Es war mein Stiefvater, und selbst wenn ich die leise Stimme nicht erkannt hätte, hätte ich ihn an der Wortwahl erkannt, denn dies war etwas, das er immer wieder sagte. Und er sprach die Wahrheit – er war ein geduldiger Mann. Er war immer wie einer der Steine der Mauern des Hügels gewesen, kühl und hart und ohne Hast, und er wurde erst richtig warm, wenn die Sonne eines ganzen Sommers auf ihn geschienen hatte. Manchmal war mir zumute gewesen, als hätte ich ihn mit einem Stock prügeln müssen, damit er sich nur einmal umdrehte und mich richtig ansah. Ich war der Meinung gewesen, daß er das nur einmal getan hatte – am Tag, als er mir sagte, daß »sie« ihm alles weggenommen hatten. Aber jetzt wußte ich, er hatte mich noch einmal angesehen, hatte mich an einem Tag, als mein Liebster mir ein Geschenk brachte oder einen Kuß gab, lächeln gesehen und in sein Buch geschrieben: »Breda heute glücklich.« Die Worte meines Stiefvaters waren durch die andere Tür gekommen. Ich zündete eine neue Kerze an, drückte sie auf die erste, die fast bis zum Halter heruntergebrannt war, und folgte der Stimme von Sulis durch die Tür der Schlange. Abwärts ging ich, und immer weiter abwärts – was mir wie eine stundenlange Wanderschaft durch schräge, längst verlassene Flure vorkam, die sich dahinschlängelten wie Garn, das aus einem Beutel fiel. Das Licht der Kerzen zeigte mir Steine, die, wie ich wußte, sogar noch älter waren, aber neuer und heller zu sein schienen als die, die ich weiter oben gesehen hatte. An manchen Stellen führten die Durchgänge in Räume voll Dreck und Geröll, die aber riesig gewesen sein mußten, mit Decken so hoch wie die der größten Säle, von denen ich je in Nabban gehört hatte. Die, Bildwerke, die ich sah, waren so fein gearbeitet, so perfekt, daß sie ihre natürlichen Vorbilder – Vögel, Pflanzen, Bäume – hätten sein können, die von Zaubersprüchen in Stein gebannt worden waren, die in den Geschichten Ulcas und meiner Mutter so oft eine Rolle gespielt hatten. Es war ein erstaunlicher Gedanke, daß diese ganze Welt schon in ihrer irdenen Gruft lag, seit wir im Hochhorst lebten, und schon Generationen zuvor. Ich wußte, ich sah das urzeitliche Heim des Feenvolks. Allen Geschichten zum Trotz, und selbst mit dem Turm als Beweis, hätte ich mir nie träumen lassen, daß sie so gut mit Stein umgehen, ihn wie Wasser schäumen und wie Eis funkeln lassen, ihn hoch droben zu schlanken Bögen formen konnten, die den zierlichsten Zweigen einer Weide glichen. Hatten die Nordmänner sie wirklich alle getötet? Zum erstenmal begriff ich ein wenig, was das bedeutete, und ein tiefes, leises Grauen kam über mich. Die Schöpfer dieser Schönheit abgeschlachtet, ihre Häuser von den Schlächtern in Besitz genommen – kein Wunder, daß die Dunkelheit von unruhigen Stimmen erfüllt war. Kein Wunder, daß der Hochhorst ein Ort qualvoller Traurigkeit für alle war, die darin lebten. Die Burg unserer Tage gründete sich auf uralten Mord. Sie war auf dem Tod errichtet worden. Dieser Gedanke setzte mir zu. In meinem Geist verschmolz er mit der Erinnerung an das geistesabwesende Starren meines Stiefvaters, an die Hexe in Ketten. Nichts Gutes konnte aus dem Bösen kommen, da war ich sicher. Nicht ohne Opfer. Nicht ohne Blut und Sühne. Meine Furcht nahm wieder zu. Die Friedfertigen mochten fort sein, aber ich fand heraus daß ihr großes Haus von Leben beseelt blieb. Als ich weiter nach unten eilte und den Spuren meines Stiefvaters und seiner Gefährten im Staub der Jahrhunderte folgte, stellte ich plötzlich fest, daß ich falsch abgebogen war. Der Durchgang endete an einem Geröllhaufen, und als ich zur letzten, Kreuzung zurückkehrte, konnte ich keine Spuren von Fußabdrücken erkennen, und die Stelle selbst kam mir auch nicht vertraut vor, als hätten sich die Ruinen um mich herum von selbst verändert. Ich machte die Augen zu und lauschte nach dem Klang von Tellarins Stimme, da ich sicher war, mein Herz würde ihn durch alle Steine Erkynlands hören können. Aber ich vernahm nichts außer dem Murmeln der Geister, das wie eine herbstliche Brise wehte, voll von Seufzern und getuscheltem Unsinn. Ich hatte mich verirrt. Zum erstenmal wurde mir klar, wie närrisch es war, was ich getan hatte. Ich hatte mich an einen Ort begeben, wo ich nichts zu suchen hatte. Kein Mensch wußte, daß ich hier war, und wenn meine letzte Kerze niedergebrannt war, würde ich hilflos in der Dunkelheit sitzen. Tränen traten mir in die Augen, aber ich wischte sie weg. Das Weinen hatte weder meinen Vater zurückgebracht noch meine Mutter. Jetzt würde es mir auch nichts nützen. Ich gab mir größte Mühe, meine Schritte zurückzuverfolgen, aber die Stimmen flatterten um mich herum wie unsichtbare Vögel, und es dauerte nicht lang, da lief ich orientierungslos dahin. Die Stimmen in meinem Kopf und die flackernden Schatten verwirrten mich so sehr, daß ich zweimal um ein Haar in breite Spalten im Boden des Gangs gefallen wäre. Ich trat einen Stein in eine, der fiel, ohne etwas zu berühren, bis ich es nicht mehr ertragen konnte, weiter zu lauschen. Die Dunkelheit schien mich einzuschließen, und ich hätte mich für alle Zeiten verirren, zu einer weiteren Stimme in dem flüsternden Chor werden können, aber durch Glück oder Zufall oder eine Fügung des Schicksals bog ich in einen Gang, den ich nicht wiedererkannte, stand vor einer weiteren Treppe und hörte die Stimme der Hexe Valada aus den Tiefen herauftönen. ».nicht eine Armee oder ein Haushalt eines Edelmannes, den Ihr herumkommandieren könnt, Lord Sulis. Diejenigen, die hier gelebt haben, sind tot, aber das Gebäude lebt. Ihr müßt nehmen, was Ihr bekommt ..«, Es war, als hätte sie meine Gedanken gehört. Während ich noch erschauerte, als ich meine bösen Ahnungen laut ausgesprochen hörte, eilte ich dem Klang entgegen, weil ich schreckliche Angst hatte, daß ich nie wieder eine vertraute Stimme hören würde, falls er verstummte. Schätzungsweise eine weitere Stunde verstrich, obwohl ich so lange in der verwunschenen Dunkelheit gewesen war, daß ich es kaum beurteilen konnte. Mein Liebster und die übrigen schienen fast selbst schon Phantome geworden zu sein und schwebten wie Löwenzahnsamen vor mir, immer ein Stück außerhalb meiner Reichweite. Die Treppen führten weiter nach unten, und als meine dritte und dann meine vierte Kerze brannte, konnte ich flüchtige Eindrücke der riesigen Räume erhäschen, durch die wir alle Stufe für Stufe nach unten gingen, als machten wir eine Pilgerfahrt die Terrassen des Himmels hinab. Manchmal, wenn die Kerzen in dem Holzhalter flackerten, bildete ich mir ein, ich könnte noch mehr sehen. Aus den Augenwinkeln gesehen, schienen die Ruinen manchmal eine Art Eigenleben zu entwickeln. Es gab Augenblicke, da schwollen die Geisterstimmen an, und die Schatten schienen greifbare Formen anzunehmen. Wenn ich die Augen halb schloß, konnte ich es in diesen trostlosen Hallen fast von bunten, lachenden Leuten wimmeln sehen. Warum hatten die Nordmänner etwas so Schönes vernichtet? Und wie konnte ein Volk, das eine solche Burg erbaute, von irgendwelchen Sterblichen besiegt werden, so blutgierig und kampfeslustig sie auch sein mochten? Ein Licht erblühte vor mir in der Tiefe, rot und gelb, so daß der polierte Stein des Treppenhauses zu beben schien. Einen Augenblick hielt ich es auch für ein Hirngespinst, aber dann hörte ich die Stimme meines Liebsten so nahe, daß es schien, als könnten wir uns küssen, hätten wir den Wunsch danach verspürt. »Traut ihr nicht, Sire«, sagte Tellarin, der sich mehr als ein wenig ängstlich anhörte. »Sie lügt wieder.«, Ich war über die Maßen glücklich, aber auch meine Vorsicht kehrte zurück, als ich die Flamme der Kerze mit der Hand abschirmte und so schnell ich konnte die Treppe hinunterlief. Als ihre Stimmen lauter wurden und ich sah, daß das Licht, das in der Dunkelheit erblühte, von ihren Fackeln stammte, kniff ich die Flamme aus und löschte meine Kerze ganz. So froh ich war, sie zu finden – ich ging davon aus, daß sie diese Gefühle nicht erwidern würden. Ich schlich mich näher ans Licht, konnte aber Tellarin und die anderen nicht sehen, weil mir so etwas wie eine Rauchwolke die Sicht nahm. Erst als ich das Ende der Wendeltreppe erreichte und lautlos den Boden der großen Kammer betrat, konnte ich die vier Gestalten richtig erkennen. Sie standen mitten in einem Raum, der so ungeheuer groß war, daß nicht einmal das Licht der Fackeln, die mein Liebster und Avalles trugen, bis in die höchsten Ecken leuchten konnte. Vor ihnen ragte das Ding auf, das ich für Rauch gehalten hatte. Ich konnte es immer noch nicht deutlich erkennen, obwohl die Fackeln nur eine Armeslänge davon entfernt brannten, aber nun schien es ein großer Baum mit schwarzen Blättern und schwarzem Stamm zu sein. Ein Schatten hüllte ihn ein und verbarg alles bis auf den gröbsten Umriß, ein dunkles Leichentuch wie der Nebel, der an einem Wintermorgen die Hügel verbarg, aber ich war sicher, daß es kein Nebel war, worin der Umriß des Baums kauerte. Es war reine Dunkelheit. »Ihr müßt euch entscheiden, ob Ihr auf mich oder einen jungen Soldaten hören wollt«, sagte die Hexe zu meinem Stiefvater. »Ich sage es noch einmal – wenn ihr auch nur ein Blatt abschneidet, wird euch das als Plünderer ausweisen, und es wird kein gutes Ende mit euch nehmen. Könnt Ihr das nicht spüren?« »Und ich glaube, Tellarin hat recht«, verkündete Avalles, aber seine Stimme klang längst nicht so überzeugt wie seine Worte. »Sie versucht, uns zu überlisten.« Mein Vater sah von dem Baumschatten zu der Hexe. »Wenn wir kein Holz mitnehmen dürfen, warum hast du uns dann, hierhergeführt?« fragte er langsam, als kostete ihn allein das Sprechen große Anstrengung. Ich konnte das gallige Lächeln in Valadas Antwort hören. »Ihr habt mich zwei Monde in Eurem feuchten Steinhaufen gefangengehalten und meine Hilfe bei der Beantwortung Eurer verrückten Fragen gesucht. Wenn Ihr nicht glaubt, daß ich weiß, was ich weiß, warum habt Ihr mich dann in Ketten gelegt und hierherbringen lassen?« »Aber das Holz ..?« »Ich habe nicht gesagt, daß ihr nichts zum Verbrennen mitnehmen könnt, ich habe gesagt, daß Ihr ein Narr wärt, eine Axt oder ein Messer gegen den Großen Hexenbaum zu erheben. Es liegen abgestorbene Zweige darunter, wenn Ihr kühn genug seid, danach zu suchen.« Sulis wandte sich an Avalles. »Geh etwas abgefallenes Holz sammeln, Neffe!« Der junge Ritter zögerte, dann gab er meinem Stiefvater die Fackel und ging leicht unsicheren Schrittes auf den großen, dunklen Baum zu. Er beugte sich unter die äußeren Äste und war nicht mehr zu sehen. Nach zwischenzeitlichem Schweigen kam Avalles wieder herausgestolpert. »Es ist .zu dunkel, um etwas zu erkennen«, keuchte er. Das Weiße an den Rändern seiner Augen war zu sehen. »Und es ist etwas da drin – möglicherweise ein Tier. Ich .ich kann es atmen spüren.« Er drehte sich zu meinem Vater um. »Tellarins Augen sind besser als meine.« Nein! wollte ich schreien. Das Baum-Ding stand da und wartete in seinen Schatten, die keine Fackel durchdringen konnte. Ich war bereit, aus meinem Versteck zu stürmen und meinen Liebsten anzuflehen, nicht in die Nähe des Baums zu gehen, aber Lord Sulis fluchte, als hätte er meinen stummen Aufschrei gehört, und drückte Avalles die Fackel wieder in die Hand. »Bei Pelippa und ihrer Schüssel!« sagte mein Stiefvater. »Ich werde es selbst tun.«, Kurz bevor er zwischen den Ästen hindurchtrat, glaubte ich die Blätter flüstern zu hören, obwohl kein Wind in dem Raum ging. Das leise Zischeln und Rascheln wurde lauter, vielleicht weil sich mein Stiefvater seinen Weg unter den dicken Ästen bahnen mußte. Lange Augenblicke vergingen; dann wurde das Rascheln noch heftiger. Schließlich kam Sulis ein wenig stolpernd wieder heraus und schien unter jeden Arm ein langes Scheit Schatten geklemmt zu haben. Tellarin und Avalles traten vor, um ihm zu helfen, aber er wies sie ab und schüttelte den Kopf, als hätte er einen Schlag abbekommen. Selbst in dem dunklen Raum konnte ich erkennen, daß er sehr blaß geworden war. »Du hast die Wahrheit gesprochen, Valada«, sagte er. »Keine Axt. kein Messer.« Ich sah zu, wie er Avalles und meinem Liebsten befahl, aus Steintrümmern, die in der gesamten Kammer verstreut lagen, einen Kreis auf dem Boden zu formen. Er legte die beiden Holzscheite, die er geholt hatte, in die Mitte dieses Kreises, dann zündete er das Hexenholz mit Hilfe von Zunder aus einem Beutel an seinem Gürtel und einer der Fackeln an. Als das seltsame Feuer aufflammte, schien es in dem Raum noch dunkler zu werden, als würde sich selbst das Licht der Fackeln der Feuerstelle entgegenneigen und verschlungen werden. Die Flammen stiegen hoch. Das Rascheln des Schattenbaums hörte auf. Alles wurde still – nicht einmal die Flammen gaben ein Geräusch von sich. Mein Herz klopfte, als ich mich nach vorne beugte und fast vergaß, in meinem Versteck zu bleiben. Es war tatsächlich ein Schwarzes Feuer, das an jenem tiefen, verlorenen Ort brannte, ein Feuer, das wie alle anderen flackerte, dessen Flammen jedoch Wunden im Äther der Welt selbst waren, Löcher so dunkel und leer wie ein Himmel ohne Sterne. Es ist schwer zu glauben, aber das habe ich gesehen. Ich konnte durch die Flammen des Schwarzen Feuers sehen, aber nicht auf das, was sich dahinter befand, sondern auf etwas, das anderswo lag – zuerst im Nichts, aber dann dehnten sich Farben, und Formen in dem Raum über der Feuerstelle aus, als würde etwas das Innerste der Luft selbst nach außen kehren. Ein Gesicht tauchte in dem Feuer auf. Ich mußte mich zusammenreißen, um nicht zu schreien. Der von den schwarzen Flammen umgebene Fremde hatte keine Ähnlichkeit mit Menschen, wie ich sie kannte. Die Form seines Gesichts stimmte irgendwie nicht, sein Kinn war zu schmal, die großen Augen an den Winkeln aufwärts geneigt. Sein Haar war lang und weiß, aber er sah nicht alt aus. Er war von der Taille aufwärts nackt, gräßliche Narben zeichneten seine blasse, glänzende Haut, aber trotz der Flammen, in denen er lag, schienen seine Verbrennungen alt und nicht neu zu sein. Das Schwarze Feuer brachte selbst die Dunkelheit außer Form. Alles ringsum wurde verzerrt, als würde die Welt selbst so gedehnt und verwackelt werden wie die Spiegelung auf einer Blase im Flußwasser. Der brennende Mann schien in den Flammen zu schlummern, aber es war ein gräßlicher, unruhiger Schlaf. Er zuckte und wand sich und hielt sogar einmal die Hände vor das Gesicht, als wollte er sich vor einem schrecklichen Angriff schützen. Als er schließlich die Augen aufschlug, waren sie so dunkel wie Schatten und betrachteten Dinge, die ich nicht sehen konnte, Schatten weit jenseits des Feuers. Er öffnete den Mund zu einem schrecklichen, lautlosen Schrei, und trotz seines fremden Äußeren, obwohl ich solche Angst hatte, daß ich befürchtete, mein Herz würde stehenbleiben, tat es mir weh, ihn so leiden zu sehen. Wenn er lebte, wie konnte sein Körper immerzu brennen, ohne verzehrt zu werden? Wenn er ein Geist war, warum hatte der Tod seinen Qualen noch kein Ende bereitet? Tellarin und Avalles wichen mit aufgerissenen und ängstlichen Augen von der Feuerstelle zurück. Mein Stiefvater betrachtete den zuckenden Mund und die blinden Augen des brennenden Mannes und drehte sich zu der Hexe Valada um. »Warum spricht er nicht zu uns? Tu etwas!«, Sie lachte ihr schrilles Lachen. »Ihr wolltet einen der Sithi treffen, Lord Sulis – einen der Friedfertigen. Ihr wolltet eine Tür finden, aber manche Türen führen nicht ins Anderswo, sondern ins Anderswann. Das Schwarze Feuer hat Euch einen des Edlen Volkes im Schlaf gebracht. Er träumt, kann Euch aber durch die Jahrhunderte hören. Sprecht mit ihm! Ich habe getan, was ich versprochen habe.« Sulis drehte sich sichtlich erschüttert zu dem Mann in den Flammen um. »Du!« rief er. »Kannst du mich verstehen?« Der brennende Mann wand sich wieder, aber nun blickte er mit den dunklen, blinden Augen in Richtung meines Stiefvaters. »Wer ist da?« fragte er, und ich hörte seine Stimme in meinem Schädel statt mit den Ohren. »Wer wandelt auf der Straße der Träume?« Die Erscheinung hob eine Hand, als könnte der Mann durch die Jahre greifen und uns berühren. Einen Moment verdrängte Erstaunen die Qual von seinem seltsamen Gesicht. »Ihr seid Sterbliche! Aber warum kommt ihr zu mir? Warum stört ihr den Schlaf von Hakatri vom Haus des Jahrestanzes?« »Ich bin Sulis.« Mit seiner bebenden Stimme wirkte mein Stiefvater wie ein alter, alter Mann. »Von manchen ›der Renegat‹ genannt. Ich habe alles riskiert, was ich besitze – habe jahrelang studiert –, um eine Frage zu stellen, die nur die Friedfertigen beantworten können. Wirst du mir helfen?« Der brennende Mann schien ihm nicht zuzuhören. Sein Mund zuckte wieder, und diesmal hatte der Schmerzensschrei einen Klang. Ich versuchte, mir die Ohren zuzuhalten, aber der Schrei ertönte schon in meinem Kopf. »Ah, es brennt!« stöhnte er. »Immer noch verbrennt mich das Blut des Wurms – selbst im Schlaf. Selbst wenn ich auf der Straße der Träume wandle!« »Das Blut des Wurms ..?« Mein Stiefvater war verwirrt. »Ein Drache? Was sagst du da?« »Sie war wie eine große schwarze Schlange«, murmelte Hakatri. »Mein Bruder und ich, wir folgten ihr an ihren tiefen Ort und kämpften gegen sie und töteten sie, aber ich habe ihr sengendes Blut auf mir gespürt und werde nie wieder Frieden, finden. Beim Garten, es tut so weh!« Er gab einen erstickten Laut von sich, danach verstummte er einen Moment. »Unser beider Schwerter fanden das Ziel«, sagte er, und es war fast ein Gesang, ein Lied, »aber mein Bruder Ineluki war der Glückliche. Er entging den schrecklichen Verbrennungen. Schwarz, schwarz war es, das Götterblut, und heißer als selbst die Flammen der Schöpfung! Ich fürchte, nicht einmal der Tod könnte diese Qualen lindern ..« »Sei still!« donnerte Sulis voll Zorn und Elend. »Hexe, ist dieser Zauber vergebens? Warum hört er mir nicht zu?« »Es gibt keinen Zauber, außer dem, der die Tür öffnet«, antwortete sie. »Hakatri kam möglicherweise zu dieser Tür, weil das Blut des Drachen ihn verbrannt hat – es gibt auf der ganzen Welt nichts, das man mit dem Blut der großen Lindwürmer vergleichen könnte. Seine Wunden halten ihn immer in der Nähe der Straße der Träume, glaube ich. Stellt ihm Eure Frage, Mann aus Nabban! Er ist so geeignet, sie zu beantworten, wie jeder andere Unsterbliche, den Ihr hättet finden können.« Jetzt konnte ich sie spüren – konnte die Schicksalsmacht spüren, die uns alle hierhergebracht hatte und nun in ihrem Griff hielt. Ich hielt den Atem an und war hin und her gerissen zwischen einem Grauen, das wie ein Eiseswind durch meinen Kopf wehte und mich anschrie, Tellarin und alles andere zu verlassen und wegzulaufen, und einem unerbittlichen Drang, zu erfahren, was meinen Stiefvater zu diesem ungewöhnlich seltsamen Treffen geführt hatte. Lord Sulis neigte einen Moment das Kinn auf die Brust, als wäre er nun, da der Zeitpunkt gekommen war, nicht sicher, was er sagen sollte. Schließlich begann er, anfangs zitternd, aber dann zunehmend sicherer: »Unsere Kirche lehrt uns, daß Gott in Gestalt von Usires Ädon in diese Welt kam, viele Wunder vollbrachte, Heilung für die Kranken und Lahmen brachte, bis ihn schließlich Imperator Crexis am Galgenbaum hängen ließ. Weißt du davon, Hakatri?«, Die blinden Augen des brennenden Mannes richteten sich wieder auf Sulis. Er antwortete nicht, schien aber zuzuhören. »Ädon der Erlöser verspricht, daß alle, die leben, eingesammelt werden – daß es keinen Tod gibt«, fuhr mein Stiefvater fort. »Und das wird bewiesen, weil er in dieser Welt der Fleisch gewordene Gott war, und es wird durch die Wunder bewiesen, die er vollbracht hat. Aber ich habe viel über dein Volk gelesen, Hakatri. Wunder, wie Usires der Ädon sie vollbracht haben soll, hätten von einem deiner Sithileute vollbracht worden sein können, vielleicht sogar von einem nur halb von unsterblichem Geschlecht.« Sein Lächeln war freudlos wie das eines Totenschädels. »Immerhin stimmen selbst meine heftigsten Kritiker der Mutter Kirche mit mir darin überein, daß Usires keinen Menschen als Vater hatte.« Sulis neigte wieder einen Moment den Kopf und beschwor Worte oder Kraft. Ich rang nach Luft – ich hatte vergessen zu atmen. Avalles und Tellarin schauten immer noch wortlos zu, und nun mischte sich Staunen in ihre Furcht, aber das Gesicht der Hexe Valada wurde von den Schatten vor mir verborgen. »Meine beiden Frauen wurden mir vom Tod genommen, beide vor ihrer Zeit«, sagte mein Stiefvater. »Meine erste Frau schenkte mir einen Sohn, bevor sie starb, einen wunderschönen Knaben namens Sarellis, der selbst vor Schmerzen schreiend starb, weil er in einen Hufnagel – einen Nagel! – getreten war und sich das Wundfieber geholt hatte. Junge Männer, die ich befehligt habe, wurden zu Hunderten abgeschlachtet, zu Tausenden, ihre Leichen türmten sich auf den Schlachtfeldern wie die Hüllen von Heuschrecken, and alles um ein kleines Stück Land hier oder da, manchmal auch nur um Worte. Meine Eltern sind ebenfalls tot, und zuviel blieb zwischen uns unausgesprochen. Alle, die ich je wahrhaftig geliebt habe, wurden mir vom Tod gestohlen.« Seine heisere Stimme hatte eine beängstigende Macht gewonnen, eine verrückte Kraft, als wollte er die Mauern des Himmels selbst niederbrüllen., »Mutter Kirche sagt mir, ich soll glauben, daß ich wieder mit ihnen vereint sein werde«, sagte er. »Sie predigen zu mir und sagen: ›Sieh das Werk von Usires, unserm Herrn, und sei getröstet, denn seine Aufgabe war es, zu zeigen, daß der Tod keine Furcht mit sich bringen sollte‹, haben sie mir gesagt. Aber ich kann nicht sicher sein – ich kann nicht blind vertrauen! Hat die Kirche recht? Werde ich alle wiedersehen, die ich liebe? Werden wir alle weiterleben? Die Herren der Kirche haben mich einen Ketzer genannt und mich zum Renegaten gemacht, weil ich nicht aufhören wollte, an der Göttlichkeit des Ädon zu zweifeln, aber ich muß es wissen! Sag es mir, Hakatri, war Usires einer von deinem Volk? Ist die Geschichte seiner Göttlichkeit nur eine Lüge, um uns glücklich und die Priester fett und reich zu machen?« Er blinzelte Tränen weg, und sein gelassenes Gesicht wurde von Wut und Schmerz verzerrt. »Auch wenn Gott mich für alle Zeiten in die Hölle verdammen sollte, muß ich es wissen – ist unser Glauben eine Lüge?« Er zitterte jetzt so heftig, daß er sich einen stolpernden Schritt von dem Feuer entfernte und fast gestürzt wäre. Niemand bewegte sich, außer dem Mann in den Flammen, der Sulis mit seinen leeren, dunklen Augen folgte. Ich stellte fest, daß ich ebenfalls weinte, und wischte mir lautlos die Tränen fort. Wie ich die wahre und schreckliche Qual meines Stiefvaters sah, war mir, als würde ein Messer in meinen Eingeweiden gedreht werden, und doch war ich auch wütend. Alles dafür? Für solche Dinge, die niemand wissen konnte, hatte er meine Mutter zu einer einsamen Frau gemacht und nun fast sein eigenes Leben zerstört? Nach einer langen Zeit, in der alles so still war wie die Steine um uns herum, sagte Hakatri leise: »Immer habt ihr Sterblichen euch gequält.« Er blinzelte, und sein Gesicht bewegte sich dabei so fremdartig, daß ich mich abwenden und ihn dann erneut ansehen mußte, bevor ich verstehen konnte, was er sagte. »Aber am meisten quält ihr euch, wenn ihr Antworten auf Fragen sucht, auf die es keine gibt.«, »Keine Antworten?« Sulis zitterte immer noch. »Wie kann das sein?« Der brennende Mann hob die Hände mit den langen Fingern zu einer Geste, die nur eine des Friedens sein konnte. »Weil das, was für Sterbliche bestimmt ist, den Zida´ya nicht zu wissen gegeben ist, ebensowenig wie ihr von unserem Garten wissen könnt, oder wohin wir gehen, wenn wir diesen Ort verlassen. Hör mir zu, Sterblicher! Was wäre, wenn dein Messias wirklich eines von den Kindern der Dämmerung wäre – würde das irgendwie beweisen, daß dein Gott es nicht so vorherbestimmt hätte? Würde es beweisen, daß die Worte deines Erlösers im geringsten weniger wahr wären?« Hakatri schüttelte den Kopf mit der unheimlichen, fremden Anmut eines Küstenvogels. »Sag mir nur, ob Usires einer von deinem Volk war«, verlangte Sulis abgehackt. »Erspar mir deine Philosophie, und sag es mir! Denn auch ich brenne! Ich bin seit Jahren nicht mehr frei von Schmerzen!« Als die Echos des Aufschreis meines Stiefvaters verhallten, hielt der Feenlord in seinem Kreis der schwarzen Flammen inne und schien zum erstenmal wirklich über den Abgrund zu sehen. Seine Stimme war von Traurigkeit erfüllt, als er weitersprach. »Wir Zida´ya wissen wenig vom Tun der Sterblichen, und es gibt einige von unserem Blut, die abtrünnig geworden sind und deren Wirken auch uns verborgen bleibt. Ich glaube nicht, daß dein Usires Ädon einer von den Kindern der Dämmerung war, aber mehr kann ich dir nicht sagen, Sterblicher, sowenig wie ein anderer meines Volkes.« Er hob die Hände wieder und wob die Finger zu einer verschlungenen, unverständlichen Geste. »Es tut mir leid.« Dann lief ein gewaltiger Schauder durch das Geschöpf namens Hakatri – vielleicht setzten die Schmerzen seiner Verbrennungen wieder ein, Schmerzen, die er irgendwie ferngehalten hatte, während er meinem Stiefvater zuhörte. Sulis wartete nicht auf weitere Worte, sondern trat vor und kickte das Hexenholzfeuer, zu einer Wolke kreisender Funken, dann sank er auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Der brennende Mann war fort. Nach einer Zeit der Stille, die endlos zu sein schien, rief die Hexe: »Werdet Ihr Euch an Eure Abmachung mit mir halten, Lord Sulis? Ihr habt gesagt, wenn ich Euch zu einem der Unsterblichen bringen würde, würdet Ihr mich freilassen.« Ihre Stimme war ausdruckslos, hatte aber dennoch einen sanften Unterton, der mich überraschte. Als mein Stiefvater antwortete, klang es erstickt und fast unverständlich. Er winkte mit der Hand. »Nimm ihr die Ketten ab, Avalles. Ich will nichts mehr von ihr.« Inmitten dieser großen, öden Wüste der Traurigkeit verspürte ich einen Augenblick stechenden Glücksgefühls, als mir klar wurde, daß die Hexe, mein Liebster, selbst mein gequälter Stiefvater diese schreckliche Nacht trotz meiner bösen Vorahnungen alle überleben würden. Als Avalles die Handschellen der Hexe öffnete, wobei er so zitterte, daß er kaum den Schlüssel halten konnte, träumte ich einen Moment, daß mein Onkel wieder gesund werden, meinen Tellarin für seine Tapferkeit und Loyalität belohnen würde, und daß mein Liebster und ich uns ein Heim irgendwo fern von dieser von Geistern geplagten, stürmischen Landspitze suchen würden. Plötzlich stieß mein Stiefvater einen erschreckenden Schrei aus. Ich drehte mich um und sah ihn, von Weinkrämpfen geschüttelt, bäuchlings auf den Boden fallen. Dieser Anfall von Kummer des strengen, ruhigen Sulis war in gewisser Weise das Schlimmste, was ich in dieser langen, grauenhaften Nacht bis jetzt gesehen hatte. Noch während der Schrei im unsichtbaren oberen Bereich der Kammer verhallte und ein leises Rascheln der Blätter des Schattenbaums bewirkte, erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Zwei Gestalten kämpften miteinander, wo die Hexe gestanden hatte. Zuerst dachte ich, Avalles und die Frau Valada würden miteinander ringen, doch dann sah ich, daß die, Hexe beiseite getreten war und den Kampf mit einem verwunderten Ausdruck in den hellen Augen verfolgte. Avalles und Tellarin waren ineinander verschlungen, die Fackeln waren ihnen aus den Händen gefallen. Schockiert und hilflos vor Überraschung sah ich die beiden zu Boden stürzen. Einen Augenblick später wurde ein Dolch gehoben und gesenkt, und der kurze Kampf war vorüber. Ich schrie »Tellarin!« und eilte zu ihnen. Er stand auf, klopfte sich Staub von den Hosen und starrte mich an, als ich aus den Schatten gelaufen kam. Das Ende seines Dolchs war schwarz von Blut. Tellarin hatte eine Ruhe an sich, die auf Angst oder schlichte Überraschung zurückzuführen sein mochte. »Breda? Was machst du hier?« »Warum hat er dich angegriffen?« schrie ich. Avalles lag verkrümmt auf dem Boden in einer wachsenden schwarzen Lache. »Er war dein Freund!« Er sagte nichts, beugte sich zu mir, küßte mich, wandte sich ab und ging zu meinem Stiefvater, der immer noch in seinem Anfall von Kummer auf dem Boden kauerte. Mein Liebster stemmte meinem Stiefvater das Knie auf den Rücken, griff mit der Hand ins Haar am Hinterkopf des älteren Mannes und zog, bis das tränenüberströmte Gesicht vom Licht der Fackeln angestrahlt wurde. »Ich wollte Avalles nicht töten«, erklärte mein Soldat teils mir, teils Sulis. »Aber er bestand darauf, uns zu begleiten, weil er fürchtete, ich würde höher in der Gunst seines Onkels steigen, wenn er nicht auch dabei wäre.« Er schüttelte den Kopf. »Traurig. Aber nur dein Tod war mein Auftrag, Sulis, und ich habe lange auf eine so perfekte Gelegenheit gewartet.« Trotz der unbarmherzigen Verspannung, zu der Tellarins Griff ihn zwang, lächelte mein Stiefvater, ein gräßliches, verzerrtes Grinsen. »Welches Sancellan hat dich geschickt?« »Spielt das eine Rolle? Du hast mehr Feinde in Nabban, als du zählen kannst, Renegat Sulis. Du bist ein Ketzer und, Glaubensspalter, und du bist gefährlich. Du hättest wissen müssen, daß man dich hier nicht in Frieden läßt, damit du in der Wildnis deine Macht vergrößern kannst.« »Ich bin nicht hierhergekommen, um meine Macht zu vergrößern«, grunzte mein Stiefvater. »Ich bin gekommen, um Antworten auf meine Fragen zu bekommen.« »Tellarin!« Ich bemühte mich, einen Sinn auszumachen, wo es keinen geben konnte. »Was machst du da?« Seine Stimme nahm einen Hauch ihres früheren zärtlichen Tonfalls an. »Dies hat nichts mit dir und mir zu tun, Breda.« »Hast du ..?« Ich brachte es kaum über die Lippen. Durch meine Tränen verschwamm die ganze Kammer wie durch das Schwarze Feuer. »Hast du .nur so getan, als liebtest du mich? Sollte dir alles nur helfen, ihn zu töten?« »Nein! Dich hätte ich nicht gebraucht, Mädchen – ich gehörte schon zu den Männern, denen er am meisten vertraute.« Daraufhin packte er Sulis noch fester, bis ich fürchtete, das Genick meines Stiefvaters würde brechen. »Was zwischen uns ist, kleine Breda, ist schön und wahr. Ich werde dich mit nach Nabban nehmen – jetzt werde ich reich sein, und du kannst meine Frau werden. Du wirst lernen, was eine richtige Stadt ist, im Vergleich zu diesem verfluchten abgelegenen Steinhaufen.« »Du liebst mich? Du liebst mich wirklich?« Ich wollte ihm so sehr glauben. »Dann laß meinen Stiefvater gehen, Tellarin!« Er runzelt die Stirn. »Das kann ich nicht. Sein Tod ist eine Aufgabe, die mir übertragen wurde, bevor ich dich kennenlernte, und es ist eine Aufgabe, die getan werden muß. Er ist ein Verrückter, Breda! Nach den Schrecken der heutigen Nacht, nachdem du den Dämon gesehen hast, den er mit verbotener Magie beschworen hat, siehst du doch sicher ein, warum man ihn nicht am Leben lassen kann.« »Töte ihn nicht, bitte! Ich flehe dich an!« Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich stehe bei meinem Herrn in Nabban im Eid. Dies eine muß ich tun, und danach sind wir beide frei.«, Nicht einmal eine Bitte im Namen der Liebe konnte ihn aufhalten. Verwirrt und überwältigt, außerstande, weiter mit dem Mann zu diskutieren, der mir soviel Freude bereitet hatte, wandte ich mich an die Hexe und betete, daß sie etwas tun würde – aber Valada war fort. Sie hatte sich ihre Freiheit genommen und überließ es uns anderen, einander zu ermorden, wie es uns beliebte. Ich glaubte, ihre Bewegungen in den Schatten zu sehen, aber es war nur ein weiteres Phantom, ein fliegendes Ding, das auf lautlosen Schwingen über der Treppe schwebte. Lord Sulis schwieg. Er wehrte sich nicht gegen Tellarins Griff, sondern wartete wie ein alter Bulle darauf, geschlachtet zu werden. Wenn er schluckte, spannte sich die Haut an seinem Hals so sehr, daß mir beim bloßen Anblick wieder Tränen über die Wangen liefen. Mein Liebster drückte meinem Stiefvater das Messer an die Kehle, während ich zu ihnen stolperte. Sulis sah mich an, sagte aber immer noch nichts. Welcher Gedanke auch in seinen Augen geschrieben stehen mochte, er hatte sich so weit zurückgezogen, daß ich ihn nicht einmal erraten konnte. »Sag mir noch einmal, daß du mich liebst«, bat ich, als ich an seiner Seite stand. Als ich in das verängstigte, aber überschwengliche Gesicht meines Soldaten sah, konnte ich nicht anders, als an den Hochhorst zu denken, ein heimgesuchtes, auf Mord errichtetes Bauwerk, in dessen verderbten, rastlosen Tiefen wir standen. Einen Moment glaubte ich, die Geisterstimmen wären zurückgekehrt, denn ein brüllendes, röhrendes Geräusch erfüllte meinen Kopf. »Sag es mir noch einmal, Teilarm«, flehte ich ihn an. »Bitte.« Mein Liebster nahm das Messer nicht von Sulis´ Kehle, sagte aber: »Natürlich liebe ich dich, Breda. Wir werden heiraten, und ganz Nabban wird dir zu Füßen liegen. Du wirst nie wieder frieren oder einsam sein.« Er beugte sich nach vorne, und ich konnte die wunderbaren langen Muskeln an seinem Rücken straff unter meinen Händen spüren. Er zögerte, als er das Klirren der Glaskugel hörte, die auf die Steinplatten fiel und davonkullerte., »Was ..?«fragte er, dann richtete er sich unvermittelt auf und griff an die Stelle, wo ich ihn mit der Klaue gestochen hatte. Ich taumelte ein paar Schritte zurück und fiel weinend zu Boden. Hinter mir fing Tellarin an zu hecheln, dann zu würgen. Ich hörte, wie sein Messer scheppernd auf den Steinboden fiel. Ich konnte nicht hinsehen, aber das Geräusch seiner letzten rasselnden Atemzüge werde ich nie wieder vergessen. Jetzt, wo ich alt bin, weiß ich, daß diese geheimnisvolle Festung der Ort ist, wo ich sterben werde. Wenn ich meinen letzten Atemzug getan habe, werden sie mich vermutlich neben meiner Mutter und Lord Sulis auf der Landzunge begraben. Als jene lange Nacht unter dem Schloß zu Ende war, war der Reiherkönig, wie die Seenvölker meinen Stiefvater nannten, wieder zu dem Mann geworden, der er gewesen war. Er herrschte noch viele Jahre über den Hochhorst, und mit der Zeit akzeptierte ihn sogar mein lärmendes, eifersüchtiges Volk als seinen Herrscher, auch wenn die Königswürde Sulis selbst nicht überlebte. Meine eigenen Spuren in der Welt werden noch unbedeutender sein. Ich habe nie geheiratet, und mein Bruder Aelfric starb bei einem Sturz vom Pferd, ohne daß er Kinder gezeugt hätte, daher wird niemand aus meinem Geschlecht je wieder die Seenvölker regieren, auch wenn sie heute noch darüber streiten, wer Speer und Standarte des Großthans tragen sollte. Ich nehme an, nach meinem Tod wird auch niemand in der großen Burg bleiben, die Lord Sulis wiederaufgebaut hat – es sind kaum noch welche von unserem Haushalt übrig, und diejenigen, die bleiben, bleiben nur aus Liebe zu mir. Wenn ich nicht mehr bin, wird wahrscheinlich nicht einmal jemand hier sein, um unsere Gräber zu pflegen. Ich kann nicht sagen, warum ich diesen freudlosen Ort zu meiner Heimat gewählt habe, sowenig wie ich sagen kann, warum ich das Leben meines Stiefvaters über das meines wunderschönen, ränkevollen Tellarin gestellt habe. Ich nehme an,, weil ich Angst davor hatte, etwas auf Blut zu gründen, das auf etwas Besserem gegründet werden sollte. Weil Liebe nicht berechnend ist, sondern Entscheidungen trifft und sich rückhaltlos daran hält. Aus welchen Gründen auch immer, ich habe meine Entscheidung getroffen. Als er mich aus den Tiefen zurück ans Tageslicht getragen hatte, erwähnte mein Stiefvater jene schreckliche Nacht kaum noch. Er blieb bis ans Ende seiner Tage distanziert, blieb voller Schatten, aber manchmal glaubte ich einen Frieden in ihm zu spüren, der vorher nicht da war. Ich konnte nicht sagen, warum das so war. Als er schließlich auf dem Totenbett lag und sein Atem schwächer und schwächer wurde, saß ich jeden Tag stundenlang an seiner Seite und erzählte ihm alles, was sich im Hochhorst zutrug, erzählte ihm von den Renovierungsarbeiten, die noch andauerten, und von den Bewohnern und Herden, als könnte er jeden Moment wieder aufstehen und seine Herrschaft fortsetzen. Aber wir wußten beide, daß es dazu nicht kommen würde. Als der letzte Augenblick nahte, bekam sein Gesicht einen ruhigen, erwartungsvollen Ausdruck – nicht Angst, sondern etwas, das schwieriger zu beschreiben ist. Als er um seine letzten Atemzüge rang, fiel mir plötzlich etwas ein, das ich in seinem Buch gelesen hatte, und mir wurde klar, daß ich in jener längst vergangenen Nacht einen Fehler gemacht hatte. ».Sie wird mir den Weg des Schwarzen Feuers zeigen, sonst gibt es keine Hoffnung«, hatte er geschrieben. »Entweder sie antwortet, oder der Tod.« Er hatte nicht gemeint, daß er sie töten würde, wenn sie ihm nicht gab, was er brauchte. Er hatte gemeint, wenn sie ihm nicht helfen konnte, eine Antwort zu finden, würde er warten müssen, bis der Tod zu ihm kam, um die Wahrheit zu erfahren. Und nun würde er endlich eine Antwort auf die Frage bekommen, die ihn so lange gequält hatte., Wie auch immer die Antwort ausgefallen sein mag, Sulis kehrte nicht zurück, um sie mir zu verraten. Jetzt bin ich eine alte, alte Frau und werde sie bald genug selbst herausfinden. Es mag seltsam sein, aber ich stelle fest, daß es mich nicht besonders bekümmert. In einem Jahr mit Tellarin, in jenen Monaten inbrünstiger Liebe, habe ich ein ganzes Leben gelebt. Seitdem habe ich ein anderes gelebt, ein langes, langsames Leben, dessen kleine Freuden die Augenblicke des Leids weitgehend ausgeglichen haben. Zwei Leben sind gewißlich genug für jeden – wer braucht die endlose Lebensspanne der Unsterblichen? Schließlich wäre eine Ewigkeit der Schmerzen kein Geschenk, wie der brennende Mann deutlich gemacht hat. Und jetzt, wo ich meine Geschichte erzählt habe, kommen mir selbst die Geister, die mich manchmal um Mitternacht noch aus dem Schlaf reißen, mehr wie alte Freunde vor als etwas, das man fürchten muß. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich denke, ich bin zufrieden., Das Lied von Eis und Feuer GEORGE R. R. MARTIN, Die Herren von Winterfell (1997) Das Erbe von Winterfell (1998) Eines der jüngsten großen, mehrbändigen Fantasy-Epen ist George R. R. Martins Das Lied von Eis und Feuer, das, wenn es vollständig vorliegt, acht Bände umfassen wird. Die gewaltige Saga spielt in der Welt der Sieben Königreiche, einem Land, wo die Jahreszeiten aus dem Gleichgewicht sind und Sommer und Winter beide jahrelang andauern. Zu Beginn des ersten Bandes erfährt der Leser, daß drei adlige Familien sich verschworen haben, um ihren wahnsinnigen König zu stürzen und das Königreich in ihre Gewalt zu bekommen. Die Lannisters, Baratheons und Starks leben alle in einem trügerischen Waffenstillstand, der bald gebrochen wird, als Robert Baratheon, der gegenwärtige König, Ned Stark bittet, aus der nördlichen Stadt Winterfell zu ihm zu kommen und bei den Regierungsgeschäften zu helfen, ihm den begehrten Titel Rechte Hand des Königs verleiht und ihn damit zum zweitmächtigsten Mann der Sieben Königreiche macht. Neds Bemühungen, den Mord an seinem Vorgänger in diesem Amt aufzuklären, verstricken ihn sogleich in einen Konflikt mit der Königin und ihren Brüdern. So gerät das Machtgleichgewicht zwischen den großen Familien ins Wanken. Als der Kampf um den Thron tödliche Formen annimmt, regen sich im Norden, hinter dem großen Eiswall, der die Sieben Königreiche und alle Regionen der Menschen beschützt, weit bedrohlichere Kräfte. Das Land wird von einem Bürgerkrieg bedroht, als die Lannisters Robert töten und versuchen, die Macht an sich zu reißen, wobei sich ihnen nur die Starks und die Baratheons entgegenstellen. In der Zwischenzeit verkauft Viserys, das Oberhaupt der Familie Targaryen, seine Schwester in eine Ehe und bekommt als Gegenleistung Armeen, die ihm helfen sollen, die Sieben Königreiche zu erobern., Die kommenden Bände der Serie werden die allmähliche Ausweitung und Aufklärung dieses schrecklichen, vielseitigen Konflikts schildern, der diese unglückselige Welt heimsucht. Die nachfolgende Geschichte, »Der Heckenritter«, spielt etwa hundert Jahre vor den in Die Herren von Winterfell und Das Erbe von Winterfell geschilderten Ereignissen.,

GEORGE R. R. MARTIN Der Heckenritter

Eine Geschichte aus den Sieben Königreichen Der Frühlingsregen hatte den Boden aufgeweicht, daher fiel es Dunk nicht schwer, das Grab zu schaufeln. Er entschied sich für eine Stelle am Westhang eines flachen Hügels, da der alte Mann immer gern den Sonnenuntergang gesehen hatte. »Wieder ein Tag vorbei«, hatte er stets geseufzt, »und wer weiß, was uns der Morgen bringen wird, was, Dunk?« Nun, ein Morgen hatte Regen gebracht, der sie bis auf die Knochen durchnäßte, und der Morgen danach nasse, böige Winde, der nächste Kälte. Am vierten Tag war der alte Mann zu schwach gewesen, um zu reiten. Und nun war er nicht mehr. Noch vor wenigen Tagen hatte er beim Reiten gesungen, das alte Lied, das davon handelte, nach Gulltown zu gehen, eine hübsche Maid zu suchen, aber statt Gulltown hatte er Ashford gesungen. Nach Ashford, um eine hübsche Maid zu suchen, he-ho, he-ho, dachte Dunk beim Graben traurig. Als das Loch tief genug war, hob Dunk den Leichnam des alten Mannes hoch und trug ihn dorthin. Er war ein kleiner Mann gewesen, und dünn; ohne Halsberge, Helm und Schwertgürtel schien er kaum mehr zu wiegen als ein Sack voll Laub. Dunk war riesengroß für sein Alter, ein schlurfender, zerzauster, kräftiger Junge von sechzehn oder siebzehn Jahren (niemand war sich da ganz sicher), der an die zwei Meter maß und gerade erst, allmählich Fleisch auf die Knochen bekam. Der alte Mann hatte seine Stärke oft gelobt. Mit seinem Lob war er immer großzügig gewesen. Mehr hatte er auch nicht zu geben. Dunk legte ihn in das Grab hinein und blieb einige Zeit über ihm stehen. Der Geruch von Regen hing wieder in der Luft, und er wußte, er sollte das Loch zuschaufeln, ehe es zu regnen anfing, aber es war schwer, Erde auf das müde alte Gesicht zu schaufeln. Es sollte ein Septon hier sein, um ein paar Gebete für ihn zu sprechen, aber er hat nur mich. Der alte Mann hatte Dunk alles beigebracht, was er über Schwerter und Schilde und Lanzen wußte, war aber nie besonders gut darin gewesen, ihm Worte beizubringen. »Ich würde dir dein Schwert lassen, aber das würde nur im Boden rosten«, rechtfertigte er sich schließlich. »Ich schätze, die Götter werden dir ein neues geben. Ich wünschte, du wärst nicht gestorben, Ser.« Er verstummte, da er nicht sicher war, was noch gesagt werden mußte. Er kannte keine Gebete, jedenfalls keine vollständigen; der alte Mann hatte nie viel vom Beten gehalten. »Du warst ein wahrer Ritter und hast mich nie geschlagen, wenn ich es nicht verdient hatte«, brachte er schließlich heraus, »abgesehen von dem einen Mal in Maidenpool. Es war der Junge vom Gasthof, der den Kuchen der Witwe gegessen hat, nicht ich, das habe ich dir gesagt. Spielt jetzt aber keine Rolle mehr. Mögen die Götter dich aufnehmen, Ser.« Er kickte Erde in das Loch, dann füllte er es zielstrebig, ohne das Ding auf dem Grund einmal anzusehen. Er hatte ein langes Leben, dachte Dunk. Er muß näher an sechzig als an fünfzig gewesen sein, und wie viele Männer können das von sich sagen? Immerhin hatte er lange genug gelebt, noch einmal einen Frühling zu sehen. Die Sonne stand im Westen, als er die Pferde fütterte. Es waren drei; sein Hengst mit dem Senkrücken, der Zelter des alten Mannes und Donner, sein Schlachtroß, das nur beim Turnier und im Kampf geritten wurde. Der große braune Hengst war nicht mehr so schnell und ausdauernd wie früher, hatte aber noch seine leuchtenden Augen und seinen wilden Kampfgeist und war wertvoller als alles andere, was Dunk besaß. Wenn ich Donner und, den alten Braunen und die Sättel samt Zaumzeug verkaufen würde, bekäme ich genug Silber, um .Dunk runzelte die Stirn. Das einzige Leben, das er kannte, war das eines Heckenritters, der von Festung zu Festung ritt, sich in die Dienste dieses und jenes Lords stellte, an ihrem Kämpfen teilnahm und in ihren Sälen aß, bis der Krieg vorüber war, und dann weiterzog. Von Zeit zu Zeit fanden auch Turniere statt, wenn auch immer seltener, und er wußte, daß manche Heckenritter in strengen Wintern zu Räubern wurden, aber der alte Mann hatte das nie getan. Ich könnte einen anderen Heckenritter suchen, der einen Knappen braucht, um seine Tiere zu versorgen und seinen Kettenpanzer zu reinigen, dachte er, oder vielleicht könnte ich in eine Stadt gehen, nach Lannisport oder King´s Landing, und der Stadtwache beitreten. Oder aber .Er hatte die Habseligkeiten des alten Mannes unter einer Eiche aufgestapelt. In dem Leinenbeutel befanden sich drei Silbermünzen, neunzehn Kupferpfennige und ein gesplitterter Granat; der größte Teil seines weltlichen Besitzes hatte, wie bei den meisten Heckenrittern, aus seinem Pferd und seinen Waffen bestanden. Dunk besaß nun ein Panzerhemd aus Ketten, von dem er tausendmal den Rost abgekratzt hatte. Einen eisernen Halbhelm mit breitem Nasenschutz und einer Delle an der linken Schläfe. Einen Schwertgürtel aus rissigem braunem Leder und ein Langschwert in einer Scheide aus Holz und Leder. Einen Dolch, eine Rasierklinge, einen Wetzstein. Beinschienen und Halsberge, eine zweieinhalb Meter lange Gefechtslanze aus gedrechseltem Eschenholz mit einer schrecklichen Spitze aus Eisen und einen Eichenschild mit einem zerschrammten Metallrand und dem Wappen von Ser Arlan von Pennytree: ein geflügelter Kelch, Silber auf Braun. Dunk betrachtete den Schild, hob den Schwertgürtel auf und sah wieder den Schild an. Der Gürtel war für die knochigen Hüften des alten Mannes gemacht. Er würde ihm selbst nie und nimmer passen, sowenig wie die Halsberge. Er band die Scheide an ein Stück Hanfseil, knotete es um die Taille und zog das Langschwert., Die Klinge war gerade und schwer, guter, im Schloß geschmiedeter Stahl, der Griff mit weichem, über Holz gespanntem Leder, der Knauf aus glattem, poliertem schwarzem Stein. So schlicht es war, das Schwert lag ihm gut in der Hand, und Dunk wußte, wie scharf es war, da er es viele Nächte mit Wetzstein und Öltuch bearbeitet hatte, bevor sie schlafen gingen. Es liegt mir so gut in der Hand wie ihm, dachte er bei sich, und in Ashford findet ein Turnier auf dem Wasen statt. Leichtfuß hatte einen ruhigeren Gang als der alte Braune, aber Dunk war dennoch wund und müde, als er vor sich das Gasthaus erblickte, ein hohes Fachwerkgebäude am Flußufer. Das anheimelnde gelbe Licht, das aus den Fenstern strahlte, sah so einladend aus, daß er nicht daran vorbeireiten konnte. Ich habe drei Silberstücke, dachte er bei sich, genug für eine gute Mahlzeit und soviel Bier, wie ich trinken kann. Als er abstieg, kam ein nackter Knabe tropfend aus dem Bach und trocknete sich mit einem grob gewirkten braunen Mantel ab. »Bist du der Stallbursche?« fragte Dunk ihn. Der Junge schien nicht älter als acht oder neun zu sein, ein Knochengestell mit blassem Gesicht, die Füße bis zu den Knöcheln schlammverkrustet. Sein Haar war das Merkwürdigste an ihm. Er hatte keines. »Ich möchte, daß mein Zelter gestriegelt wird. Und Hafer für alle drei. Kannst du dich um sie kümmern?« Der Junge sah ihn dreist an. »Ich könnte. Wenn ich wollte.« Dunk runzelte die Stirn. »Das lasse ich mir nicht bieten. Ich bin ein Ritter, mußt du wissen.« »Du siehst nicht wie ein Ritter aus.« »Sehen alle Ritter gleich aus?« »Nein, aber sie sehen auch nicht wie Ihr aus. Euer Schwertgürtel ist aus Seil gemacht.« »Solange er die Scheide hält, genügt er. Und jetzt kümmere dich um meine Pferde. Du bekommst ein Kupferstück, wenn du es gut machst, und einen Ohrfeige, wenn nicht.« Er wartete nicht, ab, wie der Stallbursche darauf reagierte, sondern wandte sich ab und drängte sich zur Tür hinein. Er hatte damit gerechnet, daß das Gasthaus um diese Zeit brechend voll sein würde, aber der Schankraum war so gut wie leer. Ein junger Lord in edlem Damastgewand lag besinnungslos auf einem Tisch und schnarchte leise in einer Weinlache. Sonst war niemand da. Dunk sah sich unsicher um, bis eine stämmige, kleine Frau mit käseweißem Gesicht aus der Küche kam und sagte: »Setz dich, wohin du willst. Willst du Bier haben oder Essen?« »Beides.« Dunk setzte sich in die Nähe des Fensters, in sicherem Abstand von dem schlafenden Mann. »Wir haben gutes Lamm in einer Kräuterkruste und Enten, die mein Sohn geschossen hat. Was möchtest du?« Er hatte seit einem halben Jahr oder länger nicht mehr in einem Gasthaus gegessen. »Beides.« Die Frau lachte. »Nun, groß genug dafür bist du.« Sie zapfte einen Krug Bier und brachte ihn an seinen Tisch. »Möchtest du auch ein Zimmer für die Nacht?« »Nein.« Dunk hätte nichts lieber gehabt als eine weiche Strohmatratze und ein Dach über dem Kopf, mußte aber sparsam mit seinem Geld umgehen. Der Erdboden würde genügen. »Etwas zu essen, ein wenig Bier, und dann weiter nach Ashford. Wie weit ist das noch?« »Einen Tagesritt. Reite an der Straßengabelung bei der ausgebrannten Mühle nach Norden. Versorgt mein Junge deine Pferde, oder ist er schon wieder abgehauen?« »Nein, er ist da«, sagte Dunk. »Sie scheinen keine Gäste zu haben.« »Die halbe Stadt ist ausgeflogen, um sich das Turnier anzusehen. Meine beiden wären auch dort, wenn ich es dulden würde. Sie erben das Gasthaus, wenn ich einmal nicht mehr bin, aber der Junge würde lieber mit den Soldaten herumschwadronieren, und das Mädchen seufzt und kichert jedesmal, wenn ein Ritter vorbeireitet. Ich schwöre, ich kann dir, nicht sagen, warum. Ritter sind genauso gebaut wie andere Männer, und ich habe noch nie gehört, daß ein Turnier etwas an den Eierpreisen geändert hätte.« Sie sah Dunk neugierig an; sein Schwert und Schild verrieten ihr eines, das Seil als Gürtel und die grobe Tunika etwas anderes. »Du bist selbst zu dem Turnier unterwegs?« Er trank einen Schluck Bier, ehe er antwortete. Es hatte eine dunkelbraune Farbe, wie Nüsse, und war kräftig gebraut, wie er es mochte. »Aye«, sagte er. »Ich will ein Sieger sein.« »Ach, tatsächlich?« antwortete die Schankwirtin nicht unhöflich. Auf der anderen Seite des Zimmers hob der junge Lord den Kopf aus der Weinlache. Sein Gesicht hatte eine blasse, ungesunde Farbe unter einem Rattennest sandfarbenen Haars; blonde Stoppeln überzogen sein Kinn. Er rieb sich den Mund, sah Dunk an und sagte: »Ich habe von dir geträumt.« Seine Hand zitterte, als er mit dem Finger auf Dunk zeigte. »Bleib mir vom Leibe, hast du gehört? Bleib mir bloß vom Leibe.« Dunk sah ihn unsicher an. »Mein Lord?« Die Schankwirtin beugte sich zu ihm herab. »Achtet nicht auf den da, Ser. Er macht nichts anderes als trinken und von seinen Träumen sprechen. Ich kümmere mich um das Essen.« Sie entschwand. »Essen?« Bei dem jungen Lord hörte sich das Wort wie ein Schimpfwort an. Er erhob sich taumelnd und stützte sich mit einer Hand auf der Tischplatte ab, damit er nicht fiel. »Mir wird schlecht«, verkündete er. Die Vorderseite seiner Tunika war von alten Weinflecken rot verkrustet. »Ich wollte eine Hure, aber hier ist nirgends eine zu finden. Alle sind zum Wasen von Ashford aufgebrochen. Götter, seid gut, ich brauche etwas Wein!« Er schlurfte unsicher aus dem Schankraum, Dunk hörte ihn leise singend eine Treppe hinaufgehen. Ein trauriges Geschöpf, dachte Dunk. Aber warum glaubt er, daß er mich kennt? Er dachte einen Moment bei seinem Bier darüber nach., Das Lamm war das beste, das er je gegessen hatte, und die Ente war noch besser, mit Kirschen und Limonen gekocht und längst nicht so fett wie die meisten. Die Schankwirtin brachte Buttererbsen und Haferbrot dazu, das noch ofenwarm war. Das heißt es, ein Ritter zu sein, dachte er bei sich, als er das letzte Stückchen Fleisch vom Knochen nagte. Gutes Essen und Bier, wann immer ich es will, und niemand, der mir eine Ohrfeige gibt. Er trank einen zweiten Krug Bier zu der Mahlzeit, und einen dritten, um sie hinunterzuspülen, dann einen vierten, weil ihm niemand sagte, daß er das nicht dürfe, und als er fertig war, bezahlte er die Frau mit einem Silberstück und bekam trotzdem noch eine Handvoll Kupfermünzen zurück. Als Dunk wieder hinausging, war es dunkel geworden. Sein Magen war voll, seine Börse ein wenig leichter, aber er fühlte sich gut, als er zu den Ställen ging. Vor sich hörte er ein Pferd wiehern. »Sachte, Junge«, sagte die Stimme eines Knaben. Dunk legte stirnrunzelnd einen Schritt zu. Er fand den Stallburschen, der die Rüstung des alten Mannes trug, auf Donner sitzend. Das Panzerhemd war länger als er, und er mußte den Helm auf seinem kahlen Kopf nach hinten schieben, weil er sonst seine Augen bedeckt hätte. Er sah vollkommen versunken und vollkommen absurd aus. Dunk blieb an der Stalltür stehen und lachte. Der Junge schaute auf, errötete und sprang zu Boden. »Mein Lord, ich wollte nicht ..« »Dieb«, sagte Dunk und versuchte, streng zu klingen. »Nimm diese Rüstung ab, und sei froh, daß Donner dir keinen Tritt gegen deinen dummen Kopf verpaßt hat. Er ist ein Schlachtroß, kein Pony für Knaben.« Der Junge nahm den Helm ab und warf ihn ins Stroh. »Ich könnte ihn so gut reiten wie Ihr«, sagte er so kühn wie möglich. »Mach den Mund zu, ich will deine Frechheiten nicht hören. Das Panzerhemd auch, zieh es aus! Was hast du dir dabei gedacht?«, »Wie soll ich Euch das sagen, wenn ich den Mund zumachen soll?« Der Junge wand sich aus dem Kettenhemd und ließ es fallen. »Zum Antworten kannst den Mund aufmachen«, sagte Dunk. »Jetzt heb das Kettenhemd auf, schüttle den Dreck heraus, und leg es dorthin zurück, wo du es gefunden hast. Und den Halbhelm auch. Hast du die Pferde gefüttert, wie ich es dir gesagt habe? Und Leichtfuß gestriegelt?« »Ja«, sagte der Junge, während er Stroh aus dem Kettenhemd schüttelte. »Ihr geht nach Ashford, nicht wahr? Nehmt mich mit, Ser.« Davor hatte die Schankwirtin ihn gewarnt. »Und was würde deine Mutter dazu sagen?« »Meine Mutter?« Der Junge verzog das Gesicht. »Meine Mutter ist tot, die würde gar nichts sagen.« Er war überrascht. War die Schankwirtin nicht seine Mutter? Vielleicht war er nur Lehrling bei ihr. Dunk schwirrte der Kopf ein wenig vom Bier. »Bist du ein Waisenjunge?« fragte er unsicher. »Seid Ihr einer?« gab der Junge zurück. »Ich war mal einer«, gab Dunk zu. Bis der alte Mann mich mitgenommen hat. »Wenn Ihr mich mitnehmt, könnte ich Euer Knappe sein.« »Ich brauche keinen Knappen«, sagte er. »Jeder Ritter braucht einen Knappen«, sagte der Junge. »Und Ihr seht mehr als alle anderen aus, als würdet Ihr einen brauchen.« Dunk hob drohend eine Hand. »Und mir scheint, du siehst aus, als würdest du eine Ohrfeige brauchen. Füll mir einen Sack mit Hafer. Ich reite nach Ashford .allein.« Falls der Junge Angst hatte, verbarg er es gut. Einen Augenblick stand er trotzig und mit verschränkten Armen da, und als Dunk gerade aufgeben wollte, drehte sich der Junge um und ging den Hafer holen., Dunk war erleichtert. Ein Jammer, daß ich ihn nicht .aber er hat ein gutes Leben hier, ein besseres als der Knappe eines Heckenritters. Ich würde ihm keinen Gefallen tun, wenn ich ihn mitnähme. Aber er konnte die Enttäuschung des Burschen spüren. Als er Leichtfuß bestieg und Donners Zügel nahm, beschloß Dunk, daß ein Kupferpfennig ihn aufmuntern würde. »Hier, Bursche, für deine Hilfe.« Er schnippte lächelnd die Münze zu ihm hinunter, aber der Stallbursche traf keine Anstalten, sie zu fangen. Sie fiel zwischen seinen bloßen Füßen auf den Boden, und da ließ er sie liegen. Sobald ich weg bin, wird er sie aufheben, sagte sich Dunk. Er ließ den Zelter kehrtmachen, ritt von dem Gasthaus weg und führte die beiden anderen Pferde neben sich her. Die Bäume standen hell im Mondschein, der Himmel war wolkenlos und voller Sterne. Aber als Dunk den Weg hinabritt, konnte er spüren, wie der Stalljunge ihm verdrossen und stumm nachsah. Die Schatten des Nachmittags wurden lang, als Dunk am Rain des Wasens von Ashford die Zügel anzog. Sechzig Zelte waren bereits auf der Wiese errichtet worden. Manche waren klein, manche groß; manche eckig, manche rund; manche aus Segeltuch, manche aus Leinen, manche aus Seide; aber alle waren bunt, und lange Banner, strahlender als ein Feld voller Wildblumen, in vollem Rot und Sonnengelb und allen Schattierungen von Grün und Blau sowie tiefen Schwarz-, Grau- und Purpurtönen, flatterten von ihren Mittelpfosten. Der alte Mann war mit einigen dieser Ritter geritten; andere kannte Dunk aus Geschichten, die in Wirtshäusern und an Lagerfeuern erzählt wurden. Auch wenn er die Magie des Lesens und Schreibens nie gelernt hatte, war der alte Mann unerbittlich gewesen, wenn es darum ging, ihn Heraldik zu lehren, und er hatte es ihm oft beim Reiten eingebleut. Die Nachtigallen gehörten Lord Caron von den Marschen, der mit der hohen Harfe so geschickt umzugehen wußte wie mit der Lanze. Der gekrönte Hirsch gehörte Ser Lyonel Baratheon, dem Lachenden, Sturm. Dunk erkannte den Jägersmann von Tarly, den purpurnen Blitz des Hauses Dondarrion, den roten Apfel der Fossoways. Dort brüllte der Löwe von Lannister golden auf Scharlachrot, und dort schwamm die grüne Wasserschildkröte der Estermonts auf einem hellgrünen Feld. Das braune Zelt unter dem roten Hengst konnte nur Ser Otho Bracken gehören, der, seit er vor drei Jahren Lord Quentyn Blackwood bei einem Turnier in King´s Landing erschlagen hatte, nur der Rohe Bracken genannt wurde, Dunk hatte gehört, Ser Otho hätte derart fest mit der stumpfen Langaxt zugeschlagen, daß er das Visier von Lord Blackwoods Helm mitsamt dem Gesicht darunter eingedrückt hatte. Er sah auch einige Banner der Blackwoods am westlichen Rand der Wiese, so weit von Sir Otho entfernt, wie es nur ging. Marbrand, Mallister, Cargyll, Westerling, Swann, Mullendore, Hightower, Florent, Frey Penrose, Stokeworth Darry, Parren, Wylde; es schien, als hätten sämtliche Adelshäuser des Westens und Südens einen Ritter oder drei nach Ashford entsandt, um die schöne Maid zu sehen und ihr zu Ehren den Sieg zu erringen. Doch so hübsch ihre Zelte auch anzuschauen waren, er wußte, daß da kein Platz für ihn war. Ein fadenscheiniger Wollmantel würde heute nacht der einzige Schutz sein, den er hatte. Während die Lords und hohen Ritter Kapaune und Spanferkel speisten, würde Dunks Abendessen aus einem harten, sehnigen Stück Dörrfleisch bestehen. Er wußte nur zu gut, wenn er sein Lager auf diesem prächtigen Feld aufschlug, würde er stumme Verachtung und unverblümten Spott über sich ergehen lassen müssen. Ein paar würden ihn vielleicht freundlich behandeln, aber auf eine Art und Weise, die fast noch schlimmer war. Ein Heckenritter mußte auf seinen Stolz achten. Ohne ihn war er nichts weiter als ein Söldner mit Schwert. Ich muß mir meinen Platz in dieser Gesellschaft verdienen. Wenn ich gut kämpfe, nimmt mich vielleicht ein Lord in seinen Haushalt auf. Dann werde ich in edler Gesellschaft reiten und jeden Abend frisches Fleisch im Saal des Schlosses essen und bei Turnieren mein eigenes Zelt aufstellen. Aber vorher muß ich, mich gut schlagen. Widerwillig drehte er dem Turniergelände den Rücken zu und führte seine Pferde unter die Bäume. An den Rändern der großen Wiese, eine gute halbe Meile von Stadt und Schloß entfernt, fand er eine Stelle, wo eine Biegung des Baches einen tiefen Teich bildete. Dichtes Schilfrohr wuchs an den Ufern, und über allem ragte eine hohe, laubreiche Ulme auf. Das Frühlingsgras hier war so grün wie das Banner eines Ritter und weich anzufühlen. Es war ein hübsches Fleckchen, und noch niemand hatte es für sich beansprucht. Dies wird mein Zelt sein, sagte Dunk zu sich, ein Zelt mit einem Dach aus Blättern, grüner als die Banner der Tyrells und der Estermonts. Zuerst kamen seine Pferde dran. Als sie versorgt waren, zog er sich aus und watete in den Fluß, um den Staub der Reise abzuwaschen. »Ein wahrer Ritter ist ebenso reinlich wie gottesfürchtig«, hatte der alte Mann immer gesagt und darauf bestanden, daß sie sich an jedem Mondwechsel von Kopf bis Fuß wuschen, ob sie nun übel rochen oder nicht. Nun, selbst ein Ritter, schwor Dunk, daß er es ebenso halten würde. Er saß nackt unter der Ulme, während er allmählich trocken wurde, genoß die warme Frühlingsluft auf der Haut und sah einer Drachenfliege zu, die träge zwischen dem Schilfgras dahinflog. Warum nennt man Libellen auch Drachenfliegen? fragte er sich. Sie haben keine Ähnlichkeit mit einem Drachen. Nicht, daß Dunk je einen Drachen gesehen hätte. Der alte Mann schon. Dunk hatte die Geschichte fünfzigmal gehört, wie Ser Arlan ein kleiner Junge gewesen war, als sein Großvater ihn mit nach King´s Landing genommen hatte, wo sie den letzten Drachen sahen, ein Jahr bevor er starb. Ein grünes Weibchen war es gewesen, klein und verkrüppelt, die Flügel verkümmert. Aus keinem ihrer Eier war je ein Junges geschlüpft. »Manche sagen, daß König Aegon sie vergiftet hat«, pflegte der alte Mann zu erzählen. »Das war der dritte Aegon, nicht König Daerons Vater, sondern derjenige, den sie Drachenbanner nannten, oder Aegon den Unglücklichen. Er hatte Angst vor Drachen, denn er hatte gesehen, wie das Tier seines Onkels seine eigene Mutter verschlang. Die Sommer sind, kürzer geworden, seit der letzte Drache gestorben ist, und die Winter länger und bitterer.« Als die Sonne unter die Baumspitzen sank, wurde es kühler. Sowie Dunk Gänsehaut auf den Armen spürte, klopfte er seine Tunika und die Hose am Stamm der Ulme aus, um den gröbsten Schmutz abzuschütteln, und zog sie wieder an. Morgen konnte er die Turniermeister aufsuchen und seinen Namen eintragen, aber heute abend mußte er sich um andere Dinge kümmern, wenn er jemanden herausfordern wollte. Er mußte sein Spiegelbild im Wasser nicht betrachten, um zu wissen, daß er nicht sehr nach einem Ritter aussah, daher schlang er Ser Arlans Schild über den Rücken, um das Wappen zu zeigen. Er band den Pferden die Knöchel zusammen und ließ sie an dem saftigen grünen Gras unter der Ulme knabbern, während er sich zu Fuß auf den Weg zum Turniergelände machte. In normalen Zeiten diente der Wasen den Leuten aus Ashford auf der anderen Seite des Flusses als Dorfplatz, aber heute war er wie verwandelt. Über Nacht war eine zweite Stadt entstanden, eine Stadt aus Seide statt Stein, größer und bunter als ihre ältere Schwester. Dutzende Kaufleute hatten ihre Stände am Feldrain aufgebaut und verkauften Pelze und Obst, Gürtel und Stiefel, Häute und Falken, Keramik, Edelsteine, Zinngeschirr, Gewürze, Federn und alle Arten anderer Waren. Jongleure, Puppenspieler und Zauberer schritten durch die Menge und gingen ihrem Gewerbe nach .genau wie die Huren und Beutelschneider. Dunk hielt wachsam eine Hand auf seinem Geld. Als er den Duft von Bratwürsten roch, die über einem offenen Feuer brutzelten, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er kaufte eine und bezahlte mit einer Kupfermünze aus seinem Beutel, danach ein Horn Bier, um die Wurst hinunterzuspülen. Beim Essen sah er einem Ritter aus Holz zu, wie er gegen einen Drachen aus Holz kämpfte. Die Puppenspielerin, die den Drachen bewegte, bot auch einen interessanten Anblick: eine lange Bohnenstange mit der olivfarbenen Haut und dem, schwarzen Haar der Leute von Dorne. Sie war dünn wie eine Lanze und hatte keine nennenswerten Brüste, aber Dunk mochte ihr Gesicht, und ihm gefiel, wie ihre Finger den Drachen am Ende seiner Schnüre schnappen und zappeln ließen. Er hätte dem Mädchen ein Kupferstück zugeworfen, hätte er eins erübrigen können, aber gerade jetzt brauchte er jede Münze. Wie er gehofft hatte, befanden sich auch Waffenschmiede unter den Kaufleuten. Ein Tyroshi mit blauem Ziegenbart verkaufte verzierte Helme, grandiose, phantastische Hauben in Form von Vögeln und Tieren, mit Silber und Gold eingefaßt. Andernorts fand er einen Schwertmacher, der billige Stahlklingen an den Mann brachte, und einen anderen, dessen Arbeit weitaus erlesener war, aber an einem Schwert fehlte es ihm nicht. Der Mann, den er brauchte, war ganz am Ende einer Reihe und hatte ein feines Kettenhemd und ein Paar Stahlhandschuhe mit Scharnieren vor sich auf dem Tisch ausgestellt. Dunk begutachtete sie eingehend. »Gute Arbeit«, sagte er. »Gibt keine bessere.« Der Schmied war ein untersetzter Mann, kaum einen Meter sechzig groß, aber an Brust und Armen so kräftig wie Dunk. Er hatte einen schwarzen Bart, riesige Pranken und keine Spur von Bescheidenheit. »Ich brauche eine Rüstung für das Turnier«, ließ Dunk ihn wissen. »Einen Anzug aus feinem Kettenwerk mit Halsberge, Beinschienen und einem Großhelm.« Der Halbhelm des alten Mannes würde ihm passen, aber er wollte mehr Schutz für sein Gesicht, als eine Nasenschiene allein bieten konnte. Der Waffenschmied betrachtete ihn von oben bis unten. »Ihr seid ein großer Mann, aber ich habe schon größere ausrüstet.« Er kam hinter seinem Tisch vor. »Kniet Euch hin, ich will an den Schultern Maß nehmen. Aye, und an Eurem dicken Hals.« Dunk kniete nieder. Der Waffenschmied legte ihm ein Stück Wildlederschnur mit Knoten darin auf die Schultern, grunzte, legte es ihm um den Hals, grunzte wieder. »Hebt den Arm. Nein, den rechten.« Er grunzte zum drittenmal. »Jetzt könnt Ihr aufstehen.« Die Innenseite eines Beins, die Abmessungen seiner, Wade und der Umfang seiner Taille zogen weitere Grunzlaute nach sich. »Ich habe ein paar Teile auf meinem Wagen, die Euch passen könnten«, sagte der Mann, als er fertig war. »Nichts mit Gold oder Silber Verziertes, wißt Ihr, nur guter Stahl, kräftig und schlicht. Ich mache Helme, die wie Helme aussehen, nicht wie geflügelte Schweine und komische ausländische Früchte, aber meine leisten Euch bessere Dienste, wenn Ihr eine Lanze ins Gesicht bekommt.« »Mehr will ich nicht«, sagte Dunk. »Wieviel?« »Achthundert Silberstücke, weil mir mildtätig zumute ist.« »Achthundert?« Das war mehr, als er erwartet hatte. »Ich .ich könnte Euch eine alte Rüstung für einen kleineren Mann anbieten .einen Halbhelm, ein Panzerhemd aus Kettengliedern ..« »Der Stählerne Pate verkauft nur seine eigenen Arbeiten«, erklärte der Mann, »aber kann sein, daß ich für das Metall Verwendung habe. Wenn es nicht zu rostig ist, dann nehme ich es und statte Euch für sechshundert aus.« Dunk hätte Pate anflehen können, ihm eine Rüstung auf Kredit zu geben, wußte aber, was für eine Antwort das wahrscheinlich nach sich gezogen hätte. Er war lange genug mit dem alten Mann herumgereist, um zu wissen, daß Kaufleute ein notorisches Mißtrauen gegen Heckenritter hegten, die teilweise nicht besser als Straßenräuber waren. »Ich gebe Euch zwei Silberstücke gleich, die Rüstung und das restliche Geld morgen.« Der Waffenschmied sah ihn einen Moment an. »Für zwei Silberstücke bekommt Ihr einen Tag. Danach verkaufe ich meine Arbeit dem nächsten.« Dunk holte die beiden Silbermünzen aus dem Beutel und drückte sie dem Waffenschmied in die schwielige Hand. »Ihr werdet alles bekommen. Ich gedenke hier der Sieger zu sein.« »Ach, tatsächlich?« Pate biß auf eine der Münzen. »Und die andern, nehme ich an, die sind nur gekommen, um Euch zuzujubeln?«, Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als Dunk seine Schritte zu der Ulme zurücklenkte. Hinter ihm erstrahlte der Wasen von Ashford im Licht der Fackeln. Lieder und Gelächter tönten über das Gras, aber seine eigene Stimmung war ernst. Er kannte nur eine Möglichkeit, die Münzen für seine Rüstung zusammenzubekommen. Und wenn er verlieren sollte .»Ich brauche nur einen Sieg«, murmelte er laut. »Das ist nicht zuviel Hoffnung.« Aber der alte Mann hätte sich diese Hoffnung nie gegönnt. Ser Arlan hatte kein Lanzenbrechen mehr geritten, seit ihn der Prinz von Dragonstone vor vielen Jahren bei einem Turnier in Storm´s End vom Pferd gestoßen hatte. »Nicht jeder Mann kann von sich behaupten, sieben Lanzen gegen den besten Ritter der Sieben Königreiche gebrochen zu haben«, pflegte er zu sagen. »Ich könnte nie hoffen, es besser zu machen, warum also sollte ich es versuchen?« Dunk vermutete, daß Ser Arlans Alter mehr damit zu tun gehabt hatte als der Prinz von Dragonstone, aber er hatte nie eine dementsprechende Bemerkung gewagt. Der alte Mann hatte seinen Stolz gehabt, bis zuletzt. Ich bin schnell und kräftig, das hat er immer gesagt, und was für ihn galt, muß nicht auch für mich gelten, sagte er störrisch zu sich. Er durchquerte eine Stelle hohen Schilfgrases und zerbrach sich den Kopf über seine Chancen, als er das Flackern eines Feuers zwischen den Büschen sah. Was ist das? Dunk blieb nicht stehen, um nachzudenken. Plötzlich hatte er das Schwert in der Hand und trampelte durch das Gras. Er platzte brüllend und fluchend heraus, blieb aber ruckartig stehen, als er den Jungen beim Lagerfeuer erblickte. »Du!« Er ließ das Schwert sinken. »Was machst du hier?« »Einen Fisch grillen«, sagte der kahlköpfige Junge. »Möchtet Ihr auch was abhaben?« »Ich meinte, wie bist du hierhergekommen? Hast du ein Pferd gestohlen?«, »Ich bin auf dem Wagen eines Mannes mitgefahren, der ein paar Lämmer für die Tafel des Lord von Ashford ins Schloß gebracht hat.« »Nun, dann solltest du schleunigst nachsehen, ob er schon wieder fort ist, oder dir einen anderen Wagen suchen. Ich will dich nicht hier haben.« »Ihr könnt mich nicht wegschicken«, sagte der Junge dreist. »Ich habe die Nase voll von dem Gasthaus.« »Ich werde mir keine Frechheiten mehr von dir gefallen lassen«, warnte Dunk ihn. »Ich sollte dich gleich jetzt über mein Pferd werfen und nach Hause bringen.« »Dann müßtet Ihr den ganzen Weg bis King´s Landing reiten«, sagte der Junge. »Ihr würdet das Turnier versäumen.« King´s Landing. Einen Moment fragte sich Dunk, ob er verspottet wurde, aber der Junge konnte unmöglich wissen, daß er ebenfalls in King´s Landing geboren worden war. Noch ein armer Kerl aus dem Flohviertel, ob es mir gefällt oder nicht, und wer kann ihm verdenken, daß er da raus will? Er kam sich albern vor, wie er mit dem gezückten Schwert über einem achtjährigen Waisenknaben stand. Er steckte es in die Scheide und sah den Jungen finster an, damit der gleich wußte, daß nicht gut Kirschen essen mit ihm war. Ich sollte ihm mindestens eine ordentliche Tracht Prügel verpassen, dachte er, aber der Junge sah so mitleiderregend aus, daß er es nicht über sich brachte, ihn zu schlagen. Er sah sich in dem Lager um. Das Feuer loderte fröhlich in einem ordentlichen Kreis aus Steinen. Die Pferde waren gestriegelt, Kleidungsstücke hingen an der Ulme und trockneten über den Flammen. »Was haben die da zu suchen?« »Ich habe sie gewaschen«, sagte der Junge. »Und ich habe die Pferde gebürstet, ein Feuer gemacht und diesen Fisch gefangen. Ich hätte Euer Zelt aufgebaut, konnte aber keines finden.« »Das ist mein Zelt.« Dunk winkte mit der Hand über seinen Kopf zu den Ästen der hohen Ulme, die über ihnen aufragte. »Das ist ein Baum«, sagte der Junge unbeeindruckt., »Ein anderes Zelt braucht ein wahrer Ritter nicht. Ich schlafe lieber unter den Sternen als in einem rauchigen Zelt.« »Und wenn es regnet?« »Gibt der Baum mir Schutz.« »Bäume sind undicht.« Dunk lachte. »Wohl wahr. Nun, um die Wahrheit zu sagen, mir fehlt das Geld für ein Zelt. Und du solltest diesen Fisch besser umdrehen, sonst ist er unten verbrannt und oben roh. Ein Küchenjunge wird nie aus dir.« »Wenn ich wollte, schon«, entgegnete der Junge, drehte den Fisch aber um. »Was ist mit deinem Haar passiert?« fragte Dunk ihn. »Die Maester haben es abrasiert.« Der Junge zog plötzlich verlegen die Kapuze seines dunkelbraunen Mantels hoch und bedeckte seinen Kopf. Dunk hatte gehört, daß sie das manchmal taten, um Läuse oder Würmer oder bestimmte Krankheiten zu behandeln. »Bist du krank?« »Nein«, sagte der Junge. »Wie heißt Ihr?« »Dunk«, sagte er. Der armselige Bengel lachte hell auf, als wäre das das Komischste, das er je gehört hatte. »Dunk?« sagte er. »Ser Dunk? Das ist kein Name für einen Ritter. Ist es eine Abkürzung von Duncan?« War es das? Der alte Mann hatte ihn, so lange er zurückdenken konnte, nur Dunk genannt, und an sein Leben davor konnte er sich kaum noch erinnern. »Duncan, ja«, sagte er. »Ser Duncan von ..« Dunk hatte keinen anderen Namen, auch kein Haus; Ser Arlan hatte ihn als Streuner auf den Straßen und Gassen des Flohviertels gefunden. Seinen Vater und seine Mutter hatte er nie gekannt. Was sollte er sagen? »Ser Duncan vom Flohviertel« klang nicht sehr ritterlich. Er hätte Pennytree sagen können, was aber, wenn sie ihn fragten, wo das lag? Dunk war nie in Pennytree gewesen, noch hatte der alte Mann viel darüber erzählt. Er runzelte einen Moment die Stirn, dann platzte er, heraus: »Ser Duncan der Hohe.« Er war hoch, das konnte niemand bestreiten, und es hörte sich mächtig an. Da schien der kleine Frechdachs anderer Meinung zu sein. »Ich habe noch nie von einem Ser Duncan dem Hohen gehört.« »Also kennst du alle Ritter der Sieben Königreiche?« Der Junge sah ihn unerschrocken an. »Die Guten.« »Ich bin so gut wie alle anderen. Nach dem Turnier werden sie das wissen. Hast du einen Namen, Dieb?« Der Junge zögerte. »Ei«, sagte er. Dunk lachte nicht. Sein Kopf sieht wie ein Ei aus. Kleine Jungs können grausam sein, und erwachsene Männer auch, »Ei«, sagte er. »Ich sollte dich blutig prügeln und deines Weges schicken, aber die Wahrheit ist, ich habe kein Zelt, und ich habe auch keinen Knappen. Wenn du schwörst, daß du tun wirst, was ich dir sage, kannst du mir für die Dauer des Turniers dienen. Danach werden wir weitersehen. Wenn ich der Meinung bin, daß du deinen Unterhalt wert bist, wirst du immer Kleider am Leib und einen vollen Bauch haben. Die Kleider mögen derb sein, und das Essen kann aus Pökelfleisch und gesalzenem Fisch bestehen, und vielleicht ab und zu etwas Wildbret, wenn keine Waldhüter in der Nähe sind, aber du wirst nicht hungern. Und ich verspreche dir, ich werde dich nur prügeln, wenn du es verdient hast.« Ei lächelte. »Ja, mein Lord.« »Ser«, verbesserte Dunk ihn. »Ich bin nur ein Heckenritter.« Er fragte sich, ob der alte Mann auf ihn herabschaute. Ich werde ihn die Kunst des Kämpfens lehren, wie Ihr sie mich gelehrt habt, Ser. Er scheint ein tüchtiger Bursche zu sein, möglicherweise bringt er es eines Tages zum Ritter. Der Fisch war innen noch ein wenig roh, als sie ihn aßen, und der Junge hatte nicht alle Gräten entfernt, aber er schmeckte trotzdem ungleich besser als hartes Pökelfleisch. Ei schlief kurz darauf neben dem niedergebrannten Feuer ein. Dunk lag auf dem Rücken daneben, die großen Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah zum Nachthimmel hinauf. Er konnte leise Musik vom eine halbe Meile entfernten Turniergelände hören. Die Sterne waren überall, Tausende und, Abertausende. Einer fiel vor seinen Augen herab, ein hellgrüner Streifen, der über die Schwärze schoß und verschwand. Es bringt Glück, eine Sternschnuppe zu sehen, dachte Dunk. Aber alle anderen sind inzwischen in ihren Zelten und sehen Seide an Stelle des Himmels. Also gehört das Glück mir allein. Am Morgen erwachte er, als ein Hahn krähte. Ei war noch da und hatte sich unter dem zweitbesten Mantel des alten Mannes zusammengerollt. Nun, der Junge ist im Lauf der Nacht nicht weggelaufen, das ist immerhin ein Anfang. Er stieß ihn mit dem Fuß an und weckte ihn. »Auf. Es gibt viel zu tun.« Der Junge stand rasch auf und rieb sich die Augen. »Hilf mir, Leichtfuß zu satteln«, sagte Dunk zu ihm. »Was ist mit Frühstück?« »Es gibt Pökelfleisch. Nachdem wir fertig sind.« »Lieber esse ich das Pferd«, sagte Ei. »Ser.« »Du ißt meine Faust, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Hol die Bürsten! Sie sind in der Satteltasche. Ja, in der.« Gemeinsam bürsteten sie das rotbraune Fell von Leichtfuß, legten ihr Ser Arlans besten Sattel auf den Rücken und zurrten ihn fest. Dunk sah, daß Ei ein guter Arbeiter war, wenn er sich auf seine Tätigkeit konzentrierte. »Ich gehe davon aus, daß ich den größten Teil des Tages fort sein werde«, sagte er dem Jungen, als er aufstieg. »Du bleibst hier und bringst das Lager in Ordnung. Sieh zu, daß keine anderen Diebe herumschnüffeln kommen.« »Kann ich ein Schwert haben, um sie damit zu vertreiben?« fragte Ei. Er hatte blaue Augen, sah Dunk, sehr dunkel, fast purpurn. Durch seinen kahlen Kopf wirkten sie irgendwie riesig. »Nein«, sagte Dunk. »Ein Messer ist genug. Und du solltest besser hier sein, wenn ich zurückkomme, hast du verstanden? Wenn du mich ausraubst und fliehst, werde ich dich aufspüren, das schwöre ich. Mit Hunden.« »Ihr habt keine Hunde«, bemerkte Ei., »Ich besorge mir welche«, sagte Dunk. »Nur für dich.« Er drehte den Kopf von Leichtfuß zur Wiese, ritt im raschen Trott davon und hoffte, die Drohung würde ausreichen, daß der Junge ehrlich blieb. Abgesehen von den Kleidern am Leib, der Rüstung in seinem Sack und dem Pferd unter ihm befand sich alles, was Dunk besaß, im Lager. Ich bin ein großer Narr, daß ich dem Jungen so vertraue, aber es ist nicht mehr, als der alte Mann für mich getan hat, überlegte er. Die Mutter muß ihn mir geschickt haben, damit ich meine Schuld begleichen kann. Als er das Feld überquerte, hörte er Hammerschläge vom Flußufer, wo die Zimmerleute Absperrungen für das Turnier errichteten und eine prächtige Tribüne aufbauten. Einige neue Zelte wurden ebenfalls errichtet, während die Ritter, die früher eingetroffen waren, die Zechgelage der vergangenen Nacht ausschliefen oder sich niedersetzten, um zu frühstücken. Dunk konnte den Rauch von Holz riechen, aber auch Speck. Nördlich der Wiese verlief der Fluß Cockleswent, ein Nebenfluß des mächtigen Mander. Jenseits der seichten Furt lagen Stadt und Schloß. Dunk hatte im Verlauf seiner Reisen mit dem alten Mann viele Marktstädtchen gesehen. Dieses war hübscher als die meisten; die weißgetünchten Häuser mit ihren Schindeldächern hatten etwas Anheimelndes. Als er kleiner war, hatte er sich oft gefragt, wie es sein mochte, in so einem Haus zu leben; jede Nacht mit einem Dach über dem Kopf zu schlafen, und jeden Morgen mit denselben Wänden um dich herum aufzuwachen. Vielleicht werde ich es bald erfahren. Jawohl, und Ei auch. Es könnte dazu kommen. Seltsamere Dinge geschahen jeden Tag. Das Schloß von Ashford war ein Gebäude aus Stein mit dem Grundriß eines Dreiecks. An jeder Spitze ragten zehn Meter hohe runde Türme auf, dazwischen verliefen dicke Mauern mit Zinnen. Orangefarbene Banner, die das weiße Wappen mit Sonne und Winkel des Schloßherrn zeigten, flatterten über den Brüstungen. Bewaffnete Männer in orangeroter und weißer Livree standen mit Hellebarden vor den Toren, verfolgten das Kommen und Gehen der Leute und schienen mehr darauf erpicht zu sein, mit einem, hübschen Milchmädchen zu scherzen, als jemanden fernzuhalten. Dunk zügelte sein Pferd vor dem kleinwüchsigen, bärtigen Mann, den er für ihren Hauptmann hielt, und fragte nach dem Turniermeister. »Da mußt du mit Plummer sprechen, der ist Haushofmeister hier. Ich zeige dir den Weg.« Im Innenhof nahm ihm ein Stallbursche Leichtfuß ab. Dunk schlang Ser Arlans kampferprobten Schild über die Schulter und folgte dem Hauptmann der Wache von den Stallungen zu einem Turm, der rechtwinklig zur Kurtine errichtet worden war. Eine steile Treppe aus Stein führte zum Rundgang auf der Mauer hinauf. »Bist du gekommen, um den Namen deines Herrn in die Liste einzutragen?« fragte der Kapitän, als sie hinaufgingen. »Ich werde meinen eigenen Namen eintragen.« »Tatsächlich?« Grinste der Mann? Dunk war nicht sicher. »Diese Tür dort. Ich lasse dich hier und kehre auf meinen Posten zurück.« Als Dunk die Tür aufstieß, saß der Haushofmeister an einem Zeichentisch und kratzte mit einer Feder über ein Stück Pergament. Er hatte schütteres graues Haar und ein schmales, verkniffenes Gesicht. »Ja?« sagte er und schaute auf. »Was willst du, Mann?« Dunk machte die Tür zu. »Seid Ihr Plummer, der Haushofmeister? Ich bin wegen des Turniers gekommen. Ich möchte auf die Liste.« Plummer schürzte die Lippen. »Das Turnier meines Lords ist ein Turnier ausschließlich für Ritter. Bist du ein Ritter?« Er nickte und fragte sich, ob seine Ohren rot wurden. »Womöglich ein Ritter mit einem Namen?« »Dunk.« Warum hatte er das gesagt? »Ser Duncan. Der Hohe.« »Und woher kommt Ihr, Ser Duncan der Hohe?« »Von überall. Ich war Knappe von Ser Arlan von Pennytree, seit meinem fünften oder sechsten Jahr. Dies ist sein Schild.« Er zeigte ihn dem Haushofmeister. »Er wollte zum Turnier kommen, zog sich aber eine Erkältung zu und starb, daher kam, ich an seiner Stelle. Vor seinem Dahinscheiden schlug er mich mit seinem eigenen Schwert zum Ritter.« Dunk zog das Langschwert und legte es zwischen sie auf den zerkratzten Holztisch. Der Turniermeister würdigte die Klinge nicht mehr als eines Blicks. »Das ist gewiß ein Schwert. Aber von diesem Arlan von Pennytree habe ich nie gehört. Ihr sagt, Ihr wart sein Knappe?« »Er hat immer gesagt, er wollte, daß ich ein Ritter werde wie er. Als er im Sterben lag, verlangte er nach seinem Langschwert und bat mich, niederzuknien. Er berührte mich einmal an der rechten und einmal an der linken Schulter und sprach einige Worte, und als ich aufstand, sagte er mir, daß ich jetzt ein Ritter sei.« »Hmpf.« Plummer rieb sich die Nase. »Jeder Ritter kann einen anderen zum Ritter machen, wohl wahr, aber es ist gebräuchlicher, eine Nachtwache zu halten und von einem Septon gesalbt zu werden, bevor man das Gelübde ablegt. Gibt es Zeugen für Euren Ritterschlag?« »Nur ein Rotkehlchen in einem Dornbaum. Ich habe es gehört, als der alte Mann die Worte sprach. Er forderte mich auf, ein guter und aufrechter Ritter zu sein, die sieben Götter zu ehren, die Schwachen und Unschuldigen zu schützen, meinem Lord treu zu dienen und sein Reich mit aller Macht zu verteidigen, und ich habe geschworen, daß ich das tun würde.« »Zweifellos.« Plummer ließ sich nicht dazu herab, ihn Ser zu nennen, was Dunk nicht entging. »Ich muß mich mit Lord Ashford beraten. Seid Ihr oder Euer verstorbener Herr einem der guten Ritter bekannt, die sich hier eingefunden haben?« Dunk überlegte einen Moment. »Ich habe ein Zelt mit dem Banner des Hauses Dondarrion gesehen. Das schwarze mit dem purpurfarbenen Blitz?« »Das ist Ser Manfred aus jenem Hause.« »Ser Arlan hat seinem Herrn Vater vor drei Jahren in Dorne gedient. Ser Manfred erinnert sich vielleicht an mich.«, »Ich würde Euch raten, mit ihm zu sprechen. Wenn er für Euch bürgt, bringt ihn morgen mit hierher, um genau dieselbe Zeit.« »Wie Ihr wünscht, m´Lord.« Er ging zur Tür. »Ser Duncan«, rief ihm der Haushofmeister nach. Dunk drehte sich um. »Euch ist bewußt«, sagte der Mann, »daß Unterlegene des Turniers Waffen, Rüstung und Pferd an den Sieger verlieren und sie zurückkaufen müssen?« »Ich weiß.« »Und habt Ihr das Geld, um diesen Rückkaufpreis zu bezahlen?« Nun wußte er, daß seine Ohren rot waren. »Ich werde kein Geld brauchen«, sagte er und betete, daß es zuträfe. Ich brauche nur einen Sieg. Wenn ich mein erstes Lanzenbrechen gewinne, werde ich Rüstung und Pferd des Verlierers haben, oder sein Gold, und kann dann eine eigene Niederlage verkraften. Er ging langsam die Treppe hinunter, weil er kaum über sich bringen konnte, was er als nächstes tun mußte. Auf dem Hof packte er einen der Stallburschen am Wickel. »Ich muß mit Lord Ashfords Stallmeister sprechen.« »Ich werde ihn für Euch suchen.« In den Ställen war es kühl und halbdunkel. Ein unruhiger grauer Hengst schnappte im Vorbeigehen nach ihm, aber Leichtfuß wieherte nur leise und knabberte an seiner Hand, als er sie ihr an die Nüstern hielt. »Bist ein braves Mädchen, was?« flüsterte er. Der alte Mann hatte immer gesagt, daß ein Ritter sein Pferd niemals zu gern haben sollte, da mehr als nur ein paar unter ihm sterbe